Zum Buch
»Ich bin für eine Weile nicht auf dem Planeten.« So stand es in der Abwesenheitsnotiz von Samantha Cristoforetti, als sie 200 Tage auf der internationalen Raumstation ISS verbrachte. Bis die Ingenieurin und Pilotin endlich in ein Raumschiff steigen durfte, war es ein weiter Weg. Mit Wissbegier, Beharrlichkeit und einer Portion Glück hat sie es geschafft – als eine von nur wenigen Frauen. Ihr Buch bietet eine Fülle überraschender, eindrucksvoller Einblicke in die Raumfahrt und inspiriert dazu, Träume nicht aufzugeben.
Zur Autorin
Samantha Cristoforetti, geboren 1977 in Mailand, ist eine italienische Astronautin und Kampfpilotin. Sie studierte Luft- und Raumfahrttechnik an der TU München. Beim Auswahlverfahren der ESA setzte sie sich gegen mehr als 8400 Bewerber durch und wurde 2009 als einzige Frau unter sechs neuen Astronauten, darunter auch Alexander Gerst, ins Europäische Astronautenkorps berufen. Von November 2014 bis Juni 2015 war sie mit zwei Amerikanern und drei Russen auf der Internationalen Raumstation (ISS). Sie spricht Italienisch, Englisch, Deutsch, Französisch und Russisch und arbeitet im Astronautenzentrum der ESA in Köln.
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Samantha Cristoforetti
Die lange
Reise
Tagebuch einer Astronautin
Aus dem Italienischen von
Christine Ammann und Walter Kögler
Die Originalausgabe erschien 2018 unter dem Titel Diario di un’apprendista astronauta bei La nave di Teseo, Mailand.
Die ESA-Astronautin Samantha Cristoforetti spendet die Erlöse aus dem Verkauf dieses Buches vollständig an UNICEF.
Die Übersetzerin Christine Ammann dankt dem Übersetzerhaus Looren für den angenehmen Aufenthalt in einer inspirierenden Arbeitsatmosphäre.
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Copyright © der Originalausgabe La nave di Teseo Editore/ESA 2018
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2019
Penguin Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Redaktion: Carola Köhler, Berlin
Covergestaltung: Favoritbüro
Covermotiv: ESA/NASA
Satz: Leingärtner, Nabburg
Bildbearbeitung: Helio Repro, München
ISBN 978-3-641-24665-5
V002
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Inhalt
1 Sojus TMA-15M, 11. Juni 2015
2 Militärflugplatz Istrana, nahe Treviso, 18. Mai 2009
3 Kennedy Space Center, Florida, 8. Februar 2010
4 Bordeaux, 7. Mai 2010
5 Sternenstädtchen, 12. September 2010
6 Sternenstädtchen, 6. Juni 2011
7 Sternenstädtchen, 18. Juli 2011
8 Houston, 27. September 2011
9 Sternenstädtchen, 18. Januar 2012
10 Houston, 5. März 2012
11 Montreal, 13. Mai 2012
12 Houston, 29. August 2012
13 Moskau, 19. Oktober 2012
14 Sternenstädtchen, 11. April 2013
15 Noginsk, 28. Juni 2013
16 Sternenstädtchen, 24. Juli 2013
17 Moskau, 1. Oktober 2013
18 Houston, 5. November 2013
19 Sternenstädtchen, 12. Dezember 2013
20 Moskau, 10. April 2014
21 Sternenstädtchen, 11. April 2014
22 Koroljow, 21. April 2014
23 Sternenstädtchen, 15. Mai 2014
24 Houston, 2. Juli 2014
25 Flug Frankfurt-Moskau, 8. Oktober 2014
26 Baikonur, 23. November 2014
27 Kosmodrom von Baikonur, 24. November 2014
28 Sojus TMA-15M, 24. November 2014
29 Internationale Raumstation, 24. November 2014
30 Internationale Raumstation, 24. November 2014
31 Internationale Raumstation, 2. Dezember 2014
32 Internationale Raumstation, 31. Dezember 2014
33 Internationale Raumstation, 14. Januar 2015
34 Internationale Raumstation, 17. Januar 2015
35 Internationale Raumstation, 10. Februar 2015
36 Internationale Raumstation, 11. März 2015
37 Internationale Raumstation, 17. April 2015
38 Internationale Raumstation, 28. April 2015
39 Internationale Raumstation, 9. Juni 2015
40 Internationale Raumstation, 11. Juni 2015
41 Sojus TMA-15M, 11. Juni 2015
42 Namibia, November 2015
Dank
Abbildungen
Glossar
Quellennachweis
To Kelsi Amel,
who came as a stargazer
Liebe Leserin, lieber Leser,
dieses Buch ist die Geschichte einer Reise. Ich habe diese Geschichte erlebt, aber sie gehört mir nicht. Ich übergebe sie dir. Pass gut darauf auf, aber sei unbesorgt, wenn sie sich mit deinen Vorstellungen vermischt, mit deinen Gefühlen anreichert und dadurch in eine andere Geschichte verwandelt. So soll es sein.
