Cover

Das Buch

Amerika, tausend Jahre nach der atomaren Apokalypse. Das, was von der Menschheit übriggeblieben ist, hat sich in zwei Parteien aufgespalten: Die Amtrak-Föderation ist eine hochtechnisierte Kultur, die in unterirdischen Metropolen geschützt vor der tödlichen Strahlung lebt. Ihre straff organisierte Gesellschaft lässt weder Gefühle noch eigenständiges Denken zu, und sie kennen nur ein Ziel: die Oberwelt zurückzuerobern. Dort leben die Mutanten, die sich an die widrigen Bedingungen angepasst haben. Manche von ihnen sind entstellt, andere paranormal begabt. In den Augen des jungen Piloten Steve Brickman sind sie alle keine Menschen mehr. Als er bei seinem ersten Einsatz abgeschossen und von Mutanten entführt wird, rechnet er mit dem Schlimmsten. Doch nicht alles, was man ihm in der Amtrak-Föderation beigebracht hat, erweist sich als die Wahrheit …

Die Amtrak-Kriege:

Wolkenkrieger

Erste Familie

Eisenmeister

Der Autor

Patrick A. Tilley, 1928 in Essex geboren, studierte am King’s College der University of Durham Kunst und arbeitete nach seinem Abschluss 1955 als Grafikdesigner in London. 1968 gab er diese Laufbahn auf, um sich dem Schreiben zu widmen. Er begann mit dem Verfassen von Drehbüchern für Filme und TV-Serien und zog in die USA. 1975 erschien sein erster Roman Fade-Out, 1981 folgte Mission, der schnell Kultstatus erlangte. »Die Amtrak-Kriege«, deren erster Band Wolkenkrieger 1983 erschien, ist seine erfolgreichste Science-Fiction-Romanserie.

Mehr über Patrick Tilley und seine Romane erfahren Sie auf:

PATRICK TILLEY

DIE

AMTRAK

KRIEGE

WOLKENKRIEGER

Roman

Aus dem Amerikanischen übersetzt

von Ronald M. Hahn

WILHELM HEYNE VERLAG

MÜNCHEN

Titel der amerikanischen Originalausgabe:

THE AMTRAK WARS – BOOK 1: CLOUDWARRIOR

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Taschenbuchausgabe 10/2019

Copyright ©1985 by Patrick Tilley

Copyright © 2019 der deutschsprachigen Ausgabe

und der Übersetzung by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: DAS ILLUSTRAT, München,

unter Verwendung eines Motivs von

Shutterstock/Tithi Luadthong

Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach

ISBN 978-3-641-25040-9
V001

www.diezukunft.de

Für Nick Austin,

der das alles überhaupt erst ermöglicht hat.

Dieses Buch ist für dich.

1

Cadillac saß neben Mr. Snow auf dem Boden und hörte dem weißhaarigen, bärtigen Alten mit halb geschlossenen Augen zu, als er den nackten Kindern des Clans die Geschichte vom Krieg der Tausend Sonnen erzählte.

Cadillac kannte die Geschichte auswendig. Er hörte sie nun zum hundertundachten Mal. Sie war auch den sechzig kleinen Kindern der Ansiedlung nicht neu, die im Halbkreis um sie herum hockten. Doch es machte ihnen nichts aus. Die Kinder saßen noch ebenso gebannt da wie beim ersten Mal und lauschten jedem Wort. Die meisten von ihnen wussten nicht mehr, dass Mr. Snow die Geschichte schon einmal erzählt hatte. Und ebenso wenig wussten sie, dass sie das meiste vergaßen, was ihnen erzählt wurde; sie behielten selten etwas für längere Zeit – und das würde sich auch nie ändern.

Cadillac hingegen vergaß nichts.

Cadillac behielt alles. Er vergaß nichts, was er je gesehen oder gehört hatte. Er erinnerte sich an die geringsten Details. Aus diesem Grund hatte Mr. Snow ihn auch auserwählt, alles zu lernen, was das Prärievolk seit Anbeginn der Neuen Zeit erlebt hatte. Wenn Mr. Snow sie verließ, um zum Himmlischen Grund zu gehen, würde Cadillac seinen Platz als Clan-Erzähler einnehmen. Und dann war es seine Aufgabe, ein Kleinkind zu finden, das fähig war, sich die vielfältigen Ereignisse einzuprägen, aus denen die neun Jahrhunderte umspannende Geschichte des Prärievolkes bestand.

