Cover

Corinna Kohröde-Warnken

Du bleibst du,

und ich bleib ich

Balance halten, wenn die

Eltern Pflege brauchen

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Copyright © 2019 Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umsetzung eBook: Greiner & Reichel, Köln

Umschlagmotiv: © Shutterstock/Svitlana Samokhina

ISBN 978-3-641-25001-0
V002

www.gtvh.de

© K. Haase

Corinna Kohröde-Warnken, geboren 1966, examinierte Krankenschwester, Fachweiterbildung in Anästhesie und Intensivmedizin, zehn Jahre am Patientenbett, von 2003 bis 2010 Pflegedienstleitung und Prokuristin einer Altenpflegeeinrichtung, von 2010 bis 2013 Referentin des Vorstandes in einem Krankenhaus der Maximalversorgung; Studium Public Health und Pflegemanagement mit Abschluss Diplompflegewirtin, seit 2009 Dozentin an der Hamburger Fern-Hochschule, seit 2014 Schriftstellerin, Bloggerin, Journalistin, diverse Buchpublikationen, bundesweite Lesereisen.

Für meine Eltern, die besten der Welt

Inhalt


Vorwort

Einleitung

Deutschlands größter Pflegedienst: Die Angehörigen

Kapitel 1

Alltag und Probleme der Pflegenden

1. »Ihr Lachen verlieh mir Flügel«

2. »Ich habe mich so geekelt«

3. »Muss denn erst etwas passieren?«

4. »Wir haben uns immer gut verstanden«

5. »Sie beschimpft und demütigt mich«

6. »Du fällst mir nicht zur Last«

7. »Nein, du kannst das nicht mehr alleine«

8. »Ich bin so allein mit allem«

9. »Ich halte durch, bis er gestorben ist«

10. »Ich habe versagt«

11. »Plötzlich rutschte mir die Hand aus«

12. »... in guten wie in schlechten Zeiten«

13. »Ich war traurig und auch erleichtert«

Das große Thema Demenz

Zum Umgang mit Demenz

Kapitel 2

Die emotionale Seite in der Pflege

Zufriedenheit

Hoffnung

Motivation

Werte

Rollenwechsel Eltern/Kinder

Rollenwechsel Ehepartner

Familienbande

Rituale

Gewalt

Wut und Verzweiflung

Kapitel 3

Das sagen die Pflege-Profis

Gespräch mit einer Gerontotherapeutin

Gespräch mit einem Pflegegutachter

Gespräch mit einer Seniorenbegleiterin

Gespräch mit einer Gerontologin

Der »Graue Pflegemarkt«

Ein persönliches Statement

Kapitel 4

Rat, Hilfe und Begleitung für die Praxis

Entlastungsmöglichkeiten

Test: Wie stark belastet mich die Pflege?

Initiativen, Netzwerke, Hotlines

Pflege allgemein

Alterserkrankungen

Krankenkassen und Pflegeversicherung

Krisentelefone

Nachwort

Literatur

Dank

Vorwort


Guten Tag, liebe Leserinnen und Leser,

das Thema Älterwerden ist das Thema der Anfang Fünfzigjährigen. Ich bin sicher, dass es nicht nur meiner verstärkten Auseinandersetzung mit dem Thema dieses Buch geschuldet ist und der viel zitierten demografischen Entwicklung, sondern dass einfach jeder in diesem Alter sich damit auseinandersetzt, Eltern, Partner oder andere nahestehende Angehörige gut versorgt zu wissen.

Alt zu werden gehört zum Leben, ist etwas Natürliches und durchaus Schönes, auch wenn uns die Gesellschaft etwas anderes glauben machen will. Selbstverständlich ist das Altwerden aber überhaupt nicht. Noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts hatten die Menschen deutlich weniger Lebenszeit. Analog dazu auch weniger Zeit mit ihren alternden Eltern. Durch die Steigerung der Lebenserwartung erhöht sich auch die unmittelbare Bedeutung einer möglichen Übernahme von Pflege.

