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Anne Grießer, Jahrgang 1967, ist in der Wallfahrtsstadt Walldürn geboren und aufgewachsen. In den vergangenen Jahren hat sich die in Freiburg lebende Schriftstellerin und Entertainerin als preisgekrönte Krimi-Autorin und –Herausgeberin weit über Baden hinaus einen Namen gemacht. Ihre Auftritte mit den »Mordsdamen« sind Kult. Nach »Das Heilige Blut« ist »Der Fluch des Blutaltars« der zweite historische Roman über Walldürn.

ANNE GRIESSER

Der Fluch des Blutaltars

HISTORISCHER ROMAN
ZUR WALLDÜRNER WALLFAHRT

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1. Auflage 2019

© 2019 by Silberburg-Verlag GmbH,

Lektorat: Matthias Kunstmann, Karlsruhe.

ISBN 978-3-8425-2139-1
eISBN 978-3-8425-1837-7

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Inhalt

KAPITEL 1: Miltenberg, im Oktober 1619

KAPITEL 2: Walthüren, im Mai 1622

KAPITEL 3: Walthüren, wenige Tage später

KAPITEL 4: Walthüren, im August 1622

KAPITEL 5: Walthüren, im September 1622

KAPITEL 6: Walthüren, zwei Tage später

KAPITEL 7: Walthüren, im Mai 1623

KAPITEL 8: Bei Mergentheim, im Sommer 1623

KAPITEL 9: Borkenheim am Neckar, im August 1624

KAPITEL 10: Borkenheim am Neckar, im September 1626

KAPITEL 11: Unterwegs, im September 1626

KAPITEL 12: Walthüren, im Oktober 1626

KAPITEL 13: Walthüren, Oktober 1626

KAPITEL 14: Walthüren, Oktober 1626

KAPITEL 15: Miltenberg, im November 1626

KAPITEL 16: Walthüren, im Dezember 1626

KAPITEL 17: Walthüren, 6. Dezember 1626

NACHWORT: Hexenprozesse

DANKSAGUNG

KAPITEL 1

Miltenberg, im Oktober 1619

Der Regen prasselte wie ein Kieselsteinschauer auf das Dach der Sankt-Jakobus-Kirche. Die gestärkten Röcke der gottesfürchtigen Bürgerinnen raschelten bei jeder Bewegung, ihre feuchten Wollumschläge rochen nach totem Schaf. Die Luft war muffig und reizte empfindliche Nasen zum lautstarken Entladen. Am Altar hob der Pfarrer eben die Hostie und leierte mit leiser Fistelstimme die magischen Worte der Wandlung herunter. Kaum jemand hörte ihm zu. Er war für seine ausladenden und eintönigen Andachten bekannt.

»Psst! Komm endlich! Wir haben nicht viel Zeit!«

Die leise Stimme ging im Regenguss unter.

Philipp Juncker seufzte. Er liebte den Sonntag, doch er hasste den Besuch der Messe. Danach erst begann der süße Müßiggang, der den Tag zu etwas Besonderem machte. Ein aufdringliches Geräusch aus nächster Nähe ließ den Jungen zusammenfahren. Es dauerte einen Moment, bis er begriff, dass es nur sein eigener Bauch war, der sich zu Wort meldete. Nahm der Gottesdienst denn heute gar kein Ende?

»Philipp! Worauf wartest du denn noch?«

Diesmal war die Stimme lauter. Sie kam von schräg hinten, wo sein Freund und Mitschüler Nikolaus saß.

Philipp warf einen kurzen Blick auf seinen Vater, zwei Plätze weiter links, auf seine Mutter, drüben auf der Frauenseite, passte einen günstigen Moment ab, duckte sich blitzschnell, huschte aus der Bank und schlich verstohlen aus einer Seitentür. Wie immer bot das allgemeine Gedränge beim Abendmahl die beste Gelegenheit, die Messe vorzeitig zu verlassen.

Vor der Kirchentür empfing Philipp ein lauwarmer, kräftiger Guss, der ihn im Nu durchnässte. Nikolaus stand bereits ungeduldig unter einer Kastanie, deren sprödes Laub den Regen nur wenig abhielt.

»Wo bleibst du denn, du lahmer Esel?«, drängte er Philipp. »Wir müssen uns beeilen!«

Philipp zuckte die Schultern. Obwohl er froh war, der Messe entronnen zu sein, lockten ihn Nikolaus’ neue Freunde nur wenig. Die Kohlsuppe im Elternhaus erschien ihm da schon wesentlich verführerischer. Doch Nikolaus war ganz versessen darauf, die Zwillinge Conrad und Johannes Hauck im Schwarzviertel zu treffen. Dort, in den engen Gassen der Vorstadt, würde Michael Juncker, Philipps Vater und ihrer beider Meister, sie bestimmt nicht suchen, wenn ihm ihr Verschwinden überhaupt auffiel.

