Cover

Zu viel Zeug, zu viel Auswahl – und dabei immer zu wenig Zeit. Täglich wird die innere Balance unserer Kinder gefährdet. Wie sich Kinder auch in unserer schnelllebigen Zeit unbeschwert, frei und geschützt entfalten können, zeigt der international angesehene Familienberater Kim John Payne: Durch ein vereinfachtes, übersichtlicheres Zuhause mit weniger Spielzeug, weniger sensorischen Reizen, weniger Freizeitstress – und stattdessen mehr Pausen, Rhythmen und Ritualen, die die gesamte Familie stärken. So entwickeln Kinder das, was wir ihnen für ein ganzes Leben wünschen: Selbstwirksamkeit, Selbstvertrauen, Gelassenheit und innere Stärke – die beste Basis und das wertvollste Geschenk, das Eltern ihren Kindern mitgeben können.

KIM JOHN PAYNE

LISA M. ROSS

Simplicity
Parenting

Weniger ist mehr

Was Kinder wirklich brauchen,
um ausgeglichen, glücklich und
rundum geborgen aufzuwachsen

Aus dem Englischen
von Silvia Kinkel

WILHELM HEYNE VERLAG
MÜNCHEN

Die Originalausgabe erschien 2009 unter dem Titel Simplicity Parenting. Using the Extraordinary Power of Less to Raise Calmer, Happier, and More Secure Kids bei Ballantine Books, einem Imprint der Random House Publishing Group.

Die vorliegende Übersetzung basiert auf der 2019 vollständig vom Autor aktualisierten Neuausgabe.

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Deutsche Erstausgabe 03/2020

© 2009 by Kim John Payne

© 2020 der deutschsprachigen Ausgabe
by Wilhelm Heyne Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: lüra – Klemt & Mues GbR

Umschlaggestaltung: Martina Eisele Grafik-Design, München,
unter Verwendung des Originalcovers

Original-Coverdesign: Victoria Allen

Cover-Motiv: Getty Images / Terry Vine

Illustrationen im Buch: Katharine Payne

Satz: Schaber Datentechnik, Austria

ISBN: 978-3-641-25236-6
V001

www.heyne.de

Für Katharine, die Liebe meines Lebens,
und für Saphira und Johanna, die Lieben unserer Leben

K. J. P.

Inhalt

Über den Autor

Abkürzungen

Vorwort von Steve Biddulph

Einleitung

Kapitel eins: Warum vereinfachen?

Kapitel zwei: Das Seelenfieber beherrschen

Kapitel drei: Das Umfeld vereinfachen

Kapitel vier: Einen Rhythmus etablieren

Kapitel fünf: Zeitpläne machen

Kapitel sechs: Die Erwachsenenwelt wegfiltern

Epilog

Nachwort

Danksagung

Anhang I: Simplicity Parenting Book Group Study Guide

Anhang II: SP Programm

Über den Autor

Kim John Payne M. Ed hat rund um die Welt zahllosen Eltern geholfen, ihrem Gefühl, dass die heutige Überfrachtung und Überlastung der Kinder nicht hingenommen werden darf, eine Stimme zu verleihen. Er zeigt Wege auf, mit denen wir unsere Hoffnungen und Werte realisieren und eine tiefe Verbundenheit zu unseren Kindern aufbauen können, damit die Familie zu einem Ort der Ausgeglichenheit und Freude wird.

Als Erziehungsberater war er 30 Jahre lang an über 230 öffentlichen und privaten US-Schulen tätig, arbeitete als Forscher und Pädagoge sowie als frei praktizierender Familienberater. Kim hält regelmäßig Vorträge bei internationalen Konferenzen für Pädagoginnen und Pädagogen, Eltern und Therapeutinnen und Therapeuten und führt auf der ganzen Welt Workshops und Schulungen durch. In all diesen Funktionen hilft er Kindern, Jugendlichen und Familien, sich mit Problemen wie Schwierigkeiten im Umgang mit Geschwistern oder Klassenkameraden, Konzentrations- oder Verhaltensstörungen zu Hause und in der Schule sowie emotionalen Problemen, z. B. Trotz, Aggressivität, Sucht und mangelndes Selbstwertgefühl, auseinanderzusetzen. Er zeigt auf, wie wichtig es ist, ein ausgeglichenes Leben zu führen.

