Der Autor
Prof. Dr. Léon Wurmser genießt internationales Renommee als Psychiater und Psychoanalytiker. Er ist in eigener Praxis in Towson, Maryland, und als Lehranalytiker und Supervisor der New York Freudian Society tätig.
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Dieses Buch stellt eine grundlegend überarbeitete und erweiterte Fassung der Vorlesungen dar, die der Autor zum gleichen Thema im Rahmen der Lindauer Psychotherapiewochen 2007 gehalten hat. Unter www.auditorium-netzwerk.de ist eine Übersicht aller Aufnahmen der Lindauer Psychotherapiewochen einzusehen, die unter onlineshop@auditorium-netzwerk.de angefordert werden kann.
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3. Auflage 2019
Alle Rechte vorbehalten
© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
Print:
ISBN 978-3-17-034178-4
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pdf: ISBN 978-3-17-034179-1
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mobi: ISBN 978-3-17-034181-4
Das wieder geborene Auge verwandelt die alte Tat.
(Henrik Ibsen, »John Gabriel Borkman«, 1896, S. 451)
Dieses Buch verdankt sehr viel dem durchgehenden Dialog mit Frau Dr. Heidrun Jarass, Regensburg, dem ständigen Gespräch über alle darin zur Sprache kommenden Probleme, aber am allermeisten der Unterstützung, die sie mir in der sehr schweren Zeit der furchtbaren Leiden und tödlichen Krankheit meiner Frau von 2005 bis 2009 fast täglich gab. Ihr ist dieses Buch als Dank gewidmet.
Léon Wurmser
Als ich jüngst von Herrn Professor Ermann eingeladen wurde, die 2007 in Lindau gehaltenen Vorlesungen, die den (vorgegebenen) Titel »Die tausend unbarmherzigen Augen« (ein Zitat aus Hawthorne’s »Scarlet Letter«) trugen, in einem Band herauszugeben, entschied ich mich für eine umfassendere, dem Inhalt gemäßere Thematik und griff dafür auf etwas zurück, was ich schon früheren Vorlesungen zugrunde gelegt hatte, nämlich das Ibsen-Zitat, das jetzt dem Buch als Motto vorangestellt ist, und damit auf eine breitere Themenstellung.1
Zwar blieb das Grundthema das der Scham, aber ganz in Form von Schamkonflikten, und dies im Rahmen von Über-Ich-Konflikten überhaupt – eben nicht in Gestalt der vordringlich nach außen gerichteten Scham, eben jener »unbarmherzigen Augen«, sondern viel mehr deren Innerlichkeit und wie sie sich in inneren Konflikten in allen Beziehungen widerspiegelt und in oft ganz fataler Weise wiederholt. Schwerpunkte der Vorlesungen waren für mich die Themen der »negativen therapeutischen Reaktion« ( Kap. 2, Kap. 3 und Kap. 4), des »Bösen Auges«, der Dynamik von Neid und Eifersucht und deren Wurzeln im Schamgefühl ( Kap. 6 und Kap. 7) und ein anderes, stark schambezogenes Thema: das Lügen und der Verrat ( Kap. 5). Sie sind es auch für dieses Buch.
Doch ich versuchte, dies alles in einen viel größeren Rahmen zu stellen: in Bezug zu einigen Grundzügen unserer Arbeit mit den schweren Neurosen und unserer sich ständig verwandelnden Identität als Analytiker und Therapeuten und den damit verbundenen Konflikten. Außer im philosophischen Schlusskapitel dachte ich durch das Buch hindurch, es sei besser, nicht zu systematisch vorzugehen, sondern immer wieder von neuen Ausgangspunkten aus gewisse Sinnzusammenhänge zu entwickeln, wie sie sich damals in den Vorlesungen gestalteten und mir von allgemeinem Interesse schienen.
Dabei griff ich auf einige Metaphern zurück, die mich in früheren Arbeiten begleiteten. »Psychoanalyse ist in ihrem Wesen ein metaphorisches Unternehmen«, sagt Arlow,2 und das Studium der »metaphorischen Prozesse«, die weit über die linguistische Figur der Metapher hinausreichten, hat in den letzten Jahren eine ganz neue wichtige Forschungsdimension eröffnet. Sie kommt im Folgenden nur peripher zum Zug und ist das Sujet einer eigenen Arbeit. Hier stelle ich nur einige Metaphern vor, die mir beim Verfassen dieses Buches wichtig waren.
Das Wandern in den Bergen und das Bergsteigen bieten gute Metaphern für unsere Arbeit, sagte ich damals3. Ich spreche in meiner Arbeit mit Patienten immer wieder von einer Gratwanderung zwischen dem Abgrund links und dem Abgrund rechts. Das kam mir immer wieder zustatten, wenn ich den schmalen Pfad beobachte, den viele Patienten – zwischen überwältigenden Schuldgefühlen für Erfolg und Unabhängigkeit und ebenso übermannenden Schamgefühlen über Versagen und Schwäche suchen. Er scheint so eng zu werden, dass die Verzweiflung immer wieder überhandzunehmen droht. Unsere warme Gegenwart und Spontaneität zusammen mit dem sehr eingehenden Verstehen der inneren Zusammenhänge und Herkünfte vermag oft den Absturz zu verhindern. Dasselbe gilt für die schweren Loyalitätskonflikte, unter denen so viele leiden.
Auf einer großen Bergwanderung vor wenigen Jahren rief mir der Senn vor seiner Alphütte ermutigend zu: »Nur immer gemächlich voran!« Ich antwortete: »Gemächlich und beharrlich«, und sogleich dachte ich: »Welch schönes Gleichnis für das, was wir tun und was wir sind!« Als Drittes fügte ich in Gedanken hinzu: »Auch wohl ausgerüstet sollst du sein – also gemächlich, beharrlich und wohlgerüstet.« Doch lernen wir auch, in unserer Arbeit und in unserem Sein, mit einem langen Atem unterwegs zu sein, wie auf einer anstrengenden Bergtour. Man kann dabei nicht viel reden, denn das nimmt einem rasch den Atem. Man sagt wenig und überlegt sich vieles. Es gibt ein weises Gleichgewicht von Zurückhaltung und forschem Einstieg.
