Cover

TOM FLETCHER

DER WEIHNACHTOSAURUS

UND DIE WINTERHEXE

Mit Illustrationen von Shane Devries

Aus dem Englischen von Franziska Gehm

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Copyright © Tom Fletcher 2019

Copyright © für die deutschsprachige Ausgabe 2019

cbj Kinder- und Jugendbuchverlag

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

First published as »The Christmasaurus and the Winter Witch« by Puffin,

an imprint of Penguin Random House Children’s Publishers UK

Aus dem Englischen von Franziska Gehm

Illustrationen von Shane Devries

Lektorat: Almut Schmidt

Umschlaggestaltung: init | Kommunikationsdesign, Bad Oeynhausen

unter Verwendung von Illustrationen von © Shane Devries

Umschlagillustration: Shane Devries

TP • Herstellung: UK

Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach

ISBN 978-3-641-25341-7
V001

www.cbj-verlag.de

Für Mum & Dad,

danke, dass ihr Weihnachten

immer verzaubert habt

INHALT

PROLOG Die Zukunft

1. Der Anfang dieser Geschichte

2. Wiedervereint

3. Willkommen am Nordpol

4. Ein Wald voller Wünsche

5. Wichtelhausen

6. Der älteste Weihnachtsbaum

7. Unter-Null

8. Die Winterhexe

9. Geheim

10. Ein irrer Garten

11. Schneegewitter

12. Zurück zum Prolog

13. Noch ein Stopp

14. Zu Hause ist, wo die Wahrheit ist

15. Was Brenda wollte

16. Der Ärger wächst

17. Das Rätsel der tanzenden Jingelwatts

18. Zerstörter Glauben

19. Nicht die Bohne

20. Das Geschenk des Jahres

21. Unsichtbare Wichtel

22. Es ist Weihnachten!

23. Zurück zum Nordpol

24. Schneeblind

25. Brenda hinterher

26. Wieder Weihnachten

27. Super-Geizhals der Zukunft

28. Im Moment verharren

29. Verloren in der Zeit

30. Ein vergessener Wunsch

DANKSAGUNG

PROLOG

DIE ZUKUNFT

Diese Geschichte beginnt, wie alle guten Geschichten, vor langer Zeit …

Was meint ihr damit So hat das erste Buch schon angefangen?

Nein, hat es nicht! Okay, ich seh mal nach. Moment …

Mann, was sagt man dazu? Ihr habt recht!

Das geht natürlich nicht. Ich ändere das.

Wie wäre es damit …

Diese Geschichte beginnt total, völlig, tausendprozentig anders als das erste Buch, lange Zeit entfernt in der Zukunft!

Damit habt ihr nicht gerechnet, was, ihr Oberschlauberger?

Die Zukunft ist nicht viel anders als die Gegenwart. Die Kinder in der Zukunft gehen immer noch jeden Tag zur Schule. Und ja, in der Zukunft müssen Kinder immer noch Brokkoli und Erbsen essen. Und ihre Zähne putzen. Und Bitte und Danke sagen. Und ihre Bauchnabel waschen. Und sie dürfen auch in Zukunft nicht popeln (oder Popel essen).

Nichts davon hat sich in der Zukunft geändert.

Allerdings gibt es einen mordsmäßigen, gigantischen, riesigen Unterschied.

In der Zukunft gibt es

KEINE WEIHNACHTEN!

Ich weiß, unfassbar!

Sehen wir uns das mal an …

Es war ein ganz normaler Winterabend in der Zukunft. Supercoole, fliegende Autos zischten hoch oben auf Himmelsstraßen durch die Luft, von einem Stratosphären-Sternkratzer zum nächsten (Gebäude, die so hoch waren, dass ihre Spitzen bis ins Weltall reichten!), und über London breitete sich leichter Schneefall aus.

Plötzlich wurde der Schneefall dichter. Jedoch nicht gleichmäßig über der ganzen Stadt, wie man es erwartet hätte. Nein, ganz im Gegenteil. Nur an einer bestimmten kleinen Stelle in einer ruhigen Straße namens Distelgasse schneite es heftiger.