Zudem wurde Kim bei pädagogischen Programmen in Südafrika, Ungarn, Israel, Russland, der Schweiz, Deutschland, Irland, Kanada, Australien, Großbritannien, Thailand und China beraten. Daneben arbeitet er intensiv mit der nordamerikanischen und der britischen Waldorf-Bewegung zusammen und leitet das Collaborative Counseling Programme an der Antioch University in Neuengland. Kim ist Gründungsdirektor des Center for Social Sustainability, einer Organisation, die Tausende Lehrkräfte, Eltern und Studierende im Three Care Stream Progress schulte, um Kindern, die Schwierigkeiten in der Schule haben, soziale, emotionale und verhaltensbezogene Unterstützung zu bieten.

Darüber hinaus verfasste er unter anderem den Bestseller »Simplicity Parenting™«, von dem das vorliegende Buch eine aktualisierte Version ist. Kims Bücher wurden in mehr als 30 Sprachen übersetzt.

Er tritt regelmäßig im Fernsehen und Radio auf und veröffentlicht Artikel in renommierten Zeitungen und Zeitschriften wie dem Time Magazine und der Chicago Tribune.

Kim arbeitet daran, die aus den heutigen Lebensformen resultierenden Probleme besser zu verstehen, und gibt uns praktische Hilfsmittel an die Hand. Er lebt mit seiner Frau und zwei Kindern auf einer Farm in Ashfield, Massachusetts.

Abkürzungen

Vorwort

Elternschaft – was wir für unsere Kinder tun und wie wir ihnen helfen und ihnen etwas beibringen – ist die älteste und wunderbarste Aufgabe menschlicher Wesen. Und wir haben sie Millionen von Jahren gemeistert. Unsere Vorfahren waren weder besonders groß und stark noch mit Reißzähnen und Krallen ausgestattet, aber sie verfügten über eine wichtige Fähigkeit. Die meisten wussten, wie man Kinder zu fürsorglichen und kooperativen Erwachsenen aufzieht, und so konnte unsere Spezies gedeihen und überleben.

Kurz gesagt machen wir diesen Job schon recht lange, und wir machen ihn gut.

Im Laufe der Geschichte wurde die Aufgabe allerdings durch von außen auf uns einwirkende Kräfte immer wieder erschwert. In der Feudalzeit waren die Menschen gezwungen, ihre Kinder als Knechte auf den Feldern arbeiten zu lassen. Die Industrialisierung brachte die Schulpflicht, mit strengen Regeln für das Arbeiten und Lernen. Und heutzutage verlangt der Hyperkapitalismus, dass wir unentwegt durch aberwitzige Tagesabläufe hetzen, arbeiten und konsumieren.

Die Zeiten verändern sich so schnell, dass wir die Auswirkungen am eigenen Leib spüren. In meinem ersten Buch über Kindererziehung, das ich vor fast 40 Jahren schrieb, wandte ich mich gegen die negative Art und Weise, in der viele Eltern den Glauben der Kinder an sich selbst untergruben, sie als dumm, verdorben oder Schlimmeres bezeichneten. In den 1980ern wurden Kinder zwar weniger geschlagen, doch viele Eltern griffen mit ihrer Ausdrucksweise weiterhin ihr Selbstwertgefühl an.

Derartige Misshandlungen gibt es heutzutage viel seltener, doch trotz der Fortschritte in der elterlichen Erziehung beobachten wir eine Verschlechterung der psychischen Gesundheit bei Kindern und jungen Leuten, die wie eine Epidemie um sich greift. Eins von fünf Kindern in Großbritannien, den USA und Australien, wo ich lebe, leidet unter Ängsten oder Depressionen, und die Selbstmordrate bei Teenagern steigt wieder, nachdem sie mehrere Jahrzehnte lang zurückgegangen war. 40 Prozent aller Familien sind von einer Scheidung betroffen, und der durchschnittliche Mensch ist weder glücklich noch mit sich selbst im Reinen.

Als ich auf Kims Buch Simplicity Parenting stieß, war ich so begeistert, dass ich ihm schrieb, denn ich wusste, dass wir genau diese Art zu denken bei der Kindererziehung und in der entsprechenden Literatur am dringendsten brauchten.

Kims Botschaft wird mittlerweile oft von anderen wiederholt, aber er war wirklich der erste und bleibt der beste Repräsentant einer Herangehensweise an die Elternschaft, genau genommen an das Leben, deren Struktur und Tempo optimal ist für die menschliche Entwicklung.

