Das Buch
Jo kehrt in das malerische Örtchen Salthaven-on-Sea zurück, wo sie ihre Kindheit zwischen Tresen und Küche im gemütlichen Café ihrer Großeltern verbracht hat. Da es für die beiden nun an der Zeit ist, etwas kürzer zu treten, übernimmt Jo die Leitung und ist voller Tatendrang. Sie will frischen Wind in das Café bringen, in dem viele aus dem Ort gerne ihre Freizeit verbringen. Gar nicht so leicht, wenn sich das Menü jeden Tag ändert, je nachdem was ihr der Gemüse- und Obstlieferant bringt. Doch Jo lässt sich nicht unterkriegen. Bald kennt sie die Stammgäste so gut, dass ihr eine Idee kommt: Warum nicht Blind Dates für die einsamen Herzen unter ihnen organisieren? Mit individuell abgestimmten Menüs zaubert sie ihnen besondere Erlebnisse, und ihre Aktion zeigt auch schon erste Erfolge. Denn Jo weiß genau, wer zu wem passt. Und dann erhält sie plötzlich selbst Postkarten von einem geheimen Verehrer und muss sich fragen, wer da ihr Herz erobern will.
Die Autorin
Helen Rolfe, geboren und aufgewachsen in England, lebte wegen ihres Jobs in der IT-Branche 14 Jahre lang in Australien. 2011 entdeckte sie ihre Leidenschaft und Begabung fürs Schreiben und hat seither keinen Tag bereut, der IT den Rücken gekehrt zu haben. Heute lebt sie mit ihrem Mann und ihren Kindern wieder in Hertfordshire und denkt sich dort ihre charmanten und liebenswerten Charaktere aus.
HELEN ROLFE
DAS KLEINE
Café
am
Pier
ROMAN
Aus dem Englischen
von Kerstin Winter
WILHELM HEYNE VERLAG
MÜNCHEN
Die Originalausgabe erschien 2019 unter dem Titel The Little Café at the End of the Pier bei Orion.
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Copyright © 2019 by Helen Rolfe
Copyright © 2020 der deutschsprachigen Ausgabe
by Wilhelm Heyne Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Redaktion: Lisa Scheiber
Umschlaggestaltung: Eisele Grafik Design, München,
unter Verwendung von Bigstock
(Veneralla, sevtlanais, Yastremska, Happypictures, berry);
iStockphoto (Polke, JWackenhut); Shutterstock (orenkO);
Blumen Girlande: Hollandbikeshop.com
Satz: Leingärtner, Nabburg
e-ISBN: 978-3-641-25090-4
V001
www.heyne.de
Für meinen Mann und meine Mädchen
Prolog
In einer Wohngemeinschaft zu leben hatte den großen Vorteil, dass es sehr viel leichter war, einfach seine Zelte abzubrechen und zu gehen.
Als Jos Großmutter angerufen und ihr vorgeschlagen hatte, ihr Leben in Edinburgh aufzugeben und in ihren Heimatort Salthaven-on-Sea zurückzukehren, um in dem kleinen Café am Ende des Piers auszuhelfen, hatte sie nicht viel Überzeugungsarbeit leisten müssen. Jo war inzwischen einunddreißig und single und arbeitete ohne rechte Begeisterung als Lehrerin. Sie hatte das Gefühl, seit mindestens einem Jahr auf der Stelle zu treten, und hier bot sich die Veränderung, die sie sich gewünscht hatte. Also hatte sie ihre Siebensachen eingepackt, die Miete für die nächsten zwei Monate überwiesen, damit ihre Mitbewohnerinnen in Ruhe eine Nachmieterin finden konnten, und ihrer Schule eine E-Mail geschickt, in der sie erklärte, dass sie nach dem unmittelbar bevorstehenden Ablauf ihres befristeten Vertrags für keine weitere Lehrtätigkeit zur Verfügung stünde. Nun sah sie den neuen Herausforderungen mit Aufregung und Freude entgegen.
Mit ihrer gesamten Habe in ihrem altersschwachen VW-Käfer, die restlichen Kartons mit Gurten und Stricken auf dem antiken Dachgepäckträger festgezurrt, fuhr Jo nun auf ihr neues Leben an der Südküste zu. Sie drehte die Heizung höher, als sie im Schutz der Dunkelheit Edinburgh verließ. Trotz tiefstem Winter gab es keinerlei Anzeichen für Eis und Schnee, und Jo sah das als gutes Omen; das Schicksal schien zu wollen, dass sie diese Reise unternahm. Nur noch vierhundert Meilen lagen zwischen ihrem alten und ihrem zukünftigen Leben, und zum ersten Mal seit langer, langer Zeit hatte sie das Gefühl, wieder frei atmen zu können. Ihre Großeltern waren immer für sie da gewesen, hatten sie bei Sportfesten angefeuert, ihr zu ihren Noten gratuliert und ihr gut zugeredet, wenn sie sich an der Uni geplagt oder sich Druck wegen der Prüfungen gemacht hatte. Und nun würden sie endlich wieder zusammen sein. Sie konnte es kaum erwarten.
Nachdem sie sich einige Stunden von ihrem Navi leiten hatte lassen, gelangte Jo schließlich wieder auf vertrautes Terrain. Sie bog von der Schnellstraße auf eine Landstraße und folgte ihr, bis sie sich verengte und das Schild »Salthaven-on-Sea, 10 Meilen« vor ihr auftauchte. Dieses Schild markierte für sie stets den Augenblick, in dem sie das Gefühl hatte, nach Hause zu kommen, und mit der Aussicht auf aufregende Veränderungen war dieser Effekt stärker denn je. Ihr Herz hüpfte in ihrer Brust, und sie musste sich zusammenreißen, um nicht fester auf das Gaspedal zu treten.
