Cover

Das Buch

Vor Jahrtausenden hat die Menschheit Sonden in die Tiefen des Alls geschickt, um neue Welten für die Besiedelung zu erforschen. Als die ersten Terraformer bei einem Planeten namens Nod eintreffen, um ihn für die kommenden Generationenschiffe vorzubereiten, müssen sie allerdings feststellen, dass es bereits Leben auf Nod gibt. Schnell wird ein Ausweichplan entworfen, aber dann enden plötzlich die Nachrichten von der Erde – und die Crew ist mit sich und dem seltsamen Leben auf Nod allein. Wiederum Tausende Jahre später macht sich ein Forschungsschiff von einer anderen Welt aus auf den Weg, auf der Menschen und intelligente Spinnen eine gemeinsame Zivilisation errichtet haben. Sie haben Funksignale aus der Richtung von Nod empfangen und hoffen nun, vielleicht Nachfahren der alten Menschheit zu treffen. Doch was sie dort vorfinden, ist etwas ganz anderes, viel Älteres – und es hat seit Äonen auf neue Wirtskörper gewartet.

Erster Roman: Die Kinder der Zeit

Zweiter Roman: Die Erben der Zeit

Der Autor

Adrian Tchaikovsky wurde in Woodhall Spa, Lincolnshire, geboren, studierte Psychologie und Zoologie, schloss sein Studium schließlich in Rechtswissenschaften ab und war als Jurist in Reading und Leeds tätig. Mit seinem Roman Die Kinder der Zeit gewann er den Arthur C. Clarke Award. Er lebt mit seiner Familie in Leeds.

ADRIAN TCHAIKOVSKY

DIE ERBEN
DER ZEIT

ROMAN

Aus dem Englischen von
Irene Holicki

WILHELM HEYNE VERLAG
MÜNCHEN

Titel der Originalausgabe:

CHILDREN OF RUIN

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Deutsche Erstausgabe 01/2020

Redaktion: Ralf Dürr

Copyright © 2019 by Adrian Czajkowski

Copyright © 2020 der deutschsprachigen Ausgabe by
Wilhelm Heyne Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Straße 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: Das Illustrat, München

Satz: Schaber Datentechnik, Austria

ISBN: 978-3-641-25012-6
V001

diezukunft.de

Für Paul

Wenn ihr durchschauen könnt die Saat der Zeit

Und sagen: dies Korn sproßt und jenes nicht.

William Shakespeare, Macbeth

VERGANGENHEIT EINS

NOCH EINE GENESIS

1.

So viele Geschichten fangen damit an, dass jemand aufwacht. Disra Senkovi hatte jahrzehntelang geschlafen. Zu Hause zog währenddessen ein ganzes Leben vorbei; da sie knapp unter Lichtgeschwindigkeit reisten, drängte die Relativität diese Zeit im Umfeld seines bewusstlosen Körpers auf den Bruchteil einer Lebensspanne zusammen. Für ihn selbst gab es dagegen gar keine Zeit, nur das Vergessen in der Kälteschlafkammer. In jenen Zeiten wusste man noch, wie man so etwas baute.

Senkovi hatte sich selbst ausgesucht, wie er geweckt werden wollte. Einige seiner Kollegen – in seinen Augen die weniger fantasievollen – ließen sich wichtige Daten über die Mission, Nachrichten von zu Hause oder Messwerte vom Schiff einspeisen, um mit dem Kopf voller Informationen aus dem Kälteschlaf zu springen, auf ihren Posten zu eilen und gleich am ersten Tag die Nase vorn zu haben. Lächerlich, wenn man bedachte, dass sie Arbeiten vor sich hatten, die Jahrzehnte dauern würden. Von den meisten seiner Kollegen hatte Senkovi noch nie viel gehalten.

Er selbst ließ sich paradoxerweise von einem Traum aufwecken.

Er schwamm im warmen, sauberen Wasser eines Korallenmeers, das schon lange vor seiner Geburt nicht mehr in diesem jungfräulichen Zustand existiert hatte. Von oben schien die Sonne auf die Oberfläche und brachte das Meer zum Leuchten, als bestünde es aus unzähligen Saphiren. Unter ihm erstreckte sich, so weit das Auge reichte, nach bestem Wissen rekonstruiert, das längst verschwundene Große Barriereriff in satten Rot-, Violett- und Grüntönen wie eine Alienstadt. Um die Korallenmetropole tummelten sich kriechend, schwimmend, dahinschießend oder sich treiben lassend ganze Scharen von Lebewesen. Er drehte sich langsam um sich selbst und warf noch halb im Schlaf, halb bereits wach, einen wohlwollend göttergleichen Blick über seine Schöpfung. Der Traum hatte den Zweck, ihn das Glück darüber spüren zu lassen, dass er diese Herrlichkeit hervorgebracht hatte, aber keinen Schmerz darüber, dass das Original schon lange vor ihm dahingegangen war.

Endlich machte sich einer seiner besonderen Freunde bemerkbar, zwängte seinen plastischen Körper aus einer Felsspalte und kam mit wellenförmigen Bewegungen vorsichtig auf ihn zu geschwommen. Augen wie die seinen und doch wieder nicht betrachteten ihn mit jenem Blick voller Weisheit, mit dem die Natur sonst nur die Eulen bedacht hatte. Er oder sie – das Geschlecht eines Oktopus war auf diese Entfernung nicht so einfach zu bestimmen – streckte wie Adam nach Gott einen Arm nach ihm aus, und er bewegte sachte seine Hand nach vorne, um sich berühren zu lassen.

Diesen schönen Traum hatte er selbst programmiert. Aus seinen persönlichen Erinnerungen hatte er eine Folge von komplexen mentalen Stimuli zusammengemischt und so etwas halbwegs Neues geschaffen. Das Ergebnis war immer noch von traumhafter Unwirklichkeit, aber das war gut so, das hatte er beabsichtigt. Außerdem hatte er mit viel Scharfsinn einen Weg finden müssen, um seinen Traum in den Schiffscomputer einzuschleusen, Begegnungen mit Meerestieren waren im Menü von verfügbaren Aufwachsequenzen schließlich nicht enthalten. Die Schwierigkeit war dabei nicht gewesen, der Datenbank des Schiffes die neurologische Sequenz unterzuschieben, sondern alle Spuren seines Eingreifens zu beseitigen. Allerdings war er zuvor schon so oft in die Systeme der Mission eingedrungen, ohne dass es jemand bemerkt hätte, dass er den Eindruck gewonnen hatte, die Terraforming-Initiative zu Hause nehme es mit der digitalen Sicherheit nicht so genau. So hatte er seine Streifzüge durch die virtuelle Architektur der Missionsprotokolle achselzuckend fortgesetzt. Was konnte ihm schlimmstenfalls passieren?