Wenn man, so wie ich, mit 41 Jahren eine Krebs-Diagnose bekommen hat, wünscht man sich nichts sehnlicher, als alt zu werden. Tatsächlich freue ich mich über jedes neue graue Haar und jedes neue Fältchen. Ich bin nach vielen Therapien gesund, sofern man das nach einer Krebsdiagnose sagen kann. Wie vieles im Leben kommt es auf den Blickwinkel an, mit dem man etwas betrachtet. Schaue ich auf mein eigenes Leben, kann ich folgende Geschichte erzählen, die mich neben aller beruflichen Qualifikation zum Thema Pflege eine »betroffene« Sichtweise hat annehmen lassen.

Ich saß an einem heißen Sommerabend im Biergarten mit Freunden, als mich der aufgeregte Anruf meines Vaters erreichte. Meine Mutter war im Bad gestürzt und mit einem gebrochenen Sprunggelenk ins Krankenhaus gebracht worden, um dort am nächsten Tag operiert zu werden. Neben dem Schrecken und der Sorge ratterte sofort eine Liste für die Organisation einer eventuell nötigen häuslichen Versorgung in meinem Kopf los. Und als dann vier Tage nach der Operation meiner Mutter mein Vater ebenfalls notfallmäßig operiert werden musste, war es vorbei mit meiner inneren Balance. Manchmal kommt es eben »knüppeldick«.

Meine Eltern erholten sich zum Glück gut und konnten im Abstand von fünf Tagen wieder nach Hause zurückkehren … denn nichts anderes wollten die beiden. Verständlicherweise!

Doch die gesamte folgende Organisation der Betreuung nach der Entlassung kam einem Vollzeitjob nahe, da auch ihr Haushalt, Krankenbesuche und letztlich ja auch mein eigenes Leben zu managen waren. Mein Mann und mein Sohn waren mir dabei eine große Hilfe, und auch meine besten Freundinnen unterstützten mich tatkräftig, mit Informationen, Grüßen, guten Wünschen und sehr praktischen Hilfen.

So möchte ich an dieser Stelle ausdrücklich betonen, dass das soziale Umfeld ein extrem wichtiger Faktor für die eigene Balance ist. Und das eigentlich in allen Lebenslagen. Ich komme später darauf zurück …

Ein wenig hier noch zu meiner Person, da ich gerade von »Qualifikation« gesprochen habe. Vor meiner Erkrankung leitete ich viele Jahre eine stationäre Pflegeeinrichtung und eine Einrichtung für Betreutes Wohnen. Ich bin ausgebildete Krankenschwester für Intensivmedizin und Anästhesie und war über 30 Jahre lang im Gesundheitswesen tätig, davon 15 Jahre im Management.

Und selbst mit diesem theoretischen wie praktischen »Wissen« führte mich die Situation mit meinen eigenen Eltern an eine Grenze. Es war eine harte Zeit, aber ich möchte sie nicht missen, denn es war auch eine »reiche« Zeit. Eine Zeit voller Emotionen, Liebe und neuer Verbundenheit, Begegnungen, geschenkten Stunden und für mich selbst außerordentlich lehrreich in Sachen »Balance halten«.

Was ist das Besondere dieses Buches?

Nun, es gibt jede Menge sachliche, fachliche, beratende und romanhafte Literatur zum Thema Pflege (siehe auch meine Literaturempfehlungen am Ende des Buches), doch es gibt relativ wenig über die emotionale Komponente, über Tabubereiche: Scham, Ekel, Gewalt, Sexualität, Rollentausch, Einsamkeit. Diese Themen möchte ich nach einer allgemeinen Betrachtung des Themas in besonderen Fallgeschichten genauer anschauen, gerade weil sie schwierig sind. Denn es geht ja um uns sehr nahe stehende Menschen, um unsere Eltern, Schwiegereltern, Großeltern und Partner und möglicherweise um eine entscheidende Lebensaufgabe unsererseits.

Wenn Sie nun erwarten, dass ich in meinem Buch sagen werde, ob Sie Ihre Lieben pflegen sollen oder nicht, dann legen Sie es besser wieder weg, gehen einen Kaffee trinken oder verbringen einfach etwas Zeit mit Ihren pflegebedürftigen Angehörigen und reden miteinander. Denn dort und nur dort werden Sie die Antwort auf diese Frage finden.