Kurz vor vier Uhr nachmittags passierte Jo das Salthaven-Hotel zur Linken und die Gästehäuser zur Rechten, steuerte durch den kleinen Kreisverkehr an einem Restaurant vorbei und fuhr dann den Hügel hinab auf den Ort zu, der sich zum Meer hin erstreckte. Ein strahlendes Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus, als sie links heranfuhr, um das Auto hinter ihr vorbeizulassen. Jo hatte es nicht eilig. Das hier war der Beginn von etwas Besonderem, und sie wollte den Sonnenuntergang genießen, vor dessen orange-rosa Pracht die fedrigen Wolken über dem Pier zu verblassen begannen. Unten an der Mole konnte sie eine junge Familie ausmachen, die dem stürmischen Neujahrswetter trotzte. Die zwei Kinder rannten in lila Stiefeln und leuchtend gelben Regenjacken am Wasser entlang und jagten den Wellen nach, und die Familie umgab eine Aura von Zusammengehörigkeit, nach der Jo sich sehnte. Sie hatte die Einsamkeit satt, die sie stärker empfand, als sie ihren Großeltern gegenüber hatte zugeben wollen.
Die Stützpfeiler des Piers wirkten schwarz gegen den Sonnenuntergang, und entlang der hölzernen Seebrücke leuchtete in regelmäßigen Abständen das Licht der Laternen, die im viktorianischen Stil gehalten waren. Sie sah sich im Geist mit nackten Füßen entlanggehen, roch den warmen Duft der Holzplanken und wich den Anglern aus, die selbstvergessen ihrer Leidenschaft frönten. Sie kannte den Pier so gut wie das Café, das an seinem Ende lag, doch wenn sie ihn nun betrat, würde es unter ganz anderen Voraussetzungen geschehen.
Sie legte den Gang wieder ein und fuhr weiter, am Pier vorbei und auf der anderen Seite wieder den Hügel hinauf, bis sie den Bungalow ihrer Großeltern erreicht hatte, von dessen erhöhter Position man einen traumhaften Blick auf das Meer hatte. Sie stellte den Wagen in die Garage, mühte sich in Mantel, Schal und Handschuhe und machte sich auf den Weg zurück zum Pier. Der salzige Wind wehte ihr das dunkle, wellige Haar aus dem Gesicht und schmeckte so frisch wie der Neubeginn, den sie sich erhoffte. Am Strand fühlte sie sich immer am wohlsten; nirgendwo sonst konnte sie so gut nachdenken wie hier.
Sie lief den Hang hinab und die Promenade entlang, trat auf den hölzernen Steg und ließ den Fish&Chips-Imbiss, die Eisdiele und den Laden, der in den wärmeren Monaten Strandzubehör verkaufte, hinter sich. Und als die Sonne am Horizont versank, stand sie endlich vor dem Café, das Teil des Orts, Teil des Piers und nun auch Teil ihres Lebens war. Nur zwei Gäste befanden sich im Inneren, und als das vertraute Glöckchen über der Tür ihr Kommen ankündigte, war Gramps gerade damit beschäftigt, die Auslagen aufzufüllen, während Gran einem Gast eine Teekanne auf den Tisch stellte.
»Jo!« Molly eilte um die Tische herum zu ihrer Enkelin und drückte sie an sich. »Wie schön, dich zu sehen!« Sie wich ein Stück zurück, packte Jos Oberarme und betrachtete ihre Enkelin. »Du siehst so glücklich aus, wie ich es im Augenblick bin.«
»Da ist sie ja endlich!«, rief Arthur. Seine Haare waren silbergrau wie Mollys, doch wenn man ihr Alter nicht kannte, hätte man die beiden leicht zehn Jahre jünger schätzen können. »Lass mich dich anschauen, du hübsches Ding.« Auch er begutachtete sie, ehe er sie in seine Arme zog. »Ich war so froh, als Molly sagte, du würdest tatsächlich herkommen, um uns beiden alten Knackern ein wenig unter die Arme zu greifen.«
Molly schlug mit dem Handtuch nach ihm, das sie in der Hand hielt. »Wenn du dich so nennen willst – bitte schön. Aber halt mich da raus.«
Sein herzliches Lachen hallte von den Wänden wider und durchströmte Joes Herz, als er einen Stuhl für seine Enkelin hervorzog. »Setz dich. Wir haben viel zu besprechen.«
»Alles zu seiner Zeit, mein Lieber«, mahnte Molly. »Das arme Ding ist schließlich gerade einige hundert Meilen gefahren. Sie muss im Augenblick noch nicht erfahren, wie die Kaffeemaschine funktioniert.«
»Ach, eigentlich kann ich es kaum erwarten«, gab Jo zu.
Arthur stieß einen Pfiff aus. »Glaub mir, es ist komplizierter, als es aussieht.«
Und Jo ahnte, dass sie bald schon herausfinden würde, wie recht er hatte.
1. Kapitel
Schon am nächsten Tag wurde Jo ins kalte Wasser geworfen. Sie band sich eine Schürze um die Taille, und als sie Notizblock und Stift in die Tasche schob, öffnete sich prompt die Tür, und der erste Gast des Tages trat ein.
»Du siehst aus wie die geborene Kellnerin«, sagte Molly. »Auf geht’s. Das ist Angie. Keine Angst, sie beißt nicht.«
Mit einem Mal fühlte Jo sich wieder wie ein kleines Mädchen, das sich nicht traute, eine Fremde anzusprechen, und ihr Herz begann zu hämmern. Wo war Gramps überhaupt? Wollte er ihr denn nicht an ihrem ersten Tag unter die Arme greifen?
Zögernd bahnte sie sich ihren Weg zu dem Tisch unterhalb der Tafel mit den Tagesangeboten. An der Pinnwand gleich daneben hingen Ansichtskarten aus aller Welt, die Gäste aus dem Urlaub an das Café geschickt hatten. Jo erinnerte sich noch von früher daran; sie hatte es schon immer geliebt, die Karten zu lesen und sich von der aufgekratzten Urlaubsstimmung anstecken zu lassen.
»Guten Morgen.« Jo versuchte, selbstsicherer zu klingen, als sie sich fühlte, doch dann schalt sie sich selbst. So schwer konnte es doch nicht sein. Als Lehrerin hatte sie tagtäglich mit Kindern gesprochen, ihr Geplapper übertönen und sich Gehör verschaffen müssen. Hier musste sie bloß eine Bestellung aufnehmen, das Gewünschte servieren und ein wenig höfliche Konversation machen. Wo war das Problem?