Auf diesen Wanderungen war Disra Senkovi auch auf Disra Senkovi gestoßen, zumindest auf das Crewprofil und das Gutachten, die unter diesem Namen gespeichert waren. Hohe Fachkompetenz war für alle Crewmitglieder selbstverständlich, viel mehr interessierte ihn das Ergebnis der verschiedenen Persönlichkeitsbeurteilungen. Bei einer Mission, die sich über viele Jahrzehnte erstreckte, legte man im Wesentlichen zwei Kriterien an, die einander zuwiderliefen. Einerseits untersuchte man, wie gut ein Crewmitglied über lange Zeit isoliert arbeiten konnte und damit zurechtkam, von der großen Masse und der Geschichte der Menschheit abgeschnitten zu sein. Diesen Test hatte er mit Auszeichnung bestanden. Andererseits wollte man wissen, inwieweit es der Kandidat tolerierte, auf engem Raum zusammen mit anderen Menschen zu leben, ohne ihnen entkommen zu können, und Senkovi sah erschrocken, dass er kurz davorgestanden hatte, deshalb abgelehnt zu werden. Dabei hielt er sich selbst für umgänglich und kontaktfreudig. Seit seinem neunten Lebensjahr hatte er sich Pseudointelligenzen ausgedacht, mit denen er sich unterhalten konnte, und hatte er nicht – mehr als sonst jemand in der Crew – daheim immer Haustiere gehalten? Gab es einen besseren Beweis für einen warmherzigen, liebevollen Charakter? Er hatte neunzehn Aquarien besessen, drei davon so groß, dass er darin schwimmen konnte. Viele der Wasserbewohner betrachtete er als enge Freunde. Wie konnte man so jemanden für antisozial halten, geschweige denn in so unfairer und verletzender Weise beurteilen?

Das war natürlich nicht ganz ernst gemeint. In den Gutachten ging es um Freundschaften mit Menschen, und die waren nie seine Stärke gewesen. Immerhin hatte er ein paar Freunde, und in einem aufgabenbezogenen Umfeld, wo alle auf ein gemeinsames Ziel hinarbeiteten, fügte er sich gut ein. In der dienstfreien Zeit war er zwar nicht gerade die Seele der Party, trat aber zumindest niemandem auf die Zehen. Seiner bescheidenen Meinung nach gab es außerdem keinen Menschen, der Witze mehr schätzte als er; leider fand die seinen außer ihm selbst niemand komisch.

Letzten Endes hatte man ihn so weit für sozial unbedenklich eingestuft, dass man ihm mit Blick auf seine unbestreitbare Fachkompetenz die Eignung für die Crew bescheinigt hatte. Anschließend hatten ihn diverse Unterroutinen des Computersystems in Kombination mit irgendwelchen Evaluationen zum Leiter des Terraforming-Teams hochgejubelt, eine Stufe unter dem Missionskommando, denn wenn man ein leicht gestörtes Genie im Team hatte, war es wahrscheinlich besser, es steuern als rudern zu lassen. So lautete tatsächlich der Kommentar des Psychologen, der die Beförderung empfohlen hatte, und Senkovi, der auch in diese Datei eingedrungen war, fühlte sich geschmeichelt.

Nun brauchte man ihn also, wenn er wach war. Er streckte seine Hand noch weiter durch den unwirklichen Ozean, aber der Tentakel konnte seinen Finger nicht ganz erreichen, und seine Haustiere auf der mehr als dreißig Lichtjahre entfernten Erde weilten längst nicht mehr unter den Lebenden.

Disra Senkovi schlug die Augen auf. Das selige Lächeln aus dem Traum hatte den Übergang mitgemacht und lag immer noch auf seinem Gesicht. Er fühlte sich erquickt und bereit für den neuen Tag. Eine kurze Anfrage an die Schiffssysteme gab ihm die Gewissheit, dass sie am Ziel waren. Die lange Reise durch die Kälte war zu Ende, der Abbremsvorgang abgeschlossen. Er richtete sich auf, rekelte sich (mehr der Form halber, als dass es wirklich nötig gewesen wäre, aber schließlich tat er ja alles Mögliche, weil man es so machte, um nur ja die Gefühle seiner Mitmenschen nicht zu verletzen). Er war in seinem Kälteschlafabteil nicht allein, aber auch nicht von einer ganzen Schar eben erwachter Crewmitglieder umgeben. Für seinen Auftritt gab es nur einen Zuschauer: Yusuf Baltiel, den Missionskommandanten.

»Chef«, grüßte Senkovi. Warum Baltiel ihm beim Aufwachen zusah, war mysteriös und daher beunruhigend. Senkovi hatte Ursache und Wirkung gern im Griff und war normalerweise klug genug, sich nicht überraschen zu lassen. Er schickte eine neue Anfrage an das Schiff und stellte fest, dass eine Menge Informationen für ihn und alle anderen außer Baltiel gesperrt waren. Das sieht nicht gut aus.

»Ich brauche eine zweite Meinung«, erklärte Baltiel.

»Lassen Sie mich raten – der Planet ist nicht da?« Der Witz war bei den ersten Exo-Sonden ein Dauerbrenner gewesen – manchmal zeigten die Daten einen erdähnlichen Planeten an, aber das war nur ein Eindruck, der durch das Zusammenwirken vieler anderer Faktoren entstand. Natürlich hatte man damals eine Sonde ins All geschossen, die viel stärker beschleunigte, als das bei einem bemannten Schiff möglich war. Die hatte festgestellt, dass tatsächlich ein terraformingfähiger Planet vorhanden war, und diese Information auch gemeldet. Man hätte doch wohl nicht bloß zum Spaß eine bemannte Mission losgeschickt? Senkovi wollte keinesfalls umkehren und nach Hause zurückfliegen.

»Der Planet ist da.« Erst jetzt fiel Senkovi auf, dass Baltiel, der sich normalerweise vollkommen unter Kontrolle hatte, ungewöhnlich verkrampft wirkte. Er vibrierte wie eine zu straff gespannte Saite. »Der Planet ist da«, wiederholte er. »Allerdings gibt es ein Problem. Ich halte es vorerst noch unter der Decke, aber um allein eine Entscheidung zu treffen, ist es zu groß. Sie müssen es sich ansehen.«

Wegen der Blockade – eine Maßnahme, die Senkovi als kindisch empfand – mussten sie tatsächlich zu Fuß zur Kommandozentrale gehen, um sich das Ding anzusehen, das Baltiel so sehr in Erregung versetzte. Alle anderen Crewmitglieder lagen noch friedlich auf Eis. Wen also wollte er mit dieser Nacht-und-Nebel-Aktion ausbremsen? Senkovi bombardierte das System mit Anfragen, um festzustellen, was er erfahren durfte und was nicht. Der Computer konnte ihm nicht sagen, was verboten war, doch als Senkovi schließlich auf einen Nerv traf, machte das System kurzerhand dicht. Zu Fuß von einem Ort zum anderen zu gelangen war in Senkovis Augen eine Art der Fortbewegung, die längst abgeschafft gehörte. Seine Beine hatten mit der zentrifugalen Schwerkraft zu kämpfen, und so stolperte er mit weichen Knien hinter Baltiel her, der mit forschen Schritten am Rand des ringförmigen Mannschaftsbereichs entlang vorauseilte. Baltiel blockierte auch Funksprüche nach Hause, stellte Senkovi mit Unbehagen fest, obwohl jeder Hilferuf, den er hätte absetzen können, erst in dreißig Jahren und ein paar Zerquetschten ankommen würde. Falls Baltiel ihm ans Leben wollte, könnte er sich, wenn überhaupt, keinesfalls so lange wehren.

