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Die kostbaren Momente des Glücks

Buch

Jeannie hat den charismatischen Dan Hicks im Internet kennengelernt, und es hat sofort gefunkt. Er ist ein ehrgeiziger junger Tierarzt, sie Musikerin. Nach nur fünf Monaten Fernbeziehung macht Dan ihr einen Heiratsantrag, und Jeannie sagt beglückt Ja. Doch auf dem Weg zum Standesamt in Longhampton packen sie plötzlich Zweifel. Soll sie wirklich ihren Namen ändern und ein ganz neues Leben beginnen? Fühlt sich das alles nicht auf einmal ganz falsch an? Kurzerhand beschließt sie, die Hochzeit abzusagen, doch ihr Anruf bei Dan hat schreckliche Folgen. Noch im Hochzeitskleid findet sich Jeannie an Dans Krankenhausbett wieder. Ihr Verlobter liegt im Koma, und Jeannie muss sich fragen, weshalb sie die kostbaren Momente des Glücks nicht angenommen hat, als sie zum Greifen nahe waren …

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sowie zu lieferbaren Titeln der Autorin

finden Sie am Ende des Buches.

Lucy Dillon

Die kostbaren Momente
des Glücks

Roman

Aus dem Englischen
von Claudia Franz

Die englische Originalausgabe erschien 2019 unter dem Titel »Unexpected Lessons in Love« bei Black Swan, an imprint
of Transworld Publishers, London.

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Deutsche Erstveröffentlichung Januar 2020
Copyright © der Originalausgabe by Lucy Dillon
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2020
by Wilhelm Goldmann Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Covergestaltung: UNO Werbeagentur, München
Covermotiv: FinePic®, München
Colin Anderson / getty images
Sasha Bell / getty images
Redaktion: Babette Leckebusch
MR · Herstellung: kw
Satz- und E-Book-Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN: 978-3-641-25298-4
V001
www.goldmann-verlag.de

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Für alle, die schon einmal diese kleine Stimme im Kopf hatten – und so mutig waren, ihrem Rat zu folgen

Prolog

Brooklyn Bridge, Oktober

Dan hielt Jeannie die Augen zu, während sie weiterschritt, aber Angst hatte sie nicht. Nie im Leben war sie so glücklich gewesen wie in dieser wunderbaren Champagnerblase von einem Moment.

Bei ihrem verlängerten Wochenende in New York hatte eine romantische Überraschung die nächste gejagt. Dan hatte es heimlich geplant, aber seine Ideen hätten alle von ihr kommen können: durch die Vintage-Läden des Chelsea Market schlendern, im Grand Central Park mit den Füßen durch die kupferroten und goldenen Blätter streifen und heiße Schokolade trinken. Cocktails und Austern, gelbe Taxen und bunte Lichter am Times Square, gestohlene Küsse in der überfüllten U-Bahn. Jede Sekunde fühlte sich an, als würden sie beide in ihrem eigenen Film mitspielen.

Das Hotel war so überwältigend, dass Jeannie das winzige superschicke Zimmer mit den weichen Teppichen und dem noch weicheren Licht am liebsten gar nicht mehr verlassen hätte. Und dann natürlich Dan. Allein der Gedanke an seine braun gebrannte Haut zwischen den frischen weißen Laken durchströmte sie wie eine heiße Welle des Glücks. Von bestimmten Höhepunkten dieser Reise würde Jeannie ihrer Mutter sicher nichts erzählen.

Ihr letzter Tag hatte mit Rührei und Kaffee an einer Delikatessentheke begonnen, dann hatten sie sich einer Führung durch Downtown zu den bedeutendsten Kultstätten von Jeannies Achtzigerjahre-Pop-Ikonen angeschlossen. Vor Blondies Übungsraum und »Madonnas Wohnung« hatte Dan geduldig Selfies von ihnen gemacht. Klar, es handelte sich lediglich um Backsteine und Fenster, aber für Jeannie waren diese Straßen der Ort, wo der Soundtrack ihres Lebens aus dem Nichts hervorgesprudelt war, geschaffen von Musikerinnen, die einst genauso gekämpft hatten wie sie selbst. Als die Leiterin der Tour von Erfolgen und Misserfolgen berichtet hatte, war ihr die Seele in einer Weise aufgegangen, dass sie Dan in dankbarer Liebe geküsst hatte. Sie hatte sich gefragt, ob er wusste, was ihr das alles bedeutete, da er offenkundig ahnte, was sie ihm nie erzählt hatte.

Jetzt waren sie auf der Brooklyn Bridge, und Dan versprach ihr den Ausblick ihres Lebens, wenn sie nur noch ein, zwei Schritte weitergehe.

»Geschafft«, sagte er, nahm aber nicht sofort die Hände von ihren Augen. Jeannie legte ihre eigenen kleinen Hände, die geschickt über das Griffbrett einer Ukulule zu gleiten vermochten, auf Dans lange Finger. Er hatte geschickte, starke Tierarzthände, die verletzte Hunde behandeln und Kälbchen zur Welt bringen konnten. Vom Fluss wehte eine frische Brise herauf, aber die Atmosphäre zwischen ihnen glühte rotgolden.

Jeannie schmiegte sich an Dan und wünschte, der Moment möge nie vergehen. Das Licht eines weiteren wunderschönen Herbsttags verblasste bereits. Jeannies Seele war von Musik erfüllt, als würde hymnischer Vogelgesang durch ihre Adern rauschen. Ihre beste Freundin Edith hatte erklärt, dass ein solches Glück im wahren Leben nicht existiere. Ausnahmsweise einmal lag Edith Constantine falsch. Absolut falsch.

»Bereit?« Dans Stimme klang fast ein wenig spöttisch. Sie hoffte, dass er sie nicht an den äußersten Rand der Brücke geführt hatte. Jeannie war nicht wirklich schwindelfrei und kramte in ihrem Gedächtnis, ob sie Dan das mitgeteilt hatte. Manchmal vergaß sie, dass sie noch nicht das langweilige »Benutzerhandbuch«-Stadium des wechselseitigen Kennenlernens erreicht hatten. Marzipanallergie, Angst vor Menschenmengen, lauter Dinge, die man erst herausfand, wenn einem die interessanten Gesprächsthemen ausgegangen waren.

»Ta-da!« Dan zog die Hände weg, und sie schnappte nach Luft, als plötzlich die glitzernde Skyline Manhattans vor ihren Augen aufragte, eine schwarz-silberne Collage aus Lichtern und Wolkenkratzern, die in der Dämmerung glänzten.

»Wahnsinn!« Jeannie drehte sich in dem engen Kreis seiner Arme herum, sodass sie nun Nase an Nase standen. Dan war ein attraktiver Mann, aus jedem Blickwinkel. Der Wind blies ihm das blonde Haar in die ungewöhnlich tiefblauen Augen, und Jeannie musste sich selbst daran erinnern, dass dies tatsächlich ihr Leben war. Es fühlte sich zu perfekt an, zu romantisch, um wirklich zu sein. Und doch war es das. Endlich widerfuhr es ihr. Das war Liebe.

