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Buch

Die drei Schwestern Rajni, Jezmeen und Shirnia konnten schon nicht besonders viel miteinander anfangen, als sie noch alle unter einem Dach in der Londoner Familienwohnung lebten. Als Erwachsene gehen sie nun ganz unterschiedliche Wege: Die ordnungsliebende Rajni ist Schulrektorin und Mutter eines 18jährigen Sohnes. Jezmeen kämpft um ihren Durchbruch als Schauspielerin, findet sich aber nicht im glamourösen Blitzlichtgewitter, sondern im Zentrum eines Skandals wieder. Shirina, die immer auf Ausgleich bedachte Schwester, hat in eine reiche indische Traditionsfamilie eingeheiratet und führt scheinbar das perfekte Leben. Und so braucht es den letzten Wunsch ihrer Mutter Sita, um die drei ungleichen Schwestern wieder zusammenzuführen. Gemeinsam sollen sie sich auf eine Reise nach Indien begeben und Sitas Asche in einem See bei einem berühmten Sikh-Tempel verstreuen. Eine Reise, die Rajni, Jezmeen und Shirnia letztendlich erkennen lässt, dass sie viel mehr verbindet, als sie jemals für möglich gehalten hätten …

Autorin

Balli Kaur Jaswal wurde in Singapur geboren und hat rund um den Globus gelebt: auf den Philippinen, in Japan, Russland, den USA, in Großbritannien, Australien und der Türkei. Sie hat als Lehrerin an verschiedenen internationalen Schulen gearbeitet, bevor sie mit ihrem Mann wieder nach Singapur gezogen ist, wo sie sich nun ganz dem Schreiben widmet.

Balli Kaur Jaswal im Goldmann Verlag:

Geheime Geschichten für Frauen, die Saris tragen. Roman

Balli Kaur Jaswal
__________________

Die unglaubliche Reise von Sitas Töchtern

Roman

Aus dem Englischen
von Stefanie Retterbush

Die englische Originalausgabe erschien 2019 unter dem Titel »The Unlikely Adventures of the Shergill Sisters« bei HarperCollinsPublishers, London.


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Deutsche Erstveröffentlichung April 2020

Copyright © der Originalausgabe by Balli Kaur Jaswal

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2020

by Wilhelm Goldmann Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München

Umschlagmotiv: FinePic®, München

Redaktion: Ann-Catherine Geuder

MR · Herstellung: kw

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN: 978-3-641-25311-0
V001

www.goldmann-verlag.de

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Für Asher

Prolog

Meine liebsten Kinder,

wenn ihr das lest, dann wisst ihr, mein Ende ist gekommen. Ich hoffe, unsere letzten gemeinsamen Augenblicke verliefen friedlich und liebevoll, und ich habe euch sagen können, wie sehr ich jeden Einzelnen von euch liebe und schätze. Wenn nicht, hoffe ich, ihr alle wisst, wie sehr ihr mein Leben bereichert habt. Ich bin so stolz auf euch und auf den Weg, den ihr im Leben eingeschlagen habt. Ich hatte das unbeschreibliche Glück, eure Siege und Niederlagen, euren Herzschmerz und euer Glück miterleben zu dürfen. Euch von der Kindheit bis ins Erwachsenenalter begleiten zu dürfen hat mir die Möglichkeit eröffnet, viele Leben zu leben, und so kommt es mir heute vor, als hätte ich in meiner kurzen Zeit hier in diesem Universum unendlich viele verschiedene Welten betreten.

Natürlich gibt es einiges zu besprechen, darunter mein Testament und meinen Nachlass, aber dazu kommen wir später. Ich verlasse mich auf die Anwälte, die mit euch über euer Erbe und die Aufteilung von Grundbesitz und Vermögen sprechen werden, sobald sämtliche Formalitäten erledigt sind. Wenn ihr schon vorher mehr wissen wollt, seht bitte in die Anlage.

Bitte gebt gut Acht auf euch und aufeinander. Nehmt euch nicht nur zu besonderen Gelegenheiten Zeit, zusammen zu sein und den Familienzusammenhalt zu stärken. Wenn ich eins gelernt habe, dann, dass es das Wichtigste im Leben ist, einander zu zeigen, wie sehr wir uns schätzen. Denkt daran, es gibt nichts Wichtigeres.

Das war der Brief, den Sita Kaur Shergill die alte Frau aus dem Nebenbett am Telefon diktieren hörte. Mehrmals drohte ihr dabei die Stimme zu brechen, und sie musste kurz innehalten, um zu seufzen und sich umständlich zu schnäuzen. Sita hatte ihren Fernseher etwas leiser gestellt, als die Sache mit den Anwälten kam – am meisten interessierte sie eigentlich, was diese Frau ihren Kindern zu hinterlassen hatte, aber die »Anlage« war von ihrer Seite der Abtrennung aus leider nicht einsehbar. Sie kannte die Kinder vom Sehen. Regelmäßig kamen sie, um ihre Mutter zu besuchen – zwei Söhne mittleren Alters, womöglich Zwillinge, allerdings mit äußerst unterschiedlichen Ernährungsgewohnheiten, sowie eine gutaussehende blonde Frau, die immer dieselben tröstenden Worte sagte: »Wir sind da, Mum. Wir sind da.« Oft kamen sie einzeln und gingen dann zusammen, legten einander die Hand auf die Schulter und plauderten über belanglose Dinge wie Parkplätze oder die stetig nachlassende Qualität der miesen Plörre aus der Krankenhaus-Cafeteria.

Sita drückte den Summer auf ihrer Fernbedienung und bat die Schwester, die daraufhin kam, um nach ihr zu sehen, um einen Stift und ein Blatt Papier. Es war frühmorgens, noch vor Beginn der Besuchszeit. Die beste Zeit, um übers Sterben nachzudenken. Die Schmerzen hatten inzwischen ihren ganzen Körper erfasst, sie strahlten von den Zehen bis in die Schläfen und vibrierten in ihren Knochen. Dem Morphium zum Trotz war der Schmerz allgegenwärtig – an guten Tagen sah sie ihn schemenhaft in den Schatten am Rand ihres Blickfelds kauern, an schlechten wrang er ihren zerbrechlichen Körper wie ein nasses Handtuch. Heute fühlte sie sich stark genug, um sich aufzusetzen. Der Brief der Frau im Nebenbett war ihr Ansporn, und wundersamerweise kam die Schwester augenblicklich ihrer Bitte nach.