»Hallo. Wen haben wir denn da?« Angie blickte neugierig auf; das neue Gesicht hatte offenbar ihr Interesse geweckt. Als Jo am Morgen noch im Dunkeln zum Café gegangen war, hatte sie sich gegen eine eisige Brise stemmen müssen, doch die grauen Locken dieser Frau lagen so akkurat am Kopf, als sei sie frisch vom Friseur gekommen. Sie zog Handschuhe und Schal aus und legte sie zu ihrem Mantel auf den Stuhl. »Ich glaube nicht, dass wir uns schon begegnet sind«, sagte sie und streckte Jo ihre Hand entgegen. »Ich bin Angie.«
Jo schüttelte ihre Hand. »Freut mich sehr. Ich bin Jo, Mollys Enkelin.«
Angie neigte sich zur Seite, um an Jo vorbeizusehen. »Sie ist genau so hübsch, wie du gesagt hast«, rief sie Molly zu.
Jo wurde rot. »Was darf ich Ihnen bringen? Möchten Sie hören, was es heute Besonderes gibt?«
Angie machte eine abwehrende Geste. »Nicht nötig. Ich hätte gerne ein Kännchen Kamillentee und ein Rosinenbrötchen.«
Jo machte sich nicht die Mühe, Block und Stift hervorzuholen, und fühlte sich gleich viel zuversichtlicher. »Kommt sofort.«
Molly, die sich in die Küche zurückgezogen hatte, um Jo die Führung zu überlassen, kam wieder heraus. »Gut gemacht. Als hättest du’s gelernt.«
»Danke.«
Jo nahm eine kleine Kanne, Tasse und Untertasse, toastete das Brötchen, das am frühen Morgen frisch gebacken worden war, und stellte alles auf ein Tablett.
»Du lernst schnell«, sagte Molly, als die Türglocke erneut ertönte. Sie begrüßte den Mann, der eingetreten war, mit einem Winken. »Das ist Mark, dein nächster Kunde. Komm, ich bringe Angie das Tablett. Sie liebt ihr Schwätzchen am Morgen.«
Jo wusste sehr gut, dass es Molly genauso ging. Ihre Großeltern besaßen eine gute Portion Geschäftssinn, aber sie waren auch ein Teil der hiesigen Gemeinde und gesellige Menschen. Molly war hier eindeutig in ihrem Element, und Jo konnte sich nicht vorstellen, dass sie und Gramps sich in ihren Bungalow zurückziehen und dort ihren Lebensabend verbringen würden. So waren sie einfach nicht gestrickt.
Jo stellte sich Mark vor, merkte sich seine Bestellung, brachte sie ihm und kassierte, und abgesehen von gelegentlichen beiläufigen Blicken und einer kurzen Hilfestellung mit der Kasse, blieb Molly im Hintergrund und überließ Jo den größten Teil der Arbeit im Café. Es war anstrengend, aber auch aufregend und machte Jo mehr Spaß, als sie seit Jahren als Lehrerin gehabt hatte. Kaum bemerkte sie, wie die Stunden verflogen, bis es auch schon Zeit war, das Café zu schließen.
Nachdem Molly das Schild an der Tür zu »Geschlossen« umgedreht hatte, schnappte Jo sich einen Lappen, um die Tische zu wischen, und stellte die Frage, die ihr schon den ganzen Tag im Kopf umherging. »Wo war Gramps heute eigentlich? Ist er denn sonst nicht immer mit dir hier?«
Molly zögerte, wandte sich ab und öffnete die Kasse, um das Geld darin zu zählen. »Wir dachten, es wäre gut, wenn du heute so viel wie möglich alleine machst, um ein Gefühl für die Arbeit zu bekommen.«
Beinahe hätte Jo ihr die Erklärung abgekauft, aber irgendetwas stimmte nicht. Mit dem Lappen in der Hand trat sie an die Theke. »Gran, hör bitte einen Moment auf. Gibt es etwas, das ich wissen sollte?« Gramps war ganz aus dem Häuschen gewesen, sie nach so langer Zeit wiederzusehen, aber heute Morgen hatte er noch geschlafen, als sie gegangen waren. Jo war davon ausgegangen, dass er spätestens zur Mittagszeit erscheinen würde, um sich selbst davon zu überzeugen, wie schnell sie sich in ihrer neuen Stelle zurechtfand.
Molly notierte sich den Betrag des gezählten Gelds, dann deutete sie auf einen Tisch und zog beide Stühle hervor. »Setzen wir uns. Es war ein langer Tag.«
Jo tat, wie ihr geheißen, und stellte fest, wie müde ihre Großmutter aussah. Und nicht nur von dem Arbeitstag, den sie gerade hinter sich gebracht hatten. Molly hatte gestern ein munteres Gesicht aufgesetzt und heute ebenfalls, doch vielleicht war Jo erst jetzt, da sie selbst in den Knochen spürte, was sie heute geleistet hatte, in der Lage, die grundlegende Erschöpfung ihrer Großmutter wahrzunehmen.
»Gramps geht es gut«, sagte Molly und tätschelte beruhigend ihre Hand. »Aber ehrlich gesagt brauchen wir nicht nur jemanden, der uns im Café ein wenig aushilft. Wir brauchen jemanden, der es ganz übernimmt – lieber früher als später.«
»Irgendwie habe ich mir das schon gedacht, als du mich anriefst.« Und dass sie nicht Sasha, ihre Tochter und Jos Mutter, angerufen hatten, verstand sich von selbst. Soweit Jo wusste, beschränkte sich ihr Kontakt seit Jahren auf eine Karte zu Weihnachten.