»Ich bin ja so glücklich!«, platzte es aus ihr heraus, und zu ihrem Erstaunen glänzten Dans Augen genau wie die ihren. Er blinzelte, als könnte auch er nicht begreifen, wie perfekt dieser Moment war.

Und dann passierte es. Fast wie in Zeitlupe löste Dan seine Arme von ihr, trat zurück und fiel auf die Knie. Menschen strömten über die Brücke. Manche traten mit einer genervten Geste um ihn herum, während andere begriffen, was hier passierte, und mit einem nachsichtigen Lächeln auf den Lippen stehen blieben.

Jeannie blinzelte. Nein, warte. War das jetzt das … von dem sie dachte, dass es das war? Ihr Herz hämmerte an ihren Rippen. Wollte Dan ihr einen Heiratsantrag machen? Einen solchen Moment hätte sie nicht einmal zu träumen gewagt, und plötzlich befand sie sich mittendrin. Ein Heiratsantrag … das war etwas, das einem nur einmal widerfuhr. Im ganzen Leben.

Unvermittelt war Jeannie so schwindelig, als hätte Dan sie tatsächlich an den Rand der Brücke geführt.

»Jeannie McCarthy«, begann Dan inmitten der Passanten, die kleine Pulks auf dem Gehweg bildeten. »Ich weiß, dass wir uns erst seit fünf Monaten kennen, aber es waren die glücklichsten fünf Monate meines Lebens. Möchtest du meine Frau werden?«

Manhattan ragte wie eine zweite größere Menge von Gratulanten hinter Dan auf. Sie lächelten über die Liebenden und funkelten wie Sterne. Verstohlen hoben sich Kameras. Alle hielten die Luft an. Ganz New York schien auf Jeannies Antwort zu warten.

Dan schaute mit diesen blauen Augen, die ihr Herz zum Schmelzen brachten, zu ihr auf. Er war umwerfend und intelligent. Und er war mit ihr nach New York geflogen, um ihr einen Heiratsantrag zu machen. Jeannie rüttelte sich wach. Was konnte man mehr verlangen? Worauf wartete sie noch?

Ihr Mund öffnete sich, bevor sie Zeit hatte, sich selbst die Frage zu beantworten.

»Ja!«, sagte sie, und die Menschen auf der Brücke brachen in Applaus aus.

Kapitel 1

Im Mai darauf

Jeannie McCarthy war zwanzig Minuten und vier Meilen vom Rathaus von Longhampton entfernt, als sich ihr der erste, nicht mehr zu ignorierende Gedanke über ihre bevorstehende Hochzeit aufdrängte.

Ich bekomme keine Luft mehr, lautete er.

Der Ehrlichkeit halber musste man sagen, dass sich das beklemmende Gefühl in ihrer Brust teilweise ihrem Kleid verdankte. Jeannies Brautkleid war ein absoluter Traum, mit Korsett, Tüllunterröcken, die bei jeder Bewegung raschelten, und zarten elfenbeinfarbenen Rosen auf dem herzförmigen Satinmieder. Es war nicht gerade das, wofür Jeannie sich normalerweise entschieden hätte – sie trug eher Haremshosen und/oder Doc Martens, je nach Wetter –, aber der Ausbund an Eleganz, der sie aus dem Spiegel heraus angeschaut hatte, war so überraschend gewesen, dass ihr die Entscheidung irgendwie entglitten war. Sie sah genau richtig darin aus, wie eine echte Braut. Die Verkäuferin hatte die weiß behandschuhte Hand vor den Mund geschlagen, und die Ladenbesitzerin war in den Ankleideraum gestürzt, den Glückwunsch-Prosecco bereits in der Hand. »Das ist es«, hatte sie ehrfürchtig gehaucht. »Glauben Sie mir, meine Liebe, das ist Ihr Kleid.«

Es wirkte wie Schicksal, dass Jeannie ihr Kleid gefunden hatte. Aber es hatte sich ja auch wie Schicksal angefühlt, als Dan ihr als Erster geantwortet hatte, in jener Nacht damals, als sie es aufgegeben hatte, den »Richtigen« auf altmodische Weise zu suchen, und sich widerstrebend in die Kontaktseiten des Internets gestürzt hatte. Vom ersten Treffen bis zur Hochzeit war gerade einmal ein Jahr vergangen. Nicht eine einzige Minute hatten sie vergeudet. Oder wie die Ladenbesitzerin es mit einem weiteren ermutigenden Nicken ausdrückte: »Wer weiß, der weiß.« Es war alles so schnell gegangen. So unglaublich schnell.

Der andere Grund für das Engegefühl in Jeannies Brust war die wachsende Erkenntnis, dass sie dabei war, einen gewaltigen Fehler zu begehen.

Jeannie versuchte noch einmal einzuatmen, ganz tief, und wäre fast erstickt. Die steife Spitze hinderte sie daran, ihre Lunge richtig zu füllen. Sie war sich absolut sicher, dass ihr Gehirn schon unter Sauerstoffmangel litt. Seit man sie in der Braut-Suite in ihr Korsett geschnürt hatte, hatte sie nicht mehr richtig durchatmen können, und ihr war schon ganz mulmig im Kopf. Das Glas mit eiskaltem Champagner, das man ihr in die Hand gedrückt hatte, bevor sie und ihr Vater aufgebrochen waren, hatte auch nicht geholfen. »Entspannen Sie sich einfach!«, hatte der Hotelbesitzer lächelnd gesagt. Mehr Alkohol. Ihr Vater hatte ihn für sie ausgetrunken.

Mrs Hicks. Jeannie Hicks.

Das klang nach einer Fremden. Es klang nach Schluckauf.

Um drei würde sie für den Rest ihres Lebens Mrs Jeannie Hicks werden. Jeannie McCarthy, Singer-Songwriterin, Lehrerin, Tochter, wäre dann … jemand anders.

Die Panik schoss ihr wie eine Rakete in die Kehle und hinterließ eine bittere Spur von Sternenstaub. Jeannie schluckte, aber das sengende Gefühl verschwand nicht. Sie schaute zu ihrem Vater Brian hinüber, der neben ihr auf der Rückbank saß, aber er sah aus dem Fenster und übte stumm seine Rede. Er legte Pausen ein, lächelte gelegentlich und neigte den Kopf, wenn er innerlich schon das Gelächter hörte.

Das sind nur die Nerven, sagte sich Jeannie, nichts als die Nerven. Das ist ganz natürlich und zeigt, dass du die Idee der Ehe ernst nimmst. So steht es in allen Blogs. Es zeugt von Verbindlichkeit, der lebenslangen Verbindlichkeit gegenüber einer Person, in guten und in schlechten Zeiten, in Gesundheit und Krankheit und so weiter und so fort.

