Cover

Buch

Juliette Price weiß genau, was sie will und wen sie will. Um ihrem Freund Nate nahe zu sein, wird sie Flugbegleiterin bei der Airline, für die er als Pilot arbeitet. Sie sind füreinander bestimmt, da ist Juliette absolut sicher. Dass Nate vor ein paar Monaten mit ihr Schluss gemacht hat, bedeutet nichts. Denn Juliette hat einen Plan, wie sie ihn zurückgewinnen wird. Sie ist die perfekte Freundin, und sie wird ihm zeigen, wie sehr er sie in seinem tiefsten Inneren noch liebt – und wenn er sie dafür erst einmal fürchten lernen muss …

Autorin

Karen Hamilton verbrachte ihre Kindheit in Angola, Zimbabwe, Belgien und Italien und hat viele Jahre als Flugbegleiterin gearbeitet. Sie ist Absolventin der Faber Academy und lebt inzwischen mit ihrem Mann, einem Piloten, in Hampshire. Ihr Fernweh kompensiert sie, indem sie die Welt durch ihr Schreiben erforscht. Perfect Girlfriend – Du weißt, du liebst mich ist ihr erster Roman.

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Karen Hamilton

Perfect
Girlfriend

Du kannst ihr nicht entkommen

Roman

Deutsch von Christoph Göhler

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Die Originalausgabe erschien 2018 unter dem Titel »The Perfect Girlfriend« bei WILDFIRE, an imprint of HEADLINE PUBLISHING GROUP, London.


Dieses Ebook erschien 2018 bereits unter dem Titel »Perfect Girlfriend. Du weißt, du liebst mich« bei Blanvalet.


Copyright der Originalausgabe © 2018 by Karen Hamilton

Copyright der deutschsprachigen Ausgabe
© 2018 by Blanvalet in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: René Stein

Covergestaltung: www.buerosued.de

Covermotiv: Yolande Sutton Photography/Moment/Getty Images

JaB · Herstellung: sam

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-21167-7
V001


www.blanvalet.de

Für A, A, O & E

Prolog

Juli 2000

Ich blicke nach unten und sehe zwei Paar Füße baumeln. Meine Schuhe, weißgelbe Sandalen, sind mit Margeriten besetzt. Seine sind schlammbraun mit Klettverschluss und haben einen dunkelblauen Traktor auf beiden Seiten. Die Socken passen nicht zueinander; nie finde ich zwei gleiche. Die eine ist dunkelrot, die andere schwarz. Und sie sind zu eng – schon jetzt hat das Rippenmuster auf seinen Waden, knapp über dem Bund, einen Ring aus winzigen Vertiefungen gebildet. Er tritt gegen die Mauerkante. Rums, rums. Rums, rums. Der Lärm prallt von den vier Seitenwänden ab. Weiter unten flitzen Wasserläufer über das stehende, trübe Wasser, unter dem sich, wie ich weiß, ein gefliester Delfin in Silber- und Blautönen verbirgt, der genau identisch ist mit dem Delfin, der auf dem freiliegenden Bodenstück am flachen Ende zu sehen ist. Knapp über der Wasseroberfläche kleben Strähnen aus dünnem Schleim an dem steil abfallenden Beckenboden.

Die Sonne brennt; schon breitet sich die Röte auf seinen Wangen aus, und Flecken bilden sich auf seiner Nasenspitze. Er sollte einen Hut tragen. Jeder weiß, dass kleine Kinder nicht ohne Hut oder starken UV-Schutz in die Sonne gehen sollten, aber ich konnte weder das eine noch das andere finden, als heute Morgen der Befehl kam, augenblicklich »an die frische Luft!« zu gehen. Immerhin haben wir genug für ein Picknick dabei, das ich schon am frühen Vormittag vorbereitet hatte. Das von mir schief und krumm geschnittene Weißbrot schmeckte ein bisschen schal, darum habe ich es besonders dick mit Frischkäse bestrichen. Außerdem haben wir Chips dabei, und so löse ich, nachdem ich die Tragetasche glattgestrichen und als improvisierte Picknickdecke auf den Betonfliesen am Beckenrand ausgebreitet habe, die Brotdreiecke voneinander ab und lege ein paar Chips dazwischen, bevor ich sie wieder akkurat zusammenklappe.

Ein Fehler.

Er bricht in Tränen aus. »Ich mag keine Chips in meinem Sandwich!«

»Das hättest du früher sagen sollen.«

Seine Schreie vibrieren in meinen Ohren. Mir dreht sich der Magen um. Ich fasse ihn unter den Armen und ziehe ihn vom Rand weg. Hastig zupfe ich die Chips wieder heraus und lasse sie zurück in die Tüte fallen. Aber auch das ist ein Fehler – weil kaum sichtbare Überreste von hellem Käse daran kleben bleiben. Ich setze mich ihm im Schneidersitz gegenüber.

»Dann iss eben ein paar Trauben!«

Er hält inne und starrt mich durch halb gebildete Tränen an, die sich in seinen geröteten Augen sammeln.

Unsere Mutter sieht es nicht gern, wenn er Trauben isst, die nicht halbiert oder geviertelt wurden, weil er sich daran verschlucken könnte, aber ich habe nicht daran gedacht, ein Messer einzustecken. Ich könnte sie mit den Zähnen teilen, aber ich möchte nichts Süßes vor meinem Sandwich schmecken. Außerdem weiß unsere Mutter nicht mal die Hälfte von dem, was er so treibt, und ganz im Ernst, ein paar Trauben am Stück in den Mund zu nehmen steht weit, weit unten auf der Liste der Gefahren, vor denen ich ihn schon bewahrt habe.