Binnen Sekunden fiel dort so viel Schnee, dass er sich zu einem kleinen weißen Berg auftürmte. Genauso plötzlich, wie es angefangen hatte, hörte es auf einmal wieder auf zu schneien. Was blieb, war ein großer Schneehaufen mitten in der Gasse.

PAFF!

Eine Faust schoss aus dem Schneehaufen.

Dann … PAFF! Eine zweite!

Als Nächstes begann der zweiarmige Schneehaufen zu wackeln und zu ruckeln, bis er in sich zusammenbrach und ein Junge mit lockigen, braunen Haaren zum Vorschein kam, dessen Rollstuhl von Dinosaurier-Aufklebern übersät war.

Ihr kennt ihn natürlich schon.

William Trudel rieb sich den Kopf und sah sich auf der verlassenen Straße um.

»Hallo? Wo bin ich? Nein … wann bin ich?«, fragte er – denn William war nicht allein in der Distelgasse.

Neben ihm, in einer dunklen Ecke, stand eine geheimnisvolle Gestalt.

Doch es kam keine Antwort. Die seltsame Gestalt hob lediglich den Arm und deutete mit einem kalten, schlanken Finger zum Ende der Distelgasse.

Stirnrunzelnd rollte William die verlassene Gasse entlang und bog am Ende auf die Hauptstraße.

Zum ersten Mal warf er einen Blick in die Zukunft!

Grelle Lichter strahlten von riesengroßen Bildschirmen an den Fassaden der Sternkratzer und die Luft flimmerte.

Auf dem höchsten Gebäude, mitten im Zentrum der Stadt, prangte ein gigantisches, glänzendes P, das den Mond in den Schatten stellte und die Stadt zu beherrschen schien.

William versuchte all die bizarren Bilder und Gerüche des zukünftigen Londons aufzunehmen, um sich an jedes Detail erinnern zu können:

* Die Leute in schicken, futuristischen Anzügen auf dem Weg zur Arbeit

* Den Verkehrsstau aus fliegenden Autos, der sich über der Stadt anbahnte

* Die zwanzigstöckigen Busse mit Robotern als Fahrer

Es gab so viel zu sehen! Aber Williams Aufmerksamkeit wurde von einem Flüstern gestört, das aus der Distelgasse kam. Er drehte sich um und spähte angestrengt die Gasse entlang.

»Hallo?«, rief er laut.

Es kam keine Antwort, doch die seltsame Gestalt, die noch immer lautlos in der Dunkelheit wartete, nickte einmal. William rollte zurück in die Distelgasse und bemerkte erst jetzt, dass das Flüstern, das er gehört hatte, ein Gesang war.

»Weihnachten, du schönste Zeit im Jahr,

wir vermissen dich schmerzlich,

jetzt herrschen Angst und Gefahr …«

»Angst?«, flüsterte William. »Habe ich das gerade richtig gehört?« Leise bewegte er sich auf den seltsamen Gesang zu und spähte hinter eine Mülltonne. Ein paar Menschen hatten sich um ein kleines Feuer versammelt. Sie waren warm angezogen, mit dicken Mänteln und Wollmützen.

Einer von ihnen, ein freundlich wirkender alter Mann mit faltigen, rosigen Wangen, öffnete den Reißverschluss seines Mantels und enthüllte stolz einen flauschigen Wollpullover mit Weihnachtsmotiv, als würde er ihn aus einem Gefängnis befreien.

Die anderen Mitglieder der Gruppe machten es ihm nach, öffneten die Knöpfe und Reißverschlüsse an den Mänteln und präsentierten ihre herrlich festlichen Pullover darunter, während sie weitersangen:

»Es gibt nur einen Weg:

Wir verlieren nie den Glauben!

Wir lassen uns Weihnachten

nicht für immer rauben.«

Ein kalter Windstoß fuhr durch die dunkle Gasse und wirbelte Abfall auf. Eine Zeitung schwebte wie ein Drachen durch die Luft und landete schließlich zu Williams Füßen. Er warf einen Blick darauf und las das Datum.

»Der 24. Dezember? Das ist Weihnachten – in dreißig Jahren?«, flüsterte er, verzog das Gesicht und blickte zurück zur belebten Hauptstraße.