Erleichterung zeichnete sich in Mollys Gesicht ab. »Wir wollten dir keine unnötigen Sorgen machen, aber wir werden älter, und obwohl ich mir gar nicht vorstellen kann, nicht jeden Tag hier zu sein, ist es für Arthur und mich besser so. Was uns bisher davon abgehalten hat, uns zur Ruhe zu setzen, war der Gedanke daran, dass unser Café an Fremde gehen könnte, und ich bin mir nicht sicher, ob ich deinen Großvater hätte überreden können, das hier alles aufzugeben, wenn du nicht eingewilligt hättest, nach Hause zu kommen.«
»Das kann ich verstehen. Schließlich habt ihr den Laden zu dem gemacht, was er heute ist. Aber abgesehen von seiner Müdigkeit – geht es Gramps wirklich gut?«
»Er ist vergangene Woche gestürzt.« Jo richtete sich erschrocken auf, doch Molly winkte ab. »Ein kleines Stolpern, nichts weiter, aber die Ärztin sagt, er muss es in Zukunft ruhiger angehen lassen. Aber du kennst ihn ja. Versuch mal einen wilden Stier zu hypnotisieren, der das flatternde rote Tuch gesehen hat. Dein Großvater hat keine Ahnung, was das Wort ›ausruhen‹ bedeutet. Er ist heute nur zu Hause geblieben, weil du jetzt hier bist.«
Jo lächelte. »Dein Vorschlag kam genau zur rechten Zeit. Ich brauchte bloß einen kleinen Schubs in die richtige Richtung.«
»Tja, ich bin jedenfalls froh, dass wir dir diesen Schubs gegeben haben. Und wenn du mich jetzt nach Hause schubsen könntest, wäre ich dir ausgesprochen dankbar.«
Jo kicherte. »Ich fürchte, dafür fehlt mir die Energie. Komm, Gran. Lass uns aufräumen und gehen. Wir werden heute Nacht gut schlafen.«
Doch als sie abschlossen und sich auf den Heimweg machten, konnten weder Kälte noch Dunkelheit Jos Euphorie dämpfen.
Denn sie war hier, am Meer, wo sie immer schon am liebsten gewesen war. Und dieses Mal war sie diejenige, die jemandem zu Hilfe eilen konnte.
Die ersten zwei Wochen in Salthaven-on-Sea vergingen unglaublich schnell. Die Zeit rauschte vorbei, als wollte sie der Brandung Konkurrenz machen, die man vom Pier aus beobachten konnte. Nicht, dass Jo die Muße gehabt hätte, aus dem Fenster zu blicken, um die größte Attraktion des Ortes zu bewundern: die wunderbare Aussicht auf den Ärmelkanal und die malerische Küste, die sich bis zum Horizont zu erstrecken schien. Von dem Moment, in dem sie das Café betrat, bis zum Feierabend verging der Tag wie im Flug, und während sie sich um die Bestellungen kümmerte, versorgte Molly sie mit Wissenswertem zu jedem Neuankömmling. Für viele schien das Café ein Treffpunkt zu sein. Bis vor einiger Zeit hatte es noch zwei andere Cafés im Ort gegeben, doch seit aus dem einem ein Restaurant und aus dem anderen eine Bäckerei geworden war, war es hier voller denn je.
»Bringst du das bitte an Tisch drei?«, fragte Molly und stellte einen Cappuccino auf ein Tablett neben ein Glas mit frisch gepresstem Orangensaft und einem Teller mit Keksen. Etwas leiser fügte sie hinzu: »Der Mann heißt Ben, der Junge Charlie.«
Jo seufzte. »Nie im Leben werde ich mir all diese Namen merken können.«
»Doch, doch, das kommt noch.«
Jo nahm das Tablett, brachte es an den Tisch und stellte sich vor – was sie inzwischen schon so oft getan hatte, dass es einfacher und zeitsparender gewesen wäre, sich ein Schild um den Hals zu hängen, doch andererseits machte es ihr großen Spaß, all die Leute kennenzulernen, die schon seit Jahren regelmäßig hierherkamen.
»Vielen Dank und hoffentlich bis bald«, sagte sie anschließend zu Peter und Vince, zwei Brüdern, die auf einen Cappuccino hereingekommen waren, nachdem sie mit den Rädern erst quer durch die Stadt, dann den Hang hinauf bis zum Nachbarort und von dort aus den ganzen Weg wieder zurückgefahren waren. Sie hatten ihr von ihrer Leidenschaft fürs Radfahren erzählt; Vince hatte einmal die London-to-Brighton-Fahrt mitgemacht, und Peter war am Wochenende oft so lange mit dem Rad unterwegs, dass seine Frau sich manchmal als Fahrradwitwe bezeichnete.
Als Molly Jo auch mit Melissa bekannt machen wollte, die auf dem hiesigen Postamt arbeitete, stellten die beiden belustigt fest, dass sie zusammen in die Schule gegangen waren. Eine Weile plauderten sie über ehemalige Klassenkameraden und was aus ihnen geworden war, und es stellte sich heraus, dass sie beide eine Verbindung zu Schottland hatten, als Melissa ihr gestand, dass sie sich in die Isle of Skye verliebt hatte, nachdem sie einmal dort Urlaub gemacht hatte.
»Mein nächster Zugang zum Meer war Portobello«, erklärte Jo. »Ein wunderschöner Ort. Ich bin, so oft ich konnte, hingefahren, um am Strand spazieren zu gehen.«
»Jedenfalls ist es großartig, dass du wieder hier bist.«
»Hört, hört«, sagte Arthur, der hinter ihnen mit einem Tablett voller Tassen vorbeiging.
Jo sah ihm lächelnd nach. »Danke.« Sie hatte bereits begriffen, dass man nicht lange in Salthaven-on-Sea leben musste, um von den Einwohnern wieder als einer der ihren willkommen geheißen zu werden. Sie mochte eine lange Zeit fort gewesen sein, fühlte sich jedoch schon wieder zu Hause.
Sie nahm Melissas Bestellung auf, und ehe Molly übernehmen konnte, stellte Jo sich vor dem Kaffeeautomaten in Position. »Lass mich das machen«, bat sie. »Ich muss es ja lernen, und je mehr Übung ich bekomme, umso besser.«
Widerstrebend trat Molly zurück. Sie hatten in den vergangenen Tagen oft darüber gesprochen, dass Jo schnell praktische Erfahrungen sammeln musste, wenn sie eines Tages das Café in Eigenregie führen sollte. Jo versuchte, sich nicht allzu genau auszumalen, bald für alles allein verantwortlich zu sein, denn es war nicht ausgeschlossen, dass sie dann in Panik geriet und letztendlich doch noch Reißaus nahm.