»Iss ein paar hiervon«, wiederhole ich gelassener, als ich mich fühle. »Es sind rote. Deine Lieblingstrauben.« Ich zupfe mit Zeigefinger und Daumen ein paar Früchte ab und reiche sie ihm.

Er packt sie mit beiden Händen, steckt sie nacheinander in den Mund und beißt mit aller Kraft zu. Saft rinnt über sein Kinn.

Erleichterung. Je älter er wird, desto schwieriger ist er zufriedenzustellen. Er lässt kaum noch mit sich reden und verlangt alles, was er sich gerade in den Kopf gesetzt hat.

Ich beiße in mein Sandwich und matsche dabei die Chips in den Teig. Eine Brise streicht ganz sanft – fast als wüsste sie, dass sie an einem so strahlenden Tag unerwünscht ist – über meine Arme und Beine und löst sich dann auf. Stille.

»Mehr!«

»Bitte.«

Er zieht die Stirn in Falten.

Während ich weitere Trauben abzupfe, rätsele ich, was das Mädchen von nebenan wohl gerade tut. Sie ist elf, fast ein Jahr älter als ich. Eis essen? Ihre Füße in den weichen Sand wühlen? Sie hat mich eingeladen, mit ihrer Familie an den Strand zu fahren, doch ich muss heute auf einen Vierjährigen aufpassen, darum lautete die Antwort Nein.

Ich atme kräftigen Lavendelduft ein. In der Nähe summen Bienen. Nicht allzu weit von uns entfernt erwacht brummend ein Rasenmäher zum Leben. Ich drehe mich um, falls es der Chefgärtner ist, der mich immer anlächelt und mir sagt, dass mein Gesicht so hübsch sei. Ich krümme eine Hand über den Brauen zusammen, forme einen Schirm und kneife die Augen zusammen. Mit Mühe kann ich den Umriss eines Mannes im Overall ausmachen, aber sein Gesicht liegt unter einem Fischerhut aus Jeansstoff verborgen.

»Ich hab Durst!«

»Wir haben kein Wasser, du wirst etwas hiervon trinken müssen.«

Ich mache eine Limonadendose auf. Eigentlich darf er keine Sprudelgetränke und nichts allzu Süßes trinken. Es gibt so viele Regeln für ihn, dass ich manchmal nicht weiß, ob ich lachen oder weinen soll – ob ich mich freuen soll, dass sie sich um ihn sorgt, oder ob ich einfach nur sauer sein soll. So fühle ich mich oft … Manchmal weiß ich einfach nicht, was ich in bestimmten Situationen empfinden soll.

Er verzieht das Gesicht, weil die Limo in seinem Mund blubbert. Aber offenbar ist er wirklich durstig, denn er macht keinen Ärger. Er sieht richtig süß aus mit seinem zerknautschten Gesicht, und ein paar Sekunden wird mir fast warm ums Herz. Aber dann lässt er die Dose fallen. Klappernd kippt sie um, die Limo läuft aus, während die Dose über die Kante rollt. Sie schlägt so leise auf dem Wasser auf, dass ich das Klatschen kaum höre. Wir beugen uns beide vor und spähen nach unten.

»Jetzt haben die Frösche und Fische auch was zu trinken«, erkläre ich fröhlich, wobei ich die Arme ausstrecke und ihn an mich ziehen will.

Seine Arme sind stark, sein Druck energisch. »Nein! Ich will meine Dose wiederhaben!«

Ich kann den Gedanken nicht ertragen. Ich kann den Gedanken an sein Geschrei nicht ertragen; es durchbohrt mich, bis ich mir nur noch die Ohren zuhalten und selbst schreien möchte.

»Dann geh los und such einen langen Stock!«, herrsche ich ihn eilig an.

Er steht auf und rennt eifrig an dem Lavendel vorbei zu den Stämmen der großen Eichen.

Als Letztes rufe ich ihm hinterher: »Du brauchst aber einen richtig langen!«

Ich lasse die Beine wieder über die Kante baumeln, lege mich auf den Rücken und schließe für ein paar Sekunden in gesegneter Stille die Augen. Durch den Baumwollrock hindurch spüre ich unter meinen Schenkeln die warmen Betonfliesen, während die obere Hälfte meines Körpers im Gras liegt. Es kitzelt mich am Hals. Ich höre, wie der Rasenmäher immer weiter wegwandert. Trägheit packt mich, und ich atme tief die Sommerluft ein, bevor ich mir vorstelle, dass ich keinen Beton und kein Gras unter mir spüre – sondern Sand.

Die Wirklichkeit schleicht sich in meine Gedanken und wieder heraus. Ich meine ein Platschen zu hören wie von einer Möwe, die einen arglosen Fisch erwischt hat.

Dann nichts mehr.

Ich setze mich abrupt auf, verschlafen, desorientiert. Ich schaue mich um, schaue nach unten.

Ich renne los, ich klettere, ich strecke mich, ich packe, ich ziehe.

Aber vergeblich, denn Will ist nicht da. Er ist nicht da, weil er totenstill ist. Irgendwo tief in mir trennt sich etwas ab, bevor es sich ganz auflöst.

Seit diesem Tag versteht sich mein Geist exzellent darauf, mich an einen sicheren Ort zu versetzen, wenn es nötig wird.