Wieso gehen die Menschen an Weihnachten zur Arbeit?, wunderte sich William.

Dann fiel ihm ein, dass keins der Gebäude weihnachtlich geschmückt gewesen war. Kein einziger Mensch hatte fröhlich ausgesehen. Um keine einzige Straßenlaterne hatte sich eine dieser kitschigen Lichterketten gerankt, die Williams Vater Bob so liebte. Ohne die geheimnisvollen Weihnachtsliedsänger in der dunklen Gasse würde es sich genau genommen überhaupt nicht wie Weihnachten anfühlen!

Plötzlich wurden die Gasse und die Gesichter der Weihnachtssänger von einem rot blinkenden Licht erhellt.

Ah, das ist doch schon etwas weihnachtlicher!, dachte William.

»Sie sind hier!«, rief der runzlige, rosawangige Weihnachtssänger und deutete mit zittrigem Finger auf etwas, das auf sie zuraste. Da erkannte William, dass die roten Lichter überhaupt keine Weihnachtslichter waren. Es waren die rot blinkenden Warnlichter eines fliegenden Polizeiwagens!

»Es ist die WP! Sie haben uns entdeckt – lauft!«, rief ein anderer Weihnachtssänger und zerrte den Reißverschluss an seinem Mantel hoch, um den Pullover zu verbergen.

Die WP? Wer um alles in der Welt war das?, fragte sich William, während er mit seinem Rollstuhl noch ein Stückchen weiter hinter die Mülltonne fuhr, um sich zu verstecken.

Die Türen des fliegenden Polizeiwagens öffneten sich zischend und ein Polizeitrupp sprang aus dem Fahrzeug.

»Weihnachtspolizei, keine Bewegung!«, brüllte einer der Polizisten durch ein Megafon, während seine Kollegen in Aktion traten und die heimlichen Weihnachtssänger verfolgten, die durch die dunkle Gasse flüchteten.

Alle, bis auf einen. Den alten Mann.

»Ich lasse mir keine Angst mehr einjagen«, sagte der rebellische Weihnachtssänger trotzig, zog seinen Mantel aus und zeigte allen seinen unglaublich schrillen, flauschigen, weihnachtlichen Weihnachtspulli.

»Wachtmeisterin, ich glaube, das ist einer dieser Pullis mit Musik …«, sagte der Polizist ängstlich, während sie sich dem Weihnachtssänger näherten.

»Hände hoch, sodass wir sie sehen können«, blaffte die Wachtmeisterin und umstellte den Mann mit ihrem Polizeitrupp.

Der Weihnachtssänger rührte sich nicht.

»Ich sagte Hände hoch. Schön langsam«, wiederholte die kommandierende Polizistin.

»Wir haben nichts Falsches getan!«, protestierte der Weihnachtssänger.

»Die Regeln und Gesetze des Weihnachtsverbots sind absolut klar und deutlich.«

William erstarrte.

Weihnachtsverbot?

Plötzlich drückte der alte Weihnachtssänger auf eine der Weihnachtsbaumkugeln auf seinem Pulli.

»NEIN!«

»Haltet euch die Ohren zu!«

»ERGREIFT IHN!«, schrie die Wachtmeisterin – aber es war zu spät. Die Weihnachtsbaumkugeln wurden lebendig, leuchteten rot und grün auf, und ein Lied schallte durch die Gasse.

»Jingle Bells, Jingle Bells, Jingle all the way …«

Schon nach den ersten Takten ergriffen die Polizisten den Mann, rangen ihn auf den schneebedeckten Boden nieder und legten ihm Handschellen an.

»Ihr könnt Weihnachten nicht verbieten!«, schrie er.

»Oh Mann, nicht schon wieder«, stöhnte die Wachtmeisterin.

»Kennen Sie ihn?«, fragte ein anderer Polizist.

»Kennen? Seit das Weihnachtsverbot erlassen wurde, hat der Typ mehr Zeit hinter Gittern als in seinem eigenen Bett verbracht. Sie können Weihnachten einfach nicht aufgeben, was, Bob Trudel?«

Die Wörter hallten in Williams Kopf:

Bob . . .