»Sagen Sie mir doch, was los ist, Chef«, appellierte er kläglich an den Rücken des Mannes.

Baltiel blieb stehen und drehte sich um. Aus seinem Gesicht sprach ein geradezu religiöser Eifer, der Senkovi erschreckte. Er hat Gott gefunden, war sein erster Gedanke, und das war in vielfacher Hinsicht ein sehr schlechtes Zeichen, besonders mit Blick auf die jüngsten Nachrichten von zu Hause. Senkovi hatte auf dem Weg nebenbei die Updates durchgesehen – sie waren alle seit Jahrzehnten überholt, aber es hatte den Anschein, als hätte die Erde vor einiger Zeit größeren Ärger mit Wissenschaftsfeinden und verschiedenen Terrorgruppen gehabt. Du kannst froh sein, dass du im Weltall bist, Mann.

»Ich will, dass Sie es sich ansehen.« Das war keine bloße Geheimnistuerei. Baltiel hatte sich zu einer Erklärung aufschwingen wollen und es dann doch nicht geschafft.

Nach weiteren hundert knieweichen Schritten hatten sie die Kommandozentrale erreicht. Auf großen Bildschirmen waren Daten zur Sonne und den Planeten und eine visuelle Darstellung des Zielsystems zu sehen, das sie nun endlich erreicht hatten. Man hatte es nach dem vor langer Zeit um die Erde kreisenden Satelliten, der es zuerst am Firmament entdeckt hatte, Tess 834 genannt.

Senkovi fing ganz oben an, vergewisserte sich zunächst, dass der Stern nicht dabei war, zur Nova zu werden, und suchte dann nach größeren Störungen oder Lücken bei Tess 834 b, c und d, den drei gewaltigen Gasriesen um den Gürtel des virtuellen Planetenmodells. Sie durften sich mit den ersten Buchstaben des Alphabets schmücken, weil sie dank ihrer Masse als Erste von den Instrumenten der Erde entdeckt worden waren. Zwei davon standen dem Jupiter an Größe nicht viel nach, der dritte war sogar erheblich größer. Guter Schutz vor Meteoriten für unsere inneren Welten, dachte er. Die Planeten e und f waren weiter draußen, riesige Klumpen aus Felsen und Eis, die einsam in den Gefilden ihre Bahnen zogen, wo die Sonne des Systems kaum mehr war als ein weiterer Stern unter vielen. Innere Welten gab es drei, eine davon streifte auf ihrer Bahn fast die Sonnenatmosphäre, die beiden anderen kreisten unmittelbar nebeneinander in der breiten Ökosphäre, waren aber so unterschiedlich, wie Geschwister nur sein konnten. Senkovi rief, immer noch auf Störungssuche, weitere Informationen ab. Tess 834 g, der äußere von beiden, war etwas kleiner als die Erde. Seine Eis-Albedo leuchtete durch die dünne, von Treibhausgasen freie Atmosphäre. Was ihn an Wärme erreichte, wurde sofort abgestrahlt und verschwand im All; auch wenn sich diese Welt in der sogenannten Goldlöckchenzone befand, die für Menschen bewohnbar war, bekäme eine blonde Besucherin außer im Hochsommer am Äquator ihren Haferbrei nur als ungenießbaren Eisklumpen zum Frühstück serviert. Tess 834 h, der zweite Planet und ihr Ziel, war wärmer als die Erde und etwas größer, seine schwüle, wärmespeichernde Atmosphäre hielt gierig alles fest, was von der Sonne kam. Er hatte einen Mond, der groß genug war, um mit seiner Schwerkraft für Gezeiten zu sorgen und die Drehachse stabil zu halten. Erste Scans zeigten, dass die meisten Elemente, die für menschliches Leben nützlich sein konnten, vorhanden waren. Nachdem man die Terraformer darauf losgelassen hatte, wäre er alles in allem als Lebensraum gut geeignet. Die Terraformer konnten mit minimalem Aufwand eine funktionierende Ökologie etablieren, und eines Tages könnten dann vielleicht menschliche Kolonisten kommen und dort leben. Wenn ihnen nicht die verrückte Kern zuvorkam und im Namen der Wissenschaft abscheuliche Verbrechen beging. Viele Mitglieder des Terraforming-Teams waren von ihrer berühmten Meisterin und Führerin Avrana Kern enttäuscht, weil ihre Prioritäten offenbar nicht wirklich mit den Missionszielen übereinstimmten. Senkovi war jedoch frustriert, weil sie mit all den schönen Dingen spielen durfte, die ihm selbst gefallen hätten.

»Das sieht alles …« Gut aus, hatte er sagen wollen, aber als er es aussprach, erschien es ihm etwas zu gut. Besonders der Sauerstoffgehalt auf Tess 834 h war höher, als man erwartet hätte. »Äh, was sollte ich …?«

»Das war eine von den späteren Untersuchungen«, sagte Baltiel hinter ihm. »Zu diesem Zeitpunkt arbeitete man schon sehr gezielt. Nach den anderen Dingen suchte man gar nicht mehr. Den ausgefallenen Dingen.« Den wirklich interessanten Dingen. Das hatte er zwar nicht gesagt, aber Senkovi hörte den Gedanken unausgesprochen mitschwingen.