Wenn Sie aber erwarten, dass Sie Wissenswertes, Informatives und Hilfestellungen zu den vielschichtigen emotionalen Themen der Angehörigenpflege finden, dann blättern Sie einfach weiter. Und wenn Sie – wie der Titel des Buches lautet – davon ausgehen, Ihre eigene Balance bei dieser Aufgabe zu behalten bzw. zurückzuerlangen, dann heiße ich Sie herzlich willkommen weiterzulesen.

Aus meinem eigenen Umfeld heraus habe ich für dieses Buch die unterschiedlichsten Gespräche geführt, um möglichst viele Aspekte zu beleuchten. Angefangen in meinem Freundes- und Bekanntenkreis, wo Versorgung, Pflege und Betreuung alter Eltern oder Partnerinnen aktuell Dauerthemen sind. Und sind wir ehrlich: Geht es Ihnen nicht auch so, dass Sie denken, jeder hat in irgendeiner Form damit zu tun? Ich sprach für dieses Buch aber nicht nur mit Betroffenen selbst, sondern auch mit Pflege-Profis, mit Fachleuten, die noch einmal wieder eine ganz neue und interessante Perspektive einnehmen.

Zum Schluss meines Vorwortes möchte ich nicht unerwähnt lassen, dass mir eine gendergerechte Sprache wichtig ist, ich aber sehr bewusst hier des Leseflusses wegen darauf verzichte. Pflege wird – auch im häuslichen Bereich – immer noch vorwiegend von Frauen erledigt. Wenn ich von Pflegenden, Angehörigen oder anderen Menschen schreibe, meine ich immer alle Geschlechter. Wenn von Eltern, die gepflegt, umsorgt oder »bekümmert werden«, gesprochen wird, sind auch Freunde, Freundinnen, Lebenspartner und Lebenspartnerinnen, Nachbarn, Schwiegereltern, Großeltern oder sonstige »Zugehörige« gemeint. Dieser Begriff gefällt mir besonders gut, denn er umfasst eigentlich am besten, wer alles gemeint ist. Denn jeder gehört (hoffentlich) zu jemandem!

Ich wünsche Ihnen Kraft, Ihre eigene innere Mitte zu finden und dass Ihnen mein Buch auf Ihrem Weg hilft.

Ihre

Im Sommer 2019

Deutschlands größter

Pflegedienst:

Die Angehörigen

Wenn ich abends nach einem langen Tag am Schreibtisch in meiner Sofaecke kauere, weil ich Rückenschmerzen habe und meine Schulter schmerzt, bin ich in meiner Mobilität eingeschränkt. Ich kann vor Müdigkeit und Kreislaufproblemen nicht für eine ausreichende Nahrungs- und Flüssigkeitszufuhr sorgen und vergesse auch noch einen wichtigen Abendtermin: Ich bin in diesem Moment eigentlich »pflegebedürftig«.

Mit diesem Begriff assoziiert man als Erstes den Verlust von Selbstbestimmung, nachlassende kognitive und körperliche Leistungsfähigkeit und das Angewiesensein auf »fremde« Hilfe.

Mein Mann ist nicht fremd, er weiß, was ich brauche und kümmert sich um mich. Er bringt mir eine große Tasse Tee, ein Käsebrot, verschiebt den Termin und spricht mit mir über den Alltag. Er hilft mir in diesem Moment bei der Versorgung. Also wäre er ein pflegender Angehöriger. Falsch.

Wer »pflegebedürftig« und wer »pflegender Angehöriger« ist, regelt das Gesetz – genauer das Sozialgesetzbuch (SGB XI) – und nicht eine wiederkehrende momentane Befindlichkeit bzw. die Hilfsbereitschaft eines Familienmitglieds.

Zur Feststellung einer Pflegebedürftigkeit werden bei der Begutachtung durch den MDK – Medizinischer Dienst der Krankenkassen – sechs maßgebliche Module berücksichtigt, die die Selbstständigkeit bzw. die Fähigkeit betrachten, die für die Bewältigung des täglichen Lebens wesentlich sind. Erst dann kann eine Einstufung in einen der derzeit fünf Pflegegraden möglich gemacht werden. Das Ganze folgt einem nicht unkomplizierten Punktesystem. Detaillierte Infos dazu in den hinten genannten Internetquellen, bevorzugt auf den Seiten der Krankenkassen, die auch eine Vorbereitungs-Checkliste zur Einstufung bereithalten.