Bob . . .

BOB . . .

Trudel . . .

Trudel . . .

TRUDEL . . .

»Papa!«, brach es aus William heraus, dann hielt er sich schnell die Hand vor den Mund. Sein Vater, der gerade ins Heck des Polizeiwagens geschoben wurde, hörte seinen zeitreisenden Sohn nicht – aber die Wachtmeisterin.

»Wer war das?«, bellte sie, drehte sich um und blickte in Williams Richtung. »Du da! Bist du auch ein Weihnachtsliedsänger?«

Einer der Polizisten rannte auf William zu. Er wusste, dass er hier wegmusste – und zwar schnell –, aber er konnte einfach nicht den Blick von seinem gealterten Vater abwenden. Er saß mit Handschellen im Polizeiauto, während die Polizisten die Tür zuschlugen. Und das alles nur, weil er ein Weihnachtslied gesungen hatte und einen Weihnachtspulli trug!

»Irgendetwas ist da furchtbar schiefgelaufen!«, flüsterte William.

Der Polizist kam schnell näher. »Bring mich zurück«, rief William der geheimnisvollen Gestalt zu, die auf einmal in der Dunkelheit neben ihm aufgetaucht war. »Bring mich sofort zurück!«

Die seltsame Gestalt hob augenblicklich die eisigen Hände und griff nach Williams Rollstuhl. Sofort begann es wieder an Ort und Stelle zu schneien und binnen Sekunden brach um sie herum ein heftiger Schneesturm aus. William spürte, wie die Temperatur sank, während der Schneesturm toste und tobte, wirbelte und wütete und die geheimnisvolle Eisgestalt ihn vorwärtsschob. Oder war es zurück – oder hoch oder runter?

William war sich nicht sicher. Ihm blieb nichts anderes übrig, als die Luft anzuhalten und dieser Schneezauberin, dieser frostigen Fee, dieser Winterhexe zu vertrauen.

Die Wolken über ihm brodelten und schäumten. Die Sonne ging auf und unter, und der Mond schoss wie eine Sternschnuppe über den Himmel. Wolken, Mond, Sterne, Sonne, Tage, Nächte, Monate, Jahre …

Mit unwahrscheinlicher, unglaublicher Geschwindigkeit drehte sich die Zeit um sie, bis sie ganz plötzlich stehen blieb und William Trudel sich wieder am Anfang befand. Genau wie ihr euch jetzt wieder am Anfang dieser Geschichte befindet …

KAPITEL 1

DER ANFANG DIESER GESCHICHTE

»Einen wunderschönen ersten Weihnachtsferientag, William!«

William Trudel öffnete die Augen und sah Pamela Pein, die mit einem Frühstückstablett in den zittrigen Händen vorsichtig sein Zimmer betrat.

»Oh … morgen!«, sagte er verschlafen und richtete sich auf seinem Dinosaurier-Kissen auf.

»Die Pfannkuchen hat dein Papa gemacht«, erklärte Pamela, während sie das Tablett vor ihm absetzte und dabei versuchte, nicht noch mehr Orangensaft zu verschütten. »Genau wie du sie magst, meint er.«

William sah auf den dampfenden, köstlichen Berg, von dem der warme Geruch von Zimt und Vanille aufstieg.

»Hmmm, Zimtnille!«, sagte er lächelnd.

»Wie bitte?«

»Zimt und Vanille … Zimtnille! So nennt Papa das immer«, erklärte William, griff zu Messer und Gabel und legte los.

»Ah, verstehe. Typisch Bob.« Pamela lächelte.

»Wo ist Papa überhaupt?«, fragte William. Doch die Frage beantwortete sich von selbst, als an der Tür nebenan ein munteres Klopfen erklang.

»Hallöchen, Brenda, aufgewacht! Die Weihnachtsferien fangen heute an! Zeit für Pfannkuchen und Orangensaft. Das ist eine Trudel-Weihnachtstradition!«, trällerte Bob Trudel auf dem Flur, und schon öffnete sich mit einem Klick Brendas Zimmertür.

