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Zum Buch

Elisabeth Wellano alias Liesl Karlstadt (1892–1960) stammte aus ärmlichen Verhältnissen. Ihr komisches Talent und ihre große schauspielerische Begabung verhalfen ihr bald zu Popularität und gefeierten Auftritten. Hinter dem Glanz des öffentlichen Lebens stand der private Albtraum: Zu der schmerzhaften Zurücksetzung hinter ihren allgegenwärtigen Bühnenpartner Karl Valentin gesellte sich die emotionale Abhängigkeit von ihm. Erst Anfang der Vierzigerjahre fand sie die Kraft zur Eigenständigkeit und zum künstlerischen Neuanfang. Mit großer Kompetenz und Sensibilität erzählt Gunna Wendt den wechselhaften Lebensweg dieser Ausnahmekünstlerin.

Zur Autorin

GUNNA WENDT, geboren 1953, studierte Soziologie und Psychologie und lebt als freie Autorin und Ausstellungsmacherin in München. Neben ihren Arbeiten für Radio und Theater schrieb sie mehrere Libretti für zeitgenössische Opern und veröffentlichte zahlreiche Biografien, etwa über Liesl Karlstadt, Paula Modersohn-Becker, Franziska zu Reventlow, Helmut Qualtinger, Maria Callas, Erika Mann und Therese Giehse.

Gunna Wendt

Liesl Karlstadt

Ein Leben

Mit 39 Fotos

Die Originalausgabe ist unter dem gleichen Titel erstmals 1998 im Piper Verlag erschienen.


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Überarbeitete Neuausgabe November 2019

© btb Verlag in der Verlagsgruppe Random House,
Neumarkter Straße 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: semper smile, München

Umschlagmotive auf der Vorder- und Rückseite:
Monacensia Literaturarchiv, München

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

SK · Herstellung: sc

ISBN 978-3-641-25193-2
V001

www.btb-verlag.de

www.facebook.com/btbverlag

They tell me everything is going to be all right,
but I don’t know what all right even means.