Es ist eine der Metaphern, die mir in den Sinn kommen, wenn ich es mit den besonders schwer anzugehenden »double-bind messages«, den doppelbödigen Mitteilungen, zu tun habe: Es besteht in der Hintergrundsfamilie und nun auch im Inneren des Patienten eine ständige Diskrepanz zwischen dem, was gesagt wird, und dem, was gemeint ist, zwischen dem, was die Worte sagen, und dem, was die Haltung und die Mimik oder die unbewusste Intention, ja zuweilen auch die bewusste Absicht ausdrücken. Auf die Kommunikation ist kein Verlass. Wie ich es bei einer Patientin erlebe, über die ich in Kapitel 3 ausführlich berichten werde: »Sei unabhängig, doch bleibe zugleich abhängig von uns; habe Erfolg, aber sei nicht erfolgreich; sei besser als wir, ja, die Beste, aber überflügle uns nicht. Sei loyal zur Mutter, aber sei auch loyal zum Vater. Ich erwarte von dir Perfektion, aber du kannst es ohnehin nicht tun.« Sowohl Vollkommenheit als auch Versagen werden zugleich erwartet. Und umgekehrt in der Übertragung, nämlich auf mich gerichtet: »Hilf mir, aber hilf mir nicht«. Es ist erschütternd, die Selbstsabotage und Selbstzerstörung in entscheidenden Lebensbelangen mit anzusehen und diese weder einfach passiv hinzunehmen noch mit über-ich-hafter Forschheit, mit Zorn und Ungeduld einzuschreiten. Geduld, Takt, Verstehen und Aktivität sind jenen drei Tugenden des Bergsteigers ähnlich.
Ein anderes Gleichnis, das dabei, auch in schwierigen klinischen Situationen, immer wieder wertvoll ist, betrifft den Aufstieg in Serpentinen – das langsame Höhersteigen im Zickzack. Man scheint immer wieder zum selben Punkt zurückzukehren, und doch liegt der Punkt jedes Mal höher. Die Aussicht verändert sich nur unmerklich – bis man dann plötzlich einen neuen Absatz erreicht und sich ganz neue Welten von Bergketten und Seen und dunklen oder sonnig-dunstigen Tälern eröffnen. So ist es auch bei der Behandlung: Das Gleiche scheint sich stets zu wiederholen, und doch verändert es sich allmählich, und schlagartig ist dann etwas Neues da. Der Aufstieg ist langsam und mühsam – die Aussicht ist immer wieder erstaunlich, zuweilen sogar überwältigend. Nichts ist verloren. Wir selbst sind dann der Weg, auf dem wir die Höhe erstiegen haben; er ist in uns. Aber wir sind plötzlich so viel mehr als nur das, was hinter uns liegt.
In einer anderen Metapher, dem sehr schönen Wort des norwegischen Dramatikers Henrik Ibsen, das meinem Buch vorangestellt ist, drückt sich dieselbe therapeutische Grunderfahrung aus: »Das Auge ist’s, was die Taten verwandelt. Das wiedergeborene Auge verwandelt die alte Tat – Det er øyet som forvandler handlingen. Det gjenfødte øye forvandler den gamle handling«4. »Das Auge verwandelt das Geschehene«, sagt Sancho Panza im »Don Quijote«: Der Fastenprediger habe gesagt, »daß alle Dinge, die unser Auge in der Gegenwart erschaut, weit besser und mit gewaltigerer Kraft sich in unserem Gedächtnis darstellen, haften und verbleiben als das Vergangene«5. Die Schmach bestehe nicht mehr, es bestehe nur das, was wir als Gegenwärtiges sehen. Und Marcel Proust sagt uns: »Die einzige wahre Entdeckungsreise, die einzige wirklich verjüngende Erfahrung bestände nicht darin, fremde Lande zu besuchen, sondern andere Augen zu besitzen«6.
Die neue Sichtweise und die neue Aussicht verwandeln die Sicht des Weges, den wir gekommen sind. Was wir getan und gesehen und gelitten haben, erscheint plötzlich ganz anders (es ist eine neue, ins Prospektive und Heilende gewandelte Bedeutung dessen, was Freud als »Nachträglichkeit« bezeichnete). Man kann es auch eine tragische Einsicht und eine tragische Verwandlung nennen: Durch viel Leiden und inneren Kampf entsteht ein neues Selbst, mit dem Erkennen der tiefen, oft scheinbar unschlichtbaren Konflikte des menschlichen Daseins und dem Wissen um Leid und Angst.
Das gilt selbstverständlich nicht nur für unsere Patienten. Wenn ich auf mein Leben zurückblicke, sehe ich, wie mir die tiefen Traumata meiner Kindheit und Jugend in abgeschwächter und abgewandelter Form immer wieder begegneten und begegnen. Ich habe in der Supervision über eine Jugenderfahrung in der Türkei gehört, wie »jede Form des Andersseins mit dem Tod bestraft wird«: »Schafe, die sich von der Herde entfernen, die frisst der Wolf.« Ganz Ähnliches kennen wir von dem Nazi-Über-Ich so vieler unserer Patienten, deren Väter oder Großväter Täter waren. Doch auch wir, die wir in unserer Kindheit von Weltkrieg und Holocaust geprägt wurden, tragen diese Erfahrung des Ausgeschlossenseins, des Absprechens der Lebensberechtigung unauslöschlich weiter. Saul Friedländers Wort wird zur Urerfahrung: »Wir wissen, daß hinter der harmlosen Oberfläche der Wörter und Dinge jeden Moment Abgründe auf uns lauern«7. Die Wiederholungen der Traumata in abgeschwächter Form erwecken oft ähnlich tiefe Gefühle, wenngleich nicht mehr in so überwältigender und dauerhafter Form. Ihnen wirkt die Erfahrung entgegen, welche Hilfe sowohl die psychoanalytische Besinnung als auch die philosophische Erkenntnis und sowohl einzelne Gespräche, vor allem. in der eigenen Familie und in einer rückhaltlos intimen Freundschaft, als auch die therapeutische Arbeit selbst gewähren.