Sie ließ sich in den Ledersitz des einzigen Rolls-Royce Silver Shadow des Bezirks sinken und gab sich Mühe, den Sauerstoff so tief in die Lunge zu saugen, wie das Korsett es erlaubte. Nur ein Hauch drang durch. So wie sie im Hotel auch nur ein winziges bisschen von dem Rührei hinuntergebracht hatte. Und sie hatte kaum geschlafen. Von allem zu wenig, um für den Eisberg an Demütigungen gewappnet zu sein, auf den sie zutrieb.

Jeannie zwang sich, der Realität der Ereignisse ins Auge zu sehen. Dan würde bereits am Rathaus auf sie warten und mit seinem entspannten Lächeln die ersten Gäste begrüßen. Sie stellte sich vor, wie er in seinem schicken neuen Anzug dastand – maßgeschneidert, dunkelblau, passende Weste –, eine schlanke Gestalt mit frisch geschnittenem blondem, in der Sonne glänzendem Haar. Für jeden Gast hätte er einen kleinen Scherz auf den Lippen, während er nebenbei seine Mutter beruhigte und die Fotografin herumdirigierte. Anders als Jeannie konnte Dan fünfzehn Dinge gleichzeitig erledigen und so viele Ereignisse vorwegnehmen, dass sie sich manchmal fragte, ob er übersinnliche Kräfte habe.

Allerdings würde er niemals auf die Idee kommen, was sie gerade dachte. Ein eiskaltes Gefühl durchdrang sie. Was dachte er eigentlich? Kamen ihm ebenfalls Zweifel?

Sie schaute auf die Hecken, die am Fenster vorbeizogen, während sich der Wagen unaufhaltsam dem Rathaus näherte. Ich wünschte, ich könnte die Uhr zum Morgen zurückdrehen und noch einmal anfangen.

Nein, zum gestrigen Morgen.

Das reichte immer noch nicht.

Zu dem Moment jetzt vor einer Woche?

Wenn ich doch nur ein ganzes Jahr zurückdrehen könnte, wünschte sich Jeannie inständig. Dann würde ich mir Mühe geben, nicht so vielen Menschen wehzutun.

Aber der Gedanke, Dan nie begegnet zu sein … Ihr Magen rebellierte. Was sollte sie nur tun?

»Alles klar, da drüben? Ein bisschen holprig, so ein alter Wagen, was, mein Schatz? Hast du Angst um deine Frisur?«

Ihr Vater griff nach ihrer Hand. Die tröstliche Berührung seiner großen Finger ließ Tränen in ihre Kehle steigen. »Wir haben es fast geschafft. Es ist nicht mehr weit.«

Vorsichtig drehte sie sich zu ihm hin. Sie durfte ihren Kopf nicht allzu heftig bewegen, damit sich die Spangen, mit denen das Diadem befestigt war, nicht noch tiefer in die Kopfhaut bohrten. Das war noch etwas, mit dem sie im Traum nicht gerechnet hätte – dass sie bei ihrer Hochzeit ein Diadem tragen würde. Jeannie hatte immer gedacht, dass sie einen Blumenkranz aufsetzen und auf dem Bauernhof ihrer Familie in Dumfries heiraten würde, unter einer Eiche, zu den Klängen einer Ceilidh-Band. Stattdessen befand sie sich auf dem Weg zum Standesamt einer Stadt, in die sie und ihr zukünftiger Ehemann erst letzte Woche wegen seiner neuen Stelle in der örtlichen Tierarztpraxis gezogen waren. Es wäre leichter, hatten sie beschlossen, die Hochzeit und den Umzug am selben Ort zu organisieren. Ihr gemeinsamer Start, ein mutiger Sprung in unbekannte Gewässer, bei dem sie sich an den Händen halten würden.

Nichts ist, wie ich es mir vorgestellt habe, dachte Jeannie merkwürdig unbeteiligt. Absolut nichts. Von ihrem Vater und dem Wagen mal abgesehen. Er hatte immer gesagt, dass er sie im Rolls-Royce zu ihrer Hochzeit bringe. Das machte es aber nur noch schlimmer.

»Alles in Ordnung, mein Schatz?« Brian schaute sie an. Seine schlaksige Gestalt schwamm in einem Anzug, der aussah, als gehörte er jemand anders. Jeannie konnte sich nicht erinnern, wann sie ihren Vater zum letzten Mal in einem Anzug gesehen hatte. Und nur einmal mit einer Krawatte, als nämlich sein preisgekrönter Schafbock Decker bei der Royal Welsh Show ein Rendezvous mit der Countess of Wessex hatte.

»Alles in Ordnung!« Die Worte kamen zäh heraus, und der zartrosafarbene Lipgloss auf ihren Lippen machte ein schmatzendes Geräusch.

»Es klang, als würdest du …« Er unterbrach sich, verwirrt die Stirn gerunzelt.

»Als wenn ich was?« Jeannies Stimme klang piepsig, gar nicht wie ihre eigene. Ein unbehagliches Schweigen ballte sich zwischen ihnen zusammen.

Sag etwas, forderte die Stimme in ihrem Kopf, aber sie konnte nicht. Ihr Kopf fühlte sich an, als wäre er mit Watte gefüllt und könnte diesen verrückten Drang, einfach alles anzuhalten, anzuhalten, anzuhalten, nicht abstellen.

Ein kleines Mädchen auf der anderen Straßenseite entdeckte das Brautauto und winkte dem glänzenden schwarzen Rolls mit dem flatternden weißen Band an der Kühlerfigur zu.

Brian winkte zurück, mit diesem besonderen Überschwang, den er bei Kindern an den Tag legte. »Schau doch nur, das kleine Mädchen dort! Nun komm schon, Jeannie, sie winkt dir zu! Sie hält dich für eine Prinzessin!«

Pflichtbewusst hob Jeannie die Hand, winkte und versuchte, ihren Mund zu einem Lächeln zu verziehen. Das Gefühl, dass sie die Braut nur spielte, verstärkte sich dadurch nur noch. Dies war gar nicht wirklich ihre Hochzeit. Dies passierte eigentlich überhaupt nicht.

»Es scheint erst vorgestern gewesen zu sein, dass du so alt warst!«, sagte er mit einem Seufzer. »Und uns auf der Ukulele deine lustigen kleinen Lieder vorgespielt hast. Den ganzen Tag hast du gesungen. Viel hat sich seither nicht geändert, was?«

Jeannie fixierte das Lächeln in ihrem Gesicht, presste die Lippen aufeinander und sperrte die wild rebellierenden Gedanken dahinter weg, als sie das Schild sah: Longhampton, 3 Meilen.

Sie waren fast da. Fast da. Was sollte sie nur tun?