Natürlich wollen wir, dass unsere Kinder lernen und erfolgreich sind. Aber wie erreichen wir das? Stellen Sie sich vor, Sie bauen Zuckermais an. Die grünen, zarten Blätter beginnen gerade aus dem Boden zu sprießen, sind vielleicht 15 Zentimeter hoch. Begierig, das Wachstum zu beschleunigen oder den Nachbarn zu übertrumpfen, dessen Halme schon größer sind, oder aus Angst, dass Sie in vier Monaten nicht genug zu essen haben, gehen Sie nachts mit einer Taschenlampe nach draußen und ziehen an den Blättern, wollen, dass sie sich strecken. Wird das klappen? Niemals – Sie werden die Wurzeln beschädigen, Ihr Mais wird nicht schneller wachsen und könnte als Folge dieser Behandlung sogar verkümmern oder eingehen.

Niemand wäre derartig dumm, und trotzdem behandeln wir zunehmend unsere Kinder so. Das menschliche Gehirn, vermutlich das empfindlichste und erstaunlichste Ding im Universum, weiß, wie es wachsen muss. Spielen, forschen, sich nähren – das Gehirn wechselt zwischen Aktivität und Ruhe, arbeitet und ruht sich aus, wieder und wieder. Auch das Kleinkind erkundet die Welt, läuft zurück in die Arme der Mutter oder des Vaters und wagt sich dann erneut hinaus. Ein glückliches Zuhause ist ein friedvoller Ort. Es gibt Aktivität, Musik, Tanz, intensive Arbeit gefolgt von Faulenzen. Das Fernsehen plärrt nicht die ganze Zeit durchs Haus, überfrachtet das kindliche Gehirn oder die angespannten Nerven der Erwachsenen nicht mit ängstigenden, schrillen oder unzusammenhängenden Eindrücken.

Die Menschen haben Zeit für einander: Sie kommen nach der Arbeit oder der Schule zusammen. Der komplexe und subtile Tanz des Familienlebens – essen, reden, sich kümmern, Dinge erledigen – läuft harmonisch ab. Mama und Papa begegnen einander bewusst und glücklich, freuen sich auf Zeit zu zweit, lächeln einander an und unterstützen sich gegenseitig in ihrer Fürsorge für die Kinder. Ist es so bei Ihnen zu Hause – oder hört sich das wie ein unrealistischer Traum an?

Kim verwendet für die Art, wie wir heute oft leben, ein passendes Wort. Er bezeichnet sie als »Fieber«. Wie der fieberhafte, überhitzte, desorganisierte Zustand, den wir manchmal erleben, wenn wir krank sind. Unsere Lebensweise ist krank. Sie schadet uns und unseren Kindern und verwandelt eine Zeit des Überflusses und der Sicherheit, die ein Himmel auf Erden sein sollte, in eine Art Hölle. Zu viel von allem.

Zu schnell. Zu wenig Zeit, zu wenig Glück.

Vereinfachung und Entschleunigung braucht unsere Welt jetzt am dringendsten. Dieses wunderbare Buch ist reich an Möglichkeiten für Veränderungen. Sie können bei sich zu Hause beginnen, wagen sich jedoch hoffentlich bald darüber hinaus, und beinahe hätte ich gesagt: »Lesen Sie es ganz schnell!« Aber tun Sie genau das bitte nicht. Nehmen Sie sich Zeit. Es wird Ihr Leben verändern.

Einleitung

Schreite vertrauensvoll in Richtung deiner Träume.

Wenn du dein Leben vereinfachst, werden dir auch die Gesetze des Universums weniger verwickelt erscheinen.

Henry David Thoreau

Als Eltern sind wir die Architektinnen und Architekten unseres Familienalltags. Indem wir entscheiden, was wir gemeinsam tun und wie wir es tun, schaffen wir für unsere Lieben eine Struktur. Wir legen den Rhythmus unserer Tage fest, bestimmen das Tempo. Natürlich stößt unsere Kontrolle an Grenzen … da brauchen Sie nur die Eltern eines Teenagers zu fragen. Und oft fühlt es sich so an, als würde unser Leben uns kontrollieren, als wären wir gefangen in der verrückten Hetzerei von einer Verantwortung zur nächsten. Aber die einzigartige Art und Weise, wie wir den Tanz täglicher Aktivitäten vollführen, verrät viel über uns als Familie.