Meine liebsten Töchter, setzte sie an. Dann brach sie ab und runzelte die Stirn. Wann hatte sie ihre Kinder je als ihre »Liebsten« bezeichnet? Sie strich die Zeile aus und fing noch einmal von vorne an. An Rajni, Jezmeen und Shirina. So – erst mal für ihre ungeteilte Aufmerksamkeit gesorgt. Früher stand sie oft unten an der Treppe und rief alle drei Töchter, auch wenn eigentlich nur eine von ihnen gemeint war. Für die beiden anderen fand sich immer etwas zu tun, wenn sie erst einmal da waren. Das ging so lange so, bis Jezmeen irgendwann anfing zurückzurufen: »WEN VON UNS MEINST DU GENAU

An Rajni, Jezmeen und Shirina

Inzwischen bin ich tot. Und das ist auch gut so, schließlich habe ich genug gelitten in diesem unerträglichen Leben – nichts als Plackerei und Leid und Sorge, und warum das alles? Bitte genießt eure Gesundheit, solange ihr sie habt, denn wenn euer Körper euch erst einmal den Dienst verweigert, ist ohnehin alles zu spät.

Nein, so ging das nicht. Das war zu schonungslos ehrlich. Wären das ihre letzten Worte, sie würden ihr das nie verzeihen. Sie faltete das Blatt und legte es auf den Beistelltisch mit dem Kuli als Briefbeschwerer obendrauf. Dann schloss sie die Augen. Wie sollte man sie in Erinnerung behalten? Sie war Ehefrau gewesen, Mutter, Witwe, Großmutter. Bei Sikh-Totenfeiern gab es keine Trauerreden, weshalb es ihren Töchtern erspart bleiben würde, eine Liste ihrer mageren Erfolge herunterzubeten. An manchen Tagen glaubte sie zu wissen, welche ihrer Töchter sie am wenigsten liebevoll in Erinnerung behalten würde. An besseren Tagen sagte sie sich zuversichtlich, ihre Kinder würden sich zumindest darin einig sein, dass sie stets bemüht gewesen war.

Sita drückte abermals auf den Knopf, um die Krankenschwester zu rufen. Diesmal dauerte es ein bisschen länger, aber irgendwann kam das klapperdürre junge Mädchen mit den vielen Tätowierungen und dem halb kahl geschorenen Schädel. Sie war nicht so nett wie die jamaikanische Schwester, die ihr immer freundlich die Schulter tätschelte und sagte: »Ruhen Sie ein bisschen«, aber sie lächelte, als Sita sie fragte: »Wie alt sind Sie eigentlich?«

»Siebenundzwanzig«, antwortete sie. Das Mädchen hatte seitlich ein auffälliges Zickzack-Muster in die Haare rasiert, und Sita fragte sich, was das für ein Mann sein musste, dem so etwas gefiel.

»Waren Sie schon mal in Indien?«, fragte sie.

»Nein«, sagte die Schwester mit leichtem Bedauern, sehr zu Sitas Freude.

»Wenn Ihre Mutter Sie um einen Gefallen bitten würde, ganz gleich, um welchen, würden Sie es dann tun?«, fragte sie.

Die Schwester schob Sitas Tischchen zum Fußende des Bettes, damit sie die Decke hochziehen konnte, die sich um Sitas Füße gewickelt hatte. »Natürlich«, erwiderte sie. »Also, falls Sie noch irgendwas brauchen …«

»Welche Religion haben Sie?«, wollte Sita wissen.

Mit schmalen Augen sah das Mädchen sie an. »Ich finde, das ist eine ziemlich persönliche Frage.«

Sita runzelte die Stirn. Es hatte seinen Grund, warum sie die jamaikanische Schwester lieber mochte. Die trug ein zierliches Goldkreuz an einer Kette um den Hals, das ihr immer im V-Ausschnitt der Schwesterntracht baumelte. »Allmächtiger«, schnaufte sie leise, wenn sie am Ende einer langen Schicht den geschundenen Rücken reckte und streckte.

»Könnten Sie mir bitte meinen Stift und das Papier geben?«, bat Sita. Das Mädchen griff in die Schublade des Schränkchens gleich neben dem Bett, und Sita blieb fast das Herz stehen vor Schreck. Doch nicht da!

»Die liegen da oben auf dem Tisch«, bemerkte Sita spitz und wies auf das Tischchen, an das sie nun selbst nicht mehr herankam. Es war zwar eher unwahrscheinlich, dass die Schwester lange Finger machen und Sitas Schmucktasche aus der Schublade klauen würde, wo sie eingeklemmt zwischen Gebetbuch und Handyladegerät lag, aber Sita war alt genug, um zu wissen, dass man gar nicht vorsichtig genug sein konnte. Das Mädchen schob den Tisch wieder ans Bett und ging dann, vermutlich, um sie leise zu verfluchen und den anderen Schwestern brühwarm zu erzählen, die alte Mrs Shergill könne jetzt aber wirklich allmählich mal den Löffel abgeben. Letzte Woche hatte Rajni das Schwesternzimmer gestürmt und ihnen ordentlich die Meinung gegeigt, weil sie Sita während einer besonders schlimmen Schmerzattacke zitternd im Bett liegen gelassen hatten. »Es ist mir schnurzpiepegal, ob sie schon eine Decke hat. Holen Sie ihr gefälligst noch eine«, hatte Rajni sie beinahe angeschrien, und Sita wollte vor Dankbarkeit fast weinen und ihre Tochter gleichzeitig dafür rüffeln, dass sie so eine Szene machte.

Der Schmerz kroch wieder in ihren Körper, und sie spürte, es würde ein schlechter Tag werden. Ihre Töchter wollten sie heute Nachmittag besuchen – hoffentlich alle drei, denn Rajni hatte Shirina angerufen und ihr gesagt, sie solle sich in den nächsten Flieger setzen, weil ihrer Mutter nur noch ein paar Tage blieben. Sie musste diesen Brief zu Ende schreiben, bevor die Kraft sie endgültig verließ.

An Rajni, Jezmeen und Shirina

Erinnert ihr euch noch, als ich die Krebsdiagnose bekommen habe und nach Indien fahren und eine Pilgerreise machen wollte, zu Ehren der Lehren unseres großen Gurus? Ihr und die Ärzte habt mir davon abgeraten und gesagt, das sei keine gute Idee, weil ich damals schon so gebrechlich war. Aber ich glaube, eine solche Reise hätte meinen Geist erfrischt und meine Seele erfreut, wenn schon nicht meine körperliche Verfassung verbessert.

Angefügt eine Liste von Orten, die ihr an meiner Stelle besuchen sollt, wenn ich nicht mehr bin. Sie liegen in Delhi, Amritsar und anderswo.

Die ganze Reise wird etwa eine Woche dauern. Ihr sollt zusammen hinfahren und alle Aufgaben gemeinsam erledigen, wie ich sie euch auftrage: Seva, um anderen zu dienen und euch in Bescheidenheit zu üben; ein rituelles Sarovar-Bad, zur Reinigung und zum Schutz der Seele vor Anfechtungen; und eine Wanderung zu den höchsten Gipfeln der Spiritualität, um euren Körper wieder schätzen zu lernen, der euch in diesem Leben beherbergt. Außerdem möchte ich, dass meine Asche in Indien verstreut wird.