Nur durch diese Einstufung kann man gesetzlich geregelte Ansprüche finanzieller oder organisatorischer Art geltend machen. Und da fängt das erste Ungleichgewicht leider an, denn viele ältere Menschen wollen erfahrungsgemäß »niemandem zur Last« fallen – sogar nicht einmal dem Sozialsystem, selbst dann nicht, wenn sie ihr Leben lang in die gesetzliche (oder private) Krankenversicherung (bei der die jeweilige Pflegeversicherung angedockt ist) eingezahlt haben. Außerdem ist ja die Einstufung immer auch eine Bestätigung, dass man »hilfebedürftig ist« – und das ist natürlich ein Eingeständnis, zu dem man bereit sein muss. Daher stellen viele Pflegebedürftige erst gar keinen Antrag auf Leistungen der Pflegeversicherung oder untersagen es den Angehörigen, womit sie natürlich auch aus jeder Statistik herausfallen.

»Pflegebedürftigkeit« ist übrigens kein wissenschaftlich gesicherter Begriff. Er ist im Aushandlungsprozess um Art und Umfang der Leistungsgewährung entstanden. Da es auch um das Grundgesetz geht, das uns Würde, Respekt vor der Privatheit und Teilhabe garantiert, ist der Begriff »Lebensqualität« nicht weit. Und Lebensqualität und Balance gilt es für beide Seiten zu erhalten – für den Pflegebedürftigen und auch für den pflegenden An-/Zugehörigen. (vgl. auch »Siebter Bericht zur Lage der älteren Generation in der Bundesrepublik Deutschland, Drucksache 18/10210)

Die Sorge für und die Pflege von älteren (und kranken) Menschen ist eine gesellschaftliche, soziale und auch sehr persönliche Herausforderung.

Viele Menschen werden zu »Kümmerern« – sie versorgen, pflegen und sorgen für ihre alten und kranken Angehörigen. Wenn wir von »Pflege« sprechen, meinen wir in erster Linie die »berufliche, fachliche Pflege« von qualifizierten und geschulten Menschen. Bei dem Begriff (Für)Sorge geht es laut Definition um die »unbezahlte Familienpflege«.

»Pflege« meint also im allgemeinen Sprachgebrauch eher den körperlichen Aspekt und »Fürsorge« die emotionale und soziale Betreuung.

Manchmal entscheiden sich Angehörige dazu, »nur« einen Teil zu übernehmen – z. B. die Fürsorge, wie Begleitung bei Einkäufen, Taxidienste zum Arzt oder Freunden, Behördengänge, Haushaltsangelegenheiten und einfach oft auch das schlichte »Da-sein«.

Eine körperliche Pflege dagegen ist immer auch eine sehr intime, anspruchsvolle, emotionale und fachlich relevante Angelegenheit. Es ist absolut verständlich, wenn das nicht jeder übernehmen kann oder auf der anderen Seite auch nicht möchte, dass Sohn oder Tochter diesen Part übernehmen. Solche Entscheidungen auf beiden Seiten haben immer mit Würde und Respekt zu tun.

Oft wird aber auch beides übernommen. Es geht dabei um Beziehung und Verbundenheit, denn sonst ist die Nähe, die bei Fürsorge und Pflege nicht umgangen werden kann, unmöglich. Das macht es nicht unbedingt einfacher, denn Emotionen lassen sich schlecht steuern.

Wenn die Pflege der Eltern übernommen wird, macht man sich erst einmal keine Gedanken über die Dauer, denn meistens fällt eine solche Entscheidung aus einem relativ akuten Anlass. Die Wenigsten von uns wissen aber, dass die durchschnittliche Pflegedauer bei mehr als acht Jahren liegt – also von Beginn des »Ein-bisschen-Kümmerns und Nach-dem-Rechten-Sehens« bis zur Pflege und Betreuung rund um die Uhr.