1

Heute

Ich lege fuchsienroten Lippenstift auf und vervollständige damit meine Transformation. Alle exzellenten Ideen erscheinen unglaublich naheliegend – nachdem sie einem erst eingefallen sind. Das Gesicht in dem wasserbesprenkelten Spiegel ist das einer Frau mit starkem Make-up und dunkelbraunem Haar, aber mit meinen Augen. Das Halstuch aus Polyester kratzt, und obwohl es ein ungewohntes Gefühl ist, eine Uniform zu tragen, erlaubt es mir der gestärkte Hosenanzug mit den Achtzigerjahre-Schulterpolstern, mich in eine anonyme Flugbegleiterin zu verwandeln. Meine Miene ist neutral und professionell, ruhig und beherrscht. Ein neues Jahr, ein neues Ich.

Amy rümpft neben mir im Spiegel die Nase. »Der Gestank hier drin erinnert mich an die Schule.«

Ich rümpfe ebenfalls die Nase. »Das billige Klopapier und das elende Wassertröpfeln machen es nicht besser.«

Wir halten lauschend ein, zwei Sekunden inne.

Sie sieht kurz auf die Uhr. »Wir sollten los, schließlich wollen wir keinen schlechten Eindruck machen.«

Ich folge ihr nach draußen. Ihr rotbraunes Haar hat sie zu einem so festen Dutt verwebt, dass er schon künstlich aussieht. Ihr blumiges Parfüm wirkt unaufdringlich. Meins ist zu kräftig, der schwere Duft kitzelt schon den ganzen Morgen in meiner Nase. Als wir zu den anderen achtzehn Trainees stoßen, die alle zurück in den Unterrichtsraum wollen, erhebt Brian, einer unserer Trainer, mahnend die offene Hand.

»Ähem.«

Es wird still. Ich frage mich, ob ich hier die Einzige bin, die ständig laut schreien möchte, denn mal ernsthaft: Wie schwer kann dieser Job schon sein? So wie ich es sehe, muss ich nur pünktlich zur Arbeit erscheinen, abheben, ein Tablett mit Essen austeilen, es wieder einsammeln, vielleicht hier und da noch ein Getränk, und damit ist meine Arbeit erledigt. Ich nehme doch an, dass die Passagiere in der Lage sind, sich nach der Fütterung selbst mit dem eingebauten Unterhaltungs-System zu unterhalten. Nach der Landung werde ich, so stelle ich es mir vor, reichlich Zeit haben, an einem Hotelpool zu chillen oder die Märkte der Umgebung zu erforschen.

Ich merke, dass Brian immer noch spricht, also zwinge ich mich, ihm zuzuhören.

»… brauchen sich gar nicht erst zu setzen, denn wir gehen gleich in den Simulationsbereich und werden uns dort das Trainings-Equipment ansehen.«

Wir trippeln wieder nach draußen und versammeln uns im Korridor, bevor wir von Brians Komplizin Dawn weitergescheucht werden. Wir folgen ihr nach unten und durch den zentralen Empfangsbereich. Dawn hackt einen Code in ein Tastenfeld, dann betreten wir einen kleinen Raum. An den Wänden sind Haken, an denen Unmengen von schmutzig aussehenden Overalls hängen.

»Bitte hören Sie gut zu. Ziehen Sie jetzt bitte alle einen Overall über Ihre Uniform. Stellen Sie Ihre Schuhe auf den Regalen darunter ab, und streifen Sie die weißen Fußschützer über.«

Ich erstarre. Alle außer mir nehmen schon die Overalls von den Haken und schauen die jeweilige Größe nach. Gott, das schaffe ich einfach nicht. Sie sind eklig. Sie sehen aus, als wären sie zum letzten Mal … nein, noch nie gewaschen worden.

»Juliette? Gibt es ein Problem?« Brians Miene zeigt übertriebene Fürsorge.

»Nein. Kein Problem.« Ich lächle.

Er wendet mir den Rücken zu. »Also, meine Damen, diejenigen unter Ihnen, die einen Rock tragen, sollten sich vergewissern, dass ihre Beine komplett bedeckt sind. Einige Teile in unserem Equipment haben Klettverschlüsse, die jede Strumpfhose ruinieren.«

Scheiße. Ich werde nicht darum herumkommen. Ich greife mir einen Overall, steige ein, schiebe die Arme in die Ärmel, dann schließe ich die Knöpfe. Keine Ahnung, warum ich mir die Mühe gemacht habe, mein Kostüm reinigen zu lassen. In dem sackartigen Overall mit den Elastikbünden um meine Knöchel sehe ich aus wie eine Lachnummer. Mir fehlt nur noch eine Atemschutzmaske, dann könnte man meinen, ich wollte an einem Tatort Spuren sichern. Selbst Amy sieht nicht ganz so makellos aus wie sonst.

»Das wird lustig«, flüstere ich ihr leise zu.

Sie strahlt. »Ich bin schon so gespannt auf die Praxisübungen. Davon habe ich schon als kleines Mädchen geträumt.«

»Im Ernst?«

Wieso sollte irgendein Kind davon träumen, Kellnerin zu werden, wenn auch eine fliegende? Als ich noch jung war, hatte ich Pläne. Große Pläne. Richtige Pläne.

»Wir warten nur noch auf Sie, Juliette.« Brian hält eine Tür auf.