»Keine Schule und Pfannkuchen! Juchhu!«, jubelte Brenda gedämpft von nebenan.

»Dein Vater ist der Meinung, jetzt, wo Brenda und ich hier wohnen, müssen wir die Trudel-Weihnachtstraditionen kennenlernen«, erklärte Pamela und ahmte dabei Bobs Stimme nahezu perfekt nach.

William grinste. »Tja, dann macht euch mal auf das weihnachtlichste Weihnachtsfest gefasst, was ihr JEMALS erlebt habt!«, sagte er, den Mund voller Pfannkuchen.

»Weißt du was? Ich glaube, das ist genau, was Brenda braucht.«

»Und du?«, fragte William.

»Ach, ich versuche einfach mein Bestes.« Pamela lächelte. »Aber ich ziehe garantiert keinen dieser schrecklichen Weihnachtspullover an!«

William runzelte die Stirn. »Oh, aber Papa hat dir schon einen besorgt, mit Musik und Lichtern und allem …«

Pamela hielt einen Moment inne und William sah leichte Panik in ihren Augen aufblitzen.

»War nur ein Scherz!«, sagte er grinsend.

Pamela atmete erleichtert auf und beide lachten.

»Wenn du mit dem Frühstück fertig bist, sollst du in die Küche kommen und deinen Adventskalender öffnen, hat dein Papa gesagt.«

Mit diesen Worten ging Pamela hinaus, damit William seine Pfannkuchen allein genießen konnte – doch er blieb nicht lange allein. Ein paar Sekunden später hörte er ein leises Knarren auf dem Flur, und aus den Augenwinkeln bemerkte er, dass sich seine Zimmertür einen winzigen Spalt öffnete.

»Ich weiß, dass du es bist, Brenda. Du bist wirklich grottenschlecht im Spionieren«, sagte William, ohne auch nur von seinem Teller aufzusehen.

»Das ist unfair! Ich kann super spionieren. Ich wohne hier einfach noch nicht lange genug, um zu wissen, welche Dielen knarren!«, schnaubte Brenda verärgert. Sie schlenderte mit ihrem Frühstückstablett ins Zimmer, ließ sich auf Williams Bett plumpsen und machte es sich bequem.

»Das ist der Hammer!«, sagte sie und stopfte sich das letzte große Stück Pfannkuchen mit Sirup in den Mund. »Wie viele Trudel-Weihnachtstraditionen gibt es?«

William lächelte. »Also, heute wird gebacken. Das machen Papa und ich immer am ersten Ferientag. Dann schmücken wir unsere Zimmer mit dem übrig gebliebenen Lametta, das Papa im Wohnzimmer nicht braucht. Und bevor wir ins Bett gehen, gucken wir einen Weihnachtsfilm. Vielleicht sogar zwei, wenn genügend Zeit ist!«

Brenda schüttelte den Kopf.

»Was?«, fragte William.

»Ich hätte einfach nie gedacht, dass es so großartig ist, Willipups als Bruder zu haben.«

»Es heißt Stiefbruder!«, erwiderte William.

Ja, ihr habt richtig gehört. William und Brenda haben sich Stiefbruder und Stiefschwester genannt! Und zwar, weil sie es sind.

Also, irgendwie schon.

Wenn ihr in eurem Gehirn nach Williams letztem Weihnachtsfest kramt, werdet ihr euch vielleicht daran erinnern, dass Bob Trudel und Pamela Pein – Williams Vater und Brendas Mutter – sich vom Zauber des Weihnachtsfestes hatten davontreiben lassen und über die verschneite Straße getanzt waren, während der Weihnachtsmann sich in die Lüfte erhoben hatte, kurz nachdem ein böser Jäger von einem fliegenden Dinosaurier verschlungen worden war. (Es ist eine lange Geschichte – buchstäblich!)

Tja, jedenfalls hielt dieser Weihnachtszauber an, und im Sommer beschlossen Bob und Pamela, dass die Peins bei den Trudels einziehen sollten. Es war allerdings etwas eng in dem windschiefen kleinen Haus, und manchmal fragte sich William, ob er sich wohl jemals daran gewöhnen würde. Schließlich hatte er bisher all die Jahre ganz allein mit seinem Vater in diesem Haus gelebt.