Die Zwillingsbrüder standen lässig an eine Hauswand gelehnt, die Hände tief in den Seitentaschen ihrer weiten Beinkleider vergraben, ihre Gesichter trugen einen spöttischen Ausdruck. Sie waren in Miltenberg als Herumtreiber und Tagediebe bekannt und wer seinen Ruf nicht gefährden wollte, ging ihnen lieber aus dem Weg. Auch Philipp und Nikolaus hatten das bis vor Kurzem so gehalten, doch das war vor der Anwerbung gewesen.

Unter einem weit vorstehenden Erker waren die zwei leidlich vor dem Regen geschützt. Conrad, der Kräftigere der beiden, kaute auf einem Strohhalm herum. »Na, ihr Steineklopfer! Hat man euch früher gehen lassen?« Er zwinkerte Philipp so herablassend zu, dass dieser eine leise Wut in sich hochkriechen spürte. Besser ein Steineklopfer als ein dummer Sprücheklopfer, dachte er, aber natürlich wagte er nicht, das laut zu sagen, denn die Hauck-Zwillinge waren so alt wie Nikolaus, also zwei Jahre älter als er selbst, und zudem deutlich stärker. Er hätte unweigerlich böse Prügel bezogen, wenn er sich mit ihnen angelegt hätte. Also schluckte er seinen Ärger hinunter.

»Pah«, sagte Nikolaus. »Glaubst du etwa, wir haben um Erlaubnis gefragt?«

Philipp runzelte die Stirn. Sein Freund wollte sich vor den beiden Raufbolden groß aufspielen. Seit die Werber in Miltenberg eingetroffen waren, hatte Nikolaus sich verändert.

Johannes boxte Philipp feixend in die Seite. »Du bist auf jeden Fall zu schmal«, grinste er boshaft. »Wie eine Bohnenstange. Dich würden sie niemals nehmen.«

»Und euch?«, platzte Nikolaus heraus. Seine Neugier war nicht länger zu zügeln. »Haben sie euch genommen?«

»Na klar«, sagte Conrad großspurig. »Was hast du denn gedacht?« Er spuckte einen saftigen Bollen aus und wischte sich mit dem Handrücken den restlichen Speichel vom Mund. Einen kurzen Moment lang herrschte Stille und nur der Regen schlug kleine Krater in den schlammigen Boden. Dann ertönte die Glocke wie ein mahnender Hammerschlag und läutete zur Mittagsstunde.

Nikolaus’ Wangen röteten sich. »Sie haben euch wirklich genommen«, murmelte er und ein sehnsüchtiges Funkeln trat in seine Augen. »Was haben sie euch bezahlt?«

Johannes griff in seinen Hosensack und beförderte eine Handvoll Münzen zutage. Seine dicken Lippen verzogen sich zu einem selbstgefälligen Grinsen. Es waren mehr als der Monatslohn eines Handwerksgesellen – aber doch nicht so viele, wie Philipp vermutet hatte.

Nikolaus schien dies nicht zu stören. »Zum Henker!«, rief er begeistert aus. »Das ist ein hübsches Sümmchen! Was wollt ihr damit anfangen?«

»Na, was wohl?«, grinste Conrad. »Wir kaufen uns eine Pike und ein buntes Wams, damit unsere Feinde schon von Weitem die Flucht ergreifen, wenn sie uns sehen! Conrad und Johannes, der Schrecken aller Heere! Zwei Teufelskerle, die dem Tod ein Schnippchen schlagen. Das ist wahre Freiheit, Nikolaus! Ein flottes Leben voller Abenteuer. Was schadet es, wenn uns das Schicksal morgen trifft – wenigstens haben wir heute gelebt! Haben gestochen, gehurt, gesoffen, gespielt! So frei bist du nur als Soldat, Nikolaus!« Er holte tief Luft und nickte seinem Bruder zu, der nun seinerseits das Wort ergriff: »Das hier …«, er schlug sich auf den Hosensack, bis die Münzen klimperten, »… das ist ja nur das Handgeld. Der Sold wird noch viel höher sein! Und selbst das Handgeld reicht aus, um in Würzburg die jüngste und feurigste Hure der Stadt zu kaufen. Beim Teufel, genau das werde ich tun, bevor es in die erste Schlacht geht.«

»Würzburg?«, fragte Nikolaus erstaunt.