Er geht mir jetzt schon auf die Nerven, und ich muss ihn noch weitere fünf Wochen ertragen. Ich folge ihm in eine riesige Lagerhalle, wo Fragmente von verschiedenen Flugzeugtypen aufgebaut sind; zum Teil ebenerdig, zum Teil auf erhöhten, über Treppen erreichbaren Plattformen. Wir holen die anderen auf ihrem Weg durch das Gebäude ein, als plötzlich die vordere Tür eines Flugzeugs aufplatzt und mehrere Menschen in Overalls herauspurzeln, eine Rutsche hinunter. Ein uniformierter Crew-Mitarbeiter bedient die Tür und bellt über dem schrillenden Alarm Anweisungen: »Springen! Springen!«

Wir eilen vorbei, bis Dawn und Brian neben einer aufgeblasenen, silbriggrauen Masse anhalten, die etwas von einer Kinderhüpfburg hat. Es ist eine als Floß verwendbare Notrutsche. »Also, bevor wir das Slide-Raft besteigen, werde ich Ihnen das Überlebens-Equipment erklären. Eine Notlandung auf Wasser wird als ›Wasserung‹ bezeichnet …«

Ich blende mich aus, und Brians Stimme verschwimmt im Hintergrund. Ich kenne die Statistiken. Sie können behaupten, was sie wollen, aber die Chancen, einen Flugzeugabsturz auf dem Wasser zu überleben, stehen nicht gut.

Um Punkt fünf Uhr werden wir durch den gesicherten Eingangsbereich wieder in die echte Welt entlassen, auf den Flughafenzubringer. Das Röhren der tieffliegenden Flugzeuge und der hektische Verkehr wirken im ersten Moment desorientierend. Ich atme kalte, klare Luft ein. Beim Ausatmen steht eine Dampfwolke vor meinem Mund. Die Gruppe teilt sich in jene auf, die zum Parkplatz gehen, und den Rest, der nach Hatton Cross aufbricht. Ich höre dem angeregten Geplapper nur mit halbem Ohr zu. Dann teilt sich die Gruppe erneut; wer zum Bus muss, biegt vorher ab, während wir übrigen, Amy eingeschlossen, im U-Bahnhof verschwinden. Ich gehe neben ihr her, während wir den Bahnsteig ansteuern.

»Heute nicht den Zug nach Westen?«, fragt sie. »Ich dachte, der Zug nach Reading fährt von Heathrow ab?«

Ich zögere. »Ich besuche noch eine Freundin. In Richmond.«

»Du hast eindeutig mehr Energie als ich. Ich bin hundemüde, ich glaube nicht, dass ich auch nur den Gedanken ertragen könnte, heute Abend auszugehen. Und ich will meine Unterlagen durchgehen.«

»Es ist Freitag«, bemerke ich, nicht ohne einen gewissen Unterton in der Stimme.

»Mag sein, aber ich will alles wiederholen, solange es noch frisch ist«, sagt Amy.

»Sehr gut. Dann weiß ich schon, neben wem ich in der Prüfung sitzen muss.« Ich lächle.

Amy lacht.

Ich tue so, als würde ich mitlachen, dann starre ich aus dem Fenster; das Licht im Zug spiegelt uns in die Dunkelheit draußen.

Amy steigt in Boston Manor aus. Ich winke ihr nach und schaue zu, wie sie zu der Treppe am Ausgang schreitet, aufrecht und stolz in ihrer Uniform.

In Hammersmith steige ich um und bin danach die einzige Uniformierte unter den Fahrgästen. Ich steige in Richmond aus, überquere die Straße und ziehe den Mantel fester um mich. Die Tasche schneidet mir in die rechte Schulter, während ich die vertraute Seitenstraße ansteuere, wo das Klicken meiner Absätze bei jedem zielstrebigen Schritt von den Wänden widerhallt. Ich umgehe eine zerbrochene Flasche und steuere den Rand des Greens an. Vor einem zurückgesetzt stehenden, alten Mehrfamilienhaus halte ich inne, lehne mich an den Zaun und ziehe meine hochhackigen Schuhe aus, um sie gegen Ballerinas zu wechseln. Ich schlage die Mantelkapuze hoch und lasse sie in meine Stirn fallen, bevor ich durch den Vorgarten zur Haustür gehe. Mein Schlüssel gleitet ins Schloss. Ich trete ein, lausche.

Stille.

Ich steige die Treppe in den dritten und obersten Stock hoch und schließe die Tür zu Wohnung 3B auf. Sobald ich eingetreten bin, bleibe ich stehen und atme den angenehmen Duft von Heimat ein.

Mir genügt das Leuchten des Aquariums, ich brauche kein Licht zu machen. Ich lasse mich auf das Sofa sinken und hole die Anziehsachen aus meiner Tasche. Dann ziehe ich mich aus, falte sorgfältig die Uniform zusammen und wechsele in schwarze Jeans und einen Pullover. Mit meinem Handy als Taschenlampe tappe ich barfuß in die Küche und ziehe den Kühlschrank auf. Wie immer ist er praktisch leer bis auf etwas Bier, ein paar Chilis und ein Käsemakkaroni-Fertiggericht für eine Person. Ich lächle.