Erschwerend hinzu kommen äußere Umstände, die nur mit großem Aufwand oder Einschränkungen veränderbar sind:

Das alles sind maßgebliche Kriterien, die bei einer Entscheidung für oder gegen die Angehörigenpflege greifen. Sie sollten alle wohlbedacht sein und im Vorfeld besprochen werden. Dazu eignet sich möglicherweise eine »Familienkonferenz« mit Geschwistern, Eltern, Kindern, Ehepartnern und anderen »Zugehörigen«.

Und ja, sehr oft ist es schließlich dann ein »Liebesdienst« oder ein »Ehrenamt« (in doppeltem Wortsinn), den bzw. das wir unseren Eltern erweisen, und es ist in der Regel auch ein unterbezahlter, höchst anspruchsvoller »Nebenjob«. Aktuell gelten 316 Euro, die die Pflegeversicherung an den Pflegebedürftigen mit (mindestens) Pflegestufe 2 »… zur Sicherstellung der ehrenamtlichen Pflege durch Familie, Freunde oder Nachbarn für den unermüdlichen Einsatz …« weitergeben kann (Original-Zitat aus der Broschüre einer der größten Krankenkassen/Pflegeversicherung) .

Etwas »charmanter« drückt es das Sozialgesetzbuch XI, §37 Art.1, Abs.1 aus: »Mit dem Pflegegeld soll der Pflegebedürftige in die Lage versetzt werden, Angehörigen, dem Lebenspartner und sonstigen Pflegepersonen eine materielle Anerkennung für die mit großem Einsatz und Opferbereitschaft im häuslichen Bereich erbrachte Pflege und Betreuung zukommen zu lassen.«

So liegt fast nahe, dass selbstverständlich davon ausgegangen wird, dass die Versorgung automatisch und ehrenamtlich eigentlich ja nur von Angehörigen übernommen werden kann. Ob Angehörigenpflege in den familiären Bereich oder in den staatlichen gehört, wird breit diskutiert, ist aber wohl noch »ergebnisoffen« … Das ist in vielen europäischen Ländern, besonders in den Beneluxländern und in Skandinavien, völlig anders.

Viele pflegende Frauen (denn nach wie vor wird die Pflege überwiegend von Frauen übernommen) reduzieren ihre (bezahlte) Arbeitsstelle (und schaffen so Versorgungslücken in der eigenen Altersvorsorge) oder verzichten auf Freizeit und Erholungszeit für sich selbst.

Auch gesetzlich geregelt ist bei einem »plötzlichen Pflegefall«, dass man als Angehöriger bis zu zehn Tagen im Job pausieren kann. Dafür gibt es Lohn- bzw. Gehaltsfortzahlung von bis zu 90 % des Nettoeinkommens. Meistens wird vom Arbeitgeber eine Bescheinigung vom (Haus-)Arzt des Pflegebedürftigen gefordert.

Da aller Wahrscheinlichkeit nach eine Pflege (zu Hause) einen längeren Zeitraum in Anspruch nehmen wird, kann eine Pflegezeit von bis zu sechs Monaten (bei vollem Kündigungsschutz) beansprucht werden. Hierbei kann man sich auch nur teilweise freistellen lassen.

Eine sogenannte »Familienpflegezeit« kann/muss man bei Bedarf direkt im Anschluss beantragen (es darf keine Pause dazwischen sein). Die gesamte Dauer darf nicht mehr als maximal 24 Monate betragen, allerdings muss man bis zu 15 Wochenstunden wieder berufstätig werden. Für diese beiden Varianten gibt es keine Lohn- oder Gehaltsfortzahlung.

Relativ neu ist der Anspruch auf ein zinsloses Darlehen des Bundes. Es deckt derzeit zwischen mindestens 50 Euro und maximal der Hälfte des durch die Arbeitszeitreduzierung fehlenden Nettogehaltes ab und wird in monatlichen Beträgen ausgezahlt. Nach Ende der Pflegezeit muss der Betrag in Raten zurückgezahlt werden. Bei besonderen Härtefällen, z. B. eigenen Erkrankungen (die bei pflegenden Angehörigen gar nicht so selten sind) kann die Rückzahlung des Kredits erlassen werden.