Als Berater und Ausbilder bin ich darin geschult, das zu erkennen, aber Kinder brauchen dafür keine Ausbildung. Sie nehmen die entsprechenden Hinweise instinktiv wahr. Was sie sehen, ist, dass wir unsere Liebe ausdrücken, indem wir anwesend sind und Zeit mit ihnen verbringen. Ganz einfach.

Und sie liegen damit ziemlich richtig: Als Eltern sind unsere Motivationen und Absichten überschaubar, unsere Träume nahezu universell. Gleichgültig, wo, und gleichgültig, wie bescheiden oder luxuriös wir leben, die meisten von uns wollen für ihre Kinder nur das Beste. Aus dieser Motivation bauen sich Familien auf. Tag für Tag.

Als Eltern tragen wir die Entwürfe, die Träume, wie unsere Familie sein könnte, in uns. Doch die Pläne ändern sich, das ganze Projekt liegt weit über dem Kostenrahmen, es gibt unerwartete Ergänzungen, und die Arbeit endet nie. Aber inmitten dieses Konstruktionschaos schauen wir einander gerührt und hoffnungsvoll an. Unser fünfjähriger Sohn ist zweifellos immer noch das Baby von einst, aber manchmal – sehen Sie es auch? – schon der junge Mann, der er eines Tages sein wird.

Schützen und Bewahren

An ihrer Entwicklung können wir ablesen, wie beschützt sich Kinder fühlen. Umgeben von liebenden Menschen machen sie große Sprünge, erleben wunderbare Momente des Erkennens und Meisterns. Auf unser Drängen hin? Nie. In einzelnen Momenten lassen Sie uns einen Blick darauf erhaschen, wer sie sind – enthüllen ihr ureigenes Wesen. Und als Eltern leben wir für solche Momente. Aber planbar sind sie nicht. Wir können sie weder erbitten noch beschleunigen.

Wir wollen, dass unsere Familie ein Raum der Sicherheit und des Friedens ist, wo wir so sein können, wie wir wirklich sind. Am dringendsten wollen wir das für unsere Kinder, die mit dem langsamen und schwierigen Prozess beschäftigt sind, sie selbst zu werden. Werden unsere Liebe und Anleitung ihnen den Freiraum gewähren, den sie zum Wachsen brauchen? Kinder sind zweifellos am glücklichsten, wenn sie die Zeit und die Möglichkeit haben, ihre Welt spielerisch zu erkunden. Wir mögen ja zwischen Zukunft und Vergangenheit hin- und herspringen, aber unsere Kinder – die kleinen Zen-Meister – sehnen sich danach, gänzlich im Augenblick zu ruhen. Unsere größte Hoffnung ist, dass sie ihre eigene Stimme, ihre eigenen Instinkte und Widerstandskraft entwickeln, und zwar in ihrem Tempo. Und wie oft wir das auch vergessen mögen, so wissen wir doch, dass dafür Zeit nötig ist.

Das Neue Normal

Die Erholung, die unser Zuhause bieten soll, ist immer seltener dort zu finden. Stattdessen ist unser Arbeitsleben eingezogen, hat sich in unseren Computern eingenistet, findet uns, wo immer ein Handy erreichbar ist. Kinder sind genauso »überbucht«. Mitunter brauchen Eltern Softwareprogramme, um angesichts der vielen Aktivitäten und Zeitpläne der Kinder den Überblick zu behalten, und der Entwicklungspsychologe David Elkind wies bereits 2007 darauf hin, dass Kinder in den vorhergehenden beiden Jahrzehnten mehr als zwölf Stunden an Freispielzeit verloren haben.1

Wenn Multitasking als Überlebensfähigkeit geschätzt wird, muss es uns dann überraschen, dass bei einer zunehmenden Zahl unserer Kinder Aufmerksamkeitsstörungen diagnostiziert werden?