Sie füllte den Milchkrug bis zur erforderlichen Markierung, reinigte die Dampfdüse des Automaten, stellte den Krug darunter, sodass sich die Spitze gerade eben unter der Oberfläche der Milch befand, und lauschte dem nun schon vertrauten Zischen des heißen Dampfs, der die Milch erhitzte.
»Genau so«, sagte Molly, wie immer darauf bedacht, die Getränke exakt so zuzubereiten, wie die Gäste es am liebsten hatten. »Und nun klopfst du das Kännchen auf die Arbeitsfläche«, fügte sie hinzu, als die Milch die richtige Temperatur erreicht hatte.
Jo führte das Prozedere inzwischen weitgehend selbstständig durch; viel musste sie nicht mehr nachfragen. Doch ihren Großeltern bei der fachmännischen Bedienung der Maschine zuzusehen war, als würde man einem Turner beim Radschlagen zuschauen: Man konnte es sicher auch schaffen, doch niemals mit derartiger Kunstfertigkeit.
»Bald machst du das, ohne darüber nachdenken zu müssen, glaub mir«, bemerkte Molly, als könne sie Gedanken lesen.
»Danke, Gran.«
Arthur gesellte sich zu ihnen, nachdem er eine weitere Bestellung in die Kasse eingegeben hatte, diesmal für Eddie, einen Lehrer, der für seinen Beruf eine Leidenschaft an den Tag legte, die Jo niemals hätte aufbringen können. Sich mit ihm zu unterhalten hatte ihr bestätigt, dass die Entscheidung, ihre Lehrtätigkeit aufzugeben, um herzukommen, die richtige gewesen war.
»Wisst ihr«, sagte Arthur, während er Jos Werk inspizierte, »für mich sieht das aus wie der perfekte Cappuccino.« Er zwinkerte seiner Frau zu. »Ich glaube, wir haben unsere ideale Nachfolgerin gefunden – was meinst du?«
Molly und Arthur schauten einander an, und einen Moment lang war Jo wie gebannt. Die beiden waren seit über fünfzig Jahren verheiratet und noch länger zusammen, doch der Blick, den sie wechselten, löschte die Jahrzehnte aus, als seien die beiden noch immer die zwei Jugendlichen, die sich an genau diesem Pier kennengelernt hatten. Jo sehnte sich danach, eines Tages dem Menschen zu begegnen, mit dem sie selbst eine derart besondere und alles überdauernde Beziehung führen konnte, glaubte aber langsam nicht mehr daran, dass es diesen Menschen für sie gab.
»Komm, Jo«, drängte Molly jetzt. »Lass Melissa nicht länger warten als nötig.«
Jo riss sich zusammen und setzte sich in Bewegung, um den Cappuccino zu servieren. Wenig später blätterte Melissa in einer Zeitschrift, Jo wischte den Tisch direkt neben der Tür, Arthur plauderte mit Eddie, und Molly lachte über etwas, das ein anderer Gast sagte. Jo hatte seinen Namen vergessen, würde ihn aber bald der immer länger werdenden Liste neuer Bekannter hinzufügen, dessen war sie sich sicher. Sie blickte zu Ben mit seinem Sohn Charlie, der noch immer seine rote Jacke trug und keine Anstalten machte, sie auszuziehen, und fragte sich, ob die Leute wohl ebenso sehr wegen der gemütlichen Atmosphäre kamen wie um der leckeren Getränke und Kuchen willen. Funkelnde Lichter schmückten die Fenster, um jeden noch so trüben Tag zu erhellen, und acht Tische mit jeweils vier stabilen Stühlen füllten den Raum aus. Hölzerne Fensterbänke mit dicken Kissen säumten die hohen Fenster links und rechts von der Tür, auf denen die Gäste aufs Meer hinausblicken oder Passanten beobachten konnten.
Als Jo in die Küche zurückkehrte, folgte Arthur ihr. »Bist du müde, Liebes?«
»Das sollte ich dich fragen.«
Als er sie nur ansah, schenkte sie ihm ein Lächeln. »Ich bin absolut erledigt.« Mit einem leisen Lachen fügte sie hinzu: »Ihr beschämt mich mit eurer Energie. Ich bin nicht einmal halb so alt wie ihr.«
»Das liegt nur an der Seeluft«, behauptete er. Dass seine Leidenschaft für diese Stadt und das Café noch immer ungebrochen war, bestärkte Jo in ihrer Entschlossenheit, alles in ihrer Macht Stehende zu tun, um den beiden zu helfen. Seitdem Gran ihr erzählt hatte, dass der Arzt Arthur dringend empfohlen hatte, es ruhiger angehen zu lassen, fiel ihr immer deutlicher auf, wie erschöpft er tatsächlich wirkte, und sie wünschte sich nichts mehr, als dass Molly und Arthur den sorglosen Ruhestand bekamen, den sie längst verdient hatten.
»Als wir mit dem Café anfingen, hatten wir nur löslichen Kaffee«, bemerkte Arthur. »Das war um einiges einfacher.«
»Kann ich mir vorstellen.« Sie deutete auf den Kaffeeautomaten, der nach zwei Wochen schon nicht mehr ganz so einschüchternd wirkte, an manchen Tagen aber immer noch ihr Erzfeind war. »Das Ding da ist ja wie ein Raumschiff, dessen Bedienung man erst beim Fliegen begreift.«
»Dafür schmeckt der Kaffee verdammt gut«, sagte Arthur grinsend.