Vor ihrer Geschichte hatte es eine nicht in Zahlen erfasste Zeitspanne gegeben, die selbst über das Erinnerungsvermögen Mr. Snows hinausging. Sie wurde die Alte Zeit genannt, aber auch damals hatte die Welt vor den Großtaten von Helden mit Vollgasnamen gezittert.

Mr. Snow kannte einige Geschichten über die Alte Zeit. Damals, als es auf der Erde so viele Menschen wie Grashalme gegeben hatte, hatte man die Hütten aufeinandergestellt und Ansiedlungen gebaut, die so hoch in den Himmel ragten wie die fernen Berge. Und die nun zerfallenden Hartwege, die das Land wie Adern durchzogen, waren in einem nie versiegenden Strom von riesigen Käfern erstickt worden. Sie hatten die Menschen von einem Ort zum anderen getragen, und man war nie für sich allein gewesen.

Als Mr. Snow mit den Fingern über seine Arme strich, um zu verdeutlichen, wie die herabstürzenden Sonnen im Krieg das Fleisch aller Lebewesen verbrannt hatten, stand Cadillac auf und ging über einen Abhang zur Ansiedlung hinunter. Die Morgensonne, die seinen nackten Rücken wärmte, malte vor ihm einen schlanken, breitschultrigen Schatten auf den Boden.

Cadillac holte tief Luft, dehnte seinen Brustkorb, breitete die Arme nach beiden Seiten aus und führte sie über dem Kopf zusammen.

Sein Schatten tat das Gleiche.

Es faszinierte Cadillac immer wieder. Er war stolz auf seinen Schatten, denn er unterschied sich von denen der meisten seines Clans. Sein Schatten war ein schlanker, glatter Umriss und wies lange, gerade Arme und Beine auf. Die Hände seines Schattens hatten einen Daumen und vier Finger. Sein Schatten sah aus wie der eines Sandgräbers. Zwar hatte Cadillac noch nie einen Sandgräber gesehen, aber aus Mr. Snows Beschreibungen wusste er, wie sie aussahen.

Der heimliche Feind lebte im fernen Süden, an einem Großen Wasser, und er schickte seine Eisenschlangen und Wolkenkrieger zu ihnen, vor denen man stets fliehen musste.

Cadillac M’Call, nun achtzehn Jahre alt, gehörte zu einem der zahlreichen Clans der She-Kargo-Nachkommen, die durch die mittleren und nördlichen Prärien streiften. Laut Mr. Snow waren ihre Vorfahren am Anbeginn der Zeit auf dem Rücken von Riesenvögeln hier angekommen, deren Flügelschlag das Geräusch gewaltiger Wasserfälle erzeugt hatte.

Sie waren an einem Ort namens O’Haya gelandet, am Ufer eines großen Sees. Dort hatten sie, um das Ende ihrer Reise zu feiern, die Vögel geschlachtet und gebraten und sich einen ganzen Sommer lang von ihnen ernährt. Dann, als der Winter gekommen war, hatten sie das gefrorene Seewasser für den Bau einer riesigen Ansiedlung aus hoch aufragenden Eissäulen verwendet, die in allen Farben des Spektrums geleuchtet hatten und deren Spitzen sich in den Wolken verloren.

Im Krieg der Tausend Sonnen war die Stadt geschmolzen und wieder in den See zurückgeflossen. Dabei waren außer einem alten Mann namens She-Kargo, einer alten Frau namens Me-Sheegun und den Kindern, die sie hatten, alle Lebewesen umgekommen. She-Kargo hatte fünfzehn Söhne gehabt, jeder ein hochgewachsener, tapferer Krieger und stark wie ein Bär, und die alte Frau hatte fünfzehn wunderschöne Töchter gehabt. She-Kargos Söhne und Me-Sheeguns Töchter hatten die Handgelenke gekreuzt und ihre Leiber mit dem Blutkuss verbunden, und ihre Kinder und Kindeskinder waren stark geworden und hatten sich vermehrt. Sie waren nach Westen gezogen, in die Länder Minne-Sota, Io-Wa und Ne-Braska. Sie hatten jeden getötet, der sich ihnen widersetzt, und jeden zu ihrem Seelenbruder gemacht, der ihnen die Hand zur Freundschaft gereicht hatte.

