Über das Buch:
Wir haben verlernt, wie Gesellschaft geht – und zwar nicht nur im Osten Deutschlands. Das sagt Dirk Neubauer, seit 2013 Bürgermeister der sächsischen Kleinstadt Augustusburg. Was er nach seiner Wahl in der Stadt vorfand, waren Intransparenz, Politikverdrossenheit und ein Gefühl der Verlorenheit. Neubauer ist überzeugt, dass das politische System – entgegen landläufiger Meinung – von innen heraus zu verändern ist und dass wir wieder lernen können, was es heißt, Eigenverantwortung zu tragen, statt sie an den Staat abzugeben. Seine Projekte für Augustusburg, die auf Bürgerbeteiligung setzen, zeigen: Das Engagement der Bürger, das früher wenig befördert wurde, wächst langsam, aber stetig.
Über den Autor:
Dirk Neubauer, geboren 1971, ist seit Oktober 2013 Bürgermeister der Stadt Augustusburg – 20 Kilometer östlich von Chemnitz. Parteilos gestartet, wurde er 2017 SPD-Mitglied. Der gebürtige Hallenser schlug 1993 zunächst den Weg in den Journalismus ein und war rund zehn Jahre als Reporter und später Geschäftsführer eines lokalen Fernsehsenders tätig. Nach zwei Jahren als Marketingchef bei mdr Jump und Sputnik wechselte er in die Selbstständigkeit. Er entwickelte Konzepte für Portallösungen von Zeitungshäusern. Für die sächsische SPD schreibt er derzeit an einem Konzept für mehr Bürgerbeteiligung auf Landesebene und setzt sich für ein landesweites Digitalkonzept ein. Für Augustusburg hat er das Projekt #diStadt ins Leben gerufen. Mit seiner Familie lebt Dirk Neubauer in Augustusburg.
Dirk Neubauer
Das Problem sind
wir
Ein Bürgermeister in Sachsen
kämpft für die Demokratie
Deutsche Verlags-Anstalt
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Copyright © 2019 Deutsche Verlags-Anstalt, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Straße 28, 81673 München
Umschlaggestaltung: Büro Jorge Schmidt, München
Typografie und Satz: Andrea Mogwitz, DVA
Gesetzt aus der Minion
ISBN 978-3-641-25092-8
V001
www.dva.de
Vorwort
1 Wir, die Bürger
Die Nichtwähler und die Protestwähler – Die untote DDR
Bleiben Sie ruhig, wir holen Hilfe
Die gefährliche Alternative
Ein noch immer geteiltes Land
Für eine Politik der Teilhabe
Die Stadt, das sind ihre Bürger
Die Flutmauer
Die schleichenden Totengräber der Demokratie
Kapitulation vor der Öffentlichkeit
Der Zündpunkt
Zuschauer, Feldspieler und resignierte Wutbürger
Selbstverantwortung und konkrete Projekte: Eine Stadt findet sich
2 Wir, der öffentliche Stillstand
Stillstand durch Angst und Mutlosigkeit
Stillstand in den Filterblasen und Echokammern
Die gelähmte Gesellschaft
Mission impossible – eine Arztpraxis entsteht
Der Wahnsinn mit den Schildern
Auf dem Holzweg der Entfremdung
Verteilen wir eine Milliarde Euro
Die letzte Meile der Politik
Die Unmöglichkeit, einen Sportplatz zu bauen
Ermächtigt die Kommunen!
Fährt der Zug der Digitalisierung ohne uns ab?
Die Politik ist in der Pflicht
3 Wir, die Politik
Der Osten – ein Reservat
Blick zurück: Bischofferode und die Folgen
Der Bürger – zu spät gehört und nie gefordert
Mehr Selbstbestimmung für die Kommunen!
Wie wir gerade die Zukunft verpassen
Wir verlieren künftige Generationen
Die abgehängte Region
Die vernachlässigte Bildung
Dem Bürokratieapparat ist egal, wer über ihm regiert
Schluss mit einem System, das nur Verlierer hervorbringt
Der Aufstieg der AfD
4 Wir, die Medien
Von den Medien in die Politik
Politik und Deutung
Die Ostpresse nach der Wende
Das gedruckte Wort muss kein wahres sein
»Du machst doch sowas«
Das Internet zündet den Turbo
Vertane Chancen: Chemnitz und die Folgen
Punkten beim täglichen Kleinkram
Die Gefahr der verschenkten Debatte
Posten, was passiert
Geborgen unter Gleichgesinnten
Die kommenden Gefahren
5 Wir, die Veränderer
Demokratie ist keine Party, zu der man eingeladen wird
Wir haben den Verlust des Miteinanders zugelassen
Wir sind das Problem
Die Politik muss liefern. Aber was?
Wie geht ein echter Neuanfang?
Vom Bittsteller zum Entscheider
Geht es vielleicht doch einfacher – und lokaler?
German Angst
Wir sind eine Gesellschaft in Ausbildung, nicht nur im Osten
Viel wurde über Sachsen geschrieben, zeitungskilometerweise. Was soll also dieses Buch noch sagen, geschrieben von einem Politikanfänger aus der Provinz? Wir wissen doch schon alles. Der Stempel ist in den letzten Monaten wiederholt aufgedrückt worden, die Debatte kann beendet werden. Doch ist es wirklich so einfach? Ist wirklich alles gesagt und vor allem: Ist alles verstanden? Ich denke nicht.