»Jeannie?« Dad wirkte besorgt. »Ist alles in Ordnung?«

»Ich …« Sie presste die Worte heraus. »Es ist … nur einfach …«

Verzweifelt registrierte sie, dass Brian den Köder nicht schluckte. »Es ist ganz normal, dass du ein bisschen nervös bist, mein Schatz. Onkel Charlie musste mir die Knöpfe zumachen, weil meine Hände so …« Er fuchtelte vor ihren Augen damit herum. »Deine Mutter war spät dran. Ich dachte schon, sie kommt gar nicht! Sie hatte sich eine Laufmasche eingefangen, als sie zu schnell in den Wagen klettern wollte.« Er seufzte, und sein Blick wirkte plötzlich wehmütig. »Ich wette, wenn man uns alte Herrschaften heute sieht, kann man sich kaum vorstellen, dass wir mal wie Dan und du waren. So war das aber.«

Jeannies Herz setzte aus. Etwas Schlimmeres hätte ihr Vater nicht sagen können, da sie sich nun mit dem Gedanken auseinandersetzen musste, den sie schon seit Wochen verdrängte: dass Dan und sie eben nicht wie ihre Eltern waren.

Plötzlich sah sie ihre Mutter vor sich – die kleine, starke, umtriebige Sue – und dann ihren Vater daneben, in seinem Overall, irgendeine folkloristische Melodie pfeifend, bis Sue ihn bat, mal Ruhe zu geben. Es war unmöglich, sich Brian und Sue getrennt vorzustellen. Sie lachten und witzelten und trieben sich manchmal gegenseitig zur Verzweiflung, aber ihre eigentliche Kommunikation bestand nicht aus Worten. Es war eine Sprache bestehend aus Pausen und Blicken, die sich in den harten Jahren nach Sues Reitunfall herausgebildet hatte, als die McCarthys sich als Familie ganz neu sortieren mussten. Das war es, was mit »in Gesundheit und Krankheit« gemeint war, dachte Jeannie. In guten und in schlechten Zeiten – das war kein Klischee, sondern Realität. Das Leben hatte Mums und Dads Liebe wie ein rot glühendes Hufeisen in Form gehämmert, und es wurde mit jedem Schlag stärker. Sonst hätte diese Liebe nicht überlebt. Und die beiden auch nicht.

Ein hohles Gefühl schwoll in Jeannie an. Wie könnte sie Dan das versprechen? Sie kannte ihn nicht gut genug. Sie kannte sich nicht gut genug.

Nach dieser Erkenntnis fühlte sich Jeannie plötzlich so schwerelos, als könnte sich ihr Kopf von ihrem Körper lösen und wegfliegen. Was ließ sich jetzt noch ändern, nur wenige Minuten vor der Zeremonie? Das ging nicht. Zu viele Leute waren beteiligt. Und Dan! Wie könnte sie Dan das antun?

Bei dem Gedanken, Dan wehzutun, zog sich ihr Magen schuldbewusst zusammen. Das hatte er nicht verdient.

Sie atmete flach, dann noch einmal und noch einmal. Der Sauerstoff erreichte nicht ihr Gehirn. Die Perlen, die sie sich von ihrer Mutter geborgt hatte, hoben und senkten sich. Ihr Busen bebte wie der einer hysterischen Herzogin aus Downton Abbey.

Elegant verließ der Rolls die Hauptstraße, und Jeannie entdeckte das Schild: Longhampton, 2 Meilen. Nur noch ein paar Minuten. Buchstäblich Minuten!

»Dad.« Jeannie hatte keine Ahnung, woher die Stimme kam. Sie hatte sich einen Weg aus den eingequetschten Rippen gebahnt. »Können wir … können wir irgendwo anhalten? Nur einen Moment?«

Er beugte sich vor, klopfte an die Scheibe und schob sie beiseite. »Entschuldigen Sie bitte, mein Freund. Würde es Ihnen etwas ausmachen, an den Straßenrand zu fahren, wenn sich die Gelegenheit bietet? Wir sind früh dran, und meine Tochter möchte nicht eher da sein als der Bräutigam!«

Sie näherten sich einer von Bäumen beschatteten Parkbucht mit einer überquellenden Mülltonne und einem Schild, das den Weg zu einem Fußweg wies. Jeannie hatte sich noch nie so gefreut, eine Parkbucht zu sehen. Der Chauffeur blinkte, fuhr unter einen der Bäume und stellte den Motor ab. Staubiges Schweigen erfüllte den Wagen.

Ich muss es jetzt tun, dachte Jeannie, wusste aber nicht, wie sie anfangen sollte.

Das war schon immer ihr Problem gewesen: Dinge anzusprechen. Als Kind hatte man sich darüber lustig gemacht (»Sprich lauter, Jeannie!«), und in der Grundschule war es auch Thema gewesen (»Jeannie? Schläfst du?«). In ihrer Jugend erledigte sich das Problem dann, weil ihre beste Freundin Edith für zwei redete. Wenn Jeannie unter Druck geriet, wurde ihr Kopf vollkommen leer. Ediths glücklicherweise nie.

Zu ihrer Erleichterung räusperte sich Brian unbehaglich.

»Also gut, ich bin froh, dass wir angehalten haben«, sagte er. »Es gibt da etwas, das ich dich fragen möchte. Versteh es nicht falsch, aber ich habe es in einem dieser Hochzeitsbücher gelesen, die deine Mum in der Bücherei ausgeliehen hat.«

Er nahm Jeannies Hand, dieses Mal mit feierlichem Ernst. Das war eine derart altmodische Geste, dass sie ihm nicht in die Augen schauen konnte. Ihr Herz pochte an den Stäben ihres Korsetts, als wollte es fliehen.

»Wenn du den leisesten Zweifel hast, ob du Dan heiraten sollst«, begann Brian, »auch nur den leisesten Zweifel, dann heraus damit. Es ist noch nicht zu spät.«

Der Wind rauschte in ihren Ohren: ein mächtiger Schub grellweißer Panik.

Diese Erleichterung. Die schiere Erleichterung, Dad das sagen zu hören. Was ahnte er? Hatte er es in ihrer Miene gelesen? Er kannte sie so gut.

Sie starrten sich an, und in Brians gutmütige Miene trat ein Ausdruck von Schock, als er die unerwartete Dankbarkeit in ihren Augen sah.

»Jeannie?«, fragte er zögernd.

Aber dann holte ihr Gehirn ihr Herz wieder ein. Es war eine Sache, wenn Dad so etwas sagte, aber wie könnte sie das Ganze jetzt abblasen? Wie könnte sie all die Bekannten vergessen, die in diesem Moment am Rathaus eintrafen? Und was war mit dem Geld, das sie für den Empfang ausgegeben hatten? In den Räumen über dem Zeremoniensaal arrangierten die Caterer bereits Platten mit Räucherlachs, und der Champagner stand auch schon eisgekühlt in den Kübeln. Der Alleinunterhalter war auf dem Weg von Birmingham hierher, ihre Musikliste mit den Liebesliedern und dem Brauttanz einprogrammiert. Und dann die Torte! Die Dreihundert-Pfund-Torte! Der Gedanke, wie viel ihre Eltern und Dans Mutter das gekostet hat und wie viel von ihren eigenen Ersparnissen hineingeflossen war, trieb ihr den Schweiß aus allen Poren. Sie hatten versucht, sich zu bescheiden, aber es ging immer noch in die Tausende.