BOB DYLAN, Time Out of Mind

in memoriam Peter Hanusch

INHALT

AUFTAKT

VORWORT

EINS – Herz mit doppeltem Boden

ZWEI – Elisabeth Wellano genannt Liesl Karlstadt

DREI – Das Aufsatzheft

VIER – Anfänge als Soubrette

ZWISCHENSPIEL – Das Heft mit den Couplets

FÜNF – Megamagnetische Begegnung mit einem Genie

SECHS – Daheim in München

ZWISCHENSPIEL – Eine Reise über den Bodensee

SIEBEN – Zürich – Wien – Berlin

ACHT – »Frau Vogl« – ein Alleingang

NEUN – Improvisation. Von der Idee zum Stück

ZWISCHENSPIEL – »Wo hans’n?« – Ein Biergartenerlebnis

ZEHN – Starr – beweglich. Die Dynamik einer Beziehung

ZWISCHENSPIEL – Die Silhouette

ELF – Travestie oder die Lust an der Verkleidung

ZWÖLF – Golden Twenties

ZWISCHENSPIEL – »Der Firmling« als Politikum

DREIZEHN – Vom Internationalen zum Völkischen

ZWISCHENSPIEL – Der Gruselkeller

VIERZEHN – Zusammenbruch. Grund: Kummer

FÜNFZEHN – »Beim Nervenarzt« – Dichtung und Wahrheit

SECHZEHN – Symptom Ideenflucht

ZWISCHENSPIEL – »Im Stiegenhaus« und »Alt-München«. Zwei Texte aus dem Nachlass

SIEBZEHN – Fluchtlinie Gipfel, ein Idyll

ACHTZEHN – Unter Gebirgsjägern im Krieg

NEUNZEHN – »Mutter Brandl« – Die letzte Rolle

ANMERKUNGEN

ZEITTAFEL

LITERATUR

BILDNACHWEISE

DANKSAGUNG

AUFTAKT

EINE Winternacht kurz nach Weihnachten 2018. Ich bin auf dem Rückweg von Erl in Tirol nach München. Im Kopf die Bilder der Oper »Stillhang«, deren Premiere am 28. Dezember im Rahmen der alljährlichen Erler Festspiele stattfand. Isabel Karajan als Liesl Karlstadt auf der Bühne – verloren im weißen Hemd wie Sterntaler in dunkler Nacht. Gefunden von einer Gruppe Soldaten, die auf einer Alm in den Bergen stationiert sind. Junge Männer, die genauso ausgesetzt sind im Niemandsland wie sie. Während sie den Horror und die Todesnähe schon hinter sich hat, ahnen die Rekruten, dass etwas Schreckliches vor ihnen liegt, und versuchen, die Furcht vor dem Unbekannten zu verdrängen. Was die fünfzigjährige Frau mit ihnen verbindet, ist das Warten, die Unsicherheit, die Angst, der Überlebenswille, die Lebensfreude, die sich bis zur Gier steigern kann. Gemeinsam erfinden sie einen Alltag mitten im Krieg, der ihnen zumindest für begrenzte Zeit Geborgenheit, Spaß und die Illusion von Frieden bietet. Liesl schlüpft in verschiedene Rollen, ist mal Mutter, mal Vater für ihre »Söhne«, aber vor allem der Mulitreiber und Gefreite Gustav, dem noch einige Beförderungen bevorstehen. Die muntere Truppe bespielt die Leere der Zwischenwelt mit ihrer Fantasie, erklärt das Wettersteingebirge zum Himalaja und hält eine tibetanische Faschingsprozession auf der Zugspitze ab.

Ihr Aufenthalt auf der Ehrwalder Alm sei die »schönste Zeit ihres Lebens« gewesen, hat Liesl Karlstadt beteuert. Zwischen 1941 und 1943 fand sie dort nach ihrem Selbstmordversuch und langen Psychiatrieaufenthalten in München wieder zu Ruhe, Kraft und Balance. Diese Zeit ist der Gegenstand der Oper »Stillhang« von Klaus Ortner und Christian Spitzenstaetter. Ortner schrieb das Libretto und führte Regie, Spitzenstaetter schuf die Musik und dirigierte. Zusammen mit dem großartigen Ensemble von Sängern, Musikern und Schauspielern, allen voran Isabel Karajan, kreierten sie ein Gesamtkunstwerk, vertrauten dem Zusammenspiel von Text und Musik und ließen – wie einst das Bühnenpaar Valentin/Karlstadt – der Stille genügend Raum.

Ich war von dem Gefühl überwältigt, dass mit dieser Produktion etwas zurechtgerückt worden war: Das Urteil »Lebenslänglich komisch«, das Karl Valentin über seine Partnerin gesprochen hatte und das – aus Bequemlichkeit – von der Allgemeinheit übernommen wurde, war endlich revidiert worden, das Bild von der handfesten Frohnatur, dem bodenständigen Münchner Kindl als Trugbild entlarvt.

Eine ähnlich tiefe Zufriedenheit verspürte ich, als ich im Frühjahr 2015 die große Paula-Modersohn-Becker-Ausstellung im Louisiana Museum für Moderne Kunst in Kopenhagen besuchte. Endlich wurden die Werke der aus der Künstlerkolonie Worpswede stammenden Malerin dort gezeigt, wo sie hingehörten: in »der Welt« – so hatte sie selbst Paris genannt, das die nächste Station der Ausstellung sein würde.

Die Künstlerin hatte endlich den Platz und die Aufmerksamkeit gefunden, die ihr gebührten. So auch Liesl Karlstadt. Es ist heute unfassbar, dass man sie in den 1920er- und 1930er-Jahren übersehen oder nur als nebensächlich wahrnehmen konnte, wie es so namhafte Publizisten wie Feuchtwanger, Brecht, Polgar, Tucholsky und Kerr taten. Die nahezu unbegrenzte Verwandlungsfähigkeit und Flexibilität ihrer Darstellung entging diesen sonst so aufmerksamen Autoren. Sie konzentrierten sich fast ausschließlich auf den beständigen Teil des starr-beweglichen Bühnenpaars und feierten Karl Valentins Genie. Der bewegliche Teil wurde zum Beiwerk, zur Stichwortgeberin degradiert. Wahrscheinlich gab es damals, in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, kein Wahrnehmungsmuster für das, was Liesl Karlstadt auf der Bühne tat. Genie wurde damals gleichgesetzt mit Monomanie, und die fand sich bei Karl Valentin und nicht bei Liesl Karlstadt.