Ich bin seit Oktober 2013 Bürgermeister der Stadt Augustusburg, gut 20 Kilometer östlich von Chemnitz. Vorweg muss ich gleich sagen, dass dieses Buch weder ein »Handbuch Ost« noch eine Aburteilung des Ostens ist. Es erhebt ausdrücklich nicht den Anspruch, die alleinige Wahrheit zu schildern. Vielmehr beschreibt es viel selbst Erlebtes, viel selbst Gesehenes und Beispielhaftes, was – alles zusammengenommen – vielleicht einen möglichen Erklärungsansatz ergibt, warum es nun so ist, wie es ist. Wie es so weit kommen konnte, dass ein Großteil der Bevölkerung hier sich inzwischen – 30 Jahre nach dem Mauerfall – abwendet von dem, was er 1989 stolz erstritten hat. Warum die Menschen nicht mehr glauben, dass dieses System ihre Interessen vertritt und warum sich weite Teile der Gesellschaft im Osten noch immer besiegt und missachtet fühlen. Inzwischen trifft das sogar auf Menschen zu, für die friedliche Revolution und DDR nicht mehr sind als vererbter Schmerz und Erzählung.
Allem Aufschwung zum Trotz ist der Osten weitgehend noch immer das, was er schon damals, unmittelbar nach dem Fall der Mauer, war: Beitrittsgebiet. Mit einer Gesellschaft, die sich noch immer in Ausbildung befindet, weil wir einiges in Steine investiert haben und wenig in Menschen, deren Ideen und Vorstellungen. Weil wir kritiklos einem Land eine Struktur überhalfen, das eigentlich gerade Freiheit suchte. Bräuchte es einen Beweis, dass der vor drei Jahrzehnten begonnene Weg mit der milliardenschweren Förderung von Beton und Asphalt, dass die komplette Übernahme von Regeln und Strukturen zwar der einfachste, aber zugleich auch der falscheste aller Wege war, jetzt wäre er erbracht und wird weiter manifestiert durch die ungebrochene Flucht vieler Menschen in den noch immer goldenen Westen. Und durch Wahlergebnisse, die inzwischen die gesamte Republik erschüttern.
Was wir momentan im Osten Deutschlands erleben, ist eine Folge aus Missachtung von Lebensleistungen, entrückter Politik, überbordender Regelwut und Ignoranz gegenüber einer anderen, sich noch findenden Gesellschaft. Was hier gerade passiert, fiel nicht einfach so vom Himmel. Es ist das Ergebnis eines langen und schmerzhaften Prozesses voller Missverständnisse, gegenseitigen Desinteresses, einseitiger Sprach- und beidseitiger Gehörlosigkeit, politischer Fehler und der Arroganz des Überlegenen, aber auch der stetig zunehmenden Unfähigkeit, Dinge selbst in die Hand zu nehmen. Vor lauter Bekümmertwerden haben wir verlernt, unsere Interessen zu vertreten. Und das betrifft alle von uns. Jeder Einzelne darf während der Lektüre gern auch sich selbst erkennen und sich die Frage stellen, ob nicht auch er selbst vieles hätte anders machen müssen.
Insofern ist dieses Buch nicht nur eine Ostansicht. Es meint auch den Rest der Republik. Denn tatsächlich glaube ich, dass wir hier im Osten, einem Landstrich, dem schon einmal das Undenkbare eines grundlegenden Systemwandels widerfuhr, einen Erfahrungsvorsprung haben. Die Gesellschaft hier verfügt höchstwahrscheinlich über ein anderes Gefühl für Schieflagen und ihre Folgen als der Rest der Deutschen. Leider – und auch das gehört zu meiner Wahrheit dazu – fällt das momentane politische Beben in eine Zeit, in der Fakten oft nichts und Inhalte noch weniger zählen und in der das Meckern auf der bequemen Couch mehr wiegt als mühsames Verändern. So verwandelt sich Wut in eine sehr gefährliche Waffe. Elektronisch beschleunigt durch sich selbst zitierende Netzwerke und begünstigt durch eine indifferente Arbeit der klassischen Medien. Dem allem zu begegnen, ohne unsere freiheitliche Grundordnung zu zerstören, wird eine Herausforderung für uns alle. Denn wir müssen wieder lernen, dass wir alle, jeder Einzelne von uns, eine Verantwortung haben, dass wir uns alle auf den mühsamen Weg des Denkens, Schlussfolgerns und des Veränderns begeben müssen. Weit außerhalb unserer Komfortzone von Reihenhaus, Konsum und Urlaub. Demokratie ist Transparenz, Kompromissfähigkeit, Ehrlichkeit und Differenzierung und ihr Gelingen ist abhängig von der Teilhabe möglichst vieler. Das alles sind Punkte, die auf der derzeitigen Agenda auf allen Ebenen und allerorten nur noch kaum messbar vorhanden sind. Doch genau hier liegen die Schlüssel, wenn unsere Form des Zusammenlebens nicht an einer Art multiplem Organversagen zugrunde gehen soll. Wir können unsere Probleme nur gemeinsam lösen, wenn wir verstehen, dass wir alle das Problem sind.
Augustusburg, Juli 2019