»Jeannie?«

Dads Stimme klang etliche Töne höher als sonst. Offenbar hatte er nicht damit gerechnet, dass sie einfach schweigen könnte. Jetzt musste er der Sache auf den Grund gehen.

Langsam ließ sie ihr Kinn sinken und hob es dann wieder, das langsamste Nicken ihres Lebens und gleichzeitig die Geste, die das Leben eines anderen Menschen ruinieren würde. Sie fühlte sich schlecht und schwindelig und erleichtert zugleich.

Ihr Vater, der niemals fluchte, murmelte etwas vor sich hin, das sie fast zum Lachen gebracht hätte. Er klang wie versteinert.

»Du nickst … weil du Dan heiraten willst? Oder weil du die ganze Sache abblasen willst?«

»Ich kann Dan nicht heiraten.«

Als die Worte ihren Mund verlassen hatten, spürte sie, wie sich Leichtigkeit in ihrem Innern ausbreitete. Geschafft. Es war geschafft. Und es fühlte sich vollkommen richtig an. Schrecklich, beschämend, demütigend – aber richtig.

»O verflucht.« Er stieß Luft aus. »Darf ich fragen … warum?« Brian war nicht der Typ, der viel über Gefühlsangelegenheiten redete, aber Jeannie wusste, dass er sich vor den wirklich wichtigen Fragen nicht drückte. Besonders wenn es um die Menschen ging, die er liebte.

Sie hielt inne und versuchte, ihre flüchtigen Gedanken zu fassen, für ihren Vater, aber auch für sich selbst. »Dan ist wunderbar.« Die Worte klangen hohl. »Es hat gar nichts mit ihm zu tun. Aber … diese Schwüre gelten für immer. Und ich kenne ihn doch noch nicht einmal ein Jahr.«

Ach ja? Wenn man es so ausdrückte, klang es lächerlich. War dir das nicht klar, als du Ja gesagt hast? Alle würden so reagieren. In Wahrheit hatte sie nicht viel Zeit zum Überlegen, als sie Ja gesagt hat, nicht auf der Brooklyn Bridge, auf dem Höhepunkt ihres romantischen Wochenendes, als sie fast trunken war vor Glück. Und auch nicht danach, als die Glückwunschkarten eintrafen und Dans Mutter Andrea ihr ein Hochzeitsplaner-Buch zukommen ließ.

»Es hat doch nicht immer damit zu tun, wie lange man jemanden kennt, mein Schatz«, sagte Brian und runzelte die Stirn, als wüsste er nicht, ob er ihr gut zureden solle oder nicht. »Deine Mum und ich, wir sind nur ein paar Monate miteinander ausgegangen, bevor ich die Frage gestellt habe. Ich weiß, dass alles wie der Blitz ging, aber heutzutage laufen die Dinge eben anders. Diese Internetgeschichten … Vielleicht ist es ja gut, dass ihr beide euch unter Millionen anderen auf der Website herausgepickt habt?«

Das aber war der springende Punkt. Auf dem Papier stimmte das schon, aber es fehlte etwas, bei ihr oder bei Dan. Oder bei ihr und Dan. Jeannie konnte es nicht benennen, aber was auch immer es war, es war dieser magische Moment, der alles richtig erscheinen ließ. Nicht so, als würde man die Hochzeit einer anderen feiern, in einem geborgten Wagen und einem unbequemen Kleid.

»Ich weiß nicht, wie ich es erklären soll, Dad.« Ihre Kehle war trocken. »Ich wünschte, ich könnte es. Ich wünschte es wirklich.«

Die Stimme in Jeannies Kopf sagte ihr, dass sie es besser versuchen sollte, und zwar schnell. Irgendeinen Grund würde sie nennen müssen, warum sie Dan vor den wichtigsten Leuten ihres Lebens demütigen zu müssen glaubte. Sollte sie besser eine Blinddarmentzündung vortäuschen wie damals, als sie sich vor dem Zeltlager drücken wollte? Bitte, lieber Gott, dachte sie, lass mich sofort mit einer Blinddarmentzündung niedersinken. Oder mit etwas weniger Schlimmem, aber doch so, dass Dad mich statt zum Standesamt in die Notaufnahme bringen muss.

Bei dem Gedanken lief ihr ein Schauer über den Rücken. Feige war sie auch noch.

Der Chauffeur hustete diskret, um sie an die Zeit zu erinnern, und Jeannie schlug die Hände vors Gesicht, überwältigt von Schuldgefühlen. »Es tut mir leid, Dad. Vergiss einfach, was ich gerade gesagt habe. Das sind einfach die Nerven! Ich werde jetzt einsteigen und Dan heiraten, und wenn es schiefgeht, können wir ja immer noch die Scheidung einreichen …«

»Nein!« Brian war entsetzt. »Nein. Du kannst keine Schwüre leisten, von denen du nicht überzeugt bist! Das wäre ja die reinste Farce. Wie soll sich Dan wohl fühlen, wenn er erfährt, dass du vor all den Leuten gelogen hast?«

Sie starrten sich an, zwei Menschen, die durch einen Fluss wateten und keine Ahnung hatten, wie tief er noch wurde, ohne aber umkehren zu können.

»Liebst du ihn?« Eine schlichte Frage.

Jeannie schluckte. Vor ein paar Monaten hätte sie Ja gesagt, ohne auch nur nachzudenken. Dan war der Beweis dafür, dass die Liebe auf den ersten Blick existierte. Im Laufe der letzten Wochen hatte sie sich allerdings des Gefühls nicht erwehren können, dass es da etwas gab, irgendeine persönliche Nische in seiner Seele, die er nicht mit ihr teilte. Seine Träume und Zukunftspläne betraf das nicht, darüber sprach er sehr offen, sondern eher seine … Ängste? Seine Defizite? Die Aspekte seiner Vergangenheit, auf die er nicht stolz war? Ironischerweise wussten Dan und sie jede Menge banaler Dinge übereinander, der Dating-Website sei Dank – Tee oder Kaffee? Katzen oder Hunde? –, aber manchmal fragte sich Jeannie, was sie alles nicht über Dan wusste. Seit seinem Heiratsantrag waren ihre Wochenenden so von Tortentests und der Sitzordnung ausgefüllt gewesen, dass sie nie mehr diese Sonntagabendträgheit erlebt hatten – wenn verräterische Zipfel des Menschen hinter der Person, die sich in der Werbephase von ihrer besten Seite zeigte, zum Vorschein kamen. Jeannie versteckte nichts vor ihm, sie wüsste gar nicht, wie. Aber kürzlich war ihr aufgefallen, dass Dan ein bestimmtes liebes Lächeln aufsetzte, wenn er über irgendetwas nicht reden wollte.

Ihr Vater wartete immer noch auf eine Antwort. Liebte sie ihn? Konnte man wirklich sagen, dass man jemanden liebte, wenn man ihn nicht vollständig verstand?

Irgendwo aus ihrem Innern kam ein unglückliches Stimmchen. »Ich weiß es nicht.«

Eine lange Pause entstand. Vier kurze Worte, die so viel Chaos anrichteten.