Was hat sich dabei in meiner Identität als Psychotherapeut und Psychoanalytiker verändert?
Auf jeden Fall bin ich viel toleranter und damit geduldiger geworden. Um zur Parabel zurückzukehren: Es gibt zumeist mehrere Wege, um zum Gipfel zu kommen – mehrere, aber nicht beliebig viele, und auch unter den gehbaren gibt es bessere und schlechtere. Daneben existieren aber auch viele Holzwege, die gar nicht zum Ziel führen, sondern vielmehr ins Gestrüpp und in Schluchten, aus denen man nur mit Mühe herausfindet. Richtige Landkarten sind dann unerlässlich. So steht es auch mit unserer analytisch-therapeutischen Arbeit. Das Lesen der Werke anderer kann von großer Hilfe sein; doch manchmal führt gerade das in die Irre. Was sich darin findet, mag nicht auf die Art von Patienten oder die konkrete Situation in der Behandlung zutreffen, oder es passt schlicht nicht zu meiner Persönlichkeit.
Allgemein kann ich aber sagen, was mir hauptsächlich als tiefe Veränderung auffällt: Ich habe im Laufe der Jahrzehnte immer wieder gelernt, alles Seelische – sei es bei mir, sei es beim Mitmenschen, sei es in der Kultur und Gesellschaft, sei es in den Religionen – als Ausdruck von Konflikt und von Komplementarität zu verstehen: wie alles innerlich im Widerstreit von Gegensätzen abläuft, doch wie sich allmählich diese Polaritäten gegenseitig ergänzen können. Ich habe erkannt, dass es unterschiedliche Arten gibt, mit diesen Gegensätzen umzugehen – jede davon ist sinnvoll. Doch das Wesentliche ist, dass fast alles annehmbar wird, wenn man es als Konflikt deutet. Das meine ich übrigens in seiner Form immer ganz spezifisch, ganz konkret: Die Psychoanalyse, und notgedrungen zu einem etwas geringeren Grad die Psychotherapie, ist die Kunst des Spezifischen. Das allgemein Gültige ist wissenschaftlich überaus wichtig; in der klinischen Arbeit bleibt es aber leer, wenn es nicht mit einem ganz spezifischen Erlebnisinhalt gefüllt wird. Das historisch je Einzelne gibt, wie in der Geschichtswissenschaft im Allgemeinen (und Psychoanalyse und Psychotherapie sind eine therapeutisch angewandte Form der Geschichtswissenschaft), den Ausgangspunkt von allem und bleibt das Wesentliche in jeder Beschreibung unserer klinischen Arbeit und Erfahrung.
Doch ist dieses Konfliktverständnis das einzig Wesentliche an unserer spezifisch psychoanalytisch orientierten Arbeit? Ich glaube nicht, aber ich verschiebe die Beantwortung dieser Frage auf den Schluss dieser Einführung sowie auf das Kapitel 8.
Jetzt greife ich vielmehr einen ganz anderen, mich seit vielen Jahren beschäftigenden Gedankengang auf, der mich oft von Kollegen und Freunden zu entzweien drohte, nämlich die heute im Brennpunkt des Interesses stehende Frage: Muss jede Deutung die Übertragung betreffen, um wirksam, »mutativ«, zu sein?8
Mit der Verschiebung meiner eigenen Arbeit im letzten Jahrzehnt von einer weitgehend psychoanalytischen Praxis im engeren Sinne, d. h. vier bis fünf Wochenstunden auf der Couch, zumeist über längere Zeiträume und mit relativ wenigen und kurzen Unterbrechungen, zu einer immer stärker auf weniger intensive, psychoanalytisch orientierte Psychotherapie und auf Supervisionen ausgerichtete Praxis spitzte sich die Gegensätzlichkeit noch zu, kam es doch im Rahmen meiner Tätigkeit zu einer noch stärkeren Beachtung der Dynamik außerhalb der Übertragung, zumindest in deren zurzeit üblichem Verstehen. Nehme ich aber die ursprüngliche Bedeutung von Übertragung von früheren Beziehungsgestaltungen auf die gegenwärtigen überhaupt, nicht allein auf den Analytiker, wie Freud diesen Begriff ja lange verstand und wie dies z. B auch Leo Rangell tut, also Übertragungsbeziehungen im weiteren Sinne, dann habe ich kein Problem mit dieser Auffassung: Die Arbeit muss immer am Lebendigen erfolgen, um zu wirken. Das Lebendige ist dort, wo jetzt die Affekte sind, also in den jetzigen Beziehungen und Erlebnissen. Aber zumeist verengt man dieses Verstehen heute auf das, was sich zwischen dem Analytiker und den Patienten abspielt.
So freute ich mich sehr, als vor sieben Jahren eine Arbeit des über Jahrzehnte hin führenden amerikanischen Psychoanalytikers Jacob Arlow erschien, die genau das auf den Punkt brachte, was mich beschäftigte: »Transference as Defense«9.
Vielerorts besteht nämlich heute die Meinung, dass die einzig wirksame Deutung die Übertragungsdeutung bzw. die einzig bedeutsame Arbeit die Arbeit an der Übertragung sei. Jede Äußerung des Analytikers solle sich daher auf die Beziehung zwischen den beiden und in der Gegenwart beziehen. Jenes Dogma geht auf Stracheys Satz, 1934, zurück, dass nur die Deutungen der Übertragung eine Änderung bewirken, also mutativ seien, und zwar ganz spezifisch solche, die sich auf die Kontrastierung der objektiven, vernünftigen Haltung der Hilfeleistung des Analytikers mit dem strengen, destruktiven Über-Ich beziehen. Diese Ansicht in allgemeiner Form, nämlich alles auf die Beziehung im Hier und Jetzt mit dem Ich des Analytikers hin zu deuten, wird mehr und mehr als allein seligmachende Wahrheit gepriesen und den Kandidaten eingetrichtert. In einem besonders krassen Fall hörte ich einen Patienten lebhaft protestieren, dass es ihm in einer Situation großer Prüfungsangst um ihn und die Angst vor dem Professor gehe und nicht um sie, die Analytikerin (eine lehrgetreue Kandidatin): »Nicht alles in meinem Leben dreht sich um Sie«, so lauteten seine Worte ungefähr. Auf diese Weise werde die Einfühlung durch die Lehre, das je Individuelle durch die Anwendung einer vorgefassten Schablone ersetzt.