Wenn man sich intensiv um einen »nahen Angehörigen« (dieser Begriff umfasst auch Stiefeltern, Schwager oder Schwägerin, sowie lebenspartnerschaftliche Gemeinschaften) in der letzten Lebensphase kümmern will (wenn der Angehörige z. B. im Hospiz ist), kann man sich bis zu drei Monaten von der Arbeit freistellen lassen. Einen generellen Rechtsanspruch gibt es nicht, da nur Betriebe mit mehr als 16 Beschäftigten Pflegezeit – und/oder Familienzeit (ab 26 Beschäftigten) gewähren müssen.

Es ist also nicht gerade einfach, zeitliche Ressourcen zu schaffen und immer mit viel Bürokratie und ganz sicher finanziellen Einbußen verbunden. Das ist gerade für uns als sogenannte »Sandwich-Generation« nicht unwesentlich, da wir sehr oft noch schulpflichtige oder studierende Kinder finanziell, emotional und ggf. mit Wohnraum unterstützen. Wenn dann noch pflegebedürftige Eltern dazukommen, wird es in vielen Familien im Wortsinn finanziell und räumlich »eng«.

Die Mehrfachbelastung psychischer und physischer Art führt wiederum zu Folgeerkrankungen, und nicht selten werden die Pflegenden dann selber zu Pflegebedürftigen, denn Stress macht bekanntermaßen krank. Im Englischen gibt es den Begriff des »caregivers stress«, der betrifft alle, die sich Tag und Nacht um kranke und hilfebedürftige Angehörige ohne Wertschätzung und Erholungsmöglichkeiten kümmern und dann selber krank werden.

Und dennoch – Frauen sind und bleiben im Augenblick Deutschlands größter Pflegedienst. Laut Barmer Pflegereport von 2018 übernehmen Töchter, Schwiegertöchter, Enkelinnen oder Ehefrauen zu 90 % die Pflege der über 75 % Menschen, die zu Haus versorgt werden. Das waren 2017 etwa 2,47 Millionen. Geschätzt wird ein Anstieg auf 4,07 Millionen im Jahr 2030 und ca. 5,32 Millionen in 2050. Ganz allgemein sind von allen »Hauptpflegenden« 14,4 % bis 49 Jahre, 26 % bis 59 Jahre, 25,7 % bis 69 Jahre, 16,2 % bis 79 Jahre und 17,7 % älter als 80 Jahre.

Pflege ist also – wie gesagt – »weiblich«, und das neben der Angehörigenpflege auch in ambulanten Diensten, stationären Einrichtungen oder Krankenhäusern. Warum? Weil wir Frauen das sowieso schon immer gemacht haben? Weil wir ja auch unsere Kinder großgezogen haben? Schließlich haben wir auch bei unseren Söhnen und Töchtern »Windeln« gewechselt, sie gebadet und gefüttert. Bei erwachsenen pflegebedürftigen Menschen sind es aber keine Windeln, sondern Inkontinenzmaterialien …, um es einmal drastisch auf den Punkt zu bringen.

Wo bleiben also die Männer? Es gibt zunehmend mehr Väter, die Elternzeit für sich entdecken, und die sozialen Medien sind voll von Männern, die stolz mit ihren Kindern am Herd oder im Supermarkt zu sehen sind. Leider gibt es nur selten Bilder, die zeigen, wie ein Mann seinen alten Vater wäscht oder seiner dementen Mutter das Essen anreicht. Die Frage nach dem »Warum« drängt sich mir hier förmlich auf, und so hoffe ich weiter, dass sich auch in diesem Zusammenhang ein Wandel vollziehen wird.

Um die Warum-Frage intensiver zu beleuchten, gibt es umfassende (soziologisch-gesellschaftswissenschaftliche) Literatur. Fakt bleibt aber, dass Frauen (immer noch) meistens schlechter bezahlt werden und/oder in Berufen mit deutlich niedrigerem Einkommen arbeiten. Die »Ernährer« der Familie sind nach wie vor überwiegend Männer. Da es sehr häufig zu einer Reduzierung der Arbeitszeit aufgrund der Intensität der Pflege kommt, wird das »automatisch« von Frauen erwartet. Pflegende Männer sind häufig selber bereits aufgrund ihres Alters aus dem Beruf ausgestiegen (Ehegattenpflege).