»Morgen geht es zur Musterung, du Schafkopf«, übernahm nun wieder Conrad das Wort. »Du hast wohl keine Ahnung vom Söldnerleben, was? Auf dem Musterplatz in Würzburg wird uns der Kommandant in Augenschein nehmen. Doch das ist nur Formsache. Mit dem Nachsprechen der Eidesformel wird der Vertrag geschlossen und wir sind Soldaten.«

Johannes klopfte noch einmal auf seine Münzen. »Vielleicht holt uns der Gevatter auf dem Schlachtfeld«, sagte er und zuckte die Schultern. »Vielleicht aber auch nicht. Wenn er uns verschont, werden wir als reiche Männer zurückkehren. Wir werden plündern, was nicht niet- und nagelfest ist und vielleicht werden wir sogar Offiziere, denn nirgends sonst kannst du es so schnell zu etwas bringen wie beim Heer. Verflucht noch mal, Nikolaus! Warum kommst du nicht einfach mit?«

Philipp hielt den Atem an. Er wagte es nicht, seinen Freund anzusehen. Nun war sie ausgesprochen, die Frage, vor der er sich schon den ganzen Tag gefürchtet hatte. Er wusste, wie sehr Nikolaus von einem Leben in Freiheit träumte. Wie schwer es ihm fiel, tagein, tagaus seiner Arbeit als Bildhauergeselle nachzugehen. Wie unruhig er war, seit es geheißen hatte, die Anwerber kämen nach Miltenberg, um Söldner für die Katholische Liga zum Kampf gegen protestantische Truppen zu beschaffen. Und jeder gesunde Mann mit Mumm in den Knochen könne auf dem Schlachtfeld sein Glück finden.

Philipp konnte diesem Ruf wenig Gutes abgewinnen. Freier als ein Handwerkerdasein mochte das Leben eines Landsknechtes wohl sein, aber auch frei von Annehmlichkeiten. Philipps Träume reichten immer nur bis ins nahe Walthüren. Denn dort lebte Katharina, die Frau seines Herzens, die er zu heiraten gedachte, sobald er alt genug dafür war. Ein verstohlenes Zwinkern von ihr ließ sein Herz höher schlagen als jeder Gedanke an weit entfernte Kriege.

Philipp war mit seinen fünfzehn Lenzen ohnehin zu jung für das Soldatenleben. Nikolaus hingegen war schon siebzehn und damit im besten Alter für den Eintritt ins Heer.

Conrad musste den wehmütigen Blick in Nikolaus’ Augen wahrgenommen haben. »Bis zum Einbruch der Dunkelheit sind die Werber noch da«, flüsterte er ihm ins Ohr. »Überleg es dir. Zu dritt wären wir unschlagbar!«

»Wir müssen jetzt nach Hause, Nikolaus«, schaltete sich Philipp verzweifelt ein. Er wollte seinen besten Freund, der ihm wie ein Bruder war, nicht verlieren. »Meine Mutter wartet mit dem Mittagsmahl.«

Johannes lachte laut auf und Philipp wusste im selben Moment, dass er einen Fehler begangen hatte. »Das Mittagsmahl wartet!«, äffte Conrad seinen Tonfall nach. Er gab Nikolaus eine leichte Backpfeife. »Na, geh schon, du Feigling. In deine warme Stube, in deine Werkstatt, zu deinen Steinen. Nicht jedermann ist eben fürs Soldatenleben geschaffen.«

Einen Moment lang sah es so aus, als wolle Nikolaus weglaufen, direkt zum Stand der Werber, doch dann ließ seine Anspannung nach, seine Schultern sackten nach unten und er folgte Philipp wortlos bis zum Vögeleinstor, zum Haus der Familie Juncker. Das dröhnende Gelächter der Zwillingsbrüder verfolgte sie noch eine ganze Weile.

»Später«, rief Conrad ihnen hinterher, bevor sie außer Hörweite waren, »später kommen wir zu euch in die Werkstatt, um unseren Abschied zu begießen! Vielleicht hast du es dir bis dahin anders überlegt, Nikolaus!«

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Durchnässt und niedergeschlagen erreichten sie beide schließlich das Junckerhaus. Meister Michael musterte seinen jüngsten Sohn und seinen Gesellen mit hochgezogenen Augenbrauen, sagte aber nichts zu ihrem vorzeitigen Verschwinden aus der Kirche. Philipp gegenüber versagte seine väterliche Autorität allzu oft, er brachte es einfach nicht übers Herz, dem Lieblingssohn – und dem einzigen, der noch im Elternhaus lebte – die notwendige Strenge entgegenzubringen.

Das Tischgebet wurde gesprochen und Martha Juncker schöpfte zuerst den Männern, dann sich selbst aus einem großen Topf Kohlsuppe in die Teller. Schweigend machten sich alle ans Mittagsmahl, denn Meister Michael schätzte es nicht, wenn bei Tisch sinnlos geplappert wurde.

Philipps Gedanken schweiften ab. Wie konnte er Nikolaus nur von dem Gang zu den Werbern abhalten? Das prahlerische Gerede der Zwillinge hatte mit Sicherheit Eindruck auf ihn gemacht. Aber die Wahrheit lautete: Noch nie war einer glücklich oder reich von den Landsknechten zurückgekehrt! Die meisten kamen gar nicht wieder, und wenn doch, dann arm wie die Kirchenmäuse, oft verkrüppelt, im besten Fall noch als Deserteure, die rechtzeitig das Weite gesucht hatten.