1983 stellte Harold Blum dieses Dogma in seiner Arbeit »Die Stellung und der Wert der Deutung außerhalb der Übertragung« in Frage. Übertragung sei nicht der einzige oder ganze Fokus von Deutung oder die einzig mutative Art von Deutung. »Deutung außerhalb der Übertragung hat eine Stellung und einen Wert, der nicht einfach untergeordnet (ancillary), vorbereitend und ergänzend zur Übertragungsdeutung ist. Übertragungsanalyse ist wesentlich, aber Deutung außerhalb der Übertragung (extra-transference interpretation), einschließlich genetischer Deutung und Rekonstruktion, ist ebenfalls notwendig, komplementär und synergistisch.«10 Arlow bemerkt dazu, dass »kaum jemand bis heute die einseitige, technisch ausschließliche Ansicht von der Zentralität der Übertragungsdeutung angezweifelt habe.« Er fährt fort, dass er in Supervisionen und Seminaren oft bemerke, wie diese ausschließliche Konzentration auf mögliche Übertragungsderivate die Art und Weise verzerre, wie Analytiker ihren Patienten zuhören. Als Ergebnis scheine sich eine künstliche Insensitivität über das Gespräch in der analytischen Situation zu legen. Oft erlauben sich Analytiker merkwürdige (outlandish) Bemerkungen und bizarre Verbindungen, die im gewöhnlichen Gespräch sehr auffällig wären. »Sie hören dem Material nicht zu; sie lauschen nach Material, eben Übertragungsmaterial – They are not listening to the material; they are listening for material, transference material«. So werden beispielsweise die schmerzlichsten Erlebnisse von Patienten übersehen, um einen geringfügigen Übertragungspunkt aufzugreifen. In der Diskussion scheine niemand diese offenkundige Deplatzierung des Interessses überhaupt zu bemerken.
Oft werde dabei auch übersehen, dass die manifeste Übertragung eine durch Abwehr verzerrte Darstellung des unbewussten Konflikts in Form einer Kompromissfantasie sei (a defensively distorted set of derivative representations of the unconscious conflict as organized into some form of compromise fantasy). »Sie ist nicht notwendigerweise eine Rekapitulierung aktueller Geschehnisse der Vergangenheit … Der Vorgang der Pathogenese wird auf die Auswirkungen einer Reihe von ungünstigen, zerstörerischen zwischenmenschlichen Beziehungen reduziert, auf eine Art von schädlichem conditioning durch insensitive oder boshafte Elternfiguren (the process of pathogenesis is reduced to the effects of a set of untoward, deleterious interpersonal relations, a kind of harmful conditioning by insensitive or malignant caretakers).« Was dabei verlorengehe, sei der Abwehr- und Kompromisscharakter der Übertragung. Arlow kommt zur entscheidenden Feststellung: »Wenn man sich einseitig auf die Übertragung konzentriert und außer Acht lässt, wie sie im Zusammenhang der Abwehrbedürfnisse des Patienten auftaucht, verwandelt sich der therapeutische Prozess in eine gestelzte, intellektualisierte und dehumanisierte Erfahrung«11. »… Übertragungsphänomene müssen in Begriffen ihrer Funktion in dem Zusammenhang, in dem sie erscheinen, verstanden werden«12. »… Übertragungsphänomene dürfen nicht aus ihrem Zusammenhang gerissen werden; sie sollen nicht in Isolation gedeutet werden, sondern als Teil eines Kontinuums der Assoziationen des Patienten«13.
Ebenso findet Sander Abend, dass Übertragungsanalyse nicht der einzige Wirkfaktor bei der therapeutischen Arbeit in der Psychoanalyse sei14. Freuds Ansicht, dass Deutung die Übertragung auflöse, habe sich nicht bewährt, » has not stood the test of time«15.
Ich teile diese Ansicht von Blum, Arlow, Rangell und Abend und könnte dazu auch die von Anna Freud nennen: Man solle nichts in die Übertragung hineinzwängen. Auch stimme ich ihnen darin zu, dass Deutungen außerhalb der Übertragung von großer Hilfe und Wichtigkeit sein können. Gerade Deutungen dessen, was in Beziehungen in der äußeren Gegenwart abläuft, haben eine emotionale Dringlichkeit, die sie ideal zur Erkennung und Bearbeitung unbewusster Konflikte macht. Auch diese sind Geschehnisse im Hier und Jetzt und oft enorm affekt- und konfliktbeladen. Echte tiefe Einsicht kann bei deren Bearbeitung ebenso gewonnen werden wie bei der Arbeit am Hier und Jetzt der analytischen Beziehung (siehe z. B. meine Falldarstellung Agnes in dem Buch »Magische Verwandlung und tragische Verwandlung«). Es ist gerade die Außerachtlassung solcher Verwicklungen, die die Arbeit eben gestelzt und unfruchtbar machen kann. Sich aber wiederum ausschließlich auf diese zu beschränken wäre indes ebenso verfehlt.
Und drittens ist die ständige Einbeziehung der Genese, der historischen Entwicklung, unerlässlich. Traumata und die dadurch entstandenen Konflikte bestimmen sehr oft das Erleben durch die ganze Biographie hindurch und wiederholen sich in gespenstischer Weise in allen wichtigen mitmenschlichen Beziehungen, in der Übertragung auf den Therapeuten wie in der Ehe, in Freundschaften und bei der Arbeit. Deren Verständnis muss in all diesen Bezügen in Worte gefasst werden, und die zerrissenen Fäden der Bedeutung sollen wieder zusammengeknüpft und die damit verbundenen Gefühlsstürme und Konflikte ausgelotet werden.