Alles, was du auf den folgenden Seiten liest, ist wahr, sofern sich keine Fehler eingeschlichen haben. Ab und an wird das wohl passiert sein, und dafür möchte ich mich im Voraus entschuldigen. Du sollst wissen, dass ich mich so wenig wie möglich auf mein Gedächtnis verlassen habe, und auch nur dann, wenn ich meinen Erinnerungen wirklich getraut habe.
Alles, was du auf den folgenden Seiten liest, ist wirklich passiert, aber nicht alles, was passiert ist, steht in diesem Buch: aus Rücksicht, weil ich über andere nur Gutes sagen möchte oder weil mir meine privaten Angelegenheiten nicht sonderlich interessant scheinen. Allerdings habe ich nichts ausgelassen, um dir besser zu gefallen. Ich möchte dich mit dieser Geschichte weder unterhalten noch dir etwas beibringen. Ich erzähle sie dir so, wie ich sie einer guten Freundin auf einer langen Zugfahrt erzählen würde. Was du damit machst, steht in deinem freien Ermessen.
Ich nehme dich in meine lange Vorbereitungszeit mit, die mich um die ganze Welt geführt hat, in Lehrsäle und Simulatoren, Tauchbäder und Zentrifugen, zu Notfallübungen und Überlebenstrainings, immer mit dem Koffer in der Hand. Das hier ist kein Lehrbuch, aber unterwegs finden sich immer wieder Mosaiksteinchen, die sich nach und nach zum Berufsbild des Astronauten fügen und die wir aufsammeln, wie man auf einem Waldspaziergang Steinchen aufhebt. Die wenigen Stellen, die vielleicht eine Pause von dir verlangen, habe ich mit gekennzeichnet. Wenn du es eilig hast, kannst du sie einfach überspringen und direkt in Richtung Startrampe weitergehen. Am Ende, das verspreche ich dir, werden wir zum Flug in den Weltraum bereit sein.
Diese Reise unternehmen wir gemeinsam. Du und ich, als angehende Astronauten.
Samantha
Erkennen heißt nicht zerlegen, auch nicht erklären. Es heißt, Zugang zur Schau zu finden. Aber um zu schauen, muss man erst teilnehmen. Das ist eine harte Lehre …
Antoine de Saint-Exupéry, Flug nach Arras
Für mich verbindet sich Leichtigkeit mit Präzision und Bestimmtheit, nicht mit Vagheit oder Vertrauen auf den Zufall. Wie Paul Valéry gesagt hat: »Es gilt leicht zu sein wie ein Vogel, nicht wie eine Feder.«
Italo Calvino, Amerikanische Vorlesungen
1
Sojus TMA-15M, 11. Juni 2015
Wir sind ein Feuerball, der auf die Erde zustürzt, eine glühende Wunde in der dünnen Atmosphäre, die den Planeten umhüllt. Wir zerteilen die Luft mit so hoher Geschwindigkeit, dass sie sich erhitzt und zu Plasma wird. Wir sind eine Sternschnuppe: Wäre es Nacht und sähe uns jemand, er würde sich vielleicht etwas wünschen.