Warum sah Nikolaus das nicht ein? Die Abenteuerlust konnte man auch ohne Kriege befriedigen. Wer wusste schon so genau, wie sich die Lage im Lande noch entwickelte? Seit die protestantischen Delegierten vor Jahresfrist in Prag zwei kaiserliche Räte aus dem Fenster geworfen hatten, brodelte es allerorten. Wenn Nikolaus etwas erleben wollte, konnte er auf Wanderschaft gehen, seine Gesellenjahre in der weiten Welt verbringen und später Meister werden, ein Ziel, das sich wirklich lohnte. In zwei Jahren, wenn auch Philipp so weit war, konnten sie sogar gemeinsam losziehen, sich die Hörner abstoßen, danach eine Werkstatt übernehmen und sich eine Frau zum Heiraten suchen.

Wie immer, wenn er seinen liebsten Zukunftstraum träumte, schob sich das Bild von Katharina Keim vor Philipps inneres Auge. Ihre sanft geschwungenen Lippen, die gerade Nase, die hübschen, dichten Wimpern und die schmalen, blonden Brauen, die wie formvollendete Brücken ihre rehbraunen Augen überspannten. Die zarte Haut, die aufs Vorteilhafteste mit dem hellen Haar harmonierte.

Philipp zweifelte keinen Moment daran, dass er dieses Mädchen, das ihm schon in mancher Nacht den Schlaf geraubt hatte, eines Tages zur Frau nehmen würde. Daran konnte auch die Tatsache nichts ändern, dass er Katharina Keim erst viermal gesehen hatte, bei seinen Reisen mit dem Vater nach Walthüren. Und auch der Umstand, dass er bislang noch kein Wort mit seiner Angebeteten gewechselt hatte, ließ ihn nicht an einer gemeinsamen Zukunft zweifeln. Hatte sie ihm nicht jedes Mal, wenn er ihr in den Gassen des Wallfahrtsstädtchens begegnet war, zugelächelt, zweimal sogar gezwinkert? War das nicht Beweis genug, dass sie ihn wahrgenommen und Gefallen an ihm gefunden hatte?

In den schlaflosen Nächten, wenn Nikolaus im Nebenbett längst laut schnarchte, wagte Philipp es manchmal, ihren Namen laut auszusprechen. Allein der Klang löste ein wohliges Gefühl in ihm aus und genügte, um seinen Körper in Feuer zu versetzen.

»Pass doch auf!« Die Stimme seiner Mutter riss ihn aus den Gedanken. Martha Juncker wies auf Philipps Hemdbluse, auf der sich ein dunkler, nasser Fleck ausbreitete. »Du hast gekleckert. Auf das gute Sonntagshemd.«

»Mir schmeckt es eben!«, erwiderte Philipp keck. Er sah, wie seine Mutter zu einer Antwort ansetzte, doch in diesem Moment hielt vor dem Haus ein offener, einspänniger Karren. Eine tiefe, etwas derbe Stimme zügelte das Pferd. »Brr«, hörte man sie bis in die Stube tönen. »Brr. Bleib stehen, du verdammter Gaul!«

Eine zweite Stimme antwortete leiser, sie war nicht zu verstehen. Dann wieder die derbe: »Verzeiht mir den Fluch, Magister. Ich vergaß Eure Anwesenheit.«

»Mich musst du nicht um Vergebung bitten, Thaddäus, sondern deinen Herrn«, sagte der andere Mann nun vernehmbar. »Nicht mich hast du beleidigt, sondern ihn.«

Die zwei Männer stiegen vom Karren, der unter ihrem Gewicht ächzte und erst wieder verstummte, als er seine Last los war. Die derbe Stimme gehörte Thaddäus Stumpf, Nikolaus’ Vater. Die andere war Philipp gänzlich unbekannt.

»Geh öffnen«, sagte Michael Juncker. Ihm war keine Verwunderung anzumerken. Philipp lief zur Tür, während seine Mutter zwei weitere Holzteller auf den Tisch stellte und ein paar Kanten Brot dazulegte.

»Verfluchter … ähm, übler Regen!«, schimpfte Thaddäus Stumpf statt einer Begrüßung. Er war bis auf die Haut durchnässt und auf dem Fußboden der Juncker’schen Stube bildete sich eine große Wasserlache. Mantel, Beinkleider, der kupferfarbene Kopfpelz des Alten: Alles triefte. Selbst die langen Haare auf den Warzen in seinem geröteten Gesicht hingen klamm nach unten. Thaddäus bot dem Hausherrn die Hand zum Gruß, dann umarmte er seinen Sohn Nikolaus, wobei ein warmer Schimmer in seine Augen trat.