Des Weiteren wünschte ich mir, dass ihr einige der Orte besucht, zu denen ich nicht mehr reisen konnte. Einfache Freuden, wie einen Sonnenaufgang am India Gate und gemeinsam eine bescheidene Mahlzeit zu teilen. Ich werde die Reisepläne auf dem nächsten Blatt detailliert darlegen. Bitte, tut mir den Gefallen. Auf diese Weise vollendet ihr meine Reise in dieser Welt und setzt eure eigene fort.

Alles Liebe,

eure Mutter Sita Kaur Shergill.

Die Schrift begann vor Sitas Augen zu verschwimmen, als sie sich den Brief noch einmal durchlas. Da war sie wieder, diese sengende Hitze in den Knochen. Sie kniff die Augen zusammen und klammerte sich an den Rand der Matratze. Die Schwestern durften ihr nur eine gewisse Menge Morphium am Tag geben, und keine legale Dosis schien noch auszureichen, um den Schmerz ganz zu betäuben. »Wir sind da, Mum, wir sind da«, stellte sie sich vor, würden ihre Töchter sagen, wenn sie ihnen den Brief gab, genau wie die blonde Frau. Ihre Gesichter wären tränenüberströmt, und sie würden sich an den Händen halten und ausnahmsweise einmal einträchtig beisammenstehen.

Als der Schmerz kurz ein wenig nachließ, griff Sita rasch wieder zum Kuli und drehte das Blatt um, um die genaue Reiseplanung auszutüfteln. Die Höllenqual war schnell vergessen, und stattdessen schwelgte Sita in nostalgischen Gedanken an Indien. Ihre Erinnerungen waren klarer denn je. Der Palliativberater namens Russ, der sie letzte Woche besucht hatte, hatte gesagt, es sei häufig so, dass Menschen, die dem Tod nahe sind, mehr in der Vergangenheit lebten als in der Gegenwart. »Sehen Sie es als einen Übergang«, hatte Russ gesagt. »Sie beenden einen Abschnitt und beginnen einen neuen.« Mit diesen Worten im Ohr dachte Sita über die Indienreise ihrer Töchter nach. Sie würde darauf bestehen, dass sie das für sie machten – keine Ausreden, kein davor Drücken. Es war ein tröstlicher Gedanke zu wissen, dass sie an ihren Ursprung zurückkehrten, während sie dabei war, ins Jenseits überzugehen. Wer wusste schon, wie lange es dauern würde, bis sie sich an die neue Umgebung gewöhnt, neue Freunde gefunden und herausbekommen hatte, wie die Kaffeemaschine funktionierte?

Was, wenn Devinder auch dort war? Sie müsste ihrem Mann von all den versäumten Jahren erzählen, aber erst, nachdem sie ihm gründlich den Kopf gewaschen hatte; wie hatte er sie nur so im Stich lassen können!

Gedanken und Erinnerungen an die frühen Jahre ihrer Ehe und die erste Zeit mit den Kindern überkamen Sita wie eine Woge, die alle verbliebenen Schatten ihrer Schmerzen hinwegspülte, bis nur noch ein dumpfer Druck in der Brust geblieben war. Was für eine chaotische Zeit! Damals musste sie erst noch lernen, Ehefrau zu sein und Mutter, einen Haushalt zu führen und sich in einem neuen fremden Land zurechtzufinden. Und just, als sie schließlich glaubte, endlich ein bisschen aufatmen zu können, war ganz unerwartet ihr Mann gestorben. In Sitas Leben hatte es nur eine ganz kurze Zeit gegeben, in der ihre Familie vollständig gewesen war. Sie notierte weitere Punkte auf ihrer Liste. Ihre letzte Indienreise lag beinahe dreißig Jahre zurück. Russ hatte ihr die verschiedenen Stadien des Trauerns beschrieben und auch gesagt, viele Menschen hätten das dringende Verlangen, die Zeit zurückzudrehen. Sita war zwar insgeheim stolz darauf, zu pragmatisch zu sein für solche unerfüllbaren Wünsche, aber sie hoffte, ihre Töchter würden Indien genauso vorfinden, wie sie es damals verlassen hatte.

Und dann war da noch etwas, das Sita ihren Töchtern sagen wollte. Es war so etwas wie ein Geständnis. Nachdem Russ gegangen war, hatte sie etwas getan. Sie würde den richtigen Moment abpassen müssen. Das aufzuschreiben schickte sich nicht. Sie würde die Stimme senken und flüstern müssen, und ihre Töchter würden ganz nahe herankommen müssen. Zuerst würden sie natürlich empört ablehnen. »Mum, sei nicht albern«, würden Rajni oder Shirina sagen. »Das soll ein Witz sein, oder?«, würde Jezmeen spitz bemerken, denn Jezmeen nahm nichts im Leben wirklich ernst, nicht einmal den Tod. Das war das bei Weitem Frustrierendste daran, wenn man sterbenskrank war – alle dachten immer, sie wäre geistig umnachtet und denke vor Angst wie im Nebel und versuche verzweifelt, sich ans Leben zu klammern. Aber der Tod war die einzige Gewissheit im Leben. Um ihren Töchtern zu beweisen, dass es ihr wirklich ernst war, würde sie ihnen sagen, sie sollten die Schmucktasche aus der Schublade nehmen. Und hineinschauen. »Seht ihr?«, würde sie sagen. »So, und jetzt bitte streitet nicht mit eurer Mutter.«

Erstes Kapitel

Es wäre mir am liebsten, ihr unternehmt die Reise zu einer kühleren Jahreszeit, aber da Rajni nur während der Schulferien verreisen kann, werdet ihr wohl oder übel im Juli/August nach Indien fahren müssen. Bucht die Tickets und eure Hotelzimmer möglichst zeitig – ich weiß, meine letzte Indienreise liegt über zwanzig Jahre zurück, aber Last-Minute-Buchungen können sehr teuer werden.

Rajni neigte nicht zu Ohnmachtsanfällen. Nachdem Anil ihr von seiner neuen Freundin berichtet hatte, überlegte sie kurz, so zu tun, als verliere sie das Bewusstsein, wusste aber, im letzten Augenblick würde sie doch versuchen, den Sturz mit den Händen abzufangen. Niemand nahm eine Frau ernst, die ihre eigenen Zusammenbrüche inszenierte. Eine bewusste Bewusstlosigkeit, ha, ha.

Also hatte sie Anil nur stumm angestarrt, während sie im Kopf einige einfache Rechnungen anstellte:

36 – 18 = 18

Seine Freundin war achtzehn Jahre älter als Anil.

36 ÷ 18 = 2

Seine Freundin war genau doppelt so alt wie Anil.

43 – 36 = 7

Seine Freundin war nur sieben Jahre jünger als Rajni selbst.