Brenda musterte die Dinosaurier-Tapete, die jeden Zentimeter von Williams Zimmerwand bedeckte. Über seinem Schreibtisch hing eine Kork-Pinnwand voller Zeichnungen und anderen Kunstwerken. Auf allen war das Gleiche zu sehen: ein blauer, fliegender Dinosaurier mit glänzenden Schuppen und einer frostigen Mähne aus Eiszapfen.

Das war das Magischste, was William letztes Jahr Weihnachten passiert war – genau genommen das Magischste, was ihm jemals passiert war! Er hatte einen besten Freund gefunden: den Weihnachtosaurus.

»Meinst du, wir sehen ihn dieses Jahr wieder?«, fragte Brenda.

»Das hoffe ich«, erwiderte William sehnsüchtig. »Ich vermisse diesen Dinosaurier!«

Plötzlich richtete Brenda sich auf und sah angestrengt aus dem Fenster.

»Was ist los?«, fragte William aufgeregt und versuchte zu erkennen, was Brenda da sah.

»Ist das etwa … er?«, hauchte sie und zeigte auf die Wolken.

Fieberhaft suchte William den Winterhimmel nach einem Dinosaurier ab. Kam der Weihnachtosaurus ihn dieses Jahr schon früher besuchen?

Brenda brach mit vollem Mund in schallendes Gelächter aus, und als William sich umdrehte, entdeckte er, dass das letzte Stück Pfannkuchen von seinem Teller verschwunden war.

»Oh, du bist SO WAS VON zurück auf der Liste der unartigen Kinder!«, sagte William und spürte einen Hauch Enttäuschung. Das Einzige, worauf er sich schon das ganze Jahr lang freute, war das Wiedersehen mit dem Weihnachtosaurus.

»Was denn? Genau dazu sind große Schwestern doch da!« Brenda zuckte mit den Schultern und hüpfte vom Bett.

»Wie oft muss ich es dir noch sagen? Du bist nicht meine große Schwester. Wir sind GLEICH ALT!«, erwiderte William, während er einen Pulli mit Dino-Muster überstreifte und vom Bett in den Rollstuhl rutschte, der direkt danebenstand.

»Ich bin einen Monat älter als du, streng genommen bin ich also deine große Schwester.« Brenda legte sich ihre flauschige rosa Stickjacke um, während sie das Zimmer verließen.

»Ganz streng genommen bist du überhaupt nicht meine Schwester!«, protestierte William. »Mein Vater und deine Mutter sind nicht verheiratet.«

»Noch nicht! Aber sie leben zusammen, es ist also nur eine Frage der Zeit. So machen das die Erwachsenen eben: küssen, zusammenziehen, heiraten, streiten.«

»Guten Morgen, Willipups!«

Sein Vater lächelte, als William und Brenda in die Küche kamen. Pamela nippte an einer Tasse Tee, und William spürte einen Stich im Herzen, als er sah, welche Tasse sie sich ausgesucht hatte – die blau glänzende Teetasse mit dem Griff, der wie eine Schneeflocke aussah.

»Ähm«, sagte er. »Das war … diese Teetasse hat mal …«

Pamela erstarrte.

»Oh, William, es tut mir so leid. Ich habe es schon wieder getan, nicht wahr?«, sagte sie und setzte die hübsche Tasse schnell wieder ab. »Ich habe völlig vergessen, dass die deiner … nun ja, dass sie etwas Besonderes ist.«

»Nein, ist schon okay«, sagte William. Er wusste, dass es ein bisschen übertrieben von ihm war, trotzdem war es ein komisches Gefühl, Pamela mit etwas zu sehen, das mal seiner Mutter gehört hatte. Er erinnerte sich noch daran, als sein Vater die Tasse für wohltätige Zwecke spenden wollte. »Es ist nur eine Tasse, Willipups«, hatte er sanft gesagt. Aber William war noch nicht bereit gewesen, die Tasse wegzugeben, auch wenn er seine Mutter nie tatsächlich daraus hatte trinken sehen. Als sie gestorben war, war er noch so klein gewesen, dass er sich kaum an sie erinnern konnte. Aber allein zu wissen, dass sie diese Tasse einst in ihren Händen gehalten hatte, erschien ihm Grund genug, sie zu behalten.