»Bist du dir ganz sicher?«

Jeannie nickte.

»Himmel …« Brian rieb sich die Augen und wappnete sich dann. »Lass uns die Sache regeln. Soll ich es ihm am Telefon sagen? Oder soll ich hinfahren und mit ihm reden?«

Wie würde Dan reagieren? Würde er weinen? Wäre er wütend? Jeannie merkte, dass sie es nicht wusste. Sie hatte noch nie miterlebt, wie er mit schlechten Nachrichten umging.

»Ich rufe ihn an.« Brian dachte laut nach. »Dann hat Dan Gelegenheit, sich von seiner Mutter und den Helfern zu entfernen, bevor ich ihn noch einmal anrufe und ihm deine Gefühlslage erkläre. Sobald wir das hinter uns gebracht haben, rufen wir deine Mutter an, um … alles andere zu regeln.«

»Nein, Dad.« Jeannie richtete sich auf, und das Korsett zwickte sie in die weiche Haut der Achseln. »Ich muss das selbst tun. Ich ruf ihn an und sag ihm, er solle sich an einen ruhigen Ort begeben, wo ich mit ihm reden kann. Und dann … erkläre ich es ihm.«

Brian wollte protestieren, hielt aber inne, als sie den Kopf schüttelte und ihn bat, das schwache Flämmchen der Entschlusskraft nicht zu ersticken. Er seufzte, traurig diesmal, und drückte ihre Hand. »Ich wünschte, du hättest eher mit uns gesprochen, mein Schatz. Aber wenn du dir nicht sicher bist, solltest du das hier nicht tun. Wenn man zweifelt, sollte man nicht heiraten. Deine Zukunft solltest du nur der Person schenken, ohne die du nicht leben kannst.« Er küsste sie auf den Kopf. »Es ist besser, ehrlich zu sein.«

Jeannie fühlte sich nicht ehrlich, sie fühlte sich einfach nur feige. »Es tut mir so leid, Dad.«

»Was denn?«

»Diese Geldverschwendung und die Peinlichkeit und … dieser Umstand, dass alle gekommen sind, und …«

»Keiner der Hochzeitsgäste möchte, dass du einen Mann heiratest, den du nicht liebst, nur damit er ein Mittagessen bekommt.« Brian atmete lange aus, nahm sein Handy aus dem Jackett und starrte es an – diese Dinger waren ihm immer noch unheimlich. Dann erklärte er: »Okay, lass es uns hinter uns bringen.«

Er kämpfte mit dem Öffnungsmechanismus der Tür, und als sie endlich aufschwang, atmete Jeannie tief durch. Nicht sehr tief natürlich, wegen des Korsetts, aber zum ersten Mal an diesem Morgen schien frische Luft in ihre Lunge zu gelangen.

»Alles in Ordnung?«, rief der Chauffeur, als Brian ihr heraushalf.

»Alles in Ordnung! Absolut!« Ihre Stimme krächzte. »Wir müssen nur etwas wegen des Empfangs klären.«

Warum log sie noch immer? So etwas geschah doch sicher öfter, als man dachte, oder? Bestimmt war sie nicht die Erste, die eine Hochzeit platzen ließ.

Nicht am selben Tag allerdings. Nicht kurz vor der Rathaustür.

Brian hielt ihr winziges, mit Perlen besticktes Hochzeitstäschchen, als Jeannie ihr Handy herausholte. Es steckte zwischen dem brandneuen Lippgloss, dem Kompaktpuder, den Haarspangen und den Pfefferminzbonbons. Als ihr Blick auf den Sperrbildschirm ihres Handys fiel, zuckte sie zusammen: Auf dem Selfie lachten Dan und sie in die Kamera, hinter ihnen ein glitzerndes Manhattan, vor ihnen die goldene Zukunft. Sie tippte auf seine Kontaktdaten und hielt sich das Handy ans Ohr.

In ihrem Kopf hallte es hohl, als es am anderen Ende klingelte. Jemand hatte eine leere Chipstüte zwischen die Zweige der Hecke gesteckt. Salz und Essig. Jeannie hatte keine Vorstellung, wie sie das Gespräch beginnen sollte.

Eine mikroskopisch kleine Pause entstand, und Jeannies Herz setzte aus – bis ihr aufging, dass er gar nicht drangegangen war, sondern nur die Mailbox lief. Panik rauschte ihr durchs Gehirn und wischte es so blank wie eine Schultafel.

Seine Stimme auf dem Tonband redete bereits in ihr Ohr, freundlich und ein klein wenig vornehm.

»Hallo, hier ist Dan Hicks. Leider kann ich Ihren Anruf nicht entgegennehmen. Bitte hinterlassen Sie eine Nachricht nach dem Signalton.«

Das Ausmaß dessen, was sie da tat, war schwindelerregend. Alles würde anders sein, wenn die Worte, welche auch immer, ihren Mund verlassen haben würden. Alles. Los, sag etwas.

Ihre Nerven flatterten. »Dan, ich bin’s, Jeannie.« Ihre Stimme klang schwach, schottischer als sonst, gar nicht wie ihre eigene. »Kannst du mich so schnell wie möglich zurückrufen, wenn du meine Nachricht hörst? Ich muss über etwas Wichtiges mit dir reden. Ich kann nicht …« Sie kniff die Augen zusammen. »Bitte ruf mich einfach an.«

Dann stach sie mit ihrem zitternden Finger auf den Bildschirm und traf beim zweiten oder dritten Versuch das rote Symbol. Geschafft.

Jeannie drehte sich zu Brian um, der sie beobachtete. Die Stirn unter dem weißen Haarschopf war gerunzelt, aber er bemühte sich um ein aufmunterndes Lächeln. Eine überzeugende Kombination war das nicht. »Erledigt, mein Schatz?«

»Ich habe eine Nachricht hinterlassen.«

»Gut.«

Vielleicht war es besser so, dachte Jeannie. So konnte sich Dan auf die Sache vorbereiten, und sie konnte sich einen besseren Grund überlegen als »irgendetwas fühlt sich einfach nicht richtig an«. Sie betrachtete ihre verschwommenen Spiegelbilder im glänzenden Lack des Wagens. War es zu spät, um eine Lebensmittelvergiftung vorzutäuschen? Tatsächlich fühlte sie sich, als müsste sie sich jeden Moment übergeben.

»Und was nun?« Brian räusperte sich. »Sollen wir … hier warten, bis er zurückruft?«

»Vielleicht?«

Aber was, wenn Dans Handy schon ausgeschaltet war in Erwartung der Zeremonie? Dann würde er dastehen und auf sie warten, und sie würde es noch einmal tun müssen – vor dem Rathaus. Vor den Augen der geladenen Gäste.

»Ich versuche es noch einmal«, sagte Jeannie. »Nur für den Fall, dass er telefoniert hat.«

»Und wenn er in dem Moment zurückruft?«, begann Brian, aber Jeannie wählte bereits die Nummer, bevor sie der Mut verließ. Sie wollte Dan nicht demütigen, auf gar keinen Fall.