Bei der letzten Gleichung wurde Rajni ein bisschen schwindelig. Und der durchdringende Geruch nach gekochtem Fisch machte es auch nicht besser. Zum Abendessen hatte sie drei Lachsfilets zubereitet, wegen Omega 3, mit dem man angeblich mindestens hundert Jahre alt werden konnte. Diese Freundin von Anil, wusste die überhaupt etwas über die Vorzüge von Omega 3? Wohl kaum.

»Mum, ich bitte dich«, sagte Anil. Aber Rajni konnte nur stumm den Kopf schütteln. Heute sollte eigentlich ein besonderer Abend sein: das letzte gemeinsame Abendessen vor ihrer Indienreise. Wenn Anil ihnen ausgerechnet an diesem Abend von seiner neuen Freundin erzählen musste, dann sollte es wenigstens ein, na ja … junges Mädchen sein. Ein junges Mädchen, das sie schüchtern Mrs Chadha nannte, und deren Eltern Anil misstrauisch beäugen würden, bis er sie mit seinen guten Manieren und den sauberen Fingernägeln schließlich doch für sich einnehmen konnte.

Anil wendete sich an Kabir. »Dad«, sagte er etwas verzweifelt, und so, wie er es sagte, wusste Rajni sofort, dass die beiden schon ohne sie darüber gesprochen hatten. Kabir verzog schuldbewusst das Gesicht. Verstohlen schaute er Rajni an.

»Du hast es gewusst?«, fragte Rajni. »Seit wann?«

Kabir hatte schmale Lippen, die fast ganz verschwanden, wenn er unglücklich war. »Er ist heute Morgen zu mir gekommen«, gestand er. »Du hast gerade deine Koffer gepackt, da wollte ich dich nicht stören.«

Abendessen – Morgen = ein ganzer Tag.

Rajni bedachte Kabir mit jenem strengen Blick, mit dem sie sonst nur ungezogene Schüler musterte, die sie in ihr Büro bestellt hatte. »Wie findest du das? Möchtest du vielleicht etwas dazu sagen?«

»Ich bin natürlich betroffen, aber Anil ist alt genug, um seine eigenen Entscheidungen zu treffen.«

»Betroffen? Betroffen bist du, wenn die alte Mrs Willis von nebenan mal wieder ihre vollen Mülltonnen nicht vor die Tür gestellt bekommt. Wir reden hier von deinem Sohn, Kabir. Der gerade erst vor ein paar Wochen seinen Schulabschluss gemacht hat und uns jetzt erzählt, dass er mit einer Frau zusammenziehen will, die doppelt so alt ist wie er!« Wo hatte Anil überhaupt eine Sechsunddreißigjähre kennengelernt? Ihr kam ein schrecklicher Gedanke. »Es ist doch nicht etwa eine deiner Lehrerinnen, oder?«

»Himmel, nein«, rief Anil entsetzt. Rajni seufzte erleichtert. Gott sei Dank. Sie hatte immer ein bisschen Sorge gehabt wegen Cass Finley, der Musiklehrerin, die sich, wenn sie die Aufsicht bei Schulfeiern führte, immer ein bisschen zu aufreizend am Rand der Tanzfläche zur Musik wiegte.

Kabir räusperte sich. »Anil, deine Mutter und ich sind uns sicher, dass dir eine strahlende Zukunft bevorsteht. Wir möchten nur nicht, dass du alles wegwirfst für ein … ein Abenteuer.«

»Das ist kein Abenteuer«, widersprach Anil. »Es ist uns sehr ernst.«

»Ich glaube dir gerne, dass du das glaubst, aber früher oder später werdet ihr Probleme bekommen, mein Sohn.« Rajni fand es immer sehr berührend, wenn Kabir Anil »mein Sohn« nannte. Es war altmodisch und entzückend, und ihr wurde ganz warm ums Herz. Jetzt sagte er es, als verlören die Worte rapide an Bedeutung.

»Es gibt für alles eine Lösung, oder?«, meinte Anil.

»Alles?«, wiederholte Rajni.

Anil zuckte die Achseln. »Wir haben denselben Background. Wir verstehen uns. Es heißt doch immer, das ist das Wichtigste.«

»Ihr beiden gehört nicht einmal zur selben Generation. Sie ist eine erwachsene Frau. Du bist noch ein Junge! Ihr könntet auch auf verschiedenen Planeten leben.«

»Alles«, wiederholte Anil knapp. Wenn er die Zähne zusammenbiss, ähnelte er Kabir so sehr, dass Rajni den Streit am liebsten kurz angehalten und die Kamera geholt hätte. Es hieß immer, Erstgeborene würden viel öfter fotografiert als die nachfolgenden Kinder. Da Anil ihr erstes und einziges Kind war, dokumentierte Rajni sein Leben, ohne auch nur einen Gedanken an geschwisterlichen Neid zu verschwenden. Ihr Haus war ein Schrein zu Ehren von Anils Kindheit: Porträts und Fingerfarbebilder, Bleistiftstriche an der Wand, an denen man sehen konnte, wie er im Laufe der Jahre gewachsen war.

Handfeste Krisen Anils Zukunft betreffend schienen zu einem alljährlich wiederkehrenden Phänomen zu werden. Im vergangenen Sommer hatte es einen großen Streit gegeben, nachdem Anil erklärt hatte, er wolle sich nicht auf einen Studienplatz bewerben – ihm reiche es nach dem Schulabschluss mit dem Lernen. »Was die mir beibringen, kann ich auch im Internet lernen, oder?«, hatte Anil gesagt. Rajni, der ganz komisch geworden war von der schludrigen Aussprache ihres Sohns, die sie sein ganzes Leben lang schon zu korrigieren versuchte, hatte aus dem Zimmer gehen müssen. Als sie zurückkam, versprach Kabir, ein ernstes Wörtchen mit Anil zu sprechen. Es dauerte Monate, aber schließlich einigte man sich auf einen Kompromiss: Anil würde sich an der Uni bewerben, durfte sich aber ein Jahr Auszeit nehmen. In dieser Zeit sollte er sich einen Job suchen (seine Eltern hofften insgeheim, er würde dabei einsehen müssen, wie eingeschränkt die Auswahl ohne Uniabschluss war), doch dann war seine Großmutter gestorben und hatte ihm ein bisschen Geld vermacht, weshalb aus der kleinen Auszeit ein ausgedehnter Urlaub geworden war.

»Denk noch mal darüber nach, Anil«, sagte Kabir. »Bestimmt ist sie in einem Alter, wo sie eine Familie gründen möchte.«

»Darum wollen wir ja auch zusammenziehen.«

»Aber ist dir überhaupt klar, was das bedeutet? Für sie?«

Anil klammerte sich an die Rückenlehne des Stuhls, vor dem er stand. Angesichts dieser Neuigkeiten hatte es niemand auf den Stühlen gehalten, und alle standen vor halb vollen Tellern um den Tisch herum. Der schuppige Lachsgeruch traf Rajni mit voller Wucht. Rasch räumte sie den Tisch ab und brachte die Teller in die Küche.