Auf dem Rückweg zum Wohnzimmer riskiere ich es, eine Stehlampe einzuschalten, und hole aus meiner Tasche ein Foto, das ich auf den Kaminsims stelle. In einer idealen Welt wäre es gerahmt, aber ich habe es gern bei mir, damit ich es immer anschauen kann, wenn mir danach ist. Auf dem Bild stehe ich glücklich lächelnd neben Nate, meinem zukünftigen Ehemann. Ich falte meine Uniform über meinen linken Arm und gehe weiter ins Schlafzimmer. Als Nächstes lege ich Hose, Bluse und Jacke aufs Bett und beuge mich vor, um mein Gesicht in seinem Kissen zu vergraben. Ich atme tief ein, ehe ich den Kopf wieder hebe und den Strahl der Handytaschenlampe durch das Zimmer wandern lasse. Nichts hat sich verändert, seit ich zuletzt hier war. Gut.

Als ich die verspiegelte Schiebetür vor dem Kleiderschrank zurückrolle, blitzt mir der Strahl meines Taschenlampenlichts ins Gesicht. Ich blinzele, bis sich meine Augen wieder an die Dunkelheit angepasst haben. Nates Ersatz-Pilotenuniform, seine Sakkos, Hemden und Hosen hängen alle ordentlich nebeneinander, allerdings nicht so ordentlich, wie ich sie aufhängen kann. Ich richte sie exakt aus, sodass immer etwa drei Zentimeter Abstand bleiben. Nur eine Lücke lasse ich, dort kommt meine Uniform hin, gleich neben seine. So wie es sein sollte. Ich trete zurück und bewundere mein Werk. Das Licht fängt sich in dem Goldemblem auf seiner Mütze. Ich schiebe die Tür wieder zu.

Mein letzter Stopp ist jedes Mal das Bad. Ich werfe einen Blick in den Medizinschrank. Er muss kürzlich eine Erkältung gehabt haben, denn der Menthol-Inhalator und der Hustensaft sind neu.

Schließlich kehre ich ins Wohnzimmer zurück und nehme mir einen Apfel aus der Obstschale. Ich presse die Stirn gegen das Wohnzimmerfenster und knabbere winzige Bissen ab, während ich nach unten schaue. Es ist niemand zu sehen. Die Rushhour ist vorbei, vermutlich sind die meisten Menschen inzwischen zu Hause und machen es sich gemütlich. Im Gegensatz zu mir. Ich halte mich in den Randbezirken meines Lebens auf.

Und warte. Das ist meine Hauptbeschäftigung, warten. Und nachdenken …

Ich weiß so vieles über Nate: dass er gern Ski fährt und immer frisch riecht; der Duft der Zitrusseife haftet seiner Haut an. Ich weiß, dass er gern noch vor Mitte dreißig zum Kapitän befördert werden würde.

Auch seinen familiären Hintergrund kenne ich auswendig: Ich weiß von den Kindheitsurlauben in Marbella, Nizza, Verbier und Whistler; den Tennis-, Reit- und Cricketstunden; der Missbilligung seines Vaters, als Nate nicht in dessen Fußstapfen treten und Investmentbanker werden wollte, sondern stattdessen seinen Traum von einer Karriere als Pilot wahr machte.

Seine jüngere Schwester vergöttert ihn, aber mich kann sie nicht leiden.

Von seinen Fotos auf Facebook und anderen Seiten weiß ich, dass er mal zum Friseur müsste; die blonden Locken reichen ihm inzwischen fast bis auf den Kragen.

Aber vor allem weiß ich, dass er im Innersten immer noch Gefühle für mich hegt. Nate wurde nur von vorübergehender Bindungsangst befallen. Auch wenn ich damals am Boden zerstört war, begreife ich manche Zusammenhänge inzwischen besser. Darum wird sich alles wie von selbst zusammenfügen, wenn erst der Zeitpunkt gekommen ist, ihm zu eröffnen, dass ich inzwischen für dieselbe Fluglinie arbeite wie er – wenn er erst zu schätzen weiß, was ich alles auf mich genommen habe, um uns zu retten.

Bis dahin muss ich Geduld bewahren, was allerdings äußerst schwierig ist. Immer wenn ich ein neues Bild von ihm auf Facebook sehe, bringe ich danach tagelang kaum einen Bissen hinunter.

Mein Handyalarm ermahnt mich, dass es Zeit ist zu gehen. Ich musste mich erst darauf trainieren, ihn zu stellen, denn wenn ich eines erkannt habe: Einmal, ein einziges Mal kommt man praktisch mit allem durch. Auch zweimal. Und ehe man sichs versieht, geht man immer größere Risiken ein. Die Zeit verfliegt wie im Rausch und wird in immer kleinere Schnitze zerteilt. Ich prüfe kurz, ob Nates Flug aus Chicago schon gelandet ist. Das ist er – sogar fünf Minuten zu früh. Ich eile zu meiner Tasche und nestele daran herum, wickele meinen Apfelbutzen in ein Papiertaschentuch und ziehe ein Päckchen mit Mini-Schokomuffins heraus. Nates Lieblingsmuffins. Eine Angewohnheit, die ich einfach nicht ablegen kann – Lebensmittel, die er gern isst, auf meine Einkaufsliste zu setzen. Ich öffne die Tür des Gefrierschranks, und sofort streicht weißes Licht über die Wand. Ich schiebe das Päckchen ganz nach hinten, hinter das Fleisch, das er mit Sicherheit nie auftauen wird, und die Erbsen, die ihn noch weniger interessieren. Lieber würde ich die Muffins irgendwo liegen lassen, wo sie eher auffallen, etwa neben dem Kaffeeautomaten, aber das geht nicht, also muss ich mich hiermit begnügen. Wenn er sie findet, wird er hoffentlich kurz an mich denken. Auf meiner Einkaufsliste standen immer reihenweise Sachen, die er mag. Ich habe nie etwas vergessen.