Wieder sprang sofort die Mailbox an, aber beim Signalton fing sie automatisch an zu reden: »Dan, ich bin’s. Bitte geh nicht zum Rathaus. Ich schaffe das heute nicht mit der Hochzeit. Es tut mir so leid. Es tut mir so unendlich leid. Bitte ruf mich an, sobald du das hier abhörst.«

Hätte sie die zweite Nachricht hinterlassen sollen? Egal, jetzt war es ohnehin zu spät. In Jeannies Magen tobte ein Aufruhr – Angst, Scham, Panik –, aber ein Stimmchen sagte ihr, dass sie das Richtige getan hatte. Besser ging es dir dadurch nicht.

Brian nickte zu dem Wagen hinüber. »Wir könnten es uns auch bequem machen, während wir warten, was?«

Unbeholfen kletterte sie in den Fond, während ihr Vater ein diskretes Wörtchen mit dem Fahrer wechselte.

Ich gebe Leuten den Laufpass, dachte sie, von einer lähmenden Taubheit erfüllt. Laufpass-Jeannie.

»Jeannie?«, murmelte ihr Vater, als er neben ihr einstieg. »Hast du die Nummer des Trauzeugen? Wir sollten ihn anrufen, wenn Dan sich nicht bald meldet.«

»Ja, die habe ich im Handy. Owen heißt er. Owen Patterson.« Jeannie öffnete ihre alberne Clutch, aber als sie das Handy herausholen wollte, begann es zu klingeln. Ihr Puls schoss in die Höhe, aber es war gar nicht Dan.

Owen, stand da.

»Er ist es. Der Trauzeuge.« Sie starrte stumpf aufs Display. »Warum ruft er mich an?«

»Soll ich mit ihm reden?«

Jeannie begriff, was ihr Vater meinte. Rief der Trauzeuge an, weil Dan ihre Nachricht gehört hatte und nicht reden konnte? Ihr wurde eiskalt. Was sie in die Wege geleitet hatte, war nun in der Welt. »Nein … Das sollte ich besser selbst tun.«

Sie wappnete sich und berührte mit zitternden Händen den Bildschirm. »Owen?«

»Jeannie! Wo seid ihr?« Die Stimme erkannte sie nicht. Sie hatte Owen gerade erst kennengelernt, am Vorabend beim Probe-Dinner.

»Wir sind im Auto. Wir haben angehalten, weil wir zu früh dran waren …« Jetzt waren sie allerdings nicht mehr zu früh dran, sondern bereits fünf Minuten zu spät. Das war vermutlich der Grund, warum Owen anrief.

»Gott sei Dank.« Er klang erleichtert. »Gerate bitte nicht in Panik, aber fahrt nicht zum Rathaus. Es ist etwas passiert. Der Standesbeamtin habe ich bereits Bescheid gesagt, sie schickt die Gäste direkt zum Empfang.«

»Was? Was ist denn passiert?«

Brian nahm ihre Hand, aber Jeannie verspürte eine unerwartete Euphorie. Das Schicksal hatte sich schließlich doch noch durchgesetzt! Ihre Fantasie ging mit ihr durch. Welche himmlische Fügung war da zu ihrer Rettung geeilt? Ein Wasserschaden im Rathaus? Ein Stromausfall? Ihr konnte es egal sein. Sie war aus dem Schneider. Jetzt hatte sie Zeit, ihren Irrtum zu korrigieren.

»Jeannie, tut mir leid, aber es hat einen Unfall gegeben.« Owens Stimme klang zögerlich. Man hörte erhobene Stimmen im Hintergrund, eine Sirene. »Aber es wird alles gut, das verspreche ich dir.«

Kapitel 2

»Es wird alles gut. Es wird alles bestens, keine Sorge«, sagte Owen immer wieder, und bei jeder Wiederholung verloren seine Worte an Überzeugungskraft. Das Einzige, was Jeannie denken konnte, war: Was soll gut werden?

Ihr Atem ging in flachen Zügen, die nicht viel Sauerstoff enthielten. Jetzt war es nicht mehr das Korsett, das ihre Brust einzwängte, jetzt jagte das Adrenalin ihre Herzfrequenz hoch. Unterschwellig verspürte sie eine finstere Erleichterung, dass die Hochzeit unter diesen Umständen nicht mehr stattfinden konnte.

Jeannies Haut kribbelte. Erleichterung? Aber es stimmte. Sie war erleichtert.

Brians Hände legten sich auf die ihren und nahmen ihr das Handy weg. Sie hinderte ihn nicht daran.

»Owen, hier ist Brian McCarthy.« Er fummelte am Türgriff herum und stieg ein zweites Mal aus, hektischer diesmal. »Erzählen Sie mir doch genau, was passiert ist.«

Jeannie sah, wie er an die Hecke trat, sich über den weißen Schopf fuhr und nickte, die Stirn gerunzelt. Plötzlich kam ihr ein Gedanke, der ihr sofort auf den Magen schlug: die Nachricht! Vielleicht hätte sie Dan die Nachricht gar nicht hinterlassen müssen. Vielleicht könnten sie die Sache auf unbestimmte Zeit verschieben. Oder wenigstens reden …

Als Brian sich zu ihr umdrehte, begriff Jeannie, dass es sich nicht um einen Stromausfall im Rathaus oder einen Wasserschaden handelte. Es ging um etwas Ernsteres.

»Gut … verstehe. Verstehe. Gut.« Seine Stimme war ruhig, aber das schnelle, ungläubige Blinzeln ließ Jeannie das Blut in den Adern gefrieren. »Wenn Sie das tun würden … Ja, ich werde es ihr erzählen.« Er schaute zu ihr herüber. »Sie ist … Gut, wir werden so schnell wie möglich dort sein. Danke, Owen.«

Zunächst sagte er kein Wort. Er trat ans Fenster des Fahrers und gab ihm neue Anweisungen, leise und eindringlich. Der Fahrer stöhnte, als er ihm eine Adresse in der Innenstadt nannte, und Brian stieg wieder ein.

»Dad?« Sie bekam die Worte kaum heraus. »Dad, was ist passiert?«

Brian nahm ihre Hände. Jeannie merkte, dass sie zitterte. »Tut mir leid, aber Dan hatte einen Unfall. Er wurde in der Nähe seines Hotels von einem Bus angefahren.«

Dan hatte einen Unfall? Jeannie starrte ins Leere, unfähig zu begreifen. »Er wurde von einem … Bus angefahren?«

»Der Fahrer sagt, Dan sei auf die Straße getreten, ohne zu gucken. Der arme Kerl hatte keine Chance, rechtzeitig zu bremsen. Daniel hat … nun ja, er hat telefoniert.«

Nein. Jeannie schlug die Hand vor den Mund, als könnte sie ihre katastrophalen Worte wieder hineinstopfen. »O Gott, das war ich! Das muss nach meinem Anruf gewesen sein!«

»Das wissen wir doch gar nicht, mein Schatz.«

Sie schon. Schuldgefühle durchströmten sie, finster und anklagend. »Das ist meine Schuld! Das ist alles meine Schuld.«

»Jeannie, jetzt atme erst einmal tief durch. Der Krankenwagen ist schon da. Dan wird es gut gehen.« Brian nahm ihr Gesicht in seine großen sanften Hände. »Nun komm schon. Einatmen, ausatmen.«

Sie klammerte sich an die Handgelenke ihres Vaters und schaute ihn an, als würde sie ertrinken. Der Ausdruck, mit dem er ihren Blick erwiderte, konnte seine Angst nicht verhehlen.