Der zweite Mann stand indes noch unter der Tür. Er war wesentlich schlanker als der alte Stumpf und obwohl er kaum jünger sein konnte, wirkten seine Züge knabenhafter, sein Körper strammer, sein Haar war zwar ergraut, aber noch üppig vorhanden. Auch er war durchnässt, doch ertrug er den Regen mit größerer Würde, als könne ihm ein wenig Wasser nichts anhaben. Seine Kleidung verriet seinen Stand, er war Priester.

Michael Juncker deutete eine kleine Verbeugung an, als er sich an den Fremden wandte: »Magister Jodocus Hoffius, seid ein willkommener Gast in meinem Haus.«

Magister Hoffius? Philipp spitzte die Ohren. Der Priester aus Walthüren, von dem seit Jahren unzählige und unerhörte Geschichten die Runde machten? Der im Rufe stand, Wunder zu wirken, die er mithilfe eines mächtigen, heilkräftigen Altartuches zustande brachte? Was wollte dieser berühmte Mann in Miltenberg? Was wollte er von Michael Juncker?

Erwartungsvoll starrte Philipp seinen Vater an, doch der verzog keine Miene. »Setzt Euch«, sagte er zu den Gästen. »Es gibt zwar nur Kohlsuppe mit ein wenig Speck und Brot – doch davon reichlich.«

Magister Hoffius machte eine unwirsche Handbewegung. »Wir sind nicht zum Essen gekommen, Juncker, wie Ihr Euch wohl denken könnt. Es gibt Geschäftliches zu bereden.«

Ergeben nickte Meister Michael und erhob sich vom Tisch. »Dann lasst uns nach drüben in die Werkstatt gehen, wo wir ungestört sind.« Er gab Thaddäus ein Zeichen, ihnen zu folgen, was dieser widerwillig seufzend tat, nachdem er einen sehnsüchtigen Blick auf den dampfenden Suppentrog geworfen hatte.

Kaum waren die drei Männer verschwunden, schob auch Philipp seinen leeren Teller von sich. »Ich bin satt«, unterbrach er seine Mutter, die ihm nachschöpfen wollte.

»Ich auch«, beeilte sich Nikolaus zu versichern.

»Nanu«, wunderte sich Martha Juncker. »Schmeckt euch die Suppe nicht?«

»Sie ist wunderbar. Ich werde später noch eine Schüssel davon holen.« Damit sprang Philipp vom Tisch auf und stürzte aus der Stube. Nikolaus folgte ihm auf den Schritt. Wie immer verstanden sie sich wortlos. Geduckt schlichen sie hinüber in die Bildhauerwerkstatt, die sie am Sonntag normalerweise mieden.

Meister Michael hatte seine Gäste in die Schreibstube gebeten. Dort standen drei Schemel, auf denen es sich die Männer mehr oder weniger bequem machten. Die Stube besaß ein großes, unverglastes Fenster, durch das der Meister seinen Gesellen, den Sohn und die Gehilfen in der Werkstatt im Auge behalten konnte, während er sich um die Rechnungen kümmerte.

Philipp und Nikolaus mussten sich tief unter einen Werktisch kauern, um nicht beim Lauschen erwischt zu werden. Das Fenster hatte den Vorteil, dass sie trotz der geschlossenen Tür jedes Wort verstehen konnten, welches drüben gesprochen wurde.

»… noch in diesem Jahr!«, sagte der Priester aus Walthüren. Seine Stimme klang resolut. »Wir haben lange genug gezögert. Die Zeit ist reif.«

»Philipp ist noch nicht so weit«, warf Meister Michael ein.

Eine Faust wurde auf den Tisch gehauen. »Das höre ich nun schon seit drei Jahren, Juncker! Ich habe genug davon! Ich habe Euch bereits eine Anzahlung auf den Auftrag gegeben und wenn es Euch nur ums Geld geht, dann sollt Ihr meinetwegen eine zweite haben. Aber es muss endlich losgehen, bevor wir im Kriegstreiben versinken! Ich vermute, dass die Kämpfe noch zunehmen werden. Gerade deshalb ist es so wichtig, unsere Wallfahrt zu stärken! Das Korporale ist eine Zuflucht für die vielen Menschen, die jedes Jahr nach Walthüren pilgern, um Hoffnung, Trost, Ablass und Mut in schweren Zeiten zu finden. Unsere Kirche ist dem Ansturm kaum noch gewachsen, zur Wallfahrtszeit muss ich draußen vor dem Portal einen zweiten, tragbaren Blutaltar aufbauen lassen! Wir brauchen einen prächtigen, großen, dem Wunder angemessenen Schrein, Juncker! Des Korporales würdig! Und wir benötigen ihn so bald als möglich. Auf die Meisterschaft Eures jüngsten Sohnes kann und will ich nicht länger warten. Ich habe den Auftrag schließlich Euch erteilt, Meister Michael, nicht Philipp. Ganz im Vertrauen, Juncker: In Walthüren, wo Eure Familie immerhin ihre Wurzeln hat, munkelt man seit Jahren, Euer jüngster Sohn sei geistesschwach und gar nicht in der Lage, eine Werkstatt zu führen. Erst recht nicht, ein Meisterwerk zu vollbringen.«

Nikolaus kniff Philipp vertraulich in die Seite, doch dieser beachtete ihn nicht, wagte kaum zu atmen, um ja kein Wort zu verpassen.