Doch dabei ist es nicht geblieben. Multiplizität, Flexibilität, Selbsterfindung sind heute übliche Begriffe, um Darstellungs- und Existenzformen zu beschreiben. Bei Liesl Karlstadt beschränkten sie sich nicht nur auf die Bühne, sondern auch auf den Alltag. Nachdem sie zunächst ihre »weibliche Eitelkeit vergessen« musste, um den alten beleibten Kapellmeister zu spielen, erkannte sie bald, dass sie »in der Hosn immer a freche Goschn« haben würde.

In den letzten Jahren rückte Liesl Karlstadt zunehmend in den Mittelpunkt des Interesses, wie diverse Publikationen, Filme und Ausstellungen zeigen. Zuletzt die Ausstellung »Liesl Karlstadt: Schwere Jahre 1935–1945« im Valentin-Karlstadt-Musäum anlässlich ihres 125. Geburtstags am 12.12.2017.

Einen Höhepunkt der Zuwendung und Würdigung Liesl Karlstadts bedeutete die Einrichtung des Liesl-Karlstadt-Kabinetts, mit der der Grafiker Herbert Woyke und ich betraut wurden, und die damit verbundene Umbenennung des bisherigen Valentin-Musäums in Valentin-Karlstadt-Musäum. Sie wurde initiiert durch einen Stadtratsantrag, der 1999 von den Stadträtinnen Monika Renner und Christine Strobl eingebracht und positiv entschieden wurde.

Am Mittwoch, dem 25.7.2001, war es so weit: Um 11.01 wurde im nördlichen Turm des Isartors das Liesl-Karlstadt-Kabinett eröffnet und die Umbenennung vorgenommen. Inzwischen ist das Karlstadt-Kabinett in den Südturm zur Karl-Valentin-Dauerausstellung umgezogen, sodass die beiden Künstler, die nur miteinander einzigartig werden konnten, wieder beisammen sind.

München, im Juni 2019

VORWORT

Also steigen wir einfach irgendwo ein, kein Einstieg ist besser als ein anderer, keiner hat Vorrang, jeder ist uns recht, auch wenn er eine Sackgasse, ein enger Schlauch, ein Flaschenhals ist.

GILLES DELEUZE, FÉLIX GUATTARI,
Kafka. Für eine kleine Literatur

WENN man eine Abenteuerreise antritt, rüstet man sich entsprechend aus. Die möglichen Erfahrungen sind genauso vielzählig und vielfältig wie die möglichen Gefahren. Die Beschäftigung mit dem Leben eines verstorbenen Menschen ist mit einer Abenteuerreise vergleichbar. Irgendetwas zieht einen an. Lange Zeit bewegt man sich im Dunkeln, ab und zu leuchtet eine Spur auf. Ihr Licht wirft seinen Schein auf die Umgebung und verlischt wieder. Wachsam sein. Genau hinschauen. Alles einprägen. Verbindungen herstellen. Verknüpfungen schaffen. Eine eigene Kartografie entstehen lassen.

Manchmal kommt man einem Menschen näher durch einen Film, ein Bild oder ein Musikstück – Dinge, die einen an ihn erinnern, auch wenn sie eigentlich nichts mit ihm zu tun haben. Näherkommen, annähern sind die adäquaten Verben. Ziel sollte es sein, während der Arbeit, die Person als Gegenüber, als Dialogpartner zu verstehen, nicht als Objekt, das einem ausgeliefert ist. Weder akademische Überordnung noch plumpe Vertraulichkeit oder vereinnahmende Identifikation sollten die eigene Haltung prägen. Keiner hat das so deutlich und eindringlich gesagt wie Gilles Deleuze über seine Auseinandersetzung mit Kafka: »Als Ideal schwebt mir vor, wenn ich über einem Autor sitze, nichts zu schreiben, was ihn traurig machen könnte. Man sollte an den Autor denken, über den man schreibt. Man sollte so fest an ihn denken, daß er kein Objekt mehr sein kann und man selbst sich nicht mehr mit ihm identifizieren kann. Zu vermeiden ist eine zweifache Schändlichkeit: das Gelehrtenhafte und das Familiäre. Man sollte dem jeweiligen Autor ein wenig von der Freude, der Kraft, dem politischen und amourösen Leben zurückgeben, die er selbst sich auszudenken und zu vermitteln vermochte.«1