Ich gehe zurück ins Schlafzimmer und zerre meine Uniform von den Bügeln, die prompt ins Schwingen kommen und klappernd gegen die Rückwand des Schranks schlagen. Wieder im Wohnzimmer, nehme ich das Foto vom Kaminsims und schiebe es widerwillig in meine Tasche. Ich streife meine Ballerinas über und schalte die Stehlampe aus. Die bunten Fische starren mich an, während sie ihre Bahnen ziehen. Einer glotzt besonders neugierig, mit weit aufgerissenem Maul, ein besonders hässlicher. Nate hat ihn Rainbow getauft. Ich habe ihn schon immer gehasst.

Ich schlucke schwer. Ich will noch nicht gehen. Diese Räume sind wie Treibsand, sie verschlingen mich.

Ich nehme meine Tasche und verschwinde, ziehe die Tür leise hinter mir zu, bevor ich zum Bahnhof eile, um den Zug zu meiner Schuhschachtel, der Puppenstube von Wohnung in Reading, zu erwischen. Die Bezeichnung Wohnung hat sie eigentlich nicht verdient, denn jeder Aufenthalt dort fühlt sich an wie in der Abflug-Lounge des Lebens. Wo ich warte und warte, bis das Gate zu meinem wahren Leben wieder öffnet.

2

Ich liege im Bett und rekele mich. Gott sei Dank ist Wochenende. Obwohl die Airline natürlich Tag und Nacht fliegt, folgt unser Training einer gewöhnlichen Arbeitswoche. Heute Abend will ich nach Bournemouth fahren, wo in einem Luxushotel eine Spendengala für eine Kinderorganisation veranstaltet wird. Bei der Gala handelt es sich um eine Auktion, mit Meeresfrüchtebüffet und freier Platzwahl, und ich freue mich schon, selbst wenn ich keine formelle Einladung vorweisen kann. Das ist nicht weiter tragisch, wie ich bei ähnlichen Veranstaltungen gemerkt habe: Solange ich entsprechend aussehe und gekleidet bin und keine ungebührliche Aufmerksamkeit auf mich ziehe (natürlich), stellt man meine Anwesenheit kaum je infrage, und bei Spendengalas spricht doch einiges dafür, dass sie umso gelungener sind, je mehr Gäste anwesend sind.

Ich stehe auf, dusche, ziehe mich um und drücke den Knopf am Kaffeeautomaten. Ich liebe das Geräusch und den Geruch von gemahlenen Bohnen. Wenn ich die Augen schließe, und sei es nur für ein, zwei Sekunden am Tag, kann ich mir vorgaukeln, ich wäre zu Hause. Es sind die kleinen Dinge, die mich vor dem Zusammenbruch bewahren. Bitterkeit umspült meine Zunge, während ich an meinem Espresso nippe. Zwischen zwei Schlucken werfe ich einen Blick auf mein Tablet. Ich scrolle nach unten. Bella, die Veranstalterin des heutigen Abends, postet in einem fort unzählige Bilder von vergangenen Events. Auf den meisten ist sie selbst zu sehen, mit breitem Grinsen, jedes einzeln getönte Haar sitzt akkurat an seinem Platz, und ihr Schmuck, gewöhnlich Gold oder Saphire, sieht teuer, aber niemals protzig aus. Makellos wie immer. Bella versteht es exzellent, Geld für gute Zwecke aufzutreiben, und sie schafft es, dabei wie eine Samariterin zu erscheinen, ohne dass sie sich die Hände schmutzig machen müsste. Eine Party organisieren und mit einem Glas Champagner durchs Gedränge schweben kann jede; doch wer wirklich und wahrhaftig etwas Gutes tun wollte, sollte eher billigen Wein trinken und sich für etwas Unpopuläres hergeben. Doch Bellas hervorstechendes Talent ist es nun mal, sich selbst im Leben fantastisch zur Geltung zu bringen.

Mein Handy vibriert. Eine Nachricht.

Meine Mitbewohnerin hat beschlossen, heute Abend eine Party zu schmeißen. Wenn man schon nicht abhauen kann … :) Bock? Ich habe noch ein paar Leute aus dem Kurs eingeladen. Amy X

Ich bin hin- und hergerissen. Je mehr Freunde ich bei der Airline finde, desto besser wird es für mich laufen. Und ich brauche unbedingt Freunde. Weil ich für Nate Goldsmith vorübergehend mit meinem eigenen Leben ausgesetzt habe, ist mir kaum jemand von früher geblieben – bis auf die Leute, mit denen ich über soziale Medien in Kontakt bleibe, und dazu eine Handvoll Aussteiger aus meinen Tagen als Statistin beim Film. In Bellas Nähe zu sein hingegen ist wie … wie am Schorf rumpulen. Doch je näher ich ihrer Welt bin, desto wahrscheinlicher ist es, dass etwas von ihrem Glück und ihrer Fortüne auf mich abfärbt. Unentschlossen starre ich auf mein Handy und lausche dabei dem Regen, der draußen vor dem Fenster in die Kanalisation tröpfelt.

Vierzehn Tage, nachdem Nate die Bombe hatte platzen lassen, stand er vor mir, während ich meine Sachen packte.