Nun gilt es aber diesen letzten Punkt zu vertiefen: die Rolle der Traumatisierung, namentlich in deren schweren, ja extremen Formen. So betonen schon Fischer und Riedesser: »Die bloße Beschränkung auf das Hier und Jetzt, sei es im Rahmen erlebnisaktivierender therapeutischer Verfahren oder bei einer ausschließlichen ›Übertragungsanalyse‹, ist für Traumapatienten kontraindiziert. Die Vergangenheit unterwandert dann die Gegenwart, ohne dass sie als solche erkannt oder benannt werden kann. Der Therapeut unterlässt es, seinem Patienten bei der Differenzierung von Vergangenheit und Gegenwart zu helfen. Eine Psychotherapie mit Traumapatienten, die sich auf das sog. ›Hier und Jetzt‹ der therapeutischen Beziehung beschränkt, ist in Gefahr, retraumatisierend zu wirken«16. Ich merke nur an: Menschen mit schweren Neurosen sind fast immer solche, die schwer traumatisiert worden sind.
Dazu lesen wir in der schönen, jüngst erschienenen Arbeit von Ilse Grubrich-Simitis in Bezug auf die Arbeit mit den Kindern von Schwersttraumatisierten, nämlich der Holocaust-Überlebenden, wie wichtig gerade die Bearbeitung der Faktizität des Erlebten wie des Nichtbesprochenen, Verschwiegenen sei – im Gegensatz zur »Idolisierung von psychoanalytischer Arbeit ausschließlich innerhalb von Übertragung, ja zunehmend ausschließlich innerhalb nur noch von Gegenübertragung«17. Die neuen Forschungsergebnisse in Bezug auf die zwei Gedächtnissysteme haben »Psychoanalytiker mitunter zu vorschnell generalisierenden, allzu apodiktischen Schlussfolgerungen verleitet. Hierzu gehört die These, dass vorwiegend von kurativer Effizienz sei, was sich im Hier und Jetzt aus dem unmittelbaren Übertragungs-Gegenübertragungs-Geschehen hinsichtlich des im impliziten Gedächtnis Gespeicherten erschließen lasse, dass also die herkömmliche psychoanalytische Rekonstruktionsarbeit, nämlich die Berücksichtigung des im expliziten, im autobiographischen Gedächtnis Enkodierten, damit verglichen, mehr oder weniger als Zeitvergeudung gelten müsse und dass der historische Status rekonstruierter Ereignisse allenfalls von marginaler Bedeutung sei. Im Gefolge des Dekonstruktivismus bzw. des postmodernen Konstruktivismus wurde es in der Psychoanalyse schließlich Mode, wenn Analytiker und Analysand im Wirbel von Übertragung und Gegenübertragung intersubjektive narrative Wirklichkeiten kreieren, die sperrige Unverrückbarkeit äußerer Realität, an der doch jede Deutungsomnipotenz zerschellt, rundweg auszublenden«18. Sie spricht von einem »kollektiven Realitätsverlust«, der sich manchenorts in unserem Fach durchsetze und den auch ich mehrfach zu beobachten Gelegenheit hatte (insbesondere als ich meine eigene Arbeit mit einem Sohn von Holocaust-Überlebenden vorstellte). (2007 schreibt sie entsprechend: »Ganze Bereiche der klinischen Erfahrung werden ausgeklammert, wenn etwa behauptet wird, ausschließlich die Übertragung zähle, das Hier und Jetzt bilde die einzig relevante Zeitebene …«19.)
Es erscheine von besonderer Wichtigkeit, dass der Patient gegen seine eigene Verleugnungsnot im Analytiker einen wahrheitsbereiten »Zeugen« suche,20 das Zeugesein, das auch Warren Poland als für die Psychoanalyse überhaupt zentral wichtig, nicht nur bei so extrem Traumatisierten, dargestellt hat. Die Autorin fügt hinzu: »Das manifeste Hauptthema war seinerzeit in der Tat Wahrnehmung, historische Rekonstruktion und Anerkennung des Holocaust als apokalyptischer Wirklichkeit. Gemeinsam kämpften wir um das Rückgängigmachen von Entwirklichung, um De-Derealisierung«21. »So gesehen also tatsächlich: Realitätsprüfung an Stelle von Deutung«22. Dabei werde die reale Beziehung zwischen Analytiker und Analysand, im Vergleich zur Übertragungsbeziehung, vorübergehend das tragende Fundament der gemeinsamen Arbeit23. Im gleichen Sinne bekennen sich Marion Oliner und Janine Chasseguet-Smirgel neben der Übertragungsanalyse zu dieser Arbeit am Konflikt um die äußere Wirklichkeit.
Allgemeiner gesagt gibt sich die postmoderne Entwicklung überdies einer immer intensiveren Abwendung vom Historischen jeder Art hin. Die Geschichte wird weder im Großen von Kultur, Gesellschaft und Politik genügend studiert, noch eben im Individuellen recht gewürdigt. In Seminarien und Supervisionen begegne ich immer mehr dem Ansuchen, ja dem Anspruch, nichts von der Geschichte des Patienten berichten zu wollen, sondern gleich in medias res zum wirklich Wesentlichen, nämlich zu dieser einen Stunde zu gehen. Ich finde dies schade und blind.