Sie hatten triumphiert, weil ihre Krieger tapferer, ihre Wortschmiede klüger und ihre Rufer stärker gewesen waren. Aus diesem Grund war das Prärievolk immer größer geworden, was man der Muttergöttin Mo-Town ewig dankte.

Cadillac ging an seinen Lieblingsplatz zwischen den Felsen am Rand des Plateaus, wo der M’Call-Clan seine Hütten errichtet hatte, um die Zeit der Ernte abzuwarten. Vor dem gezackten Rand fiel der Boden steil ab. Er war gefurcht und ausgehöhlt, als hätten die Klauen eines Riesenadlers ihn geschlagen. Tiefer unten war der Boden ebener und krümmte sich leicht, bis er in die wellige, von hellrotem Gras bewachsene Prärie überging, die sich bis an den Rand der Welt erstreckte. Hinter der Prärie lag das geheime Tor, durch das die Sonne jeden Morgen in die Welt trat. Je höher sie stieg, desto dunkler wurde das blasse Blau, das die goldenen Feuerwolken der Morgendämmerung löschte. Dann bildeten sich über dem fernen Rand der Prärie allmählich kleine, weit auseinandergezogene Wolken, die wie eine träge in der Ferne grasende Herde weißer Büffel wirkten.

Cadillac lehnte sich rücklings gegen die warme Oberfläche des Felsens und ließ den Blick über den ungebrochenen blauen Himmel schweifen. Er suchte nach dem verräterisch blitzenden Silberlicht, das, wie er wusste, das Auftauchen der Wolkenkrieger ankündigte. Als Mr. Snows auserwählter Nachfolger brauchte er freilich nicht als Wächter tätig zu sein, denn auf den Bergspitzen, die sich rings um die Ansiedlung erhoben, hielten sich über hundert seiner Clan-Brüder auf. Die jungen Krieger, die man Bären nannte, hielten Tag und Nacht Wache. Manche von ihnen suchten den Himmel nach Wolkenkriegern ab, andere hielten am Boden nach herumstreifenden Banden rivalisierender Clans Ausschau, die darauf aus waren, ins Sommerlager der M’Calls vorzudringen. Manche Bären bemannten die geheimen Ausguckposten auf den Höhen, andere streiften in kleinen, beweglichen Gruppen durch das rund um die Ansiedlung liegende Gelände und jagten.

Cadillac suchte den Himmel weiter ab. Nicht weil er sich bedroht fühlte, sondern aus Neugier. Als Mutant hatte er allen Grund, sich vor den Sandgräbern zu fürchten, denn die Angehörigen dieses rätselhaften, unterirdisch lebenden Volkes töteten, wenn sie aus der Finsternis hervorbrachen, jeden, der auf der Erde zu Hause war. Doch ungeachtet – oder vielleicht auch wegen – ihres schrecklichen Rufes sehnte Cadillac sich danach, ihnen zu begegnen, um sie auf die Probe zu stellen.

Bis jetzt hatten sich die Sandgräber noch nicht ins Land der M’Calls vorgewagt. Aber Mr. Snow wusste von den Himmelsstimmen, dass die Zeit ihrer Ankunft bevorstand. Das erste Zeichen würde aus Donnerkeilen am Himmel bestehen – aus den Vogelschwingen, auf denen sich die Wolkenkrieger bei ihren Reisen bewegten. Die Wolkenkrieger waren die scharfen Augen der Eisenschlangen, die hinter ihnen herkamen und in ihren Bäuchen noch mehr Sandgräber mitbrachten. Wenn sie kamen, würde es ein großes Sterben geben. Die Welt würde weinen, und alle Tränen des Himmels würden das Blut des Prärievolkes nicht von der Erde waschen können.

Nachdem Mr. Snow den Kindern seine Geschichte erzählt hatte, kam auch er an den Ort, an dem Cadillac mit zum Himmel gewandtem Gesicht saß. Er hockte sich im Schneidersitz auf einen anderen Felsen. Sein langes weißes Haar war zu einem Schädelknoten nach oben gezogen und wurde von einem Band gehalten; die alternde Haut, die seinen hageren, harten Leib bedeckte, zeigte da und dort willkürlich verteilte Wirbel und schwarzbraune Flecken in drei Nuancen auf – sie reichten von dunkel über hell bis blassrosa.