»Ich habe eine super Wohnung in Reading gefunden und für die nächsten sechs Monate die Miete im Voraus bezahlt. Als Geschenk. Ich fahre dich sogar hin und leite mit dir alles in die Wege, damit du dich dort einrichten kannst.«

»Wieso in Reading?«

»Ich habe dort kurz während meiner Ausbildung gewohnt, es ist ein toller Ort für einen Neuanfang. So voller Leben.«

»Wirklich?«

Er war nicht davon abzubringen, was angesichts der Tatsache, dass er ganz schön knauserig sein kann, schmerzhaft deutlich machte, wie entschlossen er war, mich in die Wüste zu schicken. Wenigstens hatte ihn das Wohnungsprojekt davon abgehalten, weiter darauf zu drängen, dass ich zu meiner gestörten Mutter ziehen sollte. Die Wohnung war schlicht, sauber und enthielt alles Notwendige, um ein freudloses, funktionelles Leben zu führen. Ich betrachtete das Wohnzimmer, in dem wir wie angewurzelt standen, in peinlichem Schweigen. Ich glaube, er wartete darauf, dass ich ihm dankte.

»Adieu, Elizabeth.«

Elizabeth, jetzt mal im Ernst? Was war aus Lily, Babe, Schatz, Süße geworden? Er küsste mich auf die Stirn, verschwand aus der Wohnung und zog die Tür leise hinter sich ins Schloss. Die Stille hallte durch den Raum. Kochend vor Zorn und Scham schaute ich aus dem Fenster und sah, wie im Regenschleier die Heckleuchten seines Autos verschwanden. Ich liebte ihn, und dennoch hatte ich ihn nicht abhalten können, den größten Fehler seines Lebens zu begehen. Er gehörte zu mir. Der Moment, in dem ich mich auf das hart gepolsterte Sofa sinken ließ – und innerlich zusammensackte –, war die Geburtsstunde meines persönlichen Aktionsplans. Elizabeth/Lily würde sich verpuppen, um irgendwann, in einen prächtigen Schmetterling verwandelt, als Juliette – mein zweiter Vorname – aus ihrem Kokon zu krabbeln.

Hmm. Also jetzt … Amy oder Bella? Bella oder Amy? Ene mene … Ich greife unter dem Couchtisch nach meiner Handtasche, wühle darin nach dem Geldbeutel, hole eine Münze heraus und werfe sie. Kopf Bella, Zahl Amy. Die Münze tanzt über den Tisch und entscheidet sich für Zahl. Eine der seltenen Gelegenheiten, bei denen Bella gegen jemand anderen verloren hat. Ich antworte Amy: Komme gern, xxx

Sie schickt mir ihre Adresse. Das einzige Problem besteht jetzt darin, dass ich noch einen ganzen Tag rumkriegen muss. Mit meinem Look brauche ich mir nun weniger Mühe zu geben, schließlich gehe ich nur zu einer kleinen Hausparty. Der Himmel ist so grau, dass es fast dunkel ist. Ich gehe in meinem winzigen Zimmer auf und ab. Draußen spießen die Strahlen der Autoscheinwerfer die herabschießenden Regentropfen auf. Oder aber ich könnte gleich jetzt nach Richmond fahren. Ich könnte vor Nates Haus sitzen. Er würde nie erfahren, dass ich da bin. Es wäre ein so tröstendes Gefühl, ihm nahe zu sein. Ich dusche, ziehe Jeans und einen schwarzen Pulli an, schnappe mir Sneakers und Mantel und marschiere im Stechschritt zum Bahnhof.

Regen ist für mich ein echtes Gottesgeschenk. Wer hätte nach so vielen verregneten Sommern gedacht, dass ich mich einmal freuen würde, wenn ich, unter einer Kapuze versteckt, unerkannt in irgendwelchen Geschäftseingängen oder Seitengassen ausharren kann. Mutter Natur ist auf meiner Seite. An diesem elenden Tag Ende Januar sind alle Menschen abgelenkt und die Schirme aufgespannt, sie halten die Köpfe gesenkt und die Schultern hochgezogen. Riesenräder aus Wasserfontänen spritzen unter den Autoreifen hervor. Niemand nimmt von mir Notiz.

Nates Wohnzimmerlampen sind an. Höchstwahrscheinlich schaut er gerade die neueste Serie oder einen Film auf Netflix. Ich vermisse ihn. Nicht zum ersten Mal bereue ich mein Verhalten, meine Kapitulation. In einem kurzen Moment der Schwäche überkommt mich der fast unwiderstehliche Drang, über die Straße zu flitzen und seine Tür einzutreten. Doch ich muss nach seinen Regeln spielen, sonst wird er mich nie auf Augenhöhe akzeptieren. Dafür spielen wir dann bei der zweiten Runde zu meinen Bedingungen.

Amys Wohnung liegt über einem Friseursalon. Was nur gut ist, denn würden unter ihr tatsächlich irgendwelche Nachbarn wohnen, hätten die bestimmt längst die Polizei gerufen. Irgendwas wie Ibiza Dance Style wummert nach draußen. Ich drücke auf die Klingel, merke aber gleich darauf, dass die Haustür offensteht, darum trete ich einfach ein. Ich gehe nach oben und in Amys Wohnung. Sie lacht gerade, den Kopf zurückgeworfen, eine Flasche Bier in der Hand. Ich bleibe kurz stehen. Sie entdeckt mich, kommt auf mich zu und küsst mich einmal auf jede Wange.