Das Schiff hatte eine eigene Untersuchung durchgeführt, als es sich dem System von Tess 834 näherte. Seine Instrumente waren den alten Exo-Sonden weit überlegen und zeichneten ein detailliertes Bild der Herausforderungen, die auf die Terraformer warteten. Das Schiff selbst hatte bei den Ergebnissen nicht mit der Wimper gezuckt und auch nicht in Betracht gezogen, dass es womöglich eine Entdeckung gemacht hatte. Wie die Exo-Sonde konnte es nur das wahrnehmen, wonach es suchte. Senkovi hatte ähnliche Schwierigkeiten. Er rief sogar das beste visuelle Bild des Planeten auf, im Vorbeiflug aufgenommen, bevor das Schiff auf seiner Bahn um die orangerote Sonne abbremste. Ein einziger brauner Megakontinent, ein großer tintenschwarzer Ozean, spiralförmige Wolkenfetzen. »Wenn ich ehrlich bin, sieht das nach einem idealen Gebiet für ein Terraforming aus …«

Aber Baltiel schwieg, und nach einer Weile versank jedes Geräusch im Raum, jedes Scharren und Rascheln im unergründlichen Abgrund seines Schweigens. Er wartete darauf, dass Senkovi die Daten hin und her wendete wie eine optische Täuschung, um auch die Kehrseite der Medaille zu sehen. Und endlich betrachtete Senkovi die Werte nicht länger wie eine Exo-Sonde, sondern las sie wie ein Mensch, und nun verstummte auch er.

Sie hatten sich weiter von der Erde entfernt als je ein Mensch zuvor. Seit einer Generation waren sie unterwegs, hatten einen von politischen Unruhen zerrissenen Planeten hinter sich gelassen, um diese ferne Wüstenkugel mit Leben zu beschenken. Aber sie kamen zu spät. Das Leben war bereits da.

2.

Das Terraforming-Schiff war auf den Namen Ägäis getauft worden. Außer Senkovi und Baltiel dachten alle, das sei lediglich eine von vielen unbedenklichen Bezeichnungen auf der langen elektronischen Liste von Raumschiffnamen, die auf irgendeinem Computer gespeichert war. Tatsächlich hatte Senkovi den schwächsten Teil der Datenkette gehackt und aus Maratha Ägäis gemacht, weil ihm das besser gefiel, hielt es aber nicht für sinnvoll, das allgemein bekannt zu machen. Schließlich hatten alle so viel anderes im Kopf.

Die Crew der Ägäis bestand aus dreizehn Personen, und inzwischen waren alle wach. Elf Männer und Frauen tummelten sich in der Datensphäre des Schiffes, um herauszufinden, was eigentlich vorging. Senkovi hätte es vorgezogen, die Information entweder allen zugänglich zu machen oder gar nichts zu verraten, aber Baltiel war im Grunde seines Herzens ein verhinderter Entertainer, außerdem beabsichtigte er, eine ziemlich drastische Abweichung vom Missionsplan vorzuschlagen. Senkovi, der vorgewarnt war, arbeitete bereits an eigenen Gegenanträgen, denn schließlich war er nicht ohne Grund hierhergekommen, und er hatte es nicht gerne, wenn man seine Abläufe durcheinanderbrachte, auch wenn diese Abläufe Jahrzehnte im Voraus geplant worden waren.

Bevor sie die anderen weckten, waren er und Baltiel schon fleißig gewesen. Die Ägäis befand sich auf einer stabilen Umlaufbahn um Tess 834 h, allerdings bezog sich die Informationssperre auch auf die Bildschirme, die sonst wie durch ein Fenster eine Aussicht auf die Welt unter ihnen geboten hätten. Die beiden Frühaufsteher hatten eine fernsteuerbare Sonde für inneratmosphärische Erkundungsflüge vorbereiten lassen, um sie auf einen Sondereinsatz zu schicken. Den größten Aufwand hatte es dabei gekostet, das Ding gründlich zu desinfizieren. Es gab terrestrische Mikroben, die das Vakuum und die Hitze beim Wiedereintritt in die Atmosphäre überstehen konnten, und im Laufe eines Jahrhunderts war durch die Raumfahrtindustrie ein bizarres, neues Habitat entstanden, in dem sich allmählich Bakterien und Pilze angesiedelt hatten. Normalerweise hatten die Terraformer damit weiter kein Problem, schließlich hatten sie ja die Aufgabe, neue Planeten mit so vielen Lebewesen wie nur möglich zu besiedeln. Aber Baltiel wollte kein Risiko eingehen. Die Welt da draußen trug bereits Leben, und eine mikrobielle Apokalypse zu entfesseln war keinesfalls seine Absicht.

So hatten sie das Gerät von Grund auf unter sterilen Bedingungen aufgebaut, ausgedruckt, mit gummiartigem Schaum ummantelt und es ins All hinausgestoßen. Dort wurde die Beschichtung abgerieben, bis nur noch die jungfräuliche, von Menschenhänden unberührte Sonde übrig blieb.

Dann hatten sie die Sonde in die Planetenatmosphäre geschickt, damit sie sich dort umsah. In Senkovis Fantasie wimmelte es von Algenteppichen, Bakterienmatten und biogenen Sedimentgesteinen, sogenannten Stromatolithen. Auf der Erde war die Geschichte des Lebens über lange Zeit von primitiven Einzellern geschrieben worden, die entweder alleine existierten oder sich zu rudimentären unstrukturierten Kolonien aneinanderhefteten. Vielzelliges Leben war nur der frische Schaum auf einem großen Bottich voller fressender, sich teilender und absterbender Prokaryonten. Folglich hatten sie damit gerechnet, dass die Küstenlinien des einen großen Kontinents auch hier von einer Schleimschicht aus undifferenzierten Lebewesen überzogen waren.

Dann war die Sonde so tief gegangen, dass sie Bilder aufnehmen konnte, und sie hatten wie gebannt zugesehen, ihre Vorstellungen revidiert und sich immer wieder angeblickt. Bei dem Gedanken, was das für seine Arbeit bedeutete, hatte Senkovi die Finger ineinander gekrallt; Baltiel hatte stocksteif dagestanden. Ein Mann, der seine Bestimmung gefunden hatte.

Sie hatten die Sonde in einen eigenen Orbit gesteuert und dem Schiff befohlen, die anderen zu wecken. Nun waren alle versammelt, und Baltiel konnte den Vorhang aufziehen und ihnen das Wunder zeigen.

»Sie fragen sich wahrscheinlich, ob ich den Verstand verloren habe«, begann er. Tatsächlich hatte er die Anfragen an die Schiffssysteme überwacht und mit seinen Kommandoprivilegien auch die Gespräche belauscht, die zwischen den Implantaten stattfanden. Einige von den Leuten waren wirklich der Meinung, er hätte infolge des Kälteschlafs einen Zusammenbruch erlitten, obwohl das bei den modernen Geräten angeblich ausgeschlossen war. Andere hatten die Nachrichten von der Erde abgerufen, alle Signale durchsucht, die der Ägäis nachgeschickt worden waren, und daraus den unerfreulichen Schluss gezogen, dass auf der Erde – auf der Erde vor einunddreißig Jahren – de facto ein Krieg tobte. Wollte sich Baltiel auf die eine oder andere Seite schlagen? Wollte er einige von ihnen als wissenschaftsfeindliche Quislinge beschuldigen? Bei dem Konflikt, der sich zu Hause zusammenbraute – beziehungsweise bei dem Konflikt, der sich damals zusammengebraut hatte –, standen sich nicht nur Wissenschaft und Konservatismus gegenüber, doch da sie alle Wissenschaftler waren, hatten sie per se ein verzerrtes Bild.