Wer aus seinem Job (befristet) aussteigt bzw. pausiert, um sich um seine Kinder zu kümmern, bekommt vom Staat Elterngeld und zwar aktuell bis zu 1.800 Euro monatlich. Wer sich um seine pflegebedürftigen Angehörigen kümmert, bekommt je nach Pflegegrad zwischen 316 und 901 Euro, die anteilig gekürzt werden, wenn ein ambulanter Pflegedienst mithilft.

Ich habe die Erfahrung gemacht, dass Männer anders als Frauen pflegen. Mein Gefühl ist, dass sie weniger zeitintensiv, dafür aber strukturierter vorgehen. Allerdings – auch mein persönliches Gefühl – überschätzen sich viele Männer und stoßen schneller an ihre Grenzen. Warum das so ist, ist erst einmal Spekulation – Forschungen dazu gibt es bisher kaum. Und interessanterweise gibt es tatsächlich auch Hilfeangebote speziell für pflegende Männer (z. B. von der Gemeinschaft katholischer Männer Deutschlands oder in der Männerarbeit der EKD). Dass auch hier ein gesellschaftliches Umdenken im Rollenverständnis stattfinden muss, liegt auf der Hand.

Überproportional viele Hauptpflegepersonen kommen aus der Pflege- oder Sozial-Branche. Das kann eine große Hilfe sein, da die beruflichen Erfahrungen bei Antragsstellungen, anderen bürokratischen Arbeitsschritten oder bei den eigentlichen Pflegeanforderungen alles einfacher machen. Andererseits ist die »Erwartungshaltung« des sozialen Umfeldes auch entsprechend höher.

Interessant ist auch, dass etwa 67,8 % der Hauptpflegepersonen mit dem Pflegebedürftigen in einem Haushalt leben (und ca. 15 % zu Fuß den Pflegeort erreichen können). Die Wenigsten können für eine längerfristige Entlastung sorgen und nur knapp 30 % können problemlos eine kurzfristige Vertretung finden. Dabei ist hinlänglich bekannt, dass pflegende Angehörige regelmäßige »Auszeiten« zur Regeneration dringend brauchen. Auch hier gibt es offensichtlich noch reichlich Handlungsbedarf.

Unterstützung können pflegende Angehörige durch Familie, Freunde, Nachbarn, ehrenamtliche Hilfsdienste und externe Hilfen, wie Pflegedienste oder Haushaltshilfen bekommen. Fast 12 % fühlen sich … alleingelassen … und das ist auch schon ein Ausdruck für das hohe Belastungspotenzial der Übernahme häuslicher Pflege.

Umso deutlicher stellt sich mir hier die Frage nach der Motivation, Angehörige zu pflegen. Dazu in den folgenden Kapiteln mehr …

Entlastungsmöglichkeiten der Pflegenden durch ambulante Pflegedienste werden laut Barmer Pflegereport 2018 zu etwa einem Drittel genutzt. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die meisten Pflegedienste (je nach Pflegegrad) weniger als eine Stunde vor Ort sind. Das heißt, es bleiben 23 Stunden Betreuung, Fürsorge und Pflege weiterhin in der Verantwortung der Angehörigen.

Insbesondere Tagespflegeplätze sind sehr knapp (es gibt sicher regionale Unterschiede, und Nachtpflege gibt es laut Pflegereport so gut wie gar nicht). Ich selber wurde von vier Pflegediensten wegen Personalmangels abgelehnt, als ich für meine Eltern (nur für sechs Wochen) einen ambulanten Pflegedienst in der Stadt suchte …

Pflege ist also eine Herausforderung – in vielerlei Hinsicht. Nun hat jeder seine eigene »Belastungsgrenze«, also den Punkt, wenn das Engagement ins Negative kippt. Das ist eine schwierige Situation für beide Seiten, denn wir erkennen nicht immer schnell genug, dass wir eine Grenze erreicht oder gar überschritten haben. Aber auch auf der Seite der Pflegebedürftigen gilt natürlich: Wer möchte schon gerne eine Belastung für die Familie sein?

Wann erkennt man also eine Überlastung, was sind die Anzeichen dafür?