Was habe ich getan, dachte Jeannie, als der Wagen wieder anfuhr, weniger feierlich nun. Was habe ich nur getan?

Dan und seine Hochzeitshelfer wohnten in einem Hotel am anderen Ende der Stadt, wo die viktorianischen Reihenhäuser ins dumpfe Grau der Industrieanlagen übergingen.

Lange bevor sie die Unfallstelle erreichten, überholte ein Krankenwagen den Rolls-Royce mit Blaulicht und Sirene. Ein Streifenwagen folgte, dann noch einer. Brian drückte Jeannies Hand. Sie hielten sich aneinander fest, als wollten sie mit dem Fallschirm abspringen. Er sagte nichts.

Der Chauffeur musste das Tempo drosseln, als sie sich der Unfallstelle näherten. Die Straße war abgesperrt, und der Verkehr wurde von zwei Polizisten umgeleitet, was von den Gaffern in den vorbeifahrenden Fahrzeugen sichtlich erschwert wurde.

Jeannie saß steif auf ihrem Sitz und hatte panische Angst vor dem Anblick, der sich ihr bieten würde. Bei so vielen Menschen, wie sich hier drängten, konnte man sowieso nichts erkennen. Irgendwo dahinter befand sich Dan. Bis sie ihn nicht gesehen hatte, fand das hier gar nicht statt. Es war ein Fehler. Ein Traum. Ein übler Streich, den ihre Nerven ihr spielten.

»Näher komme ich nicht heran, meine Liebe.« Der Fahrer wurde rot und schien sich entschuldigen zu wollen. »Vermutlich ist es leichter, wenn Sie hier aussteigen, oder? Tut mir leid, wirklich, aber niemand wird mich hier durchlassen. Und ich bin mir sicher, dass es …«

Seine Stimme verlor sich, aber sie wusste, was er meinte. Es war eine schreckliche Vorstellung, wie sich das Brautauto zu dem verletzten Bräutigam vorquälen würde. Aber sie konnte sich ohnehin nicht diskret nähern, nicht in diesem ausladenden Kleid.

»Unbedingt. Halten Sie einfach hier an. Die Stelle ist so gut wie jede andere.« Brian öffnete die Tür und half Jeannie heraus.

»Soll ich warten?«, fragte der Fahrer.

»Nein, fahren Sie ruhig. Wir kommen schon zurecht. Vielen Dank, Sie haben das großartig gemacht.«

In Anbetracht der Umstände war die Unterhaltung auf surreale Weise höflich, dachte Jeannie.

Beim Aussteigen wankte sie auf ihren neuen hochhackigen Schuhen, und als sie losschritt, fühlten sich ihre Beine fremd und gummiartig an. Ihre Schritte waren schneller als beabsichtigt, als ob diese sie selbst überholen wollten.

Auf der anderen Straßenseite standen zwei Krankenwagen, die Türen geöffnet und Tragen und Gerätschaften bereitgelegt. Ein Bus der Linie 14 war an den Straßenrand gezogen. Die Passagiere verrenkten sich fast die Hälse, um besser sehen zu können, und manche schauten auch vom Oberdeck herab. Der Fahrer hatte sich gegen die Tür sinken lassen und redete mit einem Polizisten. Er war aschfahl und rieb sich die Augen, als wollte er wegwischen, was soeben passiert war. Jeannie hörte, wie sich die Rettungssanitäter unterhielten, und vernahm das Hin und Her von Diagnosen und Instruktionen. Man hörte das Knistern und Bellen der Funkgeräte, das Piepen von Apparaturen und dann in der Ferne das schwere Flappen eines Hubschraubers.

In der ganzen Szenerie war keine Spur von Dan zu sehen. Keine Schreie, keine Worte. Nichts.

»Lassen Sie mich durch«, hörte sie sich selbst sagen. »Lassen Sie mich durch, ich bin seine Freundin!«

Als sie sich durch die Menge drängte, vernahm sie neben dem Klappern ihrer Absätze noch ein anderes Geräusch, das knisternde Schweigen von Neugierde und Schock.

Es ist die Braut es ist die Braut es ist die Braut.

Hinter sich hörte sie die Stimme ihres Vaters, höflich, aber bestimmt. »Lassen Sie uns bitte durch. Danke. Entschuldigung.« Die Menge teilte sich wie das Rote Meer und gab den Blick auf eine kleinere Gruppe frei: fünf Rettungssanitäter, die sich um einen reglosen Mann versammelten, dessen Körper nur von der Taille abwärts zu sehen war.

Die Socken. Jeannie blieb stehen. Dan trug die Socken, die sie ihm zu seinem letzten Geburtstag geschenkt hatte: rot mit winzigen weißen Terriern. Plötzlich wurde die Szenerie schärfer, realer. Sie starrte die Socken an und dachte daran, wie er sie beim Essen ausgepackt hatte. Mit einem breiten spöttischen Grinsen hatte er sie trotz ihrer verlegenen Proteste gleich im Restaurant angezogen. Sie waren so glücklich gewesen an jenem Wochenende.

Was habe ich nur getan?

Jeannies Blick blieb an den Socken kleben. Sie fürchtete den Moment, in dem sich die Sanitäter bewegen und den Blick auf den verletzten Körper freigeben würden. Andererseits musste sie sich davon überzeugen, dass es ihm gut ging. Er hatte immer darüber gelacht, wie zartbesaitet sie war, wenn sie sich etwa bei James-Bond-Filmen die Augen zuhielt. Wo war das Blut? Gab es kein Blut? Wenn es kein Blut gab, war vielleicht alles in bester Ordnung. Vielleicht würde er einfach mit ein paar blauen Flecken wieder aufstehen.

Nun tauchte jemand neben ihr auf, ein untersetzter dunkelhaariger Mann mit einem grünen Kilt und einer weißen Rose im Knopfloch. Sein Gesicht war rundlich und jungenhaft. Er bemühte sich sichtlich, die Ruhe zu bewahren.

»Jeannie, ich bin Owen.« Er berührte sie vorsichtig am Arm und fügte dann hinzu: »Wir sind uns gestern Abend kurz begegnet, beim Essen. Es tut mir so leid.«

»Was tut dir leid?« Irgendetwas an seinem Tonfall ließ sie innerlich erstarren. »Ist Dan tot? Wird er sterben?«

»Nein, natürlich nicht.« Owen wich schockiert zurück. »O Gott, nein! Es ist nur …«