Für mich bedeutet das, mich der allgemeinen Vertraulichkeit, mit der über »unsere Liesl« gesprochen wird, nicht anzuschließen, auch wenn es Phasen in der Arbeit gibt, wo man das tun möchte und vielleicht sogar so empfindet. Doch Vertraulichkeit verstellt den Blick. Immer und besonders bei Liesl Karlstadt. Gerade in ihrem Fall liegt im allzu Familiären ein Grund dafür, dass man einem wesentlichen Teil ihrer Persönlichkeit nicht gerecht wurde, nämlich dem, der nicht in die Familie passte. Der nicht familiäre oder nicht familiengerechte Teil wurde ausgespart, abgedrängt oder mit dem Mäntelchen der trügerischen Harmlosigkeit zugedeckt.

Das bedeutet nicht, dass ich einer Schlüssellochpublizistik das Wort reden möchte. Kein Enthüllungsehrgeiz, keine Aufklärungswut. Die Chance, das Leben eines Menschen nachzufühlen, besteht im Entfalten seiner Vielfalt, nicht im Bemühen um Vollständigkeit, denn die ist eine Illusion. Der Versuch, die vielfältigen Aspekte darzustellen, beginnt mit der Suche nach vielfältigen Betrachtungswinkeln und Aussichtsplateaus.

Die großen Maler, allen voran Vermeer und Cézanne, haben es gewusst, dass sie mehr sehen und abbilden können, wenn sie den Fluchtpunkt ihrer Perspektiven außerhalb des Bildes annehmen – für seine berühmten Stillleben hat Cézanne sogar mehrere Fluchtpunkte pro Bild erfunden. Die Annäherung von verschiedenen Ausgangspunkten, die Deterritorialisierung eines vermeintlich abgesteckten Territoriums hat das Ziel, mehr zu sehen und vor allem anderes und anders zu sehen.

Man nimmt nicht historisch oder chronologisch wahr, sondern analogisch, über Geschichten. Jeder Tag mit seiner Vielzahl von Wahrnehmungen und Eindrücken entspricht einer Vielzahl von erlebten Geschichten. Wenn wir uns ein Gesicht, eine alltägliche Straßenszene einprägen wollen, tun wir es mithilfe einer Geschichte. Und auch das Weitererzählen geschieht auf diese Weise. Darin waren Liesl Karlstadt und Karl Valentin Meister. So sind ihre Stücke entstanden. Liesl Karlstadt belauscht in einem Lokal das Gespräch zweier Männer, kommt aufgeregt auf die Probe, berichtet ihrem Partner, welchen unglaublichen Aufschneider sie eben kennengelernt hat. Der Partner lässt sich von ihrer Begeisterung anstecken, und das Stück »An Bord« entsteht. Ein anderes Mal schildert sie ihm, mit welchen Worten der alte Inhaber eines Zigarrenladens einem Kunden gerade erzählt hat, wie sein Firmling zu seinem Firmlingsanzug gekommen ist. Daraus entwickeln die beiden ihr Stück »Der Firmling«. Alle ihre Szenen hatten ihren Ursprung im Alltagsleben und formierten sich in der Improvisation über viele einzelne Geschichten zu einer neuen, komplexen.

Der Vorgang, das Leben eines Menschen zu beschreiben, ist ein ähnlicher. Jede Einzelbegebenheit, jede Situation hat ihre eigene Wahrheit und Authentizität. Zeitgeschichtliche, psychologische Einordnungen ändern bestenfalls die Beleuchtung.

Nachdem ich das Herz an Liesl Karlstadts Grab aufgeklappt hatte, wurde die Tätigkeit des Aufklappens zu einem Leitmotiv für mich. Das knallrote, fröhliche, robuste Lebkuchenherz barg in seinem Innern einen fremden, entfernten, schimmernden Namen.