»Ich weiß ganz genau, was Davina möchte«, sagte Anil gerade. Während Rajni die Reste in den Mülleimer warf, drängte sich ihr plötzlich ungebeten das Bild ihres Sohnes auf, im Bett mit einer reiferen Frau. Schluss damit, sagte sie sich streng. Sie sah sich in der Küche nach etwas um, irgendetwas, um sich abzulenken. Auf der Arbeitsplatte lag eine Broschüre der Zeugen Jehovas, die gestern an der Tür geklingelt hatten. Sie waren schrecklich lästig, aber irgendwie schaffte sie es doch nie, ihnen einfach die Tür vor der Nase zuzuschlagen – wie sie dastanden, mit den blassen Gesichtern und den eindrucksvoll gestärkten Hemdkragen. »Ich hab gerade keine Zeit, aber vielleicht lassen Sie mir etwas zu lesen da«, hatte sie vorgeschlagen, zum Trost, weil sie sich nicht hatte erretten lassen wollen, auch wenn die Broschüre in spätestens ein, zwei Tagen im Müll landen würde. Alles Leid wird bald enden, verkündete die Schlagzeile über dem Gemälde einer sonnenbeschienenen grünen Wiese. Wie schön eine solche Gewissheit doch sein musste. Aber die salbungsvollen Worte lenkten Rajni nur kurz von ihrem Unglück ab, dann stürzte die Realität wieder unerbittlich auf sie ein.

»Eine Frau in ihrem Alter sucht etwas Festes«, sagte Kabir gerade zu Anil.

»Das ist ja auch nicht bloß nur eine Phrase, Dad.« Er meinte natürlich »Phase«. Rajni war zu aufgebracht, um ihn auf seinen Fehler hinzuweisen, nahm sich aber vor, ihm später den Unterschied zu erklären.

»Mein Sohn, hör mir zu. Ich nehme an, Davina hat größere, langfristigere Pläne.«

Rajni stürmte zurück ins Wohnzimmer. »Tick-tack!«, rief sie, und alle zuckten erschrocken zusammen. »So sagt man doch zu Frauen Mitte dreißig, egal, ob sie Kinder wollen oder nicht. ›Überleg’s dir, bevor es zu spät ist.‹« (In ihrem Fall hatte es geheißen: »Überleg dir, ob ihr nicht noch eins wollt. Wer A sagt, muss auch B sagen! Lasst den armen Jungen nicht ohne Geschwister aufwachsen.« Als hätten sie und Kabir es nicht versucht und versucht und versucht, bis der Sex zwischen ihnen irgendwann zu einer lästigen Pflichtübung geworden war, genau wie Wäschewaschen oder die Wasserrechnung zu bezahlen.)

»Ja«, seufzte Kabir. »Gesellschaftliche Zwänge. Die sind größer, als du dir vorstellen kannst, Anil. Vor allem für Erwachsene.«

»Jetzt hört aber mal auf! Die Einzigen, die mich unter Druck setzen, seid ihr. Davina und ich sind total entspannt.«

»Und wenn sie morgen schon ein Kind will, wäre das für dich kein Problem? Du würdest alles aufgeben: das Reisen, die Pub-Abende mit deinen Jungs?«, fragte Kabir.

Das dürfte ihm einen ordentlichen Schrecken einjagen, dachte Rajni zufrieden, der nicht entging, was für ein gequältes Gesicht Anil dabei machte. Er hatte seine Europareise schon akribisch genau geplant: Skifahren in Bulgarien, Inselhopping in Griechenland, Gott-weiß-was in Amsterdam.

»Würde ich. Das werde ich alles aufgeben«, sagte Anil leise. Er klammerte sich an die Stuhllehne.

Es wurde ganz still im Zimmer. Anil biss sich auf die Unterlippe und schaute angestrengt auf die Fingerknöchel, die ganz weiß geworden waren.

Kabir starrte ihn an. »Was sagst du da?«

»Ich werde alles für sie aufgeben«, wiederholte Anil.

»Sohn?«

»Mum. Dad. Es ist keine große Sache, okay? Ihr müsst mir versprechen, nicht gleich auszuflippen.«

Die Ränder des Raums begannen zu verschwimmen, und der Fliesenboden kippte leicht. Dann hörte Rajni Kabir sanft sagen: »Okay, versprochen. Also, was ist los?«

»Davina ist schwanger«, sagte Anil.

Rajni fiel in Ohnmacht.

Die Kundin hatte ein Online-Video gesehen, in dem gezeigt wurde, wie man mit Hilfe von Bronze-Highlighter gut und gerne zehn Pfund aus dem Gesicht zaubern konnte. »Dieses Mädchen fährt sich einfach mit dem Pinsel durch das Gesicht, und auf einmal hat sie Wangenknochen«, schwärmte sie begeistert.

»Aus diesen Videos kann man viel lernen«, stimmte Jezmeen ihr zu. »Viele Tricks und Kniffe.« Besonders für Menschen wie sie, die überhaupt keinen Schimmer davon hatten, was sie da überhaupt machten. Nachdem sie als DisasterTube-Moderatorin auf unbestimmte Zeit suspendiert worden war, hatte eine der Maskenbildnerinnen Jezmeen diesen Job verschafft. Es war nur vorübergehend, musste Jezmeen sich immer wieder sagen. Irgendwann würde Gras über die Sache wachsen, und man würde ihr eine neue Rolle anbieten. Als Jezmeen das letzte Mal nachgesehen hatte, lag die Klickzahl des vermaledeiten Videos bei gerade mal 788. Also nicht unbedingt ein viraler Hit. Aber ihr Agent Cameron war trotzdem der Ansicht, besser jetzt vorsichtig sein, als hinterher das Nachsehen zu haben.

»Den Ball flachhalten. Warten, bis der Staub sich gelegt hat«, hatte er sie eindringlich ermahnt. Banalitäten und Floskeln hielt er stets im Überfluss bereit, wenn sie miteinander redeten – »Komm erst mal zu dir«, war noch so einer seiner Sprüche. Was im Grunde genommen nichts anderes bedeutete als: »Such dir den am wenigsten demütigenden Job, den man dir anbietet, und dann warten wir ab, bis die anonyme Masse des Internets über dein Schicksal entschieden hat.«

»Benutzen Sie auch Highlighter?«, wollte Stella wissen.

»Mit Ihnen habe ich etwas anderes vor«, entgegnete Jezmeen zuckersüß. Angefangen bei der zu Stellas Hautton passenden Grundierung. Augenblicklich sah sie weniger nach »mädchenhafter Sommerteint« aus als vielmehr nach »aus Versehen auf der Sonnenbank eingeschlafen«.