»Komm rein! Ich freu mich so, dass du gekommen bist. Das ist meine Mitbewohnerin Hannah«, sie deutet auf eine Frau in der entgegengesetzten Ecke, »und ein paar von den anderen kennst du ja schon … Oliver, Gabrielle …«

Die Namen von Amys restlichen Freunden bleiben mir nur kurz im Gedächtnis: Lucy, Ben, Michelle Ich lasse es zu, dass mir eine Flasche Bier in die Hand gedrückt wird, obwohl ich es nicht ausstehen kann, aus der Flasche zu trinken. Ab und zu nehme ich einen Schluck, während ich höflich mit Oliver plaudere, was harte Arbeit ist, da er einer der Stillsten in unserem Kurs ist. Schließlich werde ich von Amy gerettet, die wild entschlossen scheint, heute Abend einen draufzumachen. Wir tanzen, Amy flirtet, und der Abend wird richtig nett. Ich habe Amy falsch eingeschätzt. Ich hätte nicht gedacht, dass sie mir von Nutzen sein könnte, aber jetzt nehme ich mir vor, Kontakt mit ihr zu halten und sie besser kennenzulernen. Ich lasse mich in den Augenblick fallen. Ich lache viel. Von Herzen. So habe ich mich nicht mehr amüsiert, seit … ehrlich gesagt, weiß ich es nicht mehr. Aber es muss mit Nate gewesen sein. Versteht sich.

Vor beinahe sieben Monaten war Nate in einem Kapitel meines Lebens erschienen wie in einer Szene aus einer Liebesschnulze. Als ich damals den Blick von meinem Computerbildschirm an der Hotelrezeption hob – mit festgefrorenem Arbeitslächeln –, musste ich an mich halten, um nicht laut nach Luft zu schnappen. Der Mann vor mir sah aus, als hätte er alles Schöne im Leben absorbiert und alles Unangenehme oder Traurige an sich abperlen lassen. Blonde Locken wellten sich unter seiner Pilotenmütze hervor, und seine Haut leuchtete natürlich braun. Ihm folgten ein paar ähnlich uniformierte Stewardessen, die mit kurzen Schritten über den Marmorboden trippelten.

»Ich glaube, Sie haben ein paar Last-Minute-Reservierungen für uns? Wir sind mit Maschinenschaden nach Heathrow umgedreht und müssen jetzt eine außerplanmäßige Übernachtung einlegen.«

Bis zu diesem Moment war das Aufregendste, was mir in den acht Monaten an der Rezeption im Airport Inn widerfahren war, dass ein B-Promi versucht hatte, zwei Frauen in sein Zimmer zu schmuggeln, von denen weder die eine noch die andere seine Ehefrau war.

»Arbeiten Sie heute Abend?«, fragte Nate, als ich ihm die Keycard überreichte – sein Zimmer hatte ich bis zuletzt zurückgehalten.

»Um acht habe ich Schluss«, antwortete ich und merkte im selben Moment, wie in mir ein vorfreudiges Kribbeln aus dem Tiefschlaf erwachte.

»Hätten Sie vielleicht Lust, uns die besten Bars in der Nähe zu zeigen?«

»Gern.«

In dieser Nacht war auch ich zu Gast in unserem Hotel. Es war unvermeidlich. Seit der Sekunde, in der sich unsere Blicke getroffen hatten, hatte ich alles darangesetzt, ihn zu blenden.

Sechs Wochen später zog ich zu Nate …

»Juliette?«

»Entschuldige, Amy, ich war gerade ganz woanders.«

»Willst du vielleicht hier auf dem Sofa pennen?«

Ich lasse den Blick durch den Raum wandern und stelle überrascht fest, dass nur noch wenige Gäste geblieben sind. Ich habe zwar halb mitbekommen, wie sich die Leute verabschiedet haben und Oliver angeboten hat, mich nach Hause zu fahren, aber da hatte ich noch nicht gehen wollen. Amy wird einen guten sozialen Kontakt abgeben.

Ich ziehe mein Handy aus der Tasche. »Wirklich nett, vielen Dank. Aber ich muss nach Hause.«

Auf der Taxifahrt scrolle ich durch die Fotos von Bellas Veranstaltung auf Twitter. Der Flut an lobenden Kommentaren nach war es ein weiterer durchschlagender Erfolg für Beautiful Bella. Die Laternen an der Schnellstraße lassen ihr Gesicht abwechselnd verblassen und wieder erstrahlen. Sie sieht atemberaubend aus, eisköniginnenhaft. Perlen – zweifelsohne echt – liegen eng um ihren Hals. Das lange blonde Haar ist elegant hochgesteckt. Auf jedem einzelnen Bild lächelt sie, umgeben von den Großen und Wichtigen der Gegend. Ich fahre mit dem Zeigefinger ihre Konturen auf dem Display nach und wünsche mir, ich könnte sie genauso leicht auslöschen, wie man ein Bild löscht.

Zu Hause gehe ich unruhig auf und ab.

Während ich über den vergangenen Abend nachsinne, bestärke ich mich noch einmal darin, dass es die richtige Entscheidung war, Bella einen Korb zu geben. Nicht dass ich sie bei dieser Gelegenheit angesprochen hätte; ich wollte nur still beobachten. Übung macht den Meister. Wenn für mich irgendwann der richtige Zeitpunkt gekommen ist, Bella in die Ecke zu drängen, wird alles bis ins Letzte durchgeplant sein.

Rache wird am besten kalt serviert, und meine gibt es on the rocks.