Vom Alten Bogenhausener Friedhof aus führte mich mein Weg in verschiedene Archive, in denen ich Liesl Karlstadts Lebensspuren fand. Und auch in ihrem Nachlass fand ich viel Geschlossenes, was zum Öffnen aufforderte – einiges von ihr selbst so eingerichtet. Da ist das Aufsatzheft aus dem Jahre 1906, das die Schulaufsätze enthält, die sie im Alter von 13 Jahren geschrieben hat. Liesl Karlstadt hat es bis zu ihrem Lebensende aufgehoben. Es zeigt sie schon früh als Schreibende, die über eine erstaunliche Beobachtungsgabe verfügt. Und über eine Art der Differenzierung in der Betrachtung, die es ihr erlaubt, verschiedene, einander widersprechende Ebenen einzubringen, zu entwickeln und trotzdem zu einem versöhnlichen Schluss zu gelangen. Da ist das Heft, in dem die ersten Rollen notiert sind, eng und genauso sorgfältig beschrieben wie das Aufsatzheft, und da ist das Heft mit den Couplets aus der ersten Theaterzeit als Soubrette. Alle drei Hefte ähneln sich äußerlich. Wenn man sie jedoch aufklappt, findet man ganz unterschiedliche Inhalte vor.

Ein weiteres Buch, das zum Aufklappen einlädt, ist die »Familienchronik von Elisabeth Wellano genannt Liesl Karlstadt«. Sie erzählt ausführlich von der goldenen Hochzeit der Bäckers-Eheleute Ignaz und Agathe Wellano in Osterhofen, den Großeltern väterlicherseits. Die Eltern sind nebeneinander abgebildet und mit ihren Lebensdaten versehen. Ein Familienbild der Wellanos mit vier Kindern. Elisabeth Wellano genannt Liesl Karlstadt – im Kommunionskleid, als Verkäuferin im Warenhaus Tietz, beim ersten Auftreten im Frankfurter Hof in München, beim ersten Auftreten mit dem Partner Karl Valentin am selben Ort. Daneben Zeugnisse, Verträge und die für das Kalenderjahr 1914 erteilte »stets widerrufliche ortspolizeiliche Erlaubnis«, gewerbsmäßig in öffentlichen Wirtschaftslokalitäten innerhalb des Stadtbezirkes München Gesangsaufführungen darzubieten.

Und dann sind da die Alben, immer wieder Alben unterschiedlicher Größe und Inhalts. Zunächst einmal Fotoalben, wie man sie kennt. Angefüllt mit Erinnerungsbildern von Reisen, bevorzugt in die Berge, Innsbruck, Garmisch, Ehrwald, Liesl Karlstadts geliebte Berge – geschmückt durch Edelweißarrangements, um wenigstens ein bisschen von der Liebe zu ihnen festzuhalten. Wenige Menschen, immer wieder Naturaufnahmen.

Die Alben, die die Menschen zeigen, sehen von außen ganz ähnlich aus. Fotoalben mit Szenenfotos, Filmstills und Bühnenaufnahmen. Ein ganzes Album zum Thema »Sturm im Wasserglas« und »Die 3 Gschpusi der Zenta«. Immer wieder ihr eigenes Bild in den verschiedensten Szenen. Die anderen als Statisten. Alle.

Die Alben werden größer. Enthalten plötzlich nicht mehr nur Fotos, sondern schriftliche Spuren der künstlerischen Tätigkeit. Und da steht der Name nicht mehr allein, sondern zusammen mit dem des Partners Karl Valentin. Auf einer Seite ungefähr dreißigmal, immer wieder aus der Zeitung ausgeschnitten und kunstvoll zu einer typografischen Collage arrangiert und aufgeklebt. Variationen solcher Wort- und Bildinszenierungen kommen häufig vor, erinnern an Dada und tschechische Bildgedichte. Vervielfältigung, Wiederholung, Steigerung.