Nicht wenige hatten versucht, die Blockade zu umgehen, entweder, um weitere Informationen zu erhalten oder, im Fall von Doktor Erma Lante, einen Bericht nach Hause zu schicken. Senkovi, der Baltiel inzwischen bereitwillig unterstützte, war es aus dem gleichen Grund, aus dem Wilderer die besten Wildhüter abgeben, gelungen, sie alle abzuschmettern. Was Lante aus dieser Entfernung mit einem Bericht nach Hause ausrichten wollte, war ihm ohnehin ein Rätsel. Sie waren ein eigener kleiner Staat aus dreizehn Bürgern, abgeschnitten von der Entwicklung der Menschheit, gestrandet auf einer einsamen Insel in einem Meer von der Größe des Universums.

»Sehen Sie sich das an«, verlangte Baltiel, als sie alle in einem der Besprechungsräume der Ägäis versammelt waren, und rief die Auszüge aus dem Bericht der Sonde auf, die er ausgewählt hatte.

Unter dem wolkenverhangenen, wie eine Makrele gestreiften Himmel lag eine weite rötlichbraune Senke. Sie wurde durchzogen von zwei Bergketten, die an halb vergrabene Wirbelsäulen erinnerten und den Megakontinent wie Nähte zusammenhielten. Dies war das heiße, trockene Herz der tropischen Breiten. Die Sonde überflog in gleichmäßigem Tempo ein Trockengebiet von der Größe Asiens. Aus dieser Entfernung und ohne Vergrößerung wirkte es nahezu gleichförmig. Doch dann ging die Sonde wie geplant tiefer, und der Blickwinkel veränderte sich. In ständig wechselnden Fußnoten rasten Daten zu Höhe, Temperatur etc. über den Bildschirm.

Zunächst hätte man meinen können, den alten Mars vor sich zu haben, und nur die Krater fehlten. Diese Welt war eine Wüste: abschreckend unwirtlich. Sie wartete förmlich darauf, dass die Menschheit ein neues Paradies erschuf.

Die Sonde ging noch tiefer und glitt nun in nordöstlicher Richtung über die Welt. Weiter vorne zeigte eine schwarze Linie die Nachtgrenze an, und die Aufnahmen kamen ihr immer näher. Wieder veränderte sich der Blickwinkel, das Bild wurde vergrößert, ruckte nach rechts – das lag daran, dass Baltiel das Material nach dem Flug nicht allzu geschickt bearbeitet hatte. Er war zwar ein Träumer, aber nicht unbedingt ein Künstler. In der Wüste gab es Seen, allerdings war nicht klar, woraus sie bestanden. Die Farben – Gelb, Rostrot und Blaugrün wie Kupferverbindungen – sprangen einen aus der mattbraunen Fläche förmlich an, oft fügten sich mehrere konzentrische Ringe in jeweils einem der unglaublich grellen Farbtöne aneinander. Man fühlte sich an die Abwasserpfützen einer Chemiefabrik erinnert, die kurz davorstand, von Umweltschutzlobbyisten geschlossen zu werden. Die Ufer trugen Krusten aus glitzernden Kristallen. Ein schöner Anblick, aber wie ein Aushängeschild für eine Welt, die kein Lebensraum für Menschen war. Die angezeigte Temperatur betrug einundsechzig Grad Celsius.

Die Sonde ging immer noch tiefer. Es wurde kein Ton übertragen, aber außer dem Wind, dem Prasseln der Staubteilchen und dem Dröhnen der Lufthutzen, die zu verhindern suchten, dass sich die Sonde überhitzte, wäre auch nichts zu hören gewesen. Jemand hatte Muster in den Schlamm um die Pfützen und auch in das giftige Wasser gezeichnet, komplexe radiale Gebilde wie dunkle Schneeflocken, die sich immer weiter verzweigten, bis sie sich schließlich berührten. Baltiel hielt sie für eine Art von Bakterienkolonien; Senkovi meinte, sie könnten genauso gut anorganisch sein. Aber das waren von den Bildern, die er der Crew zeigen wollte, noch die harmlosesten; der Entertainer war wieder am Werk.

Er hatte jedoch schon vorhergesehen, dass sein Publikum etwas unruhig werden könnte, nachdem es fast dreißig Minuten lang auf eine fremde Wüste gestarrt hatte. Daher wechselte der Blickwinkel der Sonde abermals, nun schaute sie auf die schroffen Gipfel einer der Gebirgsketten, vergrößerte und zoomte heran, bis über dem roten Felsen ein beweglicher Punkt erschien. Obwohl die Sonde alles gab, was sie hatte, war schwer zu erkennen, was man da sah. Etwas Helles bewegte sich durch die Luft, und das menschliche Auge versuchte, einen Vogel oder eine Maschine daraus zu machen. Die Sonde verfolgte das Ding und kam ihm immer näher. Jetzt glich es am ehesten einem dünnen Plastikbeutel, der vom Wind erfasst und auf und ab geweht wurde.

Wo die Wüste an die Berge stieß, war der Wind sehr stark; bis dahin hatte er schließlich freie Bahn gehabt, nun kamen ihm die steilen Felswände in die Quere. Die Sonde verlor sich in rotbraunen Sandwolken und Staubhosen. Ein ganzes System von Aufwinden beförderte alle Arten von feinem Schutt in die höheren Schichten der Atmosphäre.

Die Kamera hatte den Plastikbeutel vorübergehend aus dem Blick verloren; nun kam er wieder in Sicht, diesmal viel näher. Die Sonde stieg erneut nach oben, bis sie über den Gipfeln war, und schaute hinab: Das Ding – es war ganz eindeutig lebendig – flog in trägen Wellenbewegungen an den Bergen entlang.

»Wir schätzen, dass der Durchmesser mehr als zehn Meter beträgt«, ließ sich Baltiels Stimme vernehmen. Die Sonde lieferte kaum Hinweise auf die Größe.

Das Gebilde war von radialem Körperbau und hatte Ähnlichkeit mit einer Qualle aus mehreren unglaublich dünnen Schichten. Es flog mit dem Wind und zog Filamente hinter sich her, die nur zu sehen waren, wenn das Sonnenlicht darauf fiel. Die Sonde verfolgte es lange, und Baltiel wies darauf hin, dass es nicht bloß ein toter Gegenstand war, mit dem die Elemente ihr Spiel trieben. Gewisse Strukturen in seinem Innern veränderten unentwegt ihre Form und ihre Größe, als würde eine Mannschaft von Seeleuten immer wieder Segel reffen und aufziehen. Im Publikum vermutete man, Baltiel sehe wohl eher, was er gern sehen wolle, doch alle stimmten darin überein, dass sie ein gigantisches fliegendes Nesseltier vor sich hatten. Alle sahen ein Alien. Was immer die Zuschauer von Baltiels persönlichen Schlussfolgerungen halten mochten, die Darbietung hatte ihre Stimmung und sie selbst für immer verändert.

