Über das Buch:
New York City, Sommer 1858: Marianne Neumann hat eine geheime Mission: Sie will ihre vermisste Schwester Sophie finden, die sie in Illinois vermutet. Deshalb lässt sie sich von einem Kinderhilfswerk anstellen, um Waisen und Straßenkinder in die ländlichen Gebiete von Illinois zu begleiten und ihnen dort ein neues Zuhause zu suchen. Auf der langen Zugfahrt in den Westen lernt sie ihren lebenslustigen Kollegen Andrew Brady kennen und schätzen. Gemeinsam kümmern sie sich hingebungsvoll um die Kinder. Doch ihre Reise wird von tragischen Ereignissen begleitet, die ihre Mission infrage stellen. Und unter der heiteren Oberfläche von Andrew tun sich mit einem Mal Abgründe auf, die Marianne mit in die Tiefe zu ziehen drohen.

Über die Autorin:
Jody Hedlund lebt mit ihrem Mann, den sie als ihren größten Fan bezeichnet, in Michigan. Ihre 5 Kinder werden zu Hause unterrichtet. Die Zeit, die ihr neben dieser Tätigkeit noch bleibt, widmet sie dem Schreiben.

Kapitel 7

„Ich will nach Hause.“ Dorotheas herzzerreißendes Schluchzen hörte nicht auf. Marianne drückte das kleine Mädchen an sich und versuchte, es im rhythmischen Schaukeln des Zuges zu wiegen.

„Ich will nach Hause.“ Dorothea sagte seit einer Stunde ständig das Gleiche. Nichts, was Marianne sagte oder tat, konnte sie trösten. Gestern war Dorothea vom Schaukeln des Zuges so übel gewesen und sie hatte sich so elend gefühlt, dass sie keine Kraft mehr gehabt hatte zu weinen. Aber seit es mittags Erdbeeren gegeben hatte, hörte das Kind nicht mehr auf zu weinen.

Marianne stellte fest, dass mehrere der kleineren Kinder im Laufe des Tages ebenfalls immer wieder geweint hatten. Zuerst hatte Marianne angenommen, dass sie nur müde und ruhelos wären, weil sie auf so engem Raum zusammengepfercht waren. Aber seit Dorothea damit angefangen hatte, dass sie nach Hause wollte, fragte sich Marianne, ob die anderen Kinder vielleicht genauso Heimweh hatten. Nachdem die Aufregung wegen der Zugfahrt und die Begeisterung über die vielen neuen Dinge, die sie gesehen hatten, ein wenig verflogen waren, wurde ihnen jetzt vielleicht bewusst, dass diese Fahrt etwas Endgültiges darstellte. Dass sie weit von allem weggebracht wurden, was sie bis jetzt gekannt hatten, und dass sie wahrscheinlich nie dorthin zurückkehren würden.

Auch wenn ihr Leben in New York City schwierig gewesen war, wenn sie dort benachteiligt gewesen und vernachlässigt worden waren und Hunger gelitten hatten, war es trotzdem etwas Bekanntes gewesen. Vielleicht hatten einige von ihnen immer noch Freunde und Angehörige in der Stadt, die sie liebten und die sie vermissten.

Genauso wie Marianne Sophie schmerzhaft vermisste. Sie hatte sich an jedem Bahnhof, an dem sie auf der Strecke angehalten hatten, unauffällig nach Sophie erkundigt. Aber bei so vielen Fahrgästen und Kindern, die in den Zügen jeden Tag ihre Städte passierten, konnten sich die Bahnhofsvorsteher nicht an ein einzelnes Mädchen erinnern. Wenn Marianne doch nur ein Foto von ihrer Schwester hätte! Aber ihre Familie war für so etwas zu arm gewesen, und nachdem Vater gestorben war, hatten sie kaum überleben können.

Marianne drückte einen Kuss auf Dorotheas seidige, blonde Haare. Sie wollte das Mädchen nach seiner Herkunft fragen, nach allem, was sie zurückließ, aber sie fürchtete, dass sie es mit solchen Fragen nur noch mehr aufwühlen würde. Deshalb hielt Marianne sie einfach in den Armen und versuchte, sie mit Versprechen, wie wunderbar ihr neues Leben werden würde, zu trösten. Innerlich betete sie, dass diese Versprechen in Dorotheas Ohren nicht genauso leer klangen wie in ihren eigenen.

Drew hatte sich nach Kräften bemüht, die anderen Kinder zu beruhigen, und jedem kleineren Kind ein älteres Mädchen an die Seite gestellt, das auf das Kind aufpassen sollte. Außerdem unterhielt er die Kinder weiterhin mit Rätseln und Spielen, die, wie Marianne jetzt erkannte, nicht nur zum Zeitvertreib dienten. Mit diesen Spielen lenkte er die Kinder ab. Er war besonders begabt darin, Geschichten zu erzählen, und schien seine Geschichten dafür aufzuheben, wenn es den Kindern am schlimmsten ging. Dann erzählte er aufregende Geschichten von längst vergangenen Tagen, in denen zumeist historische Personen wie Johanna von Orléans, König Arthur und seine Ritter oder Julius Cäsar vorkamen. Irgendwie gelang es ihm, diese Personen zum Leben zu erwecken, indem er sie mitten in gefährliche Abenteuer hineinstellte.

Während solcher Geschichtenerzählungen wurde es im Abteil ganz still. Außer dem Quietschen und Rollen des Zuges war in diesen Minuten nichts zu hören. Marianne stellte fest, dass sogar Liverpool zuhörte, auch wenn er dabei gewöhnlich den Hut über seine Augen gezogen hatte und sich desinteressiert gab.

Direkt vor der Lokomotive, von der schwarze Rauchwolken aufstiegen, näherte sich die Sonne dem Horizont und malte ein faszinierendes Farbenspiel an den Himmel: rosa, lila, orange. Marianne hatte versucht, Dorotheas Aufmerksamkeit auf die Schönheit des Sonnenuntergangs zu richten. So etwas hatten sie in den engen, überfüllten Straßen der Großstadt, wo Ziegelgebäude und zwischen offenen Fenstern gespannte Wäscheleinen den Blick auf den Himmel versperrten, nicht sehen können. Aber Dorothea hatte anscheinend genug von der Landschaft gesehen und konnte nichts Neues mehr aufnehmen.

Auf der Bank ihr gegenüber schauten Tim und ein anderer Junge, Sammy, aus dem Fenster und versuchten, der glühenden Scheibe zu folgen, die immer mehr aus ihrem Blickfeld verschwand. Die zwei Jungen waren fast den ganzen Nachmittag über sehr ernst gewesen und hatten gelegentlich Fragen gestellt, was sie in ihrem neuen Leben erwartete. Marianne hatte sich nach Kräften bemüht, zuversichtlich und positiv zu klingen. Aber in Wirklichkeit wusste sie selbst auch nicht, was die Kinder erwartete.

Drew hatte ihr erklärt, dass sie am folgenden Tag Chicago erreichen und in einen anderen Zug umsteigen würden. Dann würden sie auf der Illinois Central in Richtung Süden abbiegen und die ländlichen Kleinstädte in Illinois anfahren. Morgen Nachmittag oder Abend würden sie vielleicht schon ihren ersten Zielort erreichen und anfangen, ein neues Zuhause für die Kinder zu suchen. Je näher sie ihrem Ziel kamen, umso unruhiger würden die Kinder vermutlich werden und umso schwerer würde sich ihre Arbeit gestalten.

Sie konnte sich nicht vorstellen, dass es noch schlimmer werden könnte, da ihr Dorotheas Schluchzen schon jetzt so sehr zu Herzen ging und sie am liebsten auch geweint hätte. „Dir wird es gut gehen, Liebes“, flüsterte Marianne wieder. „Deine neue Mama und dein neuer Papa werden dich unbeschreiblich lieb haben.“

Dorothea legte den Kopf zurück und schaute sie mit ihren geschwollenen Augen und tränenverschmierten Wangen an. „Ich will nach Hause.“ Diese Worte klangen nun sehr bestimmt und endeten mit einem halben Schluchzen und einem halben Schluckauf.

Marianne wischte mit einem Taschentuch die feuchten Wangen des Kindes ab und strich ihr die verklebten Haarsträhnen aus den Augen. Was konnte sie sonst noch zu Dorothea sagen? Eine Dreijährige konnte nicht verstehen, was passierte, wohin sie fuhr und welches neue Leben sie erwartete.

Dorotheas braune Augen schauten sie groß und vertrauensvoll an, aber gleichzeitig glänzten neue Tränen darin. Was konnte sie sagen, das sie nicht schon gesagt hatte? Vielleicht sollte sie es mit Drews Methode versuchen und das Kind ablenken.

Sie bückte sich, zog ihre Tasche unter ihrem Sitz hervor und öffnete sie. Sie wühlte darin, bis ihre Finger den Gegenstand, den sie suchte, berührten. Sie zögerte und war nicht sicher, ob sie ihren wertvollsten Besitz herausholen sollte – das Einzige, was sie noch an die schönen und kostbare Jahre erinnerte, als sie noch die Liebe ihres Vaters und ihrer Mutter genossen und in Sicherheit gelebt hatte, fröhlich und frei von allen Sorgen.

Sie schloss kurz die Augen, um den tiefen Schmerz abzuwehren, der sich in ihr regte, sobald sie an alles dachte, was sie verloren hatte. Vielleicht war es dasselbe Gefühl, das diese Waisenkinder quälte. Vielleicht konnten sie nur nicht in Worte fassen, was sie fühlten, aber auch sie verloren so vieles, was sie nie wieder zurückbekommen würden.

Marianne verdrängte ihren eigenen Schmerz und holte die Spieluhr heraus. Sie bestand aus einem hellen Eichenpodest mit einer Holzfigur, die ein junges Mädchen darstellte, das im schützenden Schatten eines Baumes vier Gänse hütete. Die winzigen Schnitzfiguren waren von Hand in leuchtenden Grün-, Rot- und Weißtönen bemalt.

Dorotheas Schluchzen verstummte abrupt, als sie die Spieluhr sah. Ihre Augen weiteten sich.

„Diese Spieluhr gehörte meiner Mutti“, sagte Marianne. „Sie hat sie mir kurz vor ihrem Tod geschenkt.“

Obwohl sich Marianne nie von der Spieluhr trennte und sie überallhin mitnahm, hatte sie sie nicht mehr aufgedreht, seit ihre Mutter gestorben war. Mutti hatte ihr gesagt, dass sie die Spieluhr behalten sollte, da diese sie daran erinnern würde, dass sie nie den Gesang, die Musik und die Freude in ihrem Leben verlieren sollte, egal wie schwer eine Situation auch war.

Obgleich Marianne versprochen hatte, das zu beherzigen, war ihr nie bewusst gewesen, wie schwer das Leben werden würde und wie oft sie selbst anderen das Leben schwer machte. Wenn Mutti gewusst hätte, welche Fehler Marianne begehen würde und was daraus entstünde, hätte sie ihr diesen Schatz bestimmt nicht anvertraut.

Es tut mir leid, Mutti, entschuldigte sich Marianne stumm. Es tut mir so leid …

Sie zögerte und dachte daran, die Spieluhr wieder sicher in ihrer Tasche zu verstauen. Aber als ihre Finger die Figur des Mädchens berührten, das die Gänse hütete, schluckte Marianne den Schmerz in ihrer Kehle mühsam hinunter. Vielleicht hatte sie Sophie, Olivia und Nicholas verloren, aber bei diesen Kindern jetzt wollte sie es besser machen.

Mit zitternden Fingern drehte sie die hölzerne Kurbel. Die Gänse und der winzige Baum begannen, sich zur Melodie von „Alle meine Entchen“ zu drehen. Beim Klang der vertrauten Melodie musste sie für einen Augenblick die Hand auf ihr schmerzendes Herz legen.

Das fröhliche Kinderlied war nicht laut, aber es zog trotzdem Tims und Sammys Aufmerksamkeit auf sich. Die beiden wandten sich vom Fenster ab und bald knieten sie vor der Spieluhr auf Mariannes Schoß. Genauso wie Dorothea waren sie von der Bewegung der Figur und der Melodie, die aus der Spieluhr erklang, wie gebannt.

Als die Drehung langsamer wurde, zog Marianne erneut die Kurbel auf. Die Faszination der Kinder wuchs. Eine Weile erlaubte sie den dreien, abwechselnd vorsichtig die Kurbel zu drehen, wenn die Gänse stehen blieben. Es dauerte nicht lange, bis die anderen auf den umliegenden Sitzen sich ebenfalls um sie drängten, um die Spieluhr zu sehen, die bald zur Hauptattraktion im ganzen Waggon wurde.

Als die Dunkelheit die Kinder zwang, auf ihre Plätze zurückzukehren, legte Marianne die Spieluhr in Dorotheas Schoß. „Möchtest du sie heute Nacht halten?“

Das kleine Mädchen nickte. Dorotheas Sorgen waren genauso verschwunden wie ihre Tränen. Sie streichelte mit ihren kleinen Fingern die Uhr und lehnte den Kopf an Mariannes Arm. Einen Moment später fielen ihr die Augen zu. Bald darauf verrieten ihre tiefen Atemzüge, dass sie in einen erschöpften Schlaf gefallen war.

Vielleicht war es tatsächlich das Richtige gewesen, mit Dorothea und den anderen ihren Schatz zu teilen. Sie hatte ihren Schmerz nicht mit Worten lindern können, aber die Musik konnte anscheinend auf ihre eigene Art Schmerzen lindern, heilen und Hoffnung bringen.

Finger strichen über ihre Schulter. Es waren Drews starke Hände. Obwohl sie ihn erst so kurz kannte, würde sie seine Berührung jederzeit erkennen. Sie blickte zu ihm hinauf. In der Dunkelheit konnte sie seinen Gesichtsausdruck nicht sehen, aber als er sprach, hörte sie die Wärme und Bewunderung in seiner Stimme. „Sie waren heute großartig. Die Kinder haben die Spieluhr geliebt.“

Drews Lob war wie Balsam für ihre Seele. „Sie waren auch großartig“, sagte sie.

Seine Hand blieb noch einen Moment länger auf ihrer Schulter liegen, bevor er weiterging, um nach den Kindern zu sehen. Marianne hoffte, er würde zurückkommen und sich ihr gegenüber auf die Bank setzen, damit sie sich wie am Abend zuvor unterhalten könnten. Als er jedoch an ihr vorbeiging und zu seinem Platz weiter hinten im Abteil zurückkehrte, hatte sie Mühe, ihre Enttäuschung nicht zu zeigen.

* * *

Am nächsten Morgen erreichten sie Chicago und stiegen aus dem Waggon, der in den vergangenen zwei Tagen ihr Zuhause gewesen war. Es stellte eine Herausforderung dar, mit dreißig Kindern und all ihrem Gepäck durch den Bahnhof zu marschieren. Sie wurden von anderen Fahrgästen angerempelt und geschubst. Obwohl die Kinder sich an den Händen hielten, hatte Marianne Angst, dass sie eines oder gar mehrere der kleineren Kinder auf dem großen Bahnhof verlieren könnten.

Als sie beim Zug der Illinois Central ankamen und einstiegen, war Marianne so verschwitzt und erschöpft, als hätte sie einen ganzen Tag in der Näherei gearbeitet. Die ganze Zeit über klammerte sich Dorothea an sie und wich keine Sekunde von ihrer Seite. Sie hatte jedoch nicht wieder zu weinen angefangen, auch dann nicht, als Marianne die Spieluhr in ihre Tasche gesteckt hatte.

Drew wies sie an, mit den Kindern im Zug auf die Abfahrt zu warten. Natürlich verschwanden die älteren Jungen genauso schnell wie Drew und ignorierten ihre Aufforderung, im Zug zu bleiben.

Während die Minuten verstrichen, wuchs Mariannes Besorgnis. Sie konnte die Angst einfach nicht abschütteln, dass Drew es vielleicht nicht schaffen würde, rechtzeitig zurück zu sein, und dass sie dann mit den Kindern ganz allein wäre. Je angespannter sie wurde, umso unruhiger und lauter wurden die Kinder.

Als zwischen mehreren Jungen ein Streit ausbrach, atmete Marianne tief aus und bemühte sich, ihre eigene Anspannung zu vertreiben. Vielleicht würden die Kinder ihrem Vorbild folgen. Wenn sie ruhig und zuversichtlich bliebe, würde das auf die Kinder abfärben. Wenigstens schien das bei Drew zu funktionieren. Er beherrschte es, Zuversicht zu verbreiten und das Gefühl zu vermitteln, dass am Ende alles gut ausgehen würde.

Nachdem sie den Streit zwischen den Jungen geschlichtet hatte, überredete sie alle, auf ihre Plätze zurückzukehren, indem sie ihnen eine Geschichte versprach. Als es im Waggon still wurde und aller Augen auf sie gerichtet waren, erfasste sie eine leichte Panik. Sie hatte keine Geschichten mehr erzählt, seit Sophie weggelaufen war. Genauso wie ihre Musik hatte sie diesen Teil ihres Lebens begraben wollen, um nicht an alles erinnert zu werden, was sie verloren hatte.

Dünne Finger schoben sich zwischen Mariannes Finger. Als sie nach unten blickte, sah sie, dass Dorothea mit großen, braunen Augen zu ihr aufblickte. Die Traurigkeit und Angst, die gestern darin gestanden hatten, waren irgendwie verschwunden. Jetzt strahlten ihre Augen ein tiefes Vertrauen aus.

Marianne küsste das Mädchen auf die Stirn. Dann zwang sie sich, eines der Märchen zu erzählen, die Sophie immer so gerne gehört hatte. Das Märchen handelte von einer jungen Frau, deren Vater gestorben war. Sie musste als Waise bei einer bösen, gefühllosen Stiefmutter leben, die zwei sehr verwöhnte Töchter hatte.

Marianne merkte nicht, wie die Zeit verging, bis sie zum Ende des Märchens kam und plötzlich feststellte, dass Drew lässig an der Tür lehnte und sie mit unverhohlener Aufmerksamkeit beobachtete. Sie hatte ihn nicht kommen sehen. Als ihr bewusst wurde, dass er sie anschaute und sich ihr Märchen anhörte, verhaspelte sie sich bei den letzten paar Sätzen fast und wurde plötzlich sehr unsicher. Schnell schloss sie ihr Märchen mit dem Satz: „Und sie lebten glücklich bis an ihr Lebensende.“

Drew klatschte betont langsam in die Hände und ein Lächeln umspielte seine Mundwinkel. Als die Kinder seine Reaktion bemerkten, klatschten sie ebenfalls, bis der Applaus den ganzen Waggon erfüllte. Als es wieder ruhiger wurde, sagte Drew: „Wie ich sehe, kann Miss Neumann nicht nur schneller laufen, sondern auch besser Geschichten erzählen.“ Die ehrliche Bewunderung, die aus seinen Augen sprach, ließ Marianne den Kopf senken, da sie nicht sicher war, ob sein Lob sie verlegen machte oder freute.

„Vielleicht veranstalten Miss Neumann und ich heute Nachmittag einen Geschichtenwettbewerb“, fuhr er fort. „Ihr entscheidet, wer besser erzählen kann. Ihr müsst einfach für die Geschichte, die euch besser gefällt, lauter klatschen.“

Marianne schüttelte protestierend den Kopf. Sie war den Kindern zuliebe schon über ihren Schatten gesprungen und hatte ihnen ihre Spieluhr gezeigt und ihnen dann eine Geschichte erzählt, obwohl sie beides eine große Überwindung gekostet hatte. Aber als sie Drews Grinsen und Augenzwinkern sah, verstummte ihr Protest. Etwas in seinen Augen flehte sie an, ihn zu verstehen. Ihnen stand einer der schwersten Nachmittage bevor, die sie bis jetzt im Zug verbracht hatten. Je näher sie ihrem ersten Zielort kamen, umso schwerer würde es für die Kinder werden, da ihnen immer deutlicher bewusst wurde, was sie heute noch erwartete.

Sie nickte und zwang sich zu einem Lächeln. Drew Brady besaß neben seinen vielen anderen bewundernswerten Eigenschaften auch eine große Überzeugungskraft. Es machte sie verlegen zuzugeben, dass er sie mühelos dazu bewegen konnte, das zu tun, was er wollte. Und je länger sie mit ihm zusammen war, umso weniger wollte sie sich dagegen wehren.

Kapitel 8

Das Kinderlachen erfüllte die Luft und entlockte Drew ein Lächeln. Auf dem grasbewachsenen Ufer des Kanals liefen die Kinder ausgelassen herum und spielten Fangen.

Als sie eine Weile zuvor die Information erhalten hatten, dass ihr Zug aufgrund eines Problems mit der Lokomotive erst mit mehreren Stunden Verspätung abfahren würde, hatte ihnen der Bahnhofsvorsteher erlaubt, ihr Zugabteil zu verlassen. Obwohl sich Marianne Sorgen machte, dass einem der Kinder in dem Gedränge der Großstadt etwas zustoßen könnte, machte Drew das Beste aus ihrer Situation, indem er alle mit Spielen ablenkte. Er war froh, dass er aus seiner Zeit als Lehrer einen unerschöpflichen Vorrat an Spielideen hatte.

Der Sommertag war heiß und wolkenlos und es war schwül geworden. Die Luft war deshalb feucht und stickig. Sein Blick wanderte immer wieder zu dem kühlen Wasser im Kanal, das sie alle erfrischen würde. Aber so gerne er sich auch abgekühlt hätte, könnte er nicht ins Wasser gehen, denn das würde die Kinder nur verleiten, seinem Beispiel zu folgen. Und ehe er sich’s versähe, wären alle im Wasser.

Er hatte seine Lektion an jenem verhängnisvollen Tag gelernt, an dem sein altes Leben abrupt zu Ende gegangen war und er sein Zuhause und seine Familie verlassen hatte. Den gleichen Fehler würde er kein zweites Mal machen. Im Gegenteil, er hatte den Kindern gesagt, dass sie sich vom Kanal fernhalten sollten. Er hatte ihnen sogar angedroht, jeden, der auch nur eine Hand ins Wasser hielt, zum Bahnhof zurückzubringen und in den Zug zu setzen. Am Rand des Kanals saß Marianne mit mehreren Mädchen und ein paar Kleinkindern im Schatten einer Weide. Ein leichter Wind bewegte die hängenden Weidenzweige und brachte ein wenig Abkühlung. Sie nutzte die Gelegenheit, um den älteren Mädchen zu zeigen, wie man Haare zu einem Zopf flocht und sie zu modischen Knoten zusammenrollte.

„Sie ist hübsch, nicht wahr?“, bemerkte der rothaarige Tim neben ihm und schaute mit seinem sommersprossigen Gesicht und einem Lächeln, das seine Zahnlücke zeigte, zu ihm hinauf.

Drew war versucht, so zu tun, als wüsste er nicht, von wem Tim sprach. Aber Tim hatte auf der Straße gelebt und war manchmal schlauer, als gut für ihn war. Er würde Drews Lüge sofort durchschauen.

„Sie ist sehr hübsch“, gab Drew dem Jungen recht und bewunderte Mariannes strahlende Augen, ihre geröteten Wangen und ihre lebhaften Gesichtszüge. Sie stand jetzt auf, um einem der Mädchen zu helfen, einen Zopf zu flechten. Dabei stieß sie versehentlich mit dem Kopf an einen Zweig, der ihr den modischen Hut vom Kopf riss. Bevor sie sich bücken konnte, um den Hut aufzuheben, rollte er die Uferböschung hinab und fiel in den Kanal.

Die Strömung war heute sehr träge. Trotzdem begann der Strohhut mit seinen bunten Schleifen, vom Ufer wegzutreiben.

Marianne und die Mädchen beugten sich vor und bewegten sich für Drews Geschmack viel zu nahe ans Wasser heran.

„Bleibt vom Kanal weg!“, rief er und lief auf die Gruppe zu.

Sein strenger Befehl ließ die Mädchen erschrocken zurückweichen und ihn fragend ansehen. Alle außer Marianne. Sie ging auf die Knie und wollte sich zu ihrem Hut vorbeugen.

„Miss Neumann!“, rief er und sprintete auf sie zu. „Lassen Sie das!“

Sein scharfer Tonfall ließ sie abrupt innehalten. Mit einem Stirnrunzeln sah sie ihn an. Dann wandte sie ihre Aufmerksamkeit wieder dem Hut zu und seufzte traurig. „Schauen Sie nur! Jetzt kann ich ihn nicht mehr erwischen.“

Drew ging neben ihr im Gras auf die Knie. Er beugte sich über das Wasser und versuchte, den Hut zu erreichen, aber er trieb immer weiter ab.

Marianne begann, die Schnallen an ihren Schuhen zu lösen.

„Sie können nicht ins Wasser gehen“, sagte er vehementer, als er beabsichtigt hatte.

„Ich werde nicht tatenlos zusehen, wie mein bester Hut davonschwimmt.“ Sie hatte schon einen Schuh ausgezogen und rollte ihren Strumpf hinab.

„Ich kaufe Ihnen einen neuen.“

„Der Fluss ist hier seicht. Ich wate ins Wasser und hole meinen Hut.“

Er legte eine Hand auf ihren Arm, um sie daran zu hindern, und mäßigte seine Stimme. „Bitte.“

Sie zögerte und schaute ihn fragend an, als versuche sie, sein Benehmen zu verstehen. „Soll das heißen, dass Sie den Hut für mich retten?“

Er hatte sich danach gesehnt, sich im Wasser abzukühlen, aber da alle Kinder in ihrer Nähe waren, wollte er nicht das Risiko eingehen, dass einer von ihnen auch ins Wasser spränge.

„… da Sie ja anscheinend denken, ich wäre nicht in der Lage, meinen Hut zu retten“, fügte sie mit einem Grinsen hinzu.

„Können Sie denn schwimmen?“

„Nein. Können Sie es?“

„Ich bin ein ausgezeichneter Schwimmer.“

„Dann beweisen Sie es mir und holen meinen Hut aus dem Wasser.“

Eine Mutprobe? Er liebte Mutproben und Herausforderungen. Wie konnte er da Nein sagen?

„Es sei denn, Sie schwimmen doch nicht so ausgezeichnet, wie Sie behaupten“, schob sie nach. Ihre Augen funkelten ihn herausfordernd an und weckten in ihm noch stärker den Wunsch, sich zu beweisen.

„Ich kann das machen“, mischte sich einer der kleineren Jungen ein.

„Nein!“, sagte Drew schnell. „Wenn alle versprechen, dass sie sich vom Wasser fernhalten, rette ich Miss Neumanns Hut.“

Die Kinder versprachen es lautstark und klatschten vor Aufregung in die Hände, was Drew nur noch mehr anstachelte, während er seine Schuhe und Strümpfe auszog, aus seiner Jacke und Weste schlüpfte und seine Taschen leerte. Während Mariannes Augen ihn immer noch herausfordernd anstrahlten, sprang er ins Wasser. Das Wasser reichte ihm bis zu den Oberschenkeln, und auch wenn es kalt war, fühlte es sich gut an.

Er watete weiter hinein, bis das Wasser bis zu seiner Brust reichte, und genoss es, dass das Wasser seine überhitzte Haut abkühlte. Als er den Hut erreichte, zog er ihn aus dem Wasser und watete damit zum Ufer zurück.

„Das hätte ich selbst auch gekonnt“, sagte Marianne und verschränkte, sichtlich unbeeindruckt, die Arme vor sich.

Er warf ihren Hut ans Ufer, wo er vor ihren Füßen landete. Dann tauchte er vollständig im Wasser unter. Er schwamm zur Mitte des Kanals, drehte sich auf den Rücken und ließ sich ein paar Sekunden flussabwärts treiben. Dann paddelte er ein wenig und winkte seinem Publikum am Ufer zu.

Jetzt lächelte Marianne genauso breit wie die Kinder. Mit einer geschmeidigen Bewegung tauchte er wieder unter und kehrte mit einigen mühelosen Schwimmzügen zum Ufer zurück.

Als er aus dem Wasser stieg, lobten ihn die Kinder lautstark. Er war triefend nass und würde bei der hohen Luftfeuchtigkeit so schnell nicht trocken werden. Aber die Abkühlung war es wert, genauso wie der Anblick von Mariannes entzücktem Lächeln. Aus ihren braunen Augen funkelte eine Bewunderung, die ihm ganz warm ums Herz werden ließ.

„Habe ich die Mutprobe bestanden, Miss Neumann?“, fragte er, als er vor ihr stand und die Wasserbäche von seinem Hemd und seiner Hose liefen und eine Pfütze zu seinen nackten Füßen bildeten.

„Ja, unbedingt.“ Ihr Blick wanderte zu seinem Brustkorb, an dem sein nasses Hemd klebte, doch schnell wandte sie verlegen den Blick ab. Er hatte jedoch die Neugier und das Interesse in ihren Augen bemerkt.

Sie spielte mit ihrer Hutkrempe, von der immer noch das Flusswasser tropfte, und ihr Blick wanderte überallhin, nur nicht zu ihm.

Er nahm den Hut, den sie ihm wortlos überließ. „Da ich den Hut gerettet habe, erlauben Sie mir bitte, ihn Ihnen wieder auf den Kopf zu setzen.“ Er sprach diese Worte galant und wedelte übertrieben theatralisch mit dem Hut.

Die Kinder kicherten.

„Ich erlaube es Ihnen, Sir“, sagte sie und spielte mit. Sie beugte den Kopf vor ihm. Der Sonnenschein erwärmte ihre Haare und ließ sie leuchtend glänzen.

Sein Herz platzte fast vor Zuneigung zu dieser jungen Frau, die hier vor ihm im Gras saß. Sie konnte seine Verspieltheit nicht nur akzeptieren, sondern machte seine Spielchen auch noch mit und schien das zu genießen. Er konnte sich nicht daran erinnern, dass ein anderer Mensch, und schon gar nicht eine Frau, ihn jemals so akzeptiert hatte, wie er war. Die meisten hatten nur den Mann in ihm gesehen, zu dem sie ihn gerne gemacht hätten.

Als er ihr sanft den Hut auf den Kopf setzte, tropfte Wasser aus ihren Haaren und lief über ihr Gesicht. Doch statt sich aufzuregen oder gereizt zu reagieren, hob sie das Gesicht und strahlte ihn an, als wäre er ein Märchenprinz auf einem weißen Pferd.

* * *

Drew streckte die Arme über seinen Kopf und wurde in der kühlen Nachtluft langsam vollständig wach. Es war nicht sein Plan gewesen, um drei Uhr morgens in Benton anzukommen. Aber die Verzögerung in Chicago hatte viel länger gedauert, als er vermutet hatte. Nachdem sie vom Kanal zu ihrem Zug zurückgekehrt waren, hatten sie noch lange warten müssen.

Er hatte Pastor Smith, dem Pfarrer der presbyterianischen Gemeinde in Benton, telegrafiert, dass sie sehr spät ankommen würden und die Veranstaltung, auf der die ersten Kinder in neue Familien verteilt wurden, auf den nächsten Tag verschieben müssten. Pastor Smith leitete den Ausschuss, den Drew mehrere Wochen vor ihrer Ankunft ins Leben gerufen hatte. Auch wenn Drew wusste, dass er nicht unbedingt der am besten organisierte Mitarbeiter der Children’s Aid Society war, hatte er trotzdem versucht, in den Städten, die sie in den kommenden Tagen anfahren würden, Arbeitskreise zu bilden. Sie bestanden für gewöhnlich aus Pfarrern, Kaufleuten, Zeitungsredakteuren, Ärzten und Anwälten.

Drew verließ sich darauf, dass diese Ausschüsse die Ankunft der Waisenkinder mit Plakaten in der ganzen Stadt ankündigten. Sie empfahlen außerdem Übernachtungsmöglichkeiten in einem Hotel oder einem Gasthaus, organisierten einen Ort, an dem die Kinder unter den Familien verteilt werden konnten, und nahmen die Menschen, die sich darum bewarben, ein Waisenkind aufzunehmen, prüfend in Augenschein.

Bei seinen früheren Fahrten hatte Drew erkannt, wie unschätzbar wertvoll diese Ausschüsse für seine Arbeit waren. Er brauchte sie, damit die Verteilung der Kinder reibungslos ablief. Seine Gruppe würde nicht in jeder Kleinstadt entlang der Illinois Central anhalten. Brace hatte seinen Mitarbeitern geraten, gut etablierte Städte in reichen landwirtschaftlichen Regionen auszuwählen, die drei- bis viertausend Einwohner hatten und in denen es bereits gute Schulen und Kirchen gab.

Benton, Mayfield und Dresden entsprachen diesen Kriterien. Sie lagen alle relativ nahe beieinander, wodurch der Besuch der Kinder in ihren neuen Familien bei der Rückfahrt leichter zu bewältigen wäre und weniger Zeit in Anspruch nehmen würde.

„Ist das Benton?“, ertönte Mariannes verschlafenes Flüstern hinter ihm.

Er drehte sich um und sah, dass sie aufgewacht war und ihm aus dem Waggon gefolgt war. Sie unterdrückte ein Gähnen hinter ihrer Hand.

„Ja. Wir sind endlich da.“

Über ihnen funkelten die Sterne am Himmel und ein strahlender Vollmond beleuchtete den Bahnsteig und die Stadt. Die Geschäfte hatten geschlossen, die Schaufenster waren dunkel und sogar in der Kneipe war es still. Die einzigen Geräusche waren das Zischen der Lokomotive und die Stimmen der Eisenbahnarbeiter, die Kohle auffüllten.

„Was machen wir mit den Kindern?“, fragte Marianne, die jetzt neben ihn trat. „Wird der Zug bis zum Tagesanbruch hierbleiben?“

Drew schüttelte den Kopf und suchte die Hauptstraße nach der Kirche und dem Pfarrhaus ab. Wagte er es, Pastor Smith um drei Uhr morgens zu wecken? Oder war es besser, wenn die Kinder es sich auf dem Bahnsteig bequem machten? Immerhin war es eine warme Nacht und es stand keine einzige Wolke am Himmel. Den Kindern könnte es sogar gefallen, unter dem Sternenzelt zu schlafen.

„Nein, der Zug hat sowieso schon Verspätung. Wir werden bis morgen früh hier auf dem Bahnsteig schlafen müssen.“

Er rechnete mit ihrem Protest, aber sie nickte nur. „Wenigstens haben sie hier draußen mehr Platz als im Zug.“

Sie stiegen in den Waggon und weckten gemeinsam die Kinder. Die Kleineren nahmen sie vorsichtig auf die Arme, um sie nicht zu wecken. Es dauerte eine Weile, bis alle Waisenkinder und ihre Sachen aus dem Zug gebracht waren. Aber dann waren die Kinder hellwach. Er gab Marianne recht, als sie den Kindern sagte, dass sie sich alle wieder hinlegen und bis zum Morgen schlafen sollten. Die Kleineren schlummerten bald wieder, während die älteren Kinder, die zu aufgekratzt waren, um schlafen zu können, sich ruhig verhielten.

Drew legte sich in die Mitte zwischen die Jungen. Er starrte zum Nachthimmel hinauf und bemühte sich, nicht an Marianne zu denken, die mit den Mädchen nur fünf Meter entfernt lag. Seine Gedanken kehrten trotzdem immer wieder zu dem Anblick zurück, als er ihr ihren nassen Hut aufgesetzt und ihr auf die Beine geholfen hatte. Er erinnerte sich, wie hübsch sie ausgesehen hatte. Und daran, wie er sie beobachtet hatte, als sie den Kindern ein Märchen erzählte. Ihre zarten Gesichtszüge waren unglaublich lebhaft und schön gewesen, sogar noch schöner als am Tag zuvor, als sie die Erdbeeren probiert hatte.

Seine Gedanken wanderten wieder zu ihren reizvollen, mit Erdbeersaft bedeckten Lippen, die er so gerne hatte küssen wollen, doch dann tadelte er sich im Stillen.

Wie konnten seine Gedanken solche Wege einschlagen? So gerne er auch flirtete, wollte er auf keinen Fall mehr. Er hatte nicht die Absicht, sich wieder auf eine Beziehung einzulassen. Nie wieder.

Für einen kurzen Moment kehrten seine Gedanken in eine andere Zeit und an einen anderen Ort zurück – zu der Woche vor seiner Hochzeit, zu dem letzten Kuss, den er Charlotte gegeben hatte, als sie ihn noch geliebt und gewollt hatte. Aber die letzte Schulwoche hatte alles verändert. Ein einziger tragischer Vorfall hatte alles zunichtegemacht.

Sein Körper versteifte sich und er setzte sich auf, um sich gegen die Erinnerungen zu wehren, denen er keinen Raum geben wollte. Er atmete tief ein. Plötzlich fühlte er, dass ein Augenpaar auf ihm ruhte.

Er verlagerte sein Gewicht und sah über die schlafenden Kinder hinweg Marianne. Sie lag auf dem Rücken und hatte den Kopf so gedreht, dass sie ihn beobachten konnte. Als sich ihre Blicke trafen, sagte ihm etwas in ihrer Miene, dass auch sie daran dachte, wie es wohl wäre, ihn zu küssen.

Wie würde es sich anfühlen, wenn er jetzt, in diesem Moment, zu ihr ginge und sie in seine Arme nähme? Natürlich würde er das niemals tun. Ihm waren seine Arbeitsstelle und das Vorbild, das er den Kindern geben wollte, viel zu wichtig, um in ihrem Beisein so unüberlegt zu handeln. Er zwang sich, den Blick von ihr abzuwenden und sich wieder zurückzulegen. So verführerisch es auch war, sie anzusehen und sich vorzustellen, sie zu küssen, konzentrierte er sich jetzt auf den Nachthimmel über ihnen und die langsam blasser werdenden Sterne. Dass er sich so stark zu ihr hingezogen fühlte, überraschte ihn. Er konnte sich nicht erinnern, dass Charlotte je eine solche Anziehungskraft auf ihn ausgeübt hatte.

Was war nur mit ihm los?

Fühlte er sich zu ihr hingezogen, weil er in den letzten drei Tagen während ihrer Fahrt so viel Zeit mit ihr verbracht hatte?

Lag es daran, dass er ihren herzlichen Umgang mit den Kindern bewunderte? Er sah ihr an, dass sie eine genauso tiefe Liebe zu den Kindern hatte wie er.

Oder war der Grund der, dass sie es schaffte, ihn immer wieder zu überraschen? Wie zum Beispiel am Tag zuvor, als er in den Zug gestiegen war und erstaunt mitbekam, dass sie den Kindern eine Geschichte erzählte?

Oder lag es daran, dass sie ihre Gefühle und Gedanken so offen zeigte? Er musste nie raten, was sie fühlte oder was sie dachte. Sie verstellte sich nicht. Das war eine angenehme Abwechslung zu der Art, wie sich die meisten Frauen benahmen, die er kannte.

Was auch immer der Grund war, er mochte Miss Neumann. Eigentlich sollte er vorsichtig sein und darauf achten, dass keiner von ihnen beiden sein Herz an den anderen verlor. Doch er schob diesen Gedanken beiseite.

Er wollte sich darüber keine Sorgen machen. Im Gegenteil, er nahm sich fest vor, sich nicht den Kopf zu zerbrechen. Nicht wegen der Zukunft und ganz gewiss nicht wegen der Vergangenheit. Er wollte in der Gegenwart leben und jeden Tag so nehmen, wie er kam.

Es hatte keinen Sinn, sich Sorgen zu machen, was aus seinen Gefühlen für Marianne werden könnte oder nicht. Denn selbst wenn sie Interesse an ihm zeigte, würde sie, sobald sie Reinhold fand, zu ihm zurücklaufen und vergessen, dass es Drew je gegeben hatte.