Fünf große Alben fallen auf. Die berühmten Bühnenalben, die die Geschichte von Liesl Karlstadts Karriere detailliert, chronologisch und persönlich erzählen. Da finden sich ebenso die ersten Auftrittsfotos als Soubrette wie glanzvolle Theaterprogramme der triumphalen Berlin-Gastspiele in den Golden Twenties, ausführliche Kritiken und Interviews, Plakate zu den Wohltätigkeitsveranstaltungen aus der Zeit des Ersten Weltkriegs und Programmzettel der »Kraft durch Freude«-Abende der Nazizeit. Auf jeder Seite kommentiert durch handschriftliche Notizen, die Jahreszahl und Ort nennen und manchmal lakonisch vermelden: Karlstadt krank. Eine Urkunde über die 99 Jahre währende Ehrenmitgliedschaft in einer skurrilen Gesellschaft, ein Billett von Thomas Mann, der seinen Besuch nach der Vorstellung ankündigt, Glückwunschtelegramme, eine Annonce, die den Verlust ihrer Klarinette im Zug von München nach Garmisch meldet und um Anrufe auf der Ehrwalder Alm bittet, viele Bilder aus den Sketchen und Szenen: der coole junge Typ mit der Zigarette im Mundwinkel, der alte Kapellmeister, der sich die Haare rauft, der großäugige Bub mit der Firmungskerze und die elegante junge Frau im Halbprofil mit Seidenstola. Ist das wirklich ein und dieselbe Person? Ein und dieselbe Frau? Große Bilderbücher, die von einer märchenhaften Karriere erzählen. Zeitweise. Immer wieder die rätselhafte Eintragung »krank«, nach der dann eine Zeitspanne in der Chronologie übersprungen wird.

Ab und zu ein Motto. Klappt man Bühnenalbum 2 auf, leuchtet einem auf der rechten Seite in großen strahlend blauen Buchstaben der Name »Lisl Karlstadt« entgegen, der mit einem dicken blauen Punkt sein i-Tüpfelchen erhalten hat. Links daneben, auf der Innenseite des Umschlags, ist ein Wilhelm-Busch-Zitat eingeklebt:

Humor kann nur aus Leid erwachsen.

Daß du des Lebens Ernst erfaßt,

beweist du nicht durch Trauerfachsen,

Nein, dadurch, daß Humor du hast!

Im Theater zählt der Augenblick. Das Nichtwiederholbare, Nichtreproduzierbare. Das ist ein Teil seiner Magie. Flüchtigkeit, die zur Ewigkeit werden kann. Ein Augenblick kann alles verändern. Man darf ihn nur nicht festhalten wollen. Aber manchmal braucht man etwas, um sich daran festzuhalten. Erinnerungen. Einzelne Kritiken sind ein schlechtes Gedächtnis. Sie suggerieren Objektivität, aber eine Vielzahl von ihnen, kombiniert mit Programmen, Fotos, Plakaten und persönlichen Kommentaren, kann weit über das Dokumentarische hinausgehen. Exakte Dokumentation ist nicht beabsichtigt, denn die einzelnen Zeitungsartikel sind weder durch Ort noch Zeit ausgewiesen. Der Name der jeweiligen Zeitung und ihr Erscheinungsdatum ist in den meisten Fällen abgeschnitten worden, bevor der Artikel eingeklebt wurde.

Auf einigen Seiten ihrer Bühnenalben gelingt es Liesl Karlstadt, die Atmosphäre eines Theaterabends und der Zeit, in der er stattfand, aufscheinen zu lassen. Sie inszeniert ihn mit anderen Mitteln nach und bewahrt seinen Zauber. Man klappt das Album auf und sitzt plötzlich im Zuschauerraum, das Licht geht aus, man spürt die Spannung vor der Vorstellung, hält den Atem an und wartet, bis sich der Vorhang öffnet.

Neugier und Staunen haben meine Arbeit begleitet. Eine Intention des Textes liegt darin, den Prozess meiner Recherche nachvollziehbar zu machen. So wird ein scheinbar individuelles Verfahren transparent. Wesentliche Bestandteile des Buches sind Originaltexte von Liesl Karlstadt, Originalzitate aus den angegebenen Quellen. Wenn sie nicht explizit ausgewiesen sind, handelt es sich um Zeitungsartikel, die Liesl Karlstadt in ihre Bühnenalben eingeklebt hat, ohne Erscheinungsort und Datum zu nennen. Sie transportieren ein Stück Alltagsgeschichte und schreiben den Text weiter.