Das kleine Fenster zu meiner Linken wird außen langsam schwarz, während um uns herum leuchtend orange Schatten tanzen. Die Moleküle aus ionisierter Luft, die uns einhüllen, blockieren die Funkverbindung: Kurz bevor wir unter die Erdbewohner zurückkehren, ist die virtuelle Nabelschnur, die uns so lange mit dem Kontrollzentrum in Moskau verbunden hat, gerissen. Es ist fast wie eine erneute Geburt: In wenigen Minuten werden wir aus dem Plasma auftauchen, unser Fallschirm wird sich öffnen, und wir können mit den Rettungshubschraubern des russischen Militärs, die schon über der kasachischen Steppe kreisen, Kontakt aufnehmen. Geht alles gut, werden wir als Erdbewohner wiedergeboren.
200 Tage lang waren wir als menschliche Außerirdische auf einer Erdumlaufbahn in 400 Kilometern Höhe an Bord der Internationalen Raumstation unterwegs. Abgesehen vom äußersten Norden und Süden haben wir jeden Flecken der Erde überflogen: alle Landstriche, Meere, Gebirge, Wüsten, Städte, Häfen. Wir haben einem sich stetig erneuernden stummen Schauspiel beigewohnt, das schon vor Milliarden Jahren, ehe es die ersten menschlichen Zuschauer gab, begonnen hat. Mit schwerelosen Körpern, umgeben von schwerelosen Gegenständen, bewohnten und bewachten wir den Vorposten der Menschheit im All. Wir spürten die befreiende und belebende Kraft von Träumen, die sich verwirklichen, und auch die Verantwortung, Tag für Tag ein Privileg wert zu sein, das nur wenigen vergönnt ist: die Menschheit im Weltraum zu vertreten, an der letzten Grenze.
Vor kaum drei Stunden haben wir die Haken gelöst, mit denen wir an die Raumstation angedockt waren. Vor einer knappen halben Stunde haben wir das Triebwerk unseres kleinen Sojus-Raumschiffs gezündet und damit seinen unermüdlichen Flug um die Erde verlangsamt. Nur ganz wenig, doch reicht es aus, um in die Erdatmosphäre einzutauchen, die uns nun nach und nach von der Last unserer außergewöhnlichen Geschwindigkeit befreit. Wir werden durch die Bremswirkung in die Sitze gedrückt und erreichen eine erste Spitze von 3,6 g, also 3,6-mal höher als das normale Körpergewicht auf der Erde. Nichts Besonderes, als wir das während der Ausbildung in der Humanzentrifuge gespürt haben, aber nach 200 Tagen absoluter Leichtigkeit ist es ein gewaltiger Druck.
Ich konzentriere mich auf meine Atmung, die immer mühsamer wird, und schaue gleichzeitig auf den Bildschirm vor mir, wo ich die Parameter unseres Wiedereintritts in die Atmosphäre verfolge. Alles läuft perfekt: Der Bordcomputer steuert unsere Flugbahn vollkommen autonom, die uns zu dem Punkt am kasachischen Himmel bringt, wo sich der Fallschirm in zehn Kilometern Höhe öffnen wird. Im Kopfhörer höre ich die Stimme des Kommandanten, die trotz des Drucks auf die Kehle heiter und klar ist. Er berichtet über den Wiedereintritt: Wir befinden uns nahe der Soll-Flugbahn, die Bremswirkung hat mit 4,1 g eine zweite Spitze erreicht und lässt nun nach. Momentan kann uns niemand hören, weil wir von Plasma umhüllt sind, doch zahlreiche Blicke suchen den Himmel schon nach uns ab.
Die Besatzung Astrey kehrt nach Hause zurück. Wir sind die, die gerade vom Himmel fallen.