In jedem Bereich unseres Lebens, sei er noch so trivial, werden wir mit einer schwindelerregenden Auswahl an Dingen (ich nenne es im Folgenden »Zeug«) und Entscheidungen konfrontiert. Das Abwägen Dutzender Marken, Eigenschaften, Größen und Preise – gekoppelt mit dem Durchforsten des Gedächtnisses nach jeglichen Warnungen oder Bedenken, die wir möglicherweise gehört haben – all das fließt in die Kriterien unserer täglichen Entscheidungen ein. Wenn Sie als Erwachsene schon davon erdrückt werden, dann stellen Sie sich einmal vor, wie sich Ihre Kinder fühlen müssen! Was auch immer zuerst da war – zu viel Auswahl oder zu viel Zeug: Beides mündet in Unzufriedenheit. Im Gegensatz zu allem, was die Werbung uns weismachen will, kann zu viel Auswahl erdrückend sein. Es ist eine andere Form von Stress. Sie frisst nicht nur Ihre Zeit, sondern Studien zeigen auch, dass zu viel Auswahl unsere Motivation und unser Wohlbefinden untergraben kann.

Der Informations-Tsunami

Darüber hinaus findet eine Lawine von Informationen, ungefiltert und oft ungebeten, den Weg in unser Zuhause, unser Leben und das Bewusstsein unserer Kinder.

Einst war das Zuhause ein provinzieller Vorposten und die Außenwelt »das große Unbekannte«. Eltern hatten Mühe, sämtliche Informationen zu vermitteln, die ihre Kinder möglicherweise für das Leben »in der realen Welt« benötigten, außerhalb der Grenzen des Zuhauses und des näheren Umfelds.

Heutzutage kann die »reale Welt« in all ihrer vielfältigen Pracht jederzeit und überall via Internet angesehen werden. Unsere Verantwortung als Torwächter wird exponentiell schwieriger und gleichzeitig immer wichtiger.

Sie wissen sicher, dass ein Frosch, der in einen Topf mit kochendem Wasser fällt, natürlich sofort versucht hinauszuklettern. Setzen Sie den Frosch jedoch in einen Topf mit kaltem Wasser und erhitzen es langsam bis zum Siedepunkt, dann wird er stillhalten und keine Anstalten zur Flucht machen. Basierend auf den Erfahrungen mit den Familien, mit denen ich arbeiten durfte, den Hunderten Eltern, die mir ihre Sorgen geschildert haben, sowie meinen eigenen Erfahrungen als Vater, glaube ich, dass der Kochtopf, in dem wir heute als Familien sitzen, zunehmend ungastlich für uns alle wird – aber besonders für unsere Kinder.

Raum und Zeit

Bauen wir unsere Familien auf den vier Säulen des »Zu viel« auf? Zu viel Zeug, zu viel Auswahl, zu viele Informationen und zu viel Geschwindigkeit? Davon bin ich überzeugt. Aber genauso glaube ich, dass es nicht so bleiben muss. Ich weiß mit Sicherheit und habe es viele Male gesehen, dass Eltern frische Inspiration und Aufmerksamkeit in den Fluss des Familienlebens bringen können. Zweifellos können wir als die Architekten der Familie dem Leben unserer Kinder ein bisschen mehr Raum und Achtsamkeit hinzufügen und sie mit etwas weniger Geschwindigkeit und weniger überflüssigem Zeug entlasten.

Meine Erfahrung mit vielen Kindern und Familien hat mir dabei geholfen, Strategien zu erarbeiten, um Stress, Ablenkungen und Auswahl – jede Art von überflüssigem Zeug – im Leben von Kindern zu reduzieren. Ich habe gesehen, wie wirkungsvoll diese Strategien dabei sein können, die innere Ruhe und das Wohlbefinden eines Kindes wiederherzustellen. In diesem Buch geht es darum, unser tägliches Leben wieder in Einklang zu bringen mit dem Tempo und dem Versprechen von Kindheit. Unser reales Leben wieder in Einklang zu bringen mit den Träumen, die wir für unsere Familien hegen. Es soll Ihnen helfen, sich frei zu machen von vielen der unnötigen, ablenkenden und erdrückenden Elemente, die die Aufmerksamkeit Ihrer Kinder zersetzen und ihre Tatkraft zuschütten.

Augenblicke der Ruhe zu haben – kreativ oder erholsam – ist eine Quelle der Kraft für Menschen aller Altersgruppen. Beziehungen entwickeln sich oft während dieser Auszeiten, in den beiläufigen Momenten, wenn gerade nicht viel los ist. Dieses Buch soll Ihnen viele Ideen vermitteln, wie Sie diese Auszeiten zurückerobern können, wie Sie für Ihre Kinder Inseln des »Seins« im reißenden Strom des unentwegten »Tuns« schaffen können.