Während Jezmeen mit einem Abschminktuch Stellas Wangen bearbeitete, hatte sie plötzlich ein Déjà-vu. Früher, als sie noch klein war, hatte Rajni sie immer geschminkt, und sie hatte sich zusammenreißen müssen, um ganz still sitzen zu bleiben und nicht den Spiegel umzudrehen, um sich selbst darin zu betrachten. Jezmeen musste daran denken, wie sie Mum am Morgen von Shirinas Hochzeit geschminkt hatte. Die Visagistin, die auch das Braut-Make-up gemacht hatte, hatte Lidschatten in Dunkellila aufgetragen und darauf bestanden, Mum einen wachsmalstiftdicken Lidstrich zu verpassen. Mum war entsetzt. »So kann ich doch nicht unter die Leute gehen, geschweige denn in den Tempel«, hatte sie entgeistert gekeucht. »Die Leute müssen ja denken …« Sie brachte den Satz nicht zu Ende. Sie brachte ihn selten zu Ende. Es war schlimm genug, dass die Leute überhaupt etwas dachten. »Jezmeen, hol schnell ein paar Abschminktücher«, hatte Mum sie angewiesen. Während sie ihrer Mum dabei geholfen hatte, sich die Schminke aus dem Gesicht zu wischen, hatte Jezmeen bemerkt, wie die Haut an den Wangen schlackerte und die Lider Falten warfen, und hatte sich geschworen, niemals alt zu werden.

Jezmeens Handy auf der Theke pingte. »Entschuldigen Sie bitte, Stella«, sagte Jezmeen und beugte sich vor, um einen Blick auf das Display zu werfen. Eine Nachricht von Rajni. Sie ignorierte sie einfach. Rajni machte sich bestimmt gerade verrückt wegen der Reise und wollte wissen, ob auch alle ihre Tetanus-Impfung hatten auffrischen lassen oder irgendwas ähnlich Hysterisches.

»Ich verwende jetzt diesen Primer«, erklärte Jezmeen. Sie zeigte Stella das Fläschchen. »Das ist eine gute Grundierung, damit hält Ihr Make-up den ganzen Tag.« Wieder zirpte ihr Telefon.

»Tut mir leid«, sagte Jezmeen und funkelte das Handy böse an.

»Nicht schlimm. Ihr Freund macht sich sicher Ihretwegen Sorgen«, meinte Stella.

Ha! Wäre es doch bloß ein eifersüchtiger Freund. Oder überhaupt irgendein Freund. Ihre letzte Beziehung hatte in einem derartigen Desaster geendet, dass es jeglicher Beschreibung spottete.

»Ach nein, das ist bloß meine Schwester«, winkte Jezmeen ab. »Wir fliegen am Donnerstag zusammen nach Indien, und bestimmt will sie mir nur sagen, ich soll Sonnencreme einpacken oder so was.«

»Urlaub, wie schön! Nur Sie beide?«

»Wir drei. Unsere jüngere Schwester lebt in Australien, wir treffen uns in Delhi.«

»Wie reizend«, rief Stella begeistert.

Das sagten die Leute immer, wenn Jezmeen ihre beiden Schwestern erwähnte. Reizend. Lange, gemütliche Nachmittage mit Teetrinken und Geplauder. Ein lebenslanges unverbrüchliches Band. Stella strahlte bis über beide Ohren, da wollte Jezmeen ihr lieber nicht sagen, wie sehr es sie vor dieser Reise mit der entnervend besserwisserischen Rajni und der unerträglich perfekten Shirina graute.

»Wir machen diese Reise zum Andenken an unsere Mum«, erklärte Jezmeen. »Sie ist vergangenen November gestorben, und jetzt machen wir in Erinnerung an sie eine gemeinsame Pilgerreise und verstreuen ihre Asche.«

»Ach, das ist ja rührend. Was für eine schöne Ehrung«, hauchte Stella hingerissen. Sie streckte die Hand aus und nahm Jezmeens Hand in ihre. Nun stellte Stella sich sicher die drei treusorgenden Töchter vor, wie sie in langen weißen Gewändern einhergingen und einen nebelverhangenen Berg hinaufpilgerten, während sie abwechselnd die Urne mit der Asche ihrer Mutter trugen. Wieder falsch. Pilgerfahrten waren in ihrer Religion nicht zwingend vorgeschrieben (das hatte eine rasche Google-Suche zum Thema Sikhismus ergeben, die entsprechenden Links hatte sie an Rajni weitergeleitet, nur um ihrer älteren Schwester wie immer zu widersprechen und grundsätzlich alles abzulehnen, was von ihr kam), aber nachdem die Krebsmedikamente nicht mehr geholfen hatten, hatte Mum es mit allen nur erdenklichen heiligen Heilmittelchen versucht. Auf ihrer To-Do-Liste standen Rituale, die auszuführen sie zu schwach gewesen war, und Orte, die zu besuchen sie nicht mehr die Zeit gehabt hatte. Nun sollten ihre Töchter sich für sie auf die Reise machen. Jezmeen war nicht entgangen, dass Mum ein paar Punkte auf die Liste gesetzt hatte, deren alleiniger Zweck es war, die Schwestern zu zwingen, Zeit miteinander zu verbringen. Vermutlich, weil Mum gewusst hatte, dass sie sonst im Traum nicht auf die Idee gekommen wären. Wenn man Jezmeen fragte, ging es bei dieser Reise weniger um spirituelle Erhebung als vielmehr um erzwungene Geselligkeit.

Wieder klingelte Jezmeens Handy. »Verdammt noch mal«, brummte sie.

»Gehen Sie doch ran. Könnte wichtig sein.«

»Danke, Stella.« Jezmeen griff zum Handy. »Rajni, ich bin gerade bei der Arbeit.«

»Hast du meine Nachrichten nicht bekommen? Du musst irgendwie selbst zum Flughafen kommen. Gestern Abend ist bei uns etwas … vorgefallen, und jetzt gibt es noch einiges zu klären. Kabir fährt mich direkt zum Flughafen.«

»Okay. Ist das alles?«

»Ja.« Rajni zögerte. »Wann wolltest du denn los?«

»Ich bin auf jeden Fall zwei Stunden vor unserem Flug in Heathrow, Rajni, mach dir deswegen keine Sorgen.«

»Du bist noch bei der Arbeit?«

»Ja, und ich muss jetzt weitermachen. Tschüss!«

Rajni wollte noch etwas sagen, aber da hatte Jezmeen schon aufgelegt. Sie stellte das Telefon stumm und wendete sich wieder ihrer Kundin zu. »Als Nächstes verwende ich zwei verschiedene Concealer, weil wir es hier mit zwei verschiedenen Arten von Unregelmäßigkeiten zu tun haben.«

»Mischt man die dann?«, wollte Stella wissen.

»Nein, die eine benutzen wir unter den Augen und die andere für die kleinen Verfärbungen am Kinn.« Jezmeen hielt die kleinen Tiegel hoch. Während Stella sie sich genauer ansah, schaute Jezmeen auf ihr Handy. Sie hatte ein ganz eigenartiges Gefühl. Warum wollte Rajni wissen, ob sie noch bei der Arbeit war, wo sie doch erst am Donnerstag flogen?