Sie waren die ersten Menschen, die etwas zu Gesicht bekamen, was sich ohne jedes Zutun der Erde auf einer anderen Welt entwickelt hatte.

»Das war noch gar nichts«, erklärte Baltiel und rief die nächste Nummer auf seiner extraterrestrischen Playlist auf.

Dieser Film gehörte schon wegen seiner künstlerischen Ausstrahlung zu seinen Favoriten. Die Sonde schwebte durch den Nachthimmel über einem Gebiet, das öde, zerklüftet, aber flach wirkte; eine weitere Wüste, aber in mittlerer Höhe, ein Plateau von annähernd der Größe (und rein zufällig auch der Form) von Texas. Der Mond des Planeten stand als schmale Sichel am Himmel. Die Kameras der Sonde verstärkten das Licht, so gut sie konnten. Das Gelände hatte eine seltsame Struktur, es war übersät mit knorrigen Klumpen, die, geballten Fäusten gleich, in einigem Abstand voneinander auf dem Boden kauerten.

Der Zeitpunkt war ein reiner Glücksfall; die Sonde versuchte (von Baltiel gesteuert) immer noch zu verstehen, was sie da sah, als die Sonne über dem Rand der Welt heraufstieg und alles in rotes Licht tauchte. Sobald es über dem Hochplateau heller wurde, öffneten sich die Fäuste spiralig und breiteten fünf verzweigte Arme aus. Die Innenflächen waren schwarz wie Tinte – nicht chlorophyllgrün oder von irgendeiner anderen Farbe, eher Solarzellen als Pflanzen ähnlich, dennoch absorbierten sie das Sonnenlicht, um es in einem der Photosynthese vergleichbaren Prozess umzuwandeln. Und wozu? Ihre Welt war die Hochfläche, die sie bedeckten. Vielleicht war diese sessile Form nur das Erwachsenenstadium, und die Larven wurden vom Wind davongetragen, um von den Riesenquallen gefangen und verzehrt zu werden … vielleicht, vielleicht, lauter Spekulationen, die Baltiel und alle anderen in den Hurrikan des Unbekannten schleuderten.

Jetzt schwebte die Sonde über dem Meer, aber für dieses Medium war sie nicht geeignet, und das Wasser war fast völlig undurchsichtig. Doch dicht unter der Oberfläche bewegte sich etwas – groß und rund, ein fahler Schatten, der in der Tintenschwärze des Ozeans flimmerte. Mehr konnte die Sonde nicht erkennen und glitt weiter. Als Nächstes sah man kleine Knötchen auf den Wellen hüpfen – »klein« hieß immer noch größer als ein Mensch, aber der dunkle Ozean war so riesig, dass alles andere winzig wirkte. Die Knötchen waren durchsichtig und von Adern durchzogen. Baltiel hielt sie für unreife Himmelsquallen. Vielleicht. Vielleicht.

Baltiel zeigte seiner Crew auch die Pole – dort gab es weder Land noch Eis, dafür ein seltsames Sargassomeer aus langen Wedeln, eingerollten Blättern und Blüten, das sich über Hunderte von Quadratkilometern erstreckte. Alles war in Naben und Speichen angeordnet und ergab aus der Vogelperspektive ein bizarres Mosaik. Das Gewirr schien lebendig, aber inaktiv zu sein, dennoch hatte man den Eindruck, als befände sich darunter etwas in ständiger Bewegung.

Inzwischen schickte niemand mehr Anfragen an den Computer oder versuchte, die Blockade zu umgehen. Baltiel hatte sein Publikum fest im Griff, wer wollte es den Leuten verdenken? Dabei hatte er sich das Beste bis zum Schluss aufgehoben.

Die letzte Sequenz spielte da, wo Meer und Land zusammentrafen. Das Gebiet war vom heißen und trockenen Binnenland durch Berge getrennt, an denen sich die Regenwolken stauten und alles an Feuchtigkeit abgaben, was sie in sich trugen. Hier war man in den höheren Breiten, für Erdenmenschen war es immer noch heiß, aber verglichen mit den mörderischen Tropen wehte fast schon ein kühles Lüftchen. Der Blick der Sonde schweifte über eine schlammige Ebene mit Seen und Bächen, ein Salzsumpf, so weit das Kameraauge reichte.

Es wimmelte von Leben. Blüten, Blätter oder andere Alienorgane öffneten sich der Sonne, Wurzeln gruben sich in die Tiefe, um aus dem salzgesättigten Boden die Mineralien zu ziehen, die das Meer mitgebracht hatte. Vielleicht war es auch ganz anders, vielleicht waren hier fremdartige Prozesse im Gange, die ihresgleichen auf der Erde nicht hatten. Alles war niedrig und verkrüppelt; die Flora dieser Welt hatte nichts hervorgebracht, was einen hohen Baum aufrecht gehalten hätte. Alles war mehr oder weniger schwarz, an manchen Stellen blaugrün oder rostrot schillernd. Die Sonde ging tiefer, die Kameras hatten eine Bewegung entdeckt. Etwas Helles flitzte dicht über dem Boden dahin, das Ding hatte Flügel, es war eindeutig keine Qualle und auch kein Vogel, denn es schnellte sich in kurzen Sprüngen erstaunlich flink durch die Luft. Dahinter auf dem Boden wurde es wieder lebendig, das Bild von Jäger und Beute drängte sich auf. Wesen, die wie stachlige Steine aussahen, setzten sich schaukelnd in Bewegung und weideten in gemächlichem Tempo die Seeufer ab.

Hier beendete Baltiel die Präsentation. Die Crew hatte genug gesehen, um sich vorstellen zu können, wie viel mehr es noch zu entdecken geben musste. Oh, der eine oder andere mochte insgeheim enttäuscht sein, weil er mit einer ganz bestimmten Geschichte aufgewachsen war. Wenn man auf eine fremde Welt kam und dort den Aliens begegnete, sollten die Aliens doch imstande sein, einen zu begrüßen. Die Wissenschaft mochte so weit fortschreiten, wie sie wollte, der Mensch sah sich doch weiterhin als Mittelpunkt des Universums. Wozu war das alles gut, wenn nicht, um Intelligenz zu entwickeln? Wo waren die Städte, die Raumhäfen, oder wenigstens die verlassenen Ruinen einer älteren Zivilisation? Und doch war hier zum ersten Mal fremdes Leben entdeckt worden, das ein Mensch mit bloßem Auge sehen konnte. Ein Wunder, dass es überhaupt dem bakteriengleichen Stadium entwachsen war; ein Wunder, dass das Ergebnis überhaupt als »Leben« erkannt werden konnte.