Er sah, dass sein Vater Pamela aufmunternd zulächelte, bevor er sich räusperte.

»Na schön. Es ist Zeit für die zweite Trudel-Weihnachtstradition des Tages – den Abwasch.« Bob warf William und Brenda Abtrockentücher mit Schneeflockenmuster zu und grinste, als er sah, dass Brenda ein langes Gesicht machte.

Als die Töpfe und Tassen sauber waren, schob Bob die beiden Adventskalender über den Tisch, und William und Brenda machten sich sofort daran, das Türchen mit der Nummer vierzehn zu suchen.

»Hab es!«, rief William und öffnete das Papptürchen.

»Ich auch!«, sagte Brenda eine Sekunde später und stopfte sich die Schokolade in den Mund.

»In zehn Tagen ist schon Weihnachten!«, sagte William aufgeregt.

Brenda starrte William an. »Oh nein! Heute ist der vierzehnte Dezember – das heißt, heute kommt Dad und holt mich ab.«

Sie sackte auf ihrem Stuhl zusammen und für eine Sekunde sah William wieder die alte, launische Brenda vor sich. »Mist! Das ist so unfair, dass ich dieses Jahr Weihnachten bei ihm verbringen muss«, schnaubte sie.

»Musst du denn wirklich?«, fragte William.

»Ich fürchte ja, William«, erwiderte Pamela. »Brendas Vater und ich haben uns darauf verständigt, dass sie Weihnachten abwechselnd bei ihm und bei mir verbringt. Und letztes Jahr war sie bei mir, also …«

»Bin ich dieses Jahr bei Dad!«, seufzte Brenda.

Betroffenes Schweigen breitete sich in der Küche aus.

»Nicht so schlimm!«, verkündete Bob fröhlich. »Wir machen einfach das Beste aus jeder Sekunde, die du heute bei uns bist! Wir vier feiern Weihnachten zusammen, nach Trudel-Tradition!« Er nahm eine wunderschöne Schneekugel vom Tisch, die einen handgeschnitzten Boden hatte und in der eine kleine, gemütlich wirkende Blockhütte stand. Er drehte die Kugel um und der Schnee wirbelte auf und verbreitete eine zauberhafte Stimmung. »Wir backen, singen Lieder, rösten Kastanien …«

»Und Toasties, Papa – vergiss die Toasties nicht!«, fügte William hinzu, während er und Brenda zusahen, wie der Schnee in der Schneekugel auf die winzige Blockhütte rieselte.

»Und Toasties! Gut, dass du daran gedacht hast, William. Ach was, wir werden heute genug Spaß für die ganze Weihnachtszeit haben, Brenda, da mach dir mal keine Sorgen. Und sollte das Weihnachtsfest mit deinem Vater wirklich so schlimm werden, wie du es dir vorstellst, dann ist es auch schon wieder im Handumdrehen vorbei, wie immer. Und dann können wir uns aufs nächste Jahr freuen, wenn wir alle zusammen sein werden. Alle vier.«

Ein lautes Bellen erklang unter dem Küchentisch.

»Alle fünf! Entschuldige, Knurre«, verbesserte sich Bob und langte unter den Tisch, um dem adoptierten Hund über seinen Wuschelkopf zu fahren.

»In null Komma nichts bist du wieder zu Hause, Brenda. Und wie ich schon sagte, wie ich schon tausend Mal gesagt habe: Mit jedem Schritt, mit dem man sich von der letzten Weihnacht entfernt …«

»… kommt man der nächsten Weihnacht näher!«, stimmten alle ein und prusteten los.

»So ist es schon besser. Mach ein fröhliches Gesicht, Brenda, es ist Weihnachten!«, sagte Bob und legte mit einer Sologesangsnummer von »The Twelve Days of Christmas« los.

»So schlimm kann dein Vater doch gar nicht sein, oder?«, sagte William leise zu Brenda, während Bob begann, die restlichen Teller zu spülen.