Laut Mr. Snow war die Haut der Sandgräber überall von der gleichen Farbe. Sie waren blassrosa, vom Scheitel bis zur Sohle. Wie die Haut der Würmer.

Cadillacs Haut zeigte zwar ein ähnlich willkürliches Muster, aber sie war glatt wie eine Rabenschwinge. Ein Teil der Haut Mr. Snows war zwar ebenfalls glatt, aber an manchen Stellen – etwa an der Stirn, an den Schultern und an den Unterarmen – war sie klumpig, als seien unter ihr kleine Kiesel versteckt. An anderen Stellen war sie schrumpelig wie ein totes Blatt oder wie die knorrige Borke eines Baumes.

Die meisten Mutanten kamen so zur Welt. Viele unterschieden sich aber auch auf andere Weise von Cadillac. Als kleines Kind war er sich irgendwann bewusst geworden, dass sein Körper anders war als der seiner Clan-Brüder. Er hatte sich geschämt, weil er ein grotesker Außenseiter war. Manche Kinder hatten ihn verspottet; sie hatten gesagt, er sähe wie ein Sandgräber aus. Cadillac hatte sich im Kreis der Gleichaltrigen nicht mehr wohlgefühlt und war ausgerissen. Doch man hatte ihn zurückgeholt. Er war krank geworden und hatte nicht mehr essen wollen.

Black-Wing, seine Mutter, hatte ihn zu Mr. Snow gebracht, und der hatte ihm erklärt, dass gerade die Dinge, die er an sich hasste, wertvolle Eigenschaften waren, die ihn in späteren Jahren befähigen würden, großartige und tapfere Kunststücke auszuführen. Nur aus diesem Grund war er so gewachsen. Er würde so stark werden wie die Helden der Alten Zeit, deswegen hatte man ihm auch einen Vollgasnamen verliehen: Cadillac, damals vier Jahre alt, hatte mit offenen Augen dagesessen und zugehört, als Mr. Snow ihm unter einem dunklen Himmel voller leuchtender Sterne im flackernden Licht des Feuers von der Talisman-Prophezeiung erzählt hatte.

Seit diesem Zeitpunkt wusste Cadillac mit einer kindlichen Gewissheit, die er nie verloren hatte, dass alles, was ihm passiert war, von Bedeutung war und dass sein Schicksal mit dem zukünftigen Schicksal des Prärievolkes verknüpft war.

Cadillac hörte auf, den Himmel abzusuchen, und drehte sich zu Mr. Snow um. Es drängte ihn nicht, dem alten Mann zu sagen, wonach er Ausschau gehalten hatte. Mr. Snow, seit seiner frühesten Kindheit sein Lehrer und Führer, sprach mit den Himmelsstimmen und kannte diese Dinge. Er wusste alles.

»Ist dies das Jahr des Großen Sterbens?«, fragte Cadillac.

»Es ist das Jahr, in dem es anfängt«, sagte Mr. Snow.

»Wann kommt die Eisenschlange?«

Mr. Snow schloss die Augen, holte tief Luft und wandte das Gesicht der Sonne zu. Der Himmel hatte eine tiefblaue Farbe angenommen. Cadillac wartete geduldig.

Endlich kam die Antwort. »Wenn der Mond das Gesicht dreimal abgewandt hat.«

»Und was ist mit dem Wolkenkrieger, den die Himmelsstimmen auserwählt haben?«

Mr. Snow atmete mit einem langen Seufzer aus und ließ sein Kinn auf den Brustkorb sinken. Seine Augen öffneten sich. »Seine Reise zu uns nimmt gerade ihren Anfang. Er träumt die Träume junger Männer. Er träumt von Heldentaten und Tapferkeit und von Triumph, Macht und Größe.« Mr. Snow hob den Blick und sah Cadillac an. »Und wie alle jungen Männer glaubt er, dass man diese Dinge geschenkt bekommt. Er weiß noch nicht, wie viel die Welt für solche Träume zahlen muss.«