Langsamer Start – Starkes Finale

Wenn wir uns als Gesellschaft bereitwillig der Geschwindigkeit verschreiben, dann liegt das teilweise daran, dass wir eingekapselt sind von Angst und Sorge. Wird dieses Gefühl genährt, rennen wir, so schnell wir können, um Probleme zu vermeiden und Gefahren auszuweichen. Das Erziehen unserer Kinder gehen wir mit dem gleichen ängstlichen Blick an, eilen von einer »Bereicherungsmöglichkeit« zur nächsten, spüren verborgene Keime und neue Gefahren auf, während wir gleichzeitig alles geben, um unseren Kindern jeden derzeit bekannten oder sich in Zukunft auftuenden Vorteil zu verschaffen. In diesem Buch geht es nicht um verborgene Gefahren, schnelles Ausbessern oder zeitlich begrenzte Möglichkeiten – es geht um das Langfristige, den Gesamtzusammenhang. Darum, Ehrfurcht vor der Kindheit zu zeigen.

Wenn wir aus Ehrfurcht statt aus Angst handeln, ist unsere Motivation stärker, unsere Inspiration grenzenlos. Die gute Nachricht ist, dass wir als Eltern eine Menge tun können, um das Umfeld der Kindheit zu schützen.

Viele Konzepte in diesem Buch wurzeln in den Prinzipien der Waldorf-Pädagogik von Rudolf Steiner. Als die größte freie Schulbewegung weltweit legt die Waldorfschule besonderen Wert auf Fantasie und ganzheitliche Entwicklung des Kindes – von Herz und Händen ebenso wie vom Verstand.

Eine kleine Verschiebung des Entwicklungsverlaufs

Das in diesem Buch beschriebene Vereinfachungssystem ist in hohem Maße umsetzbar, wenn die Familie es will und motiviert ist. Die hier umrissenen Schritte sollten Sie nicht als Checkliste betrachten, sondern als Speisekarte, aus der Sie auswählen können, was in Ihrem Fall machbar und tragfähig ist. Jede Familie hat ihre eigenen Probleme und Bereiche, die ihr wichtig sind, und bringt sich unterschiedlich stark ein. Es gibt keine »richtige« Reihenfolge, mit der man sich durch die verschiedenen Ebenen arbeiten sollte, und auch keinen richtigen oder falschen Zeitpunkt, um damit zu beginnen.

Die vier Ebenen der Vereinfachung dienen als Straßenkarte, auf der Sie Ihren eigenen Weg gehen; jede Ebene wird in den folgenden Kapiteln detailliert behandelt.

Wie dieses Buch aufgebaut ist

In Kapitel eins werden wir uns ansehen, warum Vereinfachen so wichtig und wirkungsvoll ist. Außerdem betrachten wir, wie Sie die Träume, die Sie für Ihre Familien hegen, zurückerobern können, denn diese dienen künftig als Ihre Motivation. Ein kurzes Nachdenken über elterliche Instinkte erinnert Sie an das, was Sie bereits wissen (bevor wir uns dann an die praktische Umsetzung des Vereinfachens begeben).

Kapitel zwei wird Ihnen helfen, den »Überfluss« bei Ihren Kindern zu erkennen und dagegen anzugehen, in etwa so, als würde eines der Kleinen fiebern.

Kapitel drei beginnt an der Tür zum Kinderzimmer, denn wir wollen den Wust an zu vielen Spielsachen, Büchern und Auswahl reduzieren.

Rhythmus ist eine andere Form der Vereinfachung, die wir in Kapitel vier besprechen werden. Ein stärker rhythmisierter Tagesablauf etabliert Ausgangsstellungen, kleine Inseln der Ruhe und des vorhersagbaren Zeitflusses. Wir werden uns damit beschäftigen, wie Mahlzeiten und Schlafenszeiten die Hauptakkorde der Melodie eines Tages sein können, und uns andere Möglichkeiten für Handlungs- und Ruhezeiten ansehen, auf die sich ein Kind in dieser Zeit verlassen kann.

Anschließend betrachten wir eingehender die Tagesabläufe unserer Kinder, um deren Zeitpläne zu überdenken.