»Na ja, es ist so: Dein Vater macht Späße, liebt Weihnachten, sagt immer die Wahrheit, fragt, wie es dir geht, weiß, was du am liebsten magst, sagt dir, dass er dich liebt …«

Sie sahen beide zu Bob, der beim Spülen noch immer sang und jetzt ein Spielzeug-Geweih aufsetzte.

»Stimmt genau!«, sagte William.

»Und erinnerst du dich noch, als wir in der Schule Gegenteil-Tag hatten und uns vorstellen mussten, dass alles andersherum ist? Oben war unten, links war rechts, drinnen war draußen … gut war schlecht?«

»Klar.«

»Tja, mein Vater ist wie dein Vater am Gegenteil-Tag!«, erklärte Brenda, öffnete Türchen Nummer fünfzehn vom Adventskalender und warf sich das Stückchen Schokolade in den Mund.

»Äh«, machte William, dachte sich aber gleich, dass jetzt vermutlich nicht der passende Zeitpunkt war, den Besserwisser zu spielen.

»Außerdem habe ich ihn seit fast einem Jahr nicht mehr gesehen. Und das ist noch nicht alles.« Brenda holte tief Luft. »Bevor mein Vater mich abholen kommt, solltest du etwas über ihn wissen …«

Aber gerade, als Brenda William das sagen wollte …

verschwand ihre Stimme plötzlich.

Ganz genau! Ihre Stimme

verstummte!

war weg

einfach

verduftet

Es war, als hätte jemand aus Versehen auf die Stummschalt-Taste gedrückt und Brendas Stimme ausgeschaltet, nur ihre Lippen bewegten sich noch.

»Was? Ich kann dich nicht hören!«, sagte William. Oder zumindest versuchte er das – aber auch seine Stimme war verschwunden!

William und Brenda sahen sich um und bemerkten, dass es in der gesamten Küche absolut still war, als hätte jemand alle Geräusche aus dem Raum gesaugt. Aus dem Wasserhahn im Spülbecken kam kein Rauschen, aus Bobs Mund kein Weihnachtslied, kein einziges Bimmeln von den Glöckchen an seinem Pullover!

Es war stiller als still. Als hätte jemand die Lautstärke in Williams Ohren runtergedreht und am Nullpunkt einfach weiter nach unten gedreht ins Minus-Leise.

In dem Moment bemerkte William noch etwas, das irgendwie verdächtig, irgendwie seltsam, irgendwie … magisch war. Vor dem Küchenfester war ein Taubenschwarm am Himmel zu sehen, doch die Tauben standen völlig reglos mitten in der Luft, als hätte sie jemand mit einem Stillstand-Strahl in der Luft festgeklebt.

Auch die Schneeflocken hingen reglos in der Luft, wie an unsichtbaren Fäden.

Knurre war mitten im Fenster-Anbellen erstarrt. Genau genommen bewegten sich nur noch William, Brenda, Bob und Pamela!

Bob drehte sich um und ließ den Teller, den er gerade abtrocknen wollte, in der Luft schweben. Pamela schrie bei diesem ungewöhnlichen Anblick auf, doch es kam kein Geräusch aus ihrem Mund.

Das ist seltsam!, dachte William, trat ans Fenster und spähte in den vollkommen geräuschlosen Morgen. Er sah Yusuf von nebenan, der über dem Trampolin schwebte, und ein Flugzeug, das sich auf dem Himmel nicht vom Fleck rührte. Selbst die Küchenuhr tick-tackte nicht mehr, als wäre – durch irgendeinen Zauber – die Zeit selbst stehen geblieben.

Ein Lächeln breitete sich auf Williams Gesicht aus – er konnte einfach nicht anders.

Was ist los?, formte Brenda mit den Lippen und wunderte sich, dass William auf einmal so strahlte.

William strahlte, weil er diesen Zauber schon einmal erlebt hatte. Er wusste, dass es auf der ganzen Welt nur eine Person gab, die so etwas zustande brachte. Jemand, der gleich im nächsten Kapitel landen wird …

Der Weihnachtsmann!