»Das ist nicht wahr«, antwortete Meister Michael ruhig. »Philipp ist verträumt. Er hat eine weiche Seele, die ihn jünger erscheinen lässt. Manche werden früher erwachsen, andere später. Meine älteren Söhne haben sich ebenfalls ganz unterschiedlich entwickelt: Johannes war ein Wunderkind, hat schon ganz früh seine handwerklichen Glanzleistungen erbracht und viele bedeutende Aufträge erhalten. Mein Ältester hingegen, Zacharias, hat einige Zeit gebraucht, bis sich sein ganzes Können entfaltete. Heute lebt er als Bürger in Würzburg.« Ein leiser Stolz schwang in Meister Michaels Stimme mit. »Aber Philipp«, fuhr er fort, »Philipp wird sie alle übertreffen! Wartet es nur ab, Magister! Ich weiß, wovon ich spreche. Gerade seine Verträumtheit und sein weiches Gemüt sind beste Voraussetzungen für die Schaffung vollendeter Kunstwerke. Er hat von all meinen Söhnen die sanftesten Hände und wenn er erst die Technik ausreichend beherrscht, wird er Skulpturen von solcher Schönheit, Reinheit und Lebendigkeit schaffen, dass Euch der Atem stockt, Magister Hoffius!«

»Nun«, sagte der Walthürner Priester scharf, »so lange können wir nicht warten. Entweder Ihr beginnt Euer Werk noch in diesem Jahr, oder ich muss den Auftrag einem anderen übergeben.«

»Michael«, schaltete sich nun erstmals Thaddäus Stumpf ins Gespräch ein. Die Lauscher unter dem Tisch zuckten zusammen, denn sie hatten die Anwesenheit des Alten fast vergessen. »Michael«, sagte er noch einmal, diesmal nachdrücklicher. »Hast du meinen Sohn denn ganz vergessen? Immerhin hast du nicht nur einen Lehrling, sondern auch einen Gesellen, der seine Fähigkeiten endlich beweisen möchte!«

»Da hört Ihr es!«, sagte Hoffius. »Es gibt keinen Grund, noch länger zu zögern! Teilt mir so bald als möglich Eure Pläne mit und gebt mir Bescheid, welche Materialien Ihr benötigt, damit ich das Werk in die Wege leiten kann.«

»Nikolaus!«, schnaubte Meister Michael, nun nicht mehr ruhig. »Bei Gott, der Junge ist ein Steinmetz! Er stammt aus einer Steinmetzen-Familie und wird auch immer ein solcher bleiben. Dieses Handwerk beherrscht er – aber ein Künstler, ein Bildhauer von Format wird er niemals sein! Thaddäus, du weißt so gut wie ich, dass ich deinen Sohn nur unserer alten Freundschaft zuliebe als Lehrling bei mir aufgenommen habe. Ich bin nicht mehr der Jüngste. Ich brauche einen Nachfolger. Und der wird sicherlich nicht Nikolaus Stumpf heißen!«

Eine anhaltende Stille folgte. Eine Stille, die sich in der Schreibstube ausbreitete wie eine Eisdecke und auch die beiden Jungen unter der Werkbank erfasste. Thaddäus Stumpf war der erste, der nach einer schieren Ewigkeit wieder sprach. »So ist das also«, sagte er leise. »Ich danke dir für deine Aufrichtigkeit, alter Freund.«

Magister Hoffius räusperte sich. »Eure Nachfolge könnt Ihr später regeln, Juncker. Ich muss wissen, ob Ihr Euch nun unverzüglich ans Werk macht oder nicht.«

Wieder breitete sich Stille aus, dann antwortete Meister Michael erschöpft: »Philipps Lieblingsmaterial ist Alabaster. Wir werden den Altar in Alabaster gestalten. Der Hauptverantwortliche bin ich, Philipp ist mein Gehilfe. Er wird eben schneller erwachsen werden müssen, als Gott es vorgesehen hat.«

»Wohl gesprochen, Juncker. Das höre ich gern. Nun, Alabaster ist teuer. Ich werde sehen, was sich machen lässt. Jetzt kann ich mich getrost auf den Rückweg machen.«

»Bitte geht nicht mit leerem Magen!«, insistierte Meister Michael. »Nachdem alles Wesentliche besprochen ist, erweist mir die Ehre, einen Teller Kohlsuppe und frisches Brot mit mir zu speisen.«

»So soll es sein.«

Die Männer erhoben sich, schwungvoll der Priester, müde und schwerfällig die beiden anderen. Sie verließen die Werkstatt, ohne die Lauscher unter dem großen Tisch zu entdecken.