Es sind in der Regel ganz allgemeine »Burn-out-Symptomatiken« wie Gereiztheit, Ungeduld, Aggression in Gedanken und Taten, Erschöpfung, Ängste, Schlafstörungen, Essstörungen, depressive Phasen. Körperlich macht sich eine zu hohe Belastung bemerkbar durch: allgemeine Schmerzsymptomatik (Rücken, Kopf, Gelenke), Herz-Kreislauf-, Magen- und Verdauungsbeschwerden, Bluthochdruck.

Gründe für die Belastungen, die sich auch noch gegenseitig bedingen und beeinflussen, sind so individuell wie jede einzelne Geschichte. Ich möchte hier fünf wichtige Merkmale nennen:

  1. Sozial: Veränderungen der Lebensplanung, neue, unbekannte Situation, familiäre Konflikte und Beziehungsprobleme, bürokratische Hürden und fehlende Anerkennung.
  2. Finanziell: Veränderungen im Wohnumfeld, Einbindung von »Entlastungshilfen (Pflegedienste), Probleme bei der Vereinbarkeit mit dem Beruf.
  3. Zeitlich: Notwendigkeit der (permanenten) Verfügbarkeit/Anwesenheit erhöht sich deutlich.
  4. Physisch: Mangelndes Wissen über Pflege(-Techniken), Heben und Tragen, unstrukturierte Arbeitsorganisation, Schlafmangel.
  5. Psychisch: Schuldgefühle, schlechtes Gewissen, Verunsicherung, Veränderung der vertrauten Person, Ängste, Sorgen, Isolation, Auseinandersetzungen mit Tod und Krankheit.

Es ist klar, dass, je höher der Pflege- und Betreuungsbedarf ist, die Belastung entsprechend ansteigt. Daher werden Entlastungs- und Unterstützungsangebote proportional mehr in Anspruch genommen, je höher der Pflegegrad ist.

Bei den Belastungen durch die Pflege unterscheidet der Barmer Pflegereport psychische und körperliche Belastungen. Aus meiner Erfahrung heraus und aus Gesprächen mit anderen Pflegenden bedingen sich eigentlich immer beide. In der angespannten Situation mit meinen Eltern war die körperliche Belastung bei mir »nur« das ständige »Unterwegssein«. Ich nahm in knapp vier Wochen vier Kilo ab. Ich hatte keine Zeit zum Essen, und wenn dann aus psychischen Gründen keinen Appetit.

Es werden weitere Belastungen beschrieben, die auch häufig in meinen Gesprächen mit den Pflegeprofis zur Sprache kamen. Dazu gehören, dass sich die Pflegenden müde, überlastet, alleingelassen, unverstanden und fremdbestimmt fühlen. Oft hörte ich den Begriff »Kontrollverlust«. Die pflegenden Angehörigen müssen mit ihren Emotionen wie Trauer, Wut und Zukunftssorgen umgehen, ohne adäquate Unterstützung zu erhalten. Wenn es Angebote gibt, fehlt die Zeit, denn man muss ja immer für eine »Vertretung« sorgen. Eine Spirale …

Umso interessanter ist es dann, abschließend nun einen Blick auf die folgenden Zahlen zu werfen, ein wichtiger Aspekt, damit Sie persönlich – wenn Sie mögen – sich einordnen können: Trotz aller genannten Schwierigkeiten heißt es, dass 87 % der Pflegenden meistens oder sogar immer »mit der Pflege gut zurechtkommen«. 15 % haben aber häufig ein schlechtes Gewissen, den Ansprüchen nicht gerecht werden zu können. 20,4 % empfinden die Pflege meistens oder immer als zu anstrengend, und bei 7,4 % treten Probleme mit der Familie auf. Sogar 22,7 % berichten von negativen Auswirkungen im Freundeskreis. Fast 10 % geben regelmäßige finanzielle Probleme an, und knapp 30 % fühlen sich gefangen in der Pflegesituation, auch oder weil 13,8 % regelmäßig Dinge in der Pflege übernehmen, die Scham oder Ekel auslösen.

Nach dieser theoretischen Betrachtung der Pflegesituation komme ich nun zu meinen Beispielgeschichten, die den praktischen häuslichen Pflegealltag spiegeln. Sicher finden Sie sich in der einen oder anderen Situation wieder …

Alltag und Probleme

der Pflegenden