Sie legte einen Arm um seine Schultern und drückte ihn sanft. »Ich bin froh, dass ihr mich nach Salthaven geholt habt.«
Sie war noch nicht lange fort von Edinburgh, aber bisher bereute sie ihre Abreise nicht und konnte sich auch nicht vorstellen, dass sich das ändern würde. Was sie allerdings vermisste, waren die Spaziergänge am Wasser, denn tatsächlich verbrachte sie den ganzen Tag im Café, um möglichst schnell zu lernen, was immer es zu lernen gab. Immerhin konnte sie das Meer nun jeden Tag sehen. Es war da und wartete auf sie, und das jeden Morgen.
Molly begrüßte eine junge Frau in Laufbekleidung, die sich die Kopfhörer aus den Ohren zog, als sie eintrat; Jo bekam mit, dass sie Jess hieß. Sie schien eine weitere Stammkundin zu sein, und Jo verspürte plötzlich einen Stich. Sie bereute es, Salthaven je verlassen zu haben. Sie hatte auch in Edinburgh Freunde gefunden und zu einer Clique gehört, mit der sie nach der Arbeit in den Pub gegangen war, aber es war anders gewesen als hier. In Salthaven konnte man nicht durch die Stadt schlendern, ohne mindestens jeden Zweiten zu kennen, und das hatte Jo gefehlt.
Jo hatte in den vergangenen zwei Wochen viele neue Gesichter kennengelernt. Molly und Arthur stellten ihr die Gäste nicht nur vor, sondern lieferten meistens gleich eine Art mündlichen Lebenslauf mit. Jedes Mal jedoch, wenn sie damit konfrontiert wurde, dass Leute ihren Alters hier bereits ihren Platz gefunden hatten, wurde sie sich bewusst, dass sie an einen Scheideweg gelangt war.
Jeder Tag brachte unendlich viel Neues, und wenn er vorbei war, fiel Jo völlig erschlagen ins Bett. Sie fing langsam an sich zu fragen, ob es in ihrem Leben je wieder schöne, faule Abende geben würde. Denn mit der Schließungszeit war die Arbeit natürlich noch nicht vorbei. Aufräumen, die Einnahmen zählen und im Safe verstauen, übrig gebliebenes Essen entsorgen und noch verwendbare Zutaten einpacken, Tische und Theke wischen, gläserne Oberflächen polieren, bis man sich darin spiegeln konnte … es gab immer etwas zu tun. In den vielen Jahren, die ihre Großeltern das Café nun führten, hatten sie keinen einzigen Tag nachgelassen, und Jo würde sie jetzt, da sie sie um Hilfe gebeten hatten, ganz sicher nicht enttäuschen. Sie wollte, dass sie so stolz auf ihre Enkelin sein konnten, wie sie es auf ihre Großeltern war. Das Café florierte, weil sie es stets mit Herzblut und Engagement geführt hatten, und die Verantwortung aus den Händen zu geben würde ihnen nicht leichtfallen. Jo wollte tun, was immer sie konnte, um den Abschied weniger schmerzvoll zu machen.
Molly seufzte. »Komm, Jo, wir setzen uns einen Moment lang, du hast es dir verdient. Arthur erledigt in der Küche den Rest. Gönnen wir uns ein bisschen Ruhe, ehe wir in der eisigen Kälte den Berg hinaufmüssen.«
Jo deutete auf die Fensterbank. »Dann bitte dort. Da können wir aufs Meer hinausblicken.«
Molly setzte sich und lehnte sich an ein mit roter Spitze gesäumtes Kissen zurück. Sie schirmte die Augen mit den Händen ab und blickte angestrengt durchs Fenster. »Viel sieht man nicht. Es ist stockdunkel da draußen.«
Jo, die noch die Schürze über der schwarzen Bluse und der Jeans trug, sank gegen ein Samtkissen. »Stimmt, aber ich kann die Wellen hören, und das reicht mir.«
»Ja, ein wunderbares Geräusch.« Molly schloss die Augen. »Beruhigend.«
»Ich hätte nie gedacht, dass ich mal so froh sein würde, mich setzen zu können.«
Molly schlug die Augen wieder auf. »Du bist noch jung, du gewöhnst dich dran.«
»Dabei dachte ich, ich wäre besser vorbereitet.«
»In welcher Hinsicht?«
»Na ja, die Lehrtätigkeit ist ziemlich anstrengend. In meiner Klasse waren achtundzwanzig Kinder im Alter von acht und neun Jahren, und sie haben mich ordentlich auf Trab gehalten. Aber das hier ist etwas ganz anderes. Was ich positiv meine«, fügte sie hinzu.
Sie blickten hinaus in die Dunkelheit. Die Straßenlaternen säumten die Bucht. Jo hatte so viel zu tun gehabt, dass sie es bis jetzt nicht einmal in den Ortskern mit seinen hübschen Pubs und dem Kopfsteinpflaster geschafft hatte. Sie hoffte, dass der Buchladen, der Kurzwarenladen und das Süßigkeitengeschäft, in dem sie als Kind ihr Taschengeld gelassen hatte, noch da waren.
»Und was denkst du inzwischen?«, fragte Molly. Arthur schloss die Jalousien an den Fenstern, ließ aber ihre unberührt. »Über das Café, meine ich.«
»Keine Sorge. Ich mache keinen Rückzieher.« Da Molly nicht überzeugt wirkte, fügte sie hinzu: »Ich habe mein Zimmer gekündigt, ich kann gar nicht zurück. Im Übrigen würde mein armes, altes Auto es gar nicht mehr nach Schottland zurück schaffen. Ich fürchte, es würde einfach den Geist aufgeben, wenn ich es ihm auch nur vorschlüge.«
»Du brauchst ein neues.«
»Niemals«, antwortete Jo grinsend. »Es ist vielleicht alt, aber großartig.«
»Genau das sage ich auch immer von deiner Großmutter«, flüsterte Arthur Jo im Vorbeigehen laut zu.
Molly blickte ihn so konsterniert an, dass er stehen blieb, sie in die Arme nahm und auf die Lippen küsste, und Molly wurde rot.