Ich habe oft bewusst darauf verzichtet, Fremdtexte zu paraphrasieren, um ihnen die zeitgeschichtliche Authentizität zu lassen. In meinem Buch stehen die verschiedenen Textelemente gleichberechtigt nebeneinander, treten in einen Dialog, treiben sich gegenseitig weiter und bilden eine Collage, deren Arrangement keinen Anspruch auf Endgültigkeit erhebt. Alles bleibt in Bewegung.

EINS

Herz mit doppeltem Boden

The heart shuts,
The sea slides back,
The mirrors are sheeted.

Das Herz fällt zu,
Das Meer gleitet zurück,
Die Spiegel sind verhangen.

SYLVIA PLATH,
»Contusion – Quetschung«

LIESL Karlstadt liegt auf dem Alten Bogenhausener Friedhof in München begraben. Das Pilgern an die Gräber ist keine sentimentale Angelegenheit der Alten und nicht nur den dafür vorgesehenen Feiertagen vorbehalten. Spätestens wenn man sich das Grab Jim Morrisons auf dem Pariser Friedhof Père Lachaise und seine jungen Besucher anschaut, wird das deutlich. Allmählich wird es den Wächtern zu viel, dass dieser Unruhige im Leben auch im Tod keine Ruhe geben kann und jene anzieht, die keine Ruhe finden wollen. Der Begriff Friedhofsruhe wird Lügen gestraft, wie auch Helmut Qualtingers Witwe beklagt. Auf dem Zentralfriedhof in Wien, dieser Stadt, die eine besondere Liaison mit dem Tod eingegangen ist, sei sie am Grab ihres verstorbenen Mannes noch nie allein gewesen. Ruhelose, Fremde im Glauben, in der Sprache und im Denken hat der a-katholische Friedhof in Rom aufgenommen, den italienischen Kommunisten Antonio Gramsci genauso wie die jung verstorbenen englischen Dichter John Keats und Percy Bysshe Shelley. »Du kannst, begreifst du es?, nur in diesem Ort der Fremden ruhen, noch immer verbannt« heißt es in Pasolinis Gedicht »Gramscis Asche«. Unversöhnt, wie der im Alter von 25 Jahren verstorbene Keats, der nicht wollte, dass sein Name auf seinem Grab erscheint, sondern die Aufschrift: »Here lies one whose name was writ in water«. So ruht er zwar namenlos neben seinem Freund Joseph Severn, bleibt aber nicht ganz ungenannt, denn dieser wird auf seinem Grabstein als »ergebener Freund und Grabgenosse von John Keats« bezeichnet.

So zahlreich wie die Nationalitäten seiner Bewohner und die Schriften auf ihren Gräbern, darunter kalligrafische Kunstwerke aus arabischen und kyrillischen Schriftzügen, so zahlreich waren auch die Namen, die man dem Friedhof gab: a-katholischer Friedhof, Friedhof der Nichtkatholiken am Testaccio, protestantischer Friedhof, Friedhof der Ausländer.

Der Alte Bogenhausener Friedhof in München nimmt nur Persönlichkeiten auf, die im Leben der Stadt eine besonders wichtige Rolle gespielt haben, kulturell, wirtschaftlich, in der Wissenschaft. Menschen, die durch ihre Arbeit das Leben der Stadt geprägt haben, versöhnte wie unversöhnte. Und so finden sich Erich Kästner, Annette Kolb, Helmut Fischer, Oskar Maria Graf, Hans Lietzau, Walter Sedlmayr, Rainer Werner Fassbinder genauso dort wie Liesl Karlstadt.

Gerade noch das schöne Grab Fassbinders betrachtet, den Feldstein, still, geborgen, meditativ, beschützt von einem kleinen Baum, zieht es mich hin zu dem roten Herz an der Friedhofsmauer, das so gar nichts mit Trauer und Tod zu tun zu haben scheint. Nur kurz kommt der Gedanke an flammende Herzen, Marienverehrung und Herz-Jesu-Anbetung auf, wenn man vor dem schwarzen schmiedeeisernen Grabkreuz steht, an dem das Herz befestigt wurde. Rasch wird dieser Gedanke jedoch abgelöst durch solche an Lebkuchenherzen vom Christkindlmarkt oder vom Oktoberfest, und die Schrift, mit der der Name Liesl Karlstadt aufgeschrieben ist, tut ein Übriges dazu. Es ist die kindliche Schreibschrift, mit der aus Zuckerguss »Ich hab dich lieb« oder »Schatzi« geschrieben ist. »Die Liesl« – ein Münchner Kindl, das keine Schwierigkeiten hatte, auf diesem Münchner Friedhof seine Ruhe zu finden. Kein Enfant terrible wie Fassbinder schräg gegenüber, bei dem man sicher überlegt hat, ob er wirklich ein würdiger Sohn der Stadt sei.