In Kapitel fünf sehen wir uns an, wie man aktivere Tage und ruhigere in ein Gleichgewicht bringen kann, stellen die Vorstellung infrage, dass »Freizeit« bedeutet: »frei, um vollgestopft zu werden« mit Unterricht, Training, Verabredungen und Terminen. Dass zu viel Zeug und zu viel Auswahl für Kinder problematisch sind, kann auf nahezu alle Aspekte des Alltags übertragen werden.

In Kapitel sechs beschäftigen wir uns damit, wie man Erwachseneninformationen und -probleme von seinem Zuhause fernhalten kann, und mit der Wahrnehmung der Kinder. Wir werden uns ansehen, was uns mit unseren Kindern verbindet – Bindungen, die dehnbar sein müssen, ohne zu reißen, während ein Kind sich entfernt und wieder zurückkommt, stets mit dem Fokus in Richtung Unabhängigkeit. Wir betrachten Wege des Vereinfachens unserer Einbeziehung in den Alltag der Kinder und den »Rückzug« aus dem Überbehüten, indem wir für unsere Kinder ein Gefühl der Sicherheit herstellen, das sie verinnerlichen und mit sich nehmen können, wenn sie heranwachsen. Wir lernen neue Wege kennen, unser Vertrauen zu steigern und die Beziehung zu unseren Kindern nicht durch Angst, sondern durch Bindung zu prägen.

Die verändernde Kraft des »Weniger tun«

Es ist nie zu spät, Inspiration und Aufmerksamkeit in den Fluss des Familienlebens zu bringen. Eltern kleiner Kinder werden hier viele Samenkörner finden, die sie einpflanzen können für die Entwicklung eines Familienlebens, das Schutz und Nahrung für die heranwachsenden Kinder bietet. Aber jede Phase der Entwicklung einer Familie kann davon profitieren, wenn es ein bisschen mehr Raum und Geduld und ein bisschen weniger Geschwindigkeit und überflüssiges Zeug gibt. Ebenfalls von Anfang an im Kopf behalten sollten wir, dass Vereinfachung oft bedeutet, weniger zu »tun« und mehr zu vertrauen. Vertrauen darauf, dass Kinder – wenn sie die nötige Zeit und Sicherheit haben – ihre Welt auf ihre Weise erkunden, und in dem Tempo, das für sie am besten ist. In den Beschreibungen meiner Arbeit mit anderen Familien werden Sie erkennen, was bei Ihrer eigenen funktionieren könnte. Man muss kein »Experte« sein. In den Geschichten wird es Dinge geben, die Ihnen bekannt vorkommen oder die Sie als Anregung verstehen. Ich hoffe, dass Sie immer wieder zu diesem Buch zurückkehren werden, um Ideen und Ermutigungen daraus zu ziehen.

Ihr Leben mag Ihnen vorkommen wie eine Radiofrequenz, auf der es ständig rauscht. Die Vereinfachung erlaubt Ihnen jedoch, mit sehr viel mehr Regelmäßigkeit und Klarheit Ihre eigene, wahre Frequenz als Eltern einzustellen. Sie werden es sicher sehr befriedigend finden, wie sich Ihre innere Wahrhaftigkeit entwickelt, während Sie der Beziehung zu Ihren Kindern mehr Bewusstheit und Aufmerksamkeit entgegenbringen. Und bei diesem Prozess ergeben sich immer mehr Möglichkeiten, genau zu erkennen, zu welcher Person Ihre Kinder werden. Ich hoffe ehrlich, dass dieses Buch Sie inspirieren und Ihnen Hoffnung, Trost, Erkenntnisse und Ideen liefern wird.

1 David Elkind: The Power of Play. Learning What Comes Naturally. New York, Da Capo, 2007, S. ix.

KAPITEL EINS

Warum vereinfachen?

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Heutzutage stehen wir in unserem Leben vor einem riesigen Problem. Es ist so groß, dass wir es kaum erkennen können, dabei haben wir es direkt vor unserer Nase, rund um die Uhr, jeden Tag. Unser Leben ist überdimensioniert, von vorn bis hinten vollgestopft mit Aktivitäten, Dringlichkeiten und Verpflichtungen, die scheinbar unabdingbar sind. Es bleibt keine Zeit zum Luftholen, keine Zeit, um dem Problem auf den Grund zu gehen.

Sarah Susanka, The not so big Life