»Du musst deinen Großvater entschuldigen.« Molly sprach laut, damit Arthur, der in Richtung Küche verschwand, es auch bestimmt hören konnte. »Nun, da wir zu dritt sind, wird er wohl lernen müssen, sich zu benehmen.«
Jo hätte den beiden stundenlang zusehen mögen. Nie würde sie der Zärtlichkeit, die zwischen ihnen bestand, dem Miteinander, das keine Worte brauchte, überdrüssig werden. »Was macht er dahinten überhaupt?«, fragte sie, als Gramps nicht mehr wiederkam. Vielleicht begann er endlich, etwas gegen die Zettelwirtschaft im Café zu tun. Jo hatte Papiere in Schubladen, zu Hause in einem Aktenschrank und weitere in der Küche entdeckt. Die Bücher waren ein einziges Chaos, und Jo wusste, dass sie sich sehr bald damit beschäftigen musste, aber das war nichts, worauf sie sich freute.
»Keine Ahnung.« Molly zuckte die Achseln und kehrte zu ihrem ursprünglichen Thema zurück. »Jedenfalls bist du zur rechten Zeit hergekommen, Jo. Und wir haben dich auch bewusst jetzt schon hergebeten und nicht erst im Hochsommer.«
Jo schnappte nach Luft. »Das Sommergeschäft hätte ich nie und nimmer schaffen können. Allein daran zu denken versetzt mich in Panik.«
»Du schaffst das schon, aber um diese Jahreszeit konnten wir dich ins kalte Wasser werfen, ohne dir einen zu großen Schock zu versetzen. Im Sommer kommen nicht nur die Stammgäste, sondern auch Touristen, und dann kann es schon ein wenig anstrengend werden.«
»Um diese Zeit ist es immer relativ ruhig, oder?«
»Ja. Das Weihnachtsschwimmen bringt uns noch einiges an Kundschaft, die letzten Ferientage ebenso. Im Januar und Februar herrscht mäßiger Betrieb, bis im Frühling die Leute aus dem Winterschlaf erwachen. Aber dieses Auf und Ab hat etwas Gutes. Man hat zwischendrin Zeit, die Batterien aufzuladen, bevor es wieder richtig anstrengend wird.«
»Veranstaltet ihr immer noch Themenabende?«
»Oh, davon gab es gar nicht so viele. Wir ändern noch immer die Karte, wenn im Herbst das Feuerwerk stattfindet und die Leute sich auf dem Pier versammeln. Von hier aus hat man nämlich einen schöneren Blick als aus der Nähe, die Raketen spiegeln sich im Wasser.«
»Darauf freue ich mich schon.«
»Außerdem versuchen wir uns etwas für den Maifeiertag einfallen zu lassen, und manchmal setzen wir zu Ostern mehr Schokolade auf die Karte.«
Arthur hatte endlich gefunden, was er gesucht hatte. »Ich wusste doch, dass ich das Ding hier hineingelegt habe.«
Molly setzte ihre Brille auf, als er näher kam. »Was hast du denn da?« Dann schlug sie überrascht die Hand vor den Mund. »Ist es das, was ich denke?« Ein breites Lächeln erhellte ihr Gesicht.
Arthur grinste ebenfalls und schien durch und durch zufrieden mit sich. Jo verstand nichts. »Was ist das? Hast du den aus einem Kaugummiautomaten?«
Arthur nickte. »Allerdings.« Mit Zeigefinger und Daumen hielt er ihr einen Plastikring aus mit Goldfarbe angemalten Blümchen und einer blauen Perle hin.
»Gran – ist alles in Ordnung?« Die Augen ihrer Großmutter hatten sich mit Tränen gefüllt, während sie ihren Mann unverwandt anblickte.
»Sie wird gerade ein bisschen sentimental«, erklärte Arthur, aber Jo konnte sehen, dass es ihm nicht anders ging. »Du musst wissen, dass wir dachten, wir hätten ihn verloren. Das ist unser erster Verlobungsring.«
Jo lachte, hielt dann aber inne. »Meinst du das ernst?« Sie beugte sich vor, um den Ring zu inspizieren. Hatte sie ihn unterschätzt? Aber auch bei näherer Betrachtung sah das Ding aus wie ein billiges Stück Plastik.
Arthur zwängte sich auf die Fensterbank zwischen sie und Molly und legte einen Arm um seine Frau. »Ich hab ihn wiedergefunden, als ich für Jo das Gästezimmer aufgeräumt habe«, erklärte Arthur. »Er hatte sich in einem Wollknäuel verfangen und steckte in der Stricktasche, die du ganz hinten in den Kleiderschrank gestellt hast.«
»Jetzt erinnere ich mich wieder.« Molly nahm ihm den Ring aus den Fingern. »Ich habe ihn in unserem alten Haus in die Wollschublade gelegt, damit er nicht verlorengeht, und als wir umgezogen sind, habe ich Wolle, Nadeln und Strickmuster in die Tasche gestopft. Ich habe den Ring gesucht wie verrückt, aber er muss so hoffnungslos verwickelt gewesen sein, dass ich keine Chance hatte.«
»Allerdings. Ich habe ihn auch nur gefunden, weil mir die Tasche heute Morgen hingefallen ist und alles auf den Boden kullerte. Als ich die Knäuel aufhob, blitzte etwas Blaues in der beigefarbenen Wolle auf – und da war er. Aber ich wollte warten, bis im Café Ruhe eingekehrt ist, ehe ich ihn dir gebe.«
Molly drückte sein Knie. »Du bist ein ganz wunderbarer Mann, weißt du das?« Sie legte ihre Hände an Arthurs Gesicht und küsste ihn. Jo fühlte sich vorübergehend fehl am Platz, bis Arthur sich ihr wieder zuwandte.
»Mit diesem Ring habe ich Molly einen Heiratsantrag gemacht.«
»Aha? Und warum kenne ich die Geschichte noch nicht?«, fragte Jo und nahm den Ring.
»Ich habe sie dir bestimmt erzählt, als du noch klein warst«, sagte Molly.
Jo schüttelte den Kopf. »Nein. Daran könnte ich mich erinnern.«
»Dann wohl deiner Mum.« Molly nahm ihr den Ring wieder ab, als könne sie nicht ertragen, ihn so lange aus der Hand zu geben.