Liesl Karlstadts Grabkreuz auf dem Alten Bogenhausener Friedhof

© Gunna Wendt

© Gunna Wendt

Liesl Karlstadt. Volksschauspielerin. Eine von uns. Identifikationsfigur.

Plötzlich, mitten in der Assoziation, fällt mir auf, dass das rote Herz eine Tiefendimension hat. Es ist dreidimensional, keine Fläche, Grabtafel, sondern ein Körper, ein Kästchen mit einer Tür, an dem links ein Riegel angebracht ist, der die Tür verschließt. Aufklappen und nachschauen! Die Herztür öffnet sich, zeigt einen hellen, schimmernden Hohlraum und an der Rückwand die Inschrift: Elisabeth Wellano 1892–1960. Moment des Innehaltens. Irritation.

Ein rotes Herzerl, fröhlich, putzig, so wie es allen gefällt. Bonbonherz. Mit der Aufschrift Liesl Karlstadt. Das Herz hat einen doppelten Boden. Es wirkt wie ein großes Medaillon, wenn man den seitlichen Riegel zum Öffnen und Verschließen entdeckt hat. In einem Medaillon trägt man das, was man liebt, das, was einem wert und teuer ist. Bilder eines geliebten Menschen.

In dem großen roten Medaillon auf Liesl Karlstadts Grabkreuz steht ihr Geburtsname Elisabeth Wellano. Da hat also jemand, der als Elisabeth Wellano zur Welt kam, seinen Namen geändert in Liesl Karlstadt. Aus der Distanz und ohne Kenntnis der Hintergründe betrachtet schwer vorstellbar. Der umgekehrte Weg wäre der wahrscheinlichere. Kommt man Liesl Karlstadt näher und begibt sich in den Kontext ihrer Lebensgeschichte hinein, kann man nachvollziehen, dass der exotische Name wahrscheinlich nicht so recht gepasst hätte auf die Münchner Volkssängerbühnen zu Beginn des 20. Jahrhunderts und dass die Trägerin ihn gar nicht ungern aufgegeben hat, war er doch in ihrer Kindheit für sie mit Anderssein, Fremdheit verbunden – in einem Lebensalter, in dem man sich nichts sehnlicher wünscht, als so wie alle anderen zu sein. Gründe, Kausalitäten lassen sich im Nachhinein immer ausmachen, scheinbar erhellende, die uns der Wirklichkeit näher bringen wollen. Die Summe der Fakten und Zusammenhänge lässt die Realität einer Lebensgeschichte entstehen. Sie erzeugt Wirklichkeit, aber der erste, unvoreingenommene Eindruck ist vielleicht der Wahrheit näher. Mich hat er immer wieder zurückgeholt zu dem ersten Geheimnis, das über dem Leben dieses Menschen, wie über dem Leben eines jeden Menschen, liegt. Immer dann, wenn ich in den verschiedenen Archiven objektiv verwert- und interpretierbare Funde machte, schriftliche wie mündliche Zeugenaussagen fand, belegbare Ergebnisse vorweisen konnte und doch gleichzeitig spürte, dass sie den Blick mehr verstellen als erhellen, fiel mir das Herz mit dem doppelten Boden ein. Das lodernde knallrote Herz mit dem Namenszug in kindlicher Schreibschrift, appetitlich, zum Anbeißen, niedlich, fröhlich. Lebhaft und munter – an einem Ort der Ruhe und Besinnung. Das Herz fiel mir ein und vor allem das, was es verbarg: einen anderen fremden Namen in seiner Tiefe, hell und durchschimmernd, sehr weit weg, aber präsent.