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Der Regen trommelte noch immer sein gleichmäßiges Lied auf die Dächer. Doch die Tonart hatte sich geändert. War es vorher Marschmusik gewesen, ein Stakkato, das Abenteuer und Aufbruch verhieß, so hatten sich die Trommelschläge nun in Moll-Akkorde verwandelt, die ein Trauerlied begleiteten. Philipp wusste, dass er etwas sagen, die richtigen Worte finden musste, um seinem Freund das eben Gehörte zu erleichtern. Doch es wollte ihm nicht gelingen. Denn obwohl er ahnte, wie schwer Meister Michaels Urteil Nikolaus getroffen haben musste, hörte er sein eigenes Herz singen. Nie zuvor hatte er von seinem Vater ein solches Lob vernommen! Zwar hatte Meister Michael ihm gelegentlich wohlwollend zugenickt, aber nie hatte er auch nur im Ansatz zu verstehen gegeben, welch große Hoffnungen er in Philipps Fähigkeiten setzte!

Ein Altar! Ein großes, gottgefälliges Werk – und Meister Michael wollte es in seine Hände legen! Ein Altar, der das wundermächtige Heilig-Blut-Korporale der Stadt Walthüren beherbergen sollte, so viel hatte Philipp den Worten des Magisters entnehmen können. Es stimmte, Alabaster, das fein schimmernde, edle Gipsgestein, war sein Lieblingswerkstoff. Und es stimmte auch, dass er sanfte Hände besaß, die sich weniger für die grobe Arbeit, dafür umso mehr für die Feinheiten der Bildhauerei eigneten. Zum ersten Mal wurde Philipp bewusst, wie sehr er sein Handwerk liebte. Es war ihm schon immer leicht gefallen, Steine zu behauen und Figuren herauszuarbeiten, doch das hatte er als selbstverständlich erachtet. Schließlich waren auch alle seine Brüder Bildhauer geworden. Aber nie hatte er gehofft, einmal etwas wirklich Großes zu schaffen, ein bedeutendes Kunstwerk, das sein eigenes bescheidenes Dasein um Jahrhunderte überdauern konnte. Welch erhebender Gedanke!

Philipps Herz machte einen Sprung, als ihm einfiel, was die Arbeit in Walthüren noch bedeutete: Er würde Katharina nahe sein! Sie täglich sehen. Vielleicht konnte er seiner Angebeteten schon viel früher einen Heiratsantrag machen, als er es selbst in seinen kühnsten Träumen für möglich gehalten hatte.

»Ein Steinmetz also«, erklang plötzlich Nikolaus’ Stimme und riss ihn aus den rosigen Gedanken. »Nichts weiter.« Der Freund klang so verbittert, dass Philipp ein Schauer über den Rücken lief. »Vielleicht sollte ich doch aufbrechen und mich als Landsknecht anwerben lassen. Dort nehmen sie auch einfache Steineklopfer.«

»Nein!«, rief Philipp. »Hör auf, so zu reden!« Er wollte Nikolaus die Hand auf die Schulter legen, doch dieser stieß ihn grob zurück. »Die Worte meines Vaters waren hart. Zu hart! Du darfst nicht alles glauben, was du gehört hast. Meister Michael ist mein Vater und die Vaterliebe macht ihn blind. Ich weiß wohl, dass ich sein Augapfel bin. Deshalb will er nur meine Fähigkeiten anerkennen und verschließt seinen Blick vor deinen! Du bist ein guter Bildhauer, ich weiß es. Ein anderer Meister wird das erkennen, glaub mir! Wirf dein Leben nicht weg, indem du es als Soldat aufs Spiel setzt!«

»Du willst mich trösten? Wie edel von dir! Aber tief in deinem Innern weißt du, dass dein Vater recht hat.«

»Das ist nicht wahr! Du wirst deine eigene Werkstatt haben, besser noch: Wir werden gemeinsam eine Werkstatt haben und wir werden …«

»Verträumt und ein bisschen zart«, unterbrach Nikolaus ihn spöttisch. »So hat Meister Michael dich beschrieben. Und verdammt blauäugig – das hat er vergessen. Träum weiter, Junge!«

Nikolaus kroch unter der Werkbank hervor und stand breitbeinig vor Philipp.

»Lass uns nicht streiten«, stammelte dieser. »Und tu nichts Unüberlegtes!«

Nikolaus sah aus, als wolle er noch etwas sagen, doch dann drehte er sich um und stapfte aus der Werkstatt.

»Warte!«, rief Philipp ihm hinterher, doch bis er unter dem Tisch hervorgekrochen war, fehlte von seinem Freund bereits jede Spur. »Nikolaus!« Er rannte zur Tür, riss sie auf – und prallte mit Conrad und Johannes zusammen, die ihn mit glasigen Augen angrinsten. Sie waren schwer bepackt und ihr Atem stank nach billigem Wein.