»Ich muss mir das notieren«, sagte Stella und kramte geschäftig in ihrer Handtasche. »Sonst habe ich gleich wieder vergessen, was wofür ist.«

»Bitte schön«, sagte Jezmeen und reichte ihr einen Bleistift und eine Karte mit einem stilisierten Gesicht darauf. »Sie malen einfach einen Pfeil auf die Augengegend und notieren dazu: ›Nude Secret 19‹.«

Stella schrieb langsam und sorgfältig. »Sie sind so was von nett, hat Ihnen das schon mal jemand gesagt?«

Jezmeen lächelte erstaunt. »Danke.«

»Ich muss mir Ihre Karte mitnehmen. Machen Sie auch Privattermine? Meine Tochter sucht eine gute Visagistin für ihre Hochzeit. Die ist zwar erst nächstes Jahr im Frühling, aber gute Dienstleister sind so schnell ausgebucht.«

Jezmeen gefror das Lächeln im Gesicht. Nächstes Frühjahr! Ihr Magen krampfte sich zusammen bei dem Gedanken, dann womöglich noch hier in der Kosmetikabteilung zu arbeiten. Nein, nein, unmöglich. Den Ball flachhalten und abwarten, bis der Staub sich gelegt hatte. Bald würde eine andere Sau durchs Dorf getrieben. Aber Cameron hatte gesagt, es liege gar nicht unbedingt an ihr. »Es gibt nicht viele Rollen für indische Schauspielerinnen«, hatte er erklärt. »Und wenn ein Regisseur ein unbekanntes Gesicht besetzt, will er ganz bestimmt keine schlechte PR. Es sieht also gerade nicht besonders gut für dich aus.« Was er nicht sagte, war: Es gab schon eine Polly Mishra. Er wusste, dass Jezmeen es nicht ausstehen konnte, immer wieder in einem Atemzug mit ihr genannt zu werden. Seit Jezmeen versuchte, als Schauspielerin Fuß zu fassen, stand sie in ihrem langen Schatten.

Während Stella sorgfältig ihr Kärtchen beschriftete, schaute Jezmeen heimlich auf ihr Handy. Drei verpasste Anrufe von Rajni in den vergangenen zwei Minuten und eine Nachricht:

Dir ist schon klar, dass unser Flug heute Abend geht?

Jezmeen blieb fast das Herz stehen. Beinahe hätte sie das Handy fallen gelassen. Rasch schrieb sie zurück:

Ja, das weiß ich. Ich mache gerade Feierabend und fahre nach der Arbeit direkt zum Flughafen.

Wie zum Teufel war das nur passiert? Sie sollten doch am Donnerstag fliegen, oder? Nicht am Dienstag. Ganz vage erinnerte sie sich an ein Gespräch mit Rajni, die einen günstigeren Flug für Donnerstag gefunden hatte. »Der geht allerdings um zwei Uhr morgens«, hatte Rajni gesagt. »Das geht doch.« Und irgendetwas an ihrem Tonfall hatte Jezmeen derart gereizt, dass sie gezickt hatte: »Nicht jeder hat Schulferien, weißt du.« Dann hatte Rajni also doch den Flug am Dienstag gebucht.

Oder hatte Jezmeen sich nur eingebildet, Rajni hätte nachgegeben? Manchmal führte sie in ihrem Kopf lange Streitgespräche mit Rajni. Mit Mum hatte sie das auch oft gemacht – es war einfacher, als sich wirklich mit ihr zu streiten. In ihren Fantasie-Disputen behielt Jezmeen immer die Oberhand. Sie hatte immer recht, und am Ende entschuldigte der andere sich und flehte gelegentlich sogar um Verzeihung. Dann ging der Flug also schon heute Abend. Heute Abend! Sie musste sofort ihre Chefin anrufen und ihr sagen, es sei etwas dazwischengekommen – das würde doch bestimmt als familiärer Notfall durchgehen.

»Wie heißt der Primer?«, erkundigte Stella sich.

»Das ist einfach nur ein Primer«, sagte Jezmeen. Mist, Mist, Mist. Sie wusste nicht mal, wo ihr Koffer war.

»Ach herrje«, murmelte Stella, die mit dem spitzen Bleistift versehentlich das Kärtchen durchstochen hatte.

Das konnte man wohl laut sagen.

Am Flughafen von Melbourne wurde gerade ein älteres indisches Ehepaar von seiner weitläufigen Verwandtschaft verabschiedet. Shirina beobachtete, wie die gesamte Familie wie ein Bienenschwarm geschlossen in Richtung Abfluggate schwirrte. »Meinst du, sie fliegen nach Hause zurück? Oder machen sie bloß ein bisschen Ferien?«, fragte Shirina.

Sehaj zuckte bloß die Achseln. »Ist doch egal. Alle müssen durch dasselbe Gate.« Er scrollte gerade angestrengt auf seinem Handy. Shirina warf einen Blick auf das Display. Zahlen und Diagramme. Arbeit, würde er murmeln, wenn sie ihn fragte, was ihn da derart fesselte.

»Ich finde, sie sehen aus, als würden sie nur auf einen Besuch nach Indien fliegen. Was meinst du?«, fragte Shirina mit Blick auf die Familie.

»Weiß nicht«, brummte Sehaj.

»Ich versuche nur, mich ein bisschen mit dir zu unterhalten«, sagte Shirina. Sehaj schien sich auf seine gute Kinderstube zu besinnen, steckte das Handy weg und strich ihr eine lose Haarsträhne hinter das Ohr. »Entschuldige«, flüsterte er leise und drückte ihr die Lippen auf die Schläfe.

Shirina lehnte den Kopf gegen seine Brust. Endlich, auf diesem wuseligen, hektischen internationalen Flughafen ein kleines bisschen Zweisamkeit, bevor sie in den Flieger stieg. Die letzten Tage hatte angespanntes Schweigen zwischen ihnen geherrscht. Sie schloss die Augen. Sehajs Hemd roch nach einer Mischung aus seinem Aftershave und dem Weichspüler, den seine Mutter empfohlen hatte. Ihr Leben als verheiratete Frau roch nach gestärktem Leinen. Das war ihr damals als Erstes aufgefallen, als sie vor drei Jahren in das gemeinsame Zuhause der Familie gezogen war. Sehaj strich ihr mit den Fingern über die Haare. Sie fürchtete, gleich weinen zu müssen, also entwand sie sich ihm, und im selben Augenblick ratterte ihr ein schweres Gewicht über die Zehen.

»Aua«, rief sie und zog den Fuß weg. Es war ein Rollkoffer. Die Frau, die ihn hinter sich herzog, schien nichts gemerkt zu haben. Unbeirrt marschierte sie weiter in Richtung Gate, in Stilettos, die aussahen, als wollten sie mit jedem Schritt den Boden unter ihren Füßen aufspießen.