Nun rief Baltiel den Missionsplan ab, der natürlich (und ganz nebenbei) beinhaltete, dass all dies zu zerstören und durch etwas zu ersetzen sei, das eher zu den heimischen Vorstellungen passte.

Senkovi beobachtete mit Interesse die Reaktionen der Crew. Es gab keine Garantie, dass die Leute dies mit Baltiels Augen sehen würden. Immerhin haben wir uns, wie es in den alten Filmen heißt, einunddreißig Lichtjahre von der Erde entfernt, um Kaugummi kauend Planeten zu terraformen, und jetzt ist uns der Kaugummi ausgegangen. Tatsächlich war durchaus noch Kaugummi vorhanden, zumindest hätte man ihn herstellen können, aber darum ging es ja nicht.

Was war ein Terraformer schließlich für ein »Typ«? Doch sicherlich ein kühner Abenteurer, hartgesotten und technisch versiert, jemand, der sich ähnlich den Eisenbahnbauern von einst an den Außengrenzen des menschlichen Einflussbereichs einen neuen Lebensraum erschließen wollte. Natürlich war das dummes Zeug. Niemand fristete hier ein kümmerliches Dasein, von allen Seiten bedroht, um seiner Familie jeden ersparten Groschen nach Hause schicken zu können. Terraformer waren auch keine Kolonisten, denen das Schicksal zumutete, unter einem fremden Himmel auszuharren, bis entweder sie oder der Planet kapitulierten. Wenn die beschleunigten Terraforming-Verfahren ihre Wirkung zeigten, würden die Terraformer selbst mit dem ersten Schiff abfliegen und einen unberührten Planeten zurücklassen, auf dem andere sich ansiedeln konnten. Es sei denn, sie hätten sich so unsterblich in ihr eigenes Werk verliebt, dass sie sich, allen Richtlinien und Regularien zum Trotz, zum Bleiben entschlossen. Und dazu …

»Das hat mich in ein größeres Dilemma gestürzt«, sagte Baltiel gerade. Er wollte seine Gedankengänge nachvollziehbar machen, obwohl er die Lösung bereits gefunden hatte. »Wir stehen vor einer noch nie da gewesenen Situation. Sie war auch in unserem Missionsauftrag nicht vorgesehen.« Mit einer Grimasse legte er weitere Unterlagen auf die Displays der Implantate oder die Schiffsmonitore. »Hier die allerersten Terraforming-Expeditionen innerhalb des Sonnensystems und die erste Mission überhaupt, die einst das Systems verließ. Alle Welt war ganz wild auf extraterrestrische Lebensformen. Unmengen von Geld und Ressourcen wurde verschleudert, und man fand keine einzige Mikrobe. Deshalb fiel das Thema bei späteren Missionen unter den Tisch. In den Missionsvorschriften kommt es nicht mehr vor. Und wir können uns auch nicht an die Erde wenden und dann zweiundsechzig Jahre darauf warten, dass man uns mitteilt, wie wir uns verhalten sollen. Die Entscheidung liegt bei uns.« Womit er natürlich bei mir meinte.

Senkovi überlegte, dass sie sich auch für gut sechzig Jahre wieder schlafen legen und dem Schiff befehlen könnten, sie zu wecken, wenn die Erde einen Entschluss gefasst hatte, aber das roch nach einer sklavischen Autoritätshörigkeit, die er noch nie gebilligt hatte. Überraschend fand er jedoch Baltiels Kreuzzugsbegeisterung. Offenbar war der Mann weniger konventionell gestrickt, als Senkovi gedacht hatte.

»Ich hoffe, Sie stehen bei der Entscheidung, die ich hier treffen werde, alle hinter mir. Wir können den Planeten einfach nicht umkrempeln«, wandte sich Baltiel an die Versammelten. »Das wäre ein Verbrechen, ein Genozid an einer Lebensform, wie wir sie vor dem Ende unserer Spezies vielleicht nie wiederfinden werden.« Bei den meisten rannte er offene Türen ein. Wodurch wurde ein Terraformer bestimmt? Offenbar von der Bereitschaft, auf das Terraforming zu verzichten, wenn etwas Interessanteres des Weges kam. Es schien, als wären schlagartig alle an ADHS erkrankt. Baltiel sah, wie er die Stirn runzelte, und sendete ihm eine Direktbotschaft: Können Sie es ihnen verdenken?

Nein. Und ich kann Ihre Entscheidung weitgehend unterstützen … gab Senkovi zurück. Das aber ließ er unausgesprochen.

Eine Handvoll Leute wollten offensichtlich doch lieber terraformen – sie hatten die weite Reise gemacht, um einen Auftrag zu erfüllen. Die Wunder, die man ihnen gezeigt hatte, ließen sie nicht unbeeindruckt, dennoch waren sie nicht so ohne Weiteres bereit, die Hände in den Schoß zu legen.

»Ich schlage vor, unser Missionsziel zu ändern«, verkündete Baltiel. »Mit unseren technischen Mitteln können wir nicht bloß Planeten umgestalten, sie taugen auch für ein breites Spektrum an Forschungsaufgaben. Es ist unsere Pflicht zu studieren, was wir hier vorgefunden haben, und darüber an die Erde zu berichten. Wir werden hier nicht die Letzten sein. Dieser Planet wird für die Wissenschaft zur Schatztruhe der Galaxis werden. Aber wir können die Ersten sein und gute Vorarbeit leisten. Wir alle können in die Geschichtsbücher eingehen.«

Wir alle bedeutete ich, aber wahrscheinlich würden auch andere Namen in den Fußnoten erscheinen oder als geografische Merkmale verewigt werden. Mount Senkovi … oder lieber doch nicht. Hört sich an wie eine Anweisung an einen Tierpräparator.

Auch diesmal hatte Baltiel die Mehrheit auf seiner Seite, aber jetzt waren noch ein paar mehr mit der Entwicklung unzufrieden. Immerhin waren sie als qualifizierte Fachleute für eine bestimmte Aufgabe auserwählt worden, und das war nicht diese Aufgabe. Senkovi zählte vier: Maylem, Han, Lortisse und Poullister. Die übrigen sieben stimmten Baltiel zu.

Senkovi hielt den Augenblick für gekommen, sich zu Wort zu melden. Baltiel warf ihm einen skeptischen Blick zu und verlangte etwas mehr Kontext. Anstelle einer Antwort kippte ihm Senkovi gleich den ganzen Plan in Datenform vor die Füße. Mal sehen, ob er wirklich so schlau ist, wie er sich einbildet.