»Hoppla«, sagte Conrad mit schwerer Zunge. »Schön, dass wir dich antreffen, Kleiner. Wo ist denn dein Freund?«

»Lasst mich vorbei! Nikolaus ist …« Philipp versuchte, die beiden aus der Werkstatt zu drängen, aber sie lachten nur und stießen ihn zur Seite.

»Ist er endlich zum Werber gegangen?«, fragte Johannes. »Dann werden wir auf ihn warten, um gemeinsam auf den Krieg zu saufen.« Er stellte einen großen Krug Branntwein auf die Werkbank und lümmelte sich daneben. »Willst du auch einen Schluck, Kleiner?

»Nein, ich …«

»Na los. Trink schon. Wer weiß, wann du wieder Gelegenheit dazu bekommst.« Grob stieß er Philipp den Krug in den Mund und zwang ihn, das Gesöff zu schlucken. Philipp hustete, der Branntwein lief ihm rechts und links aus den Mundwinkeln. Die Zwillinge grinsten. »Und?«, fragte Johannes. »Ein Wohlgenuss, nicht wahr?«

Das Gesöff schmeckte widerlich, nach Teer, faulen Äpfeln und rohen Zwiebeln, aber nachdem der erste Abscheu überwunden war, ergriff Philipp trotzig den Krug und nahm drei weitere, tiefe Züge.

»Ich muss Nikolaus suchen«, sagte er. »Wir haben uns gestritten.«

»Der kommt schon wieder«, zuckte Conrad die Schultern. »Der ist eh zu feige, um sich anwerben zu lassen. Dann saufen wir eben mit dir, Philipp.« Er rülpste laut. »Das ist ein Befehl!«

Johannes schob ihm den Krug hin. »Trink.«

Philipp nahm drei weitere Züge und fühlte seinen Widerstand erlahmen. Eine angenehme Wärme breitete sich in ihm aus. Hatten die Zwillinge nicht recht? Sollte Nikolaus ruhig schmollen! Er würde sich schon wieder beruhigen.

Der Branntwein schmeckte mittlerweile recht passabel und rann leicht über die Zunge. Zu Philipps Überraschung hatten sich die Zwillinge verdoppelt und standen nun zu viert vor ihm. Ein wenig unscharf waren sie obendrein. Zumindest an den Rändern. Sie kicherten.

»Wasss gibt’s denn zzu lachen?«, fragte Philipp. Die Worte ließen sich nur mühsam formen.

»Nach den paar Tropfen bist du schon betrunken?«, fragte Conrad und schüttelte verächtlich den Kopf.

»Betrunken? Unsinn.« Neugierig deutete Philipp auf die Rucksäcke und Truhen der beiden. »Wass habt ihr denn da?«

»Unser Marschgepäck«, verkündete Johannes stolz. »Feste Kleidung, ein paar Schuhe zum Wechseln, ein scharfes Messer. Und das hier …«, er deutete auf ein Holzfass. »Das ist Schießpulver.«

»Schschießpulver?«

»Jawohl. Jeder Soldat trägt neben der persönlichen Habe einen Teil der Ausrüstung. Uns hat man ein Fässchen Schießpulver anvertraut.«

Philipp wankte auf das Gepäck zu, den Krug in der Hand, dessen Inhalt sich allmählich dem Ende entgegen neigte. »Isst das nicht gefährlich?«, fragte er und hielt sich an der Werkbank fest. Das Fässchen schlug Purzelbäume vor seinen Augen.

»Gefährlich? Natürlich, du Dummkopf! Wenn du es anzündest, hast du das schönste Feuerwerk, das du dir denken kannst! Allerdings wirst du es nicht lange genießen können.«

»Dann bringt das lieber raus.«

»Wir haben ja nicht vor, es anzuzünden!«

Philipp war sich nicht so sicher, er kannte die Zwillinge gut genug.

»Ich packe es lieber weg«, murmelte er und trug das Fass hinüber in die Schreibstube. Dann trank er den Krug mit dem köstlichen Branntwein leer. Conrad und Johannes hinderten ihn nicht daran. Sie sagten gar nichts, lachten auch nicht mehr. Hatte es ihnen die Sprache verschlagen?

»Habt ihr noch mehr davon?«, wollte Philipp wissen und fand sich auf dem Boden wieder. Er war über seine eigenen Füße gestolpert.

Zwei starke Arme zogen ihn hoch. »Ich denke, du hast genug!«, hörte er die tiefe Stimme von Thaddäus Stumpf.

Augenblicklich fühlte er sich ein wenig ernüchtert. »Esss ist nicht so, wie ess ausssieht …«

»Schon recht.« Der Alte gab ihm einen Klaps auf den Rücken. »Ich werde es deinem Vater nicht erzählen. Ich war schließlich auch einmal jung.« Dann blickte er sich im Raum um. »Ich suche meinen Sohn.«

»Wir haben uns gestritten«, erklärte Philipp.

»Er reist mit mir