»Ich würde sagen, sie leben hier und fahren gerade in die Ferien«, sagte Sehaj und wies mit einem Nicken auf das ältere Ehepaar. »Die Familie wirkt viel zu fröhlich für einen langen Abschied.«

»Und warum werden sie dann von sämtlichen Kindern und Enkelkindern zum Flughafen gebracht?«, fragte Shirina sich laut.

»Vielleicht ist es eine längere Reise?«, mutmaßte Sehaj. »Vielleicht haben sie dort ein Haus und bleiben ein paar Monate?«

Es war eine gute Zeit, um Melbourne zu verlassen. Jeden Tag wälzte sich eine steingraue Wolkenwand über den Himmel und vergoss eisig kalten Regen über der Stadt. In England konnte sich niemand vorstellen, dass es in Australien so kalt sein konnte. Selbst Shirina hatte es nicht glauben wollen, ehe sie Sehaj geheiratet hatte und hierhergezogen war. Wenn sie jetzt im Fernsehen die Berichte über die sommerlichen Hitzewellen in Europa sah, schaute Shirina zu Hause aus dem Fenster auf die regennassen Straßen und die kahlen Äste der Bäume, die sich unter dem heftigen Wind duckten, und fragte sich ungläubig: Wie kann das nur sein?

»Und die?« Sehaj wies mit dem Kinn auf zwei junge Männer. »Brüder? Beste Freunde?«

»Beste Freunde«, erwiderte Shirina, die sich freute, dass er ihr Spiel mitspielte. Während ihrer Flitterwochen, als sie wegen eines Schneesturms am Istanbuler Flughafen festgesessen hatten (noch so eine Stadt, von der Shirina nicht geglaubt hätte, dass es da jemals Winter wurde, geschweige denn, dass es Schneestürme gab), hatten sie sich die Zeit damit vertrieben, sich haarsträubende Geschichten über wildfremde Menschen auszudenken. Zweieinhalb Jahre waren eigentlich keine so lange Zeit, aber Shirina hatte das Gefühl, Sehaj an diese sorglosen, unbeschwerten ersten Tage ihrer Ehe erinnern zu müssen.

»Weißt du noch, als wir endlich in den Flieger gestiegen sind und hinter dem Hollywood-Spion-Pärchen saßen?«, fragte Shirina.

Sehajs Augen leuchteten auf beim Gedanken daran. »Die aussahen wie Filmstars und die Finger nicht voneinander lassen konnten?« Den ganzen Flug über hatten sie geknutscht und gefummelt – Hochzeitsreisende, hatten Shirina und Sehaj sich gedacht, die andere frisch Vermählte mit ihren unübersehbaren Zuneigungsbekundungen und dem plakativen Gestöhne steif und prüde aussehen ließen. Dann, kurz vor der Landung, hatten sie sich auf zwei leere Plätze in verschiedenen Reihen gesetzt und waren einzeln ausgestiegen. Shirina und Sehaj hatten sie beobachtet, wie sie bei der Zollabfertigung in zwei verschiedenen Schlangen anstanden und dann, ohne den anderen auch nur eines Blickes zu würdigen, ihrer Wege gingen: die Frau zur U-Bahn, der Mann zur Gepäckausgabe.

»Eindeutig Spione«, meinte Sehaj. Er liebte fesselnde Spionage-Thriller aus der Zeit des Kalten Krieges.

Shirina schaute auf die Uhr. Sie musste bald los. Ständig blinkten auf der Abfluganzeige neue Flugziele und Boardingzeiten auf. Es gingen Flüge nach Berlin und Jakarta, Pretoria und Chicago – Shirina könnte die ganze Welt bereisen. Der Gedanke elektrisierte sie. Es war, als säße sie wieder vor dem Laptop und scrollte durch die Auswahl an Heiratskandidaten, und jedes Profil war das Fenster in eine neue, verheißungsvolle Zukunft.

Sehaj wirkte plötzlich angespannt, und Shirinas Magen krampfte sich zusammen. Er sah aus, als wolle er noch etwas Wichtiges sagen.

»Ich sollte besser gehen«, sagte Shirina. »Ich habe Jezmeen versprochen, ihr was aus dem Duty Free mitzubringen.« Eine harmlose kleine Schwindelei – wann hatte sie überhaupt das letzte Mal mit Jezmeen gesprochen? Selbst wenn Jezmeen etwas brauchte, ihrer Schwester würde sie es ganz bestimmt nicht sagen.

»Also gut«, murmelte Sehaj. Er schien ganz in Gedanken. Sie standen auf, und er nahm ihre Tasche. Die indische Familie drängte sich vor dem Abfluggate. Das ältere Ehepaar war nirgends zu sehen. »Entschuldigung«, sagte Sehaj. Die Inder rührten sich nicht vom Fleck. »Entschuldigung«, sagte er wieder, etwas lauter diesmal. Sie rückten ein bisschen beiseite, waren aber zu sehr ins Gespräch vertieft, um sich um ihn zu scheren.

»Kommt schon, Leute, das hier ist ein Flughafen. Aus dem Weg«, motzte Sehaj. Nun glotzen sie ihn an. Shirina nahm ihn an die Hand, aber er riss sich los und bahnte sich mit den Ellbogen rüde einen Weg durch die Menschenmenge. »Tschuldigung«, murmelte sie mit gesenktem Kopf, obwohl sie genauso genervt war vom rücksichtslosen Verhalten der Großfamilie. Nun war der intime Moment mit Sehaj unwiederbringlich vorbei.

Shirina umarmte ihren Mann und hoffte, damit seine schlechte Laune etwas aufzuhellen. Er blieb stocksteif. »Es tut mir leid, Sej«, flüsterte Shirina. Wie konnte es bloß sein, dass manche verheirateten Paare sich ständig stritten?, fragte sie sich verwundert. Für sie war es schon beinahe unerträglich, diesen einen Konflikt auszuhalten. Wenn sie sich entschuldigte, ging es ihr immer gleich ein bisschen besser. Obwohl sie ja gar nichts gemacht hatte, und schon gar nichts Falsches. Aber sie wollte die unschöne Situation so schnell wie irgend möglich aus der Welt schaffen.

Unvermittelt zog Sehaj etwas aus seiner Tasche. Shirina erkannte gleich das Briefpapier – eine feste, cremefarbene Karte, allerfeinste Qualität – und die Handschrift seiner Mutter. Shirina sah Namen und Adresse darauf und schaute Sehaj fragend an.

»Du darfst nicht zurückkommen, bevor das erledigt ist«, erklärte Sehaj und drückte Shirina die Karte in die Hand. Zeit für eine Antwort ließ er ihr nicht. Er drehte sich nur wortlos um und verschwand in der Menge.