Baltiel blinzelte zwei Mal – die anderen sahen nur, wie er kurz stutzte –, dann nickte er forsch. »Mr. Senkovi, Sie haben das Wort.«

Senkovi blinzelte ebenfalls und fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. Wenn Punkte zu vergeben waren, wollte er lieber einsacken als austeilen. Alle Augen ruhten auf ihm, er räusperte sich, um etwas Zeit zu gewinnen, dann sagte er: »Es ist ja nicht so, als würden sie uns einfach gewähren lassen.« Anders als Baltiel war er kein großer Redner. Er musste sich schon zusammenreißen, um nicht in seinen nicht vorhandenen Bart zu murmeln. »Wissen Sie noch, wie man die Terraforming-Initiative genannt hat, als wir die Erdumlaufbahn verließen? Ein Projekt für die Ewigkeit. Denn genau das ist es. Es macht die menschliche Rasse unsterblich, verstehen Sie? Wir haben die Erde verlassen. Wir schaffen uns eine neue Heimat zwischen den Sternen, ob die Sterne uns haben wollen oder nicht. Wir haben gottgleiche Macht. Andere Menschen werden uns folgen und erwarten, eine Heimat zu finden. Sie werden zunächst von den Quallen, den wandernden Felsen und allem anderen gebührend beeindruckt sein, aber dann werden sie unbequeme Fragen stellen wie: ›Wo steht denn nun mein Haus?‹ Ich meine, Sie kennen doch die Menschen. Wir alle kennen sie. Nichts als Gejammer und Anspruchsdenken. ›Wir sind dreißig Lichtjahre weit gereist, und ihr zeigt uns Bilder von Küstensümpfen?‹« Er wagte ein Lächeln und sah, dass es von einigen erwidert wurde. Baltiel wartete ab, ohne eine Miene zu verziehen. Wie zum Teufel konnte er das alles so schnell aufnehmen? Hat er es vom Schiff analysieren lassen? Oder hat er sich vor dieser Zusammenkunft in meine Dateien gehackt und sie gelesen?

»Yusuf hat allerdings recht«, fuhr Senkovi fort und deutete nervös in Baltiels Richtung. »Wir können die Mission nicht durchführen, nicht so jedenfalls, wie es vorgesehen war. Aber es ist trotzdem möglich. Sehen Sie her.« Damit begann er, Diagramme und Daten auf die Schirme zu holen, hinter denen er sich verschanzen konnte. Mit deutlich kräftigerer Stimme sprach er weiter: »Der nächstäußere Planet – Tess 834 g – ist mehr oder weniger eine Eiskugel hart an der Grenze zur Flüssigwasserzone, aber er ist geologisch aktiv, und wie wir Terraformer schon im Einführungskurs lernen, können wir die Störungszonen gezielt bombardieren, um alles gleichzeitig hochgehen zu lassen. Danach bleibt er nicht mehr lange eine Eiskugel; durch das Gas, das wir dabei gewinnen, wird die Rückstrahlung verhindert, und dann wird es dort so warm, dass Wasser auch Wasser bleibt. Es gibt auch ein wenig Land. Nicht viel. Aber es wird mehr werden, wenn das Eis erst einmal geschmolzen ist.«

»Nicht sehr viel mehr«, unterbrach ihn Han. »Nach meinen Berechnungen zwei Komma eins Prozent der gesamten Oberfläche, alles kleine Inselketten.« Sie legte ihre vorläufigen Berechnungen auf das virtuelle Gemeinschaftsdisplay, sodass jeder sie sehen konnte. Lea Han war die Älteste unter den Anwesenden, zwei Jahre älter als Baltiel, und sie hatte in kürzester Zeit eine fehlerlose Rechnung aufgestellt. Dem anderen Typen hat keiner dazwischengequatscht, dachte Senkovi. Aber wenigstens ging Han auf sein Konzept ein.

»Dann hausen die Kolonisten eben auf Booten«, schlug er vor. »Die einzige Alternative wäre, mit den Aliens zusammenzuleben, und wie wird das wohl in drei oder vier Generationen aussehen? Glauben Sie wirklich, dass alle sich verantwortungsbewusst verhalten werden?«

»Das ist eine sehr pessimistische Einschätzung des menschlichen Charakters«, widersprach jemand – ein gewisser »Sparke«. Senkovi suchte den Namen heraus und fand eine Beurteilung, die dem Mann verlässliche Kompetenz ohne Brillanz bescheinigte.

»Eine Einschätzung, der ich allerdings zustimme.« Damit wischte Baltiel das Thema mühelos vom Tisch. »Wir wissen nicht, aus welchem politischen Milieu eventuelle Kolonisten kommen werden.« In den Gesichtern war zu lesen, dass die alten Nachrichten von der Erde bei den meisten sehr präsent waren. Womöglich machte sich ein Haufen ideologiebesessener Verrückter auf den Weg, die außer Reichweite ihrer Gegner auf der Erde ihren Wahn ausleben wollten. »Wir wissen nicht, wo ihre Prioritäten liegen werden«, fuhr Baltiel fort. »Für mich hat Vorrang zu bewahren, was wir hier entdeckt haben, und es zu studieren. Ich werde ein Modul von der Ägäis abtrennen und in die Umlaufbahn um 834 h gehen. Für dieses Team bitte ich um Freiwillige. Mr. Senkovi hat meine Unterstützung für sein Projekt, Tess 834 g zu terraformen, und kann dafür den Löwenanteil der Schiffsressourcen behalten. Auch er wird nach Freiwilligen suchen, und ich kann garantieren, wenn wir schließlich wieder mit der Erde in Verbindung treten, wird sein Team im Terraforming-Geschäft eine Zukunft haben.«

Trotzdem ist es interessanter, fliegende Quallen zu studieren, dachte Senkovi. Aber er musste einräumen, dass Baltiel ihm eine faire Chance gegeben hatte. Er selbst überlegte bereits, welche technischen Herausforderungen es zu bewältigen galt, wenn man die Eiswelt zum Leben erwecken wollte.

Letzten Endes bekam er Maylem, Poullister und Han. Lortisse ignorierte seine Beurteilung und schloss sich dem Alienteam an. Drei Mitarbeiter waren seiner Schätzung nach wahrscheinlich zwei mehr, als er wirklich brauchte. Die schweren Arbeiten sollten schließlich die Maschinen erledigen.

»Eine Frage noch«, meldete sich der schlaue Sparke, nachdem alles geregelt war. »Was ist, wenn Sie unter dem Eis von 854 g Leben finden?«

Senkovi zuckte die Achseln. »Wenn es nicht über Funk kommunizieren kann und sehr schnell lernt, kann man es wahrscheinlich vergessen«, sagte er.