»Jetzt erzählt schon.« Jo setzte sich auf den kleinen Holztisch gegenüber der Fensterbank, damit sie beide ansehen konnte.
»Erzähl du«, sagte Molly zu Arthur, und ihre Augen glitzerten.
Arthur nahm ihre Hand. »Es war am Valentinstag, 1964. Der Wind heulte, und es war eiskalt, und wer auch nur ein bisschen Verstand hatte, blieb drinnen vor dem Feuer sitzen.«
Molly konnte nicht widerstehen; die beiden hatten jahrzehntelange Übung darin, sich gegenseitig zu ergänzen. »Wo ich auch bleiben wollte, als Arthur bei uns klopfte, um mich zu einem Spaziergang abzuholen.«
Nun übernahm Arthur wieder. »Wir hatten uns in der Eisdiele kennengelernt, ein Jahr vor dem Abend, von dem ich erzählen will. Sie hatte ihr Eis fallen lassen und sah ziemlich traurig aus, also gab ich ihr ein neues aus und fragte sie bei der Gelegenheit, ob sie mit mir tanzen gehen wollte.«
Molly grinste breit. »Und weil er mir so gut gefiel, beschloss ich, das Risiko einzugehen.«
»Danach gingen wir jeden Abend auf dem Pier spazieren«, fuhr Arthur fort. »Manchmal aßen wir Fish&Chips, manchmal ein Eis, wir sahen den Wellen zu und blickten aufs Meer hinaus.«
»Aber an besagtem Abend wäre ich wirklich gerne zu Hause geblieben«, wandte Molly ein.
Arthurs Lachen klang wie ein Rumpeln. »Du hättest mal ihre Miene sehen sollen, Jo, als ich mich nicht abwimmeln ließ.«
»Er hat mir den Mantel um die Schultern gelegt und mich praktisch aus der Tür geschubst.«
»Stimmt«, sagte Arthur. »Aber es hat sich gelohnt.«
Jo entging der Blick nicht, den die beiden wechselten. Mochten sie auch älter und grauer geworden sein, ihre Liebe hatte dieselbe Kraft wie damals, als sie noch jung gewesen waren. »Und wie ging es weiter? Kommt schon, spannt mich nicht auf die Folter.«
»Wir machten uns auf unseren üblichen Abendspaziergang, aber es war wirklich ungemütlich. Der Wind blies so stark, dass der Regen uns waagerecht entgegenschlug, und in kürzester Zeit waren wir völlig durchnässt. Ich nahm ihre Hand, und wir rannten über den Pier. Sie wollte mich zurückhalten, meinte, dass es zu gefährlich sei, die Wellen schlugen hoch, doch ich zog sie in die Arme und versicherte ihr, dass ich immer auf sie aufpassen würde. Und dann standen wir vor diesem Gebäude.« Er blickte hinauf in den spitzen Giebel, in Gedanken viele, viele Jahre weit weg. »Damals war es heruntergekommen und stand leer. Zuvor hatte man hier Tee bekommen, wahrscheinlich auch Hotdogs oder Ähnliches, aber ich hatte eine Vision. Ich war nicht besonders gebildet, doch ich wollte eine Familie ernähren können und träumte von einem eigenen Laden. Das war es eigentlich gewesen, was ich mit Molly an jenem Abend besprechen wollte, aber der Sturm und das Tosen der Wellen hatte etwas so Ursprüngliches, Drängendes, dass ich plötzlich auf die Knie ging.«
Jo schlug sich die Hände vor den Mund, als wieder Molly übernahm.
»›Willst du mich heiraten?‹, fragte er. Doch er hatte keinen Ring, also antwortete ich, dass er eine solche Frage nicht stellen könne, ohne das Abkommen mit irgendetwas zu besiegeln.«
»Oje. Und was dann?«, fragte Jo entzückt.
»Er sagte, er könne sich im Augenblick nicht beides leisten, habe aber das Gebäude, vor dem wir standen, bereits angezahlt und würde mir damit eine gemeinsame Existenz anbieten. Er wolle ein Café hier eröffnen. Mit mir. Unser eigenes Geschäft. Und dann sah er mich so erwartungsvoll an, als würde er gleich platzen.«
Nun setzte wieder Arthur die Erzählung fort, und Jo bewunderte einmal mehr ihr stillschweigendes Einvernehmen. »Sie meinte, sie könne sich schlecht ein Café an den Finger stecken, das sei wohl etwas zu groß. Also schleppte ich sie zum Kaugummiautomaten, der mit Spielzeugringen gefüllt war, kramte in der Tasche nach dem richtigen Geldstück, steckte es in den Schlitz und drehte den Schalter. Aus dem Schacht fiel dieser Ring.« Alle drei betrachteten ihn andächtig. »Ich versprach ihr, ihr einen richtigen zu schenken, wenn sie einwilligte, bis in alle Ewigkeit an meiner Seite zu bleiben.«
»Und der Rest ist, wie man so schön sagt, Geschichte«, schloss Molly und blickte mit einem Lächeln auf den goldenen Saphirring an ihrem Finger herab.
Der Wind rüttelte an den Fenstern. »Dass ich bisher noch nie davon gehört habe!«, sagte Jo.
»Na ja, deine Mum ist nicht gerade romantisch veranlagt, und wenn man so viel zu tun hat wie wir in den vergangenen Jahren, vergisst man im Alltagstrott manches. Und nachdem wir dachten, dass wir den Ring verloren hatten, haben wir die Geschichte wohl beide aus unseren Köpfen verbannt. Schließlich ist viel passiert seit jenem Valentinstag.«
»Kommt, Mädels.« Arthur stand auf und nahm sein Schlüsselbund, ehe er die Lichter an den Fenstern ausschaltete und die restlichen Jalousien herabließ. »Gehen wir nach Hause, und machen uns heiße Schokolade mit Marshmallows. Was haltet ihr davon?«
»Gute Idee«, sagte Jo, holte ihren Mantel aus dem Schrank neben der Küche und zog ihn an. »Solange nicht ich diejenige bin, die sie zubereiten muss.«