In dem Zusammenhang muss ich auch erwähnen, dass mich die zur Zeit fast modische Behauptung eines »Mainstreams« in der Psychoanalyse befremdet. Als ich vor 40 Jahren in Ausbildung war, gab es bei uns in den USA die gleiche Einstellung: Nur die sogenannte klassische Ich-Analyse der New Yorker Tradition galt als richtige Analyse, und eine solche Orthodoxie war Voraussetzung für die Promotion zum Lehr- und supervidierenden Analytiker. Dabei galt oft ein resolutes Schweigen und eine rigide Haltung des Nur-Deutens und einer forcierten »Neutralität« als einzig richtige Technik und Qualifikation. In der Zwischenzeit löste sich dieser »Mainstream« zum Glück in viele Strömungen auf, die sich gegenseitig ergänzen und nicht bekämpfen. Die Haltung der Unduldsamkeit ist in den Hintergrund getreten und ist nun verpönt. Es gibt nicht mehr eine richtige psychoanalytische Technik, sondern manche, z. T. auch stark persönlichkeitsspezifische Varianten, wo die Akzente verschieden gesetzt werden, allerdings innerhalb bestimmter Grenzen: Jede Ausnützung der Asymmetrie in der Behandlung oder in der Supervision muss vermieden werden, sowohl jede autoritäre Besserwisserei oder Regelgebundenheit als auch emotionelle, sexuelle und aggressive Bedürfnisse auf Seiten des Analytikers oder Therapeuten.
Die Fülle dessen, was uns immer wieder begegnet oder überfällt, mag uns verwirren, aber sie macht den Reichtum des menschlichen Lebens und Leidens, des Unbewussten und Bewussten des Seelischen aus und spiegelt sich in der Fülle unserer Kunst und der aller Vereinfachung trotzenden Komplexität wider. Alle Einseitigkeit führt zu einer Starre und Enge, die dem Geist der menschlichen Begegnung wie dem des wunderbaren psychoanalytischen Dialogs zutiefst feindlich ist. Sie ist selbst eine Über-Ich-Einstellung, die bearbeitet werden muss und nicht ausagiert werden soll. Das Autoritäre, das sich in dieser Einseitigkeit bekundet, ist ein wichtiges, oft geschichtlich, ja kulturell bedingtes Problem des neurotischen Prozesses, nicht dessen Lösung und Heilung. Jede Orthodoxie ist ein Schutz gegen die tiefe Unsicherheit angesichts des Übermaßes der Anforderungen, die jede Behandlung an uns stellt. Diese Angst ist verständlich, aber soll zur Bescheidenheit und nicht zur Selbstgerechtigkeit führen.
Der Angelpunkt in all dem ist für mich: Wo ist der akute Konflikt? Wie finde ich Zugang zu den tieferen Schichten dieses akuten Konflikts? Wie deute ich die Abwehr und das Abgewehrte so, dass es dem aktuellen Erleben des Patienten am nächsten kommt? Anders ausgedrückt: Das Zentrum der Arbeit ist der innere Konflikt, nicht die Beziehung. Genauer: Es ist die Arbeit am inneren Konflikt, die aber nur durch die Beziehung und in der Beziehung möglich ist. Eine passende Metapher wäre: Beim Schnitzen geht es um das Herausarbeiten der wesentlichen Form. Aber das Schnitzen kann nur am Holz und mit der Hilfe eines Messers erfolgen. Die erstehende Form entspricht dem Konflikt, das Holz der Beziehung, das Messer den Interventionen des Analytikers. Beide Tätigkeiten – die Arbeit am inneren Konflikt und das Schnitzen – erfordern viel Können: die Kunst.
Ich verschärfe noch die Antithese: Wenn wir über die große Bedeutung der Traumata und der Außenwelt sprechen, sind wir bei einem anderen großen Gegensatz und Konflikt angelangt, der auch mein Leben fast durchlaufend geprägt hat: die Aufdringlichkeit der Außenrealität und die Missachtung der inneren Realität.
Da ich mich im Laufe der Jahrzehnte immer mehr daran gewöhnt habe, in Polaritäten, also dialektisch, zu denken, fiel mir zunächst dieses immer profilierter erscheinende Gegensatzpaar auf: die Antithese in unserer Arbeit, in unserer Identität und in unserem Berufsstand von innerer und äußerer Realität, von Subjektivität und von Objektivität oder – wenn wir die alte philosophische Dichotomie aufgreifen – von Verstehen und Erklären. Beide bestimmen ständig alles, was wir tun, so sehr wir uns auch als Botschafter der Innenwelt sehen möchten. Eine moderne Fassung dieser Antithese ist diejenige zwischen dem erzählerischen Charakter dessen, wie wir mit den Patienten arbeiten und über sie berichten, und dem immer größeren Druck, alles in Zahlen, in Diagrammen und in Prozenten ausdrücken zu müssen – die Spannung zwischen dem Qualitativen und dem Quantitativen also. Pascal sprach vom Gegensatz zwischen »l’esprit de finesse« und »l’esprit de géométrie«24.
Während meiner Lebens- und Arbeitszeit hat eine ungeheuer machtvolle Strömung die ganze moderne Psychiatrie und zunehmend auch die Psychotherapie erfasst, eine Strömung, die das meiste Persönliche, Intime und Langfristige in der Behandlung zu eliminieren anstrebt.25 Sie hat sich dabei tatsächlich oft nicht nur durch Worte, sondern auch durch Taten als erfolgreich erwiesen und damit im ganzen Gesundheitswesen den Einfluss, den das psychodynamische Verständnis auf die Behandlung aller Patienten ausgeübt hat, weitgehend zu untergraben vermocht. Biologische Behandlungen und Verhaltensmanipulierung werden mehr und mehr als ausschließliche Behandlungsmethoden angewendet. Die Arbeit mit individuellen Patienten und das geduldige Zuhören als wesentliche therapeutische Faktoren sind aus der Mode geraten und werden auch mehr und mehr von den Versicherungen abgelehnt.
Wir werden in unserer Identität als Psychotherapeuten durch diese immer mehr aufs Geschäftliche, Finanzielle, auf Kosteneffizienz (cost-benefit ratio) ausgerichtete Gesellschaft bedroht. Alles, was nicht statistisch beweisbar ist, sieht sich seiner Daseinsberechtigung beraubt.
Wenn ich daher von Zählen oder Erzählen spreche, ziele ich auf die Frage der Verleugnung des Personhaften zugunsten von Verdinglichung und Macht ab. Das ist gerade etwas, worunter viele unserer Patienten sehr leiden: dass nämlich so oft die Kategorien über die Person gestellt und damit der Einzelne verachtet und zugunsten eines Stereotyps übersehen wird. Macht ist weder gut noch böse. Das Problem liegt vielmehr darin, ob sie Mittel zum Zweck ist oder Selbstzweck. Die Macht als Mittel kann ein unentbehrliches und wertvolles Werkzeug bedeuten. Wird sie zum Hauptzweck, wandelt sich der Mensch und alles Menschliche zum Mittel zum Zweck. Es kommt zur Entpersönlichung, zur Entmenschlichung und zur Verdinglichung des anderen. Das aber bedeutet Verachtung und damit tiefste Beschämung, »nicht ein Mensch vor ihm … sondern ein Werkzeug in seiner Hand«26, ohne Würde, ohne Urteilsvermögen und ohne Namen, »wer alles verloren hat, verliert auch leicht sich selbst«27.
Die Themen von Vermenschlichung des Dinglichen und Verdinglichung des Menschen gehören nicht nur klinisch und literarisch zusammen und spielen theoretisch eine ganz bedeutsame Rolle als Sondervorgänge im weiten Bereich des Narzissmus, sondern sie lassen sich auch kulturkritisch als immer prominentere Aspekte unserer Welterfahrung feststellen. Damit schwindet die ruhige Würde der Menschlichkeit, geht im gehetzten Getriebe der Herrschaft der Werkzeuge unter. Die Instrumente werden vermenschlicht, die Personen verdinglicht.
Wo Verleugnungen einen breiten Raum einnehmen, da bedarf es magischer Lösungen. Bei uns heißt es: rasch, kurz, quantifizierbar und damit manipulierbar. Damit wird aber die Verleugnung dessen, was individuell, persönlich und spezifisch ist, eine Verleugnung, die so viele unserer Patienten in ihren Familien erlebt haben, durch die Träger der Behandlung selbst übernommen und verstärkt.
Solchen »simplifications terribles« gegenüber glaube ich, dass es ein Hauptanliegen der Psychoanalyse und der psychoanalytisch orientierten Psychotherapie sein muss, ihre Stellung als eine den Einzelnen in seiner Eigenart und in seiner je individuellen Problematik achtende, jeder Dehumanisierung entgegentretende Behandlungsform zu behaupten. Der Mensch muss als Selbstzweck und nicht nur als Mittel zum Zweck betrachtet und behandelt werden. Dies gehört zum Kern unserer Identität: Wir sind nicht vor allem die Vermittler der äußeren Realität, die Lehrer der Anpassung, sondern vornehmlich die Botschafter der Innenwelt und deren eigenen Würde. Alles, was dieser Aufgabe entgegensteht, wirft uns in ernste Identitätskonflikte. Schließlich können wir den Rahmen der äußeren Wirklichkeit auch nicht verleugnen, aber wir können ihn möglicherweise zu verändern versuchen.
Die magischen Erwartungen, die an nicht intensive und künstlich begrenzte Behandlungsweisen gestellt werden, sind angesichts der ökonomischen Beschränkungen und politischen Erwägungen zwar durchaus begreifbar, doch werden sie nur allzu oft dem Ernst dieser Erkrankungen und den Schwierigkeiten, mit dem neurotischen Prozess umzugehen, nicht gerecht. Was in der somatischen Medizin ohne weiteres verfochten und gemeinhin auch angenommen wird, nämlich dass schwere Erkrankungen oft sehr viel Aufwand benötigen, scheint plötzlich im Bereich der psychischen Störungen nicht vertretbar zu sein. Diese Asymmetrie hat viel damit zu tun, dass weiterhin ein Vorurteil gegen das Psychische überhaupt besteht, eine Psychophobie, ja, dass dieses Vorurteil eigentlich viel mit der immer größeren Verbreitung und gewaltigen Macht technologischer Erfindungen und deren Anwendung zu tun hat. Die Innenwelt soll sich ebenso bereitwillig quantifizieren und manipulieren lassen wie so vieles in der Außenwelt. Doch, wie es Dostojewski (in den »Aufzeichnungen aus dem Untergrund«) sagt, steht dieser »Kristallpalast« im Gegensatz zum »lebendigen Leben«. Es ist gerade diese Reduktion des Psychischen auf das Physische und Berechenbare, des Qualitativen auf das Quantitative und damit des Therapeutischen ganz auf das Geschäftliche und Ökonomische, die eine gesellschaftsweite massive Dehumanisierung bedeutet. Dehumanisierung ist aber eine der Kriterien der Perversion oder genauer: der »perversen Haltung gegenüber der Realität«, wie sie Lee Grossman28 genannt hat ( Kap. 5).
Seelenblindheit, die Blindheit gegenüber den seelischen Anliegen und Bedürfnissen des anderen, und Seelenmord, die Behandlung des anderen als eines Dinges, ausschließlich als eines Werkzeuges zur eigenen Befriedigung, das einfach weggeworfen werden kann, finden wir im weiten Rahmen von Gesellschaft und Kultur, in der weitgehenden Institutionalisierung und Bürokratisierung und der dadurch bewirkten »Entfremdung«. Das Leben wird scheinbar überrationalisiert; die menschlichen Werte werden in einseitigem Pragmatismus auf das Quantitative und das Nützliche als Spitze der Wertpyramide reduziert. Goethes Spruch »Was fruchtbar ist, allein ist wahr« verwandelt sich in subtiler Weise in »Was nützlich und zählbar ist, allein ist wahr«.
Ein Kollege von mir aus Griechenland, der mich gelegentlich konsultiert, ein bedeutender Forscher und Arzt, sprach beredt von »der Plage des Materialismus und der Feindschaft gegen den Humanismus, dem Abstieg der Zivilisation und der Malaise von Konkretheit und Buchstäblichkeit, dem Verhaftetsein an Dinge, die abgeleitet und sekundär sind, ohne den Funken von etwas anderem, das Versinken in die Sprache der Trivia. Es ist schwer, darüber zu sprechen«, fährt er fort, »man erscheint als seltsam und verrückt. Das Niveau des Diskurses ist überall abgesunken. Es ist wie ein Lala-Land, eine dumme glückliche Indifferenz.« Er vergleicht es mit der Zeit seiner Jugend, als die Kontraste mit dem Totalitarismus schärfer hervortraten.
Ich antwortete: »Es mag im Rückblick schärfer erscheinen. Ich finde es schwer, in der einen oder anderen Richtung zu argumentieren. Je älter wir werden, desto mehr neigen wir dazu, die Gegenwart zu beklagen und die Vergangenheit zu glorifizieren. Ich hatte Gedanken, die vor 50 Jahren nicht so anders waren als die, die Sie heute ausdrücken.« Dann wendet er sich aber der schrecklichen Bürokratisierung der Medizin und dem Überschießen der Diagnose »Depression« zu: »Es gibt keinen Platz mehr für Trauer und Leiden. Es ist, als ob die Leute ein konstitutionelles Recht darauf hätten, sich gut zu fühlen. Ich sage meinen Patienten: ›Nicht alles Leiden ist medizinisch‹. Durch die Medikalisierung des Lebens gerät alles unter Formen von Regulationen. Es ist eine Trivialisierung des Begriffs der Depression. Jetzt wird das Interview auf 25 Minuten bemessen, und wir geben ein Antidepressivum, bis es zu Gerichtsprozessen kommt. Ich kämpfe darum, mir persönliche Zeit für meine Seele herauszuschnitzen (carve out).« So weit mein Patient.
Was er in Bezug auf die Depression erwähnt, könnte ich in Bezug auf den Traumabegriff weiterführen. Ganz ähnlich sagt nämlich Steven Reisner, dass »Trauma in unserer Kultur und unserer Behandlung der Ort geworden ist, wo dem Narzissmus die Herrschaft überlassen wird«29. Eine Komponente davon sei, »dass Aggression und Rache gegen den angeblichen Ursprung des Traumas gerechtfertigt erscheinen. Genau so, wie der Traumatisierte in dieser Konstruktion den Anspruch auf ein Leben, das frei von Leiden ist, besitzt, werden die Quellen seines und unseres Leidens geschmäht, und oft wird gewaltsame Heimzahlung geduldet. So ist die Traumarhetorik voll von Spaltung in Gut und Böse, eine Widerspiegelung der narzisstischen Stellung«30. Im Gegensatz dazu betonte Freud (immer noch nach Reisner) »die wesentlich Form gebende (essentially formative) Qualität der traumatischen Erfahrung«31, nämlich dass Traumatisierung die Entwicklung des Selbst erleichtere. In der Psychoanalyse handle es sich um die Integrierung von Trauma und die Reifung durch diese Integrierung, d. h., daran zu wachsen, »lernen durch das Leiden«, wie es uns die griechische Tragödie lehrt, » pathei mathos«. Doch heute sei das Ziel nicht mehr das Erfassen und diese verinnerlichte Aneignung und Verwandlung des Traumas, sondern dessen Aufhebung und »Heilung« – eben durch eine narzisstische Fantasie: »Das Trauma, der Traumatisierte und die Traumabehandlung sind zum Stoff einer besonderen kulturellen Fantasie geworden«32, der Fantasie des Besondersseins und des Anspruchs auf Sonderrechte.
Doch zurück zum Hauptgedanken der »Malaise der Konkretheit«. Ich sprach früher33 über die übermäßige Betonung des Quantifizierbaren, des Zählbaren und die Abwertung des Qualitativen gerade auch in der Forschung wie schon vorher in der Praxis, wohl eine Sonderform dessen, was der Kollege mit »der Malaise der Konkretheit« meinte. Die für die Psychologie relevante Wahrheit und ihr Kausalverständnis lassen sich nicht auf quantitative Kategorien allein reduzieren; eine solche Reduktion kann sehr wohl, wie von Anna Ursula Dreher34 betont, nur durch massive Verkürzung erkauft werden.
Wir kämpfen mit der ständigen Gefahr, unserer eigenen Identität als Psychotherapeuten verlustig zu gehen, indem wir uns dem Druck der Systeme verkaufen – den äußeren Vorgaben, die sehr oft erst unsere Arbeit als Psychotherapeuten möglich machen, sie aber zugleich auf Gleise zwängen, die dem Wesentlichsten dessen widersprechen, was wir tun.
Ich zitierte im selben Sinn vor einigen Jahren Worte von Razumichin (in Dostojewskis »Verbrechen und Strafe«), wenn er entrüstet über seine progressiven Freunde spricht: »Werden Sie es glauben: sie verlangen völlige Unpersönlichkeit des Einzelnen und finden eben darin den Sinn des Lebens. Bloß nicht man selbst sein, bloß möglichst wenig sich selber gleichen! Und das halten sie für den allergrößten Fortschritt! … Die menschliche Natur wird von ihnen überhaupt nicht in Betracht gezogen, die wird hinausgejagt, die wird ignoriert! Ihrer Anschauung nach wird die Menschheit nicht von selbst, indem sie ihren historisch bedingten, lebendigen Entwicklungsgang fortsetzt, ihre gesellschaftliche Struktur schließlich entsprechend ändern und verwandeln, sondern umgekehrt: jenes soziale System, das irgendein mathematischer Kopf ausgeheckt hat, soll unverzüglich die ganze Menschheit anders einrichten und sie im Nu gerecht und sündlos machen vor jedem lebendigem Prozeß, ohne jeden historischen und lebendigen Entwicklungsgang… Darum mögen sie auch nicht den lebendigen Lebensprozeß: sie brauchen ja nicht die lebendige Seele! … Mit der Logik allein ist die menschliche Natur nicht zu überspringen! Die Logik sieht drei Möglichkeiten voraus, dabei gibt es ihrer eine Million!«35
Vielleicht die allergrößte Veränderung in meinem Werdegang überhaupt kann mit dem Motto bezeichnet werden, das ich von Paul Gray gelernt habe: Verstehen statt Verurteilen. Diese Auffassung liegt auch all den folgenden Fallstudien zugrunde, besonders der ausführlichsten, der einer besonders schwierigen Patientin ( Kap. 3 und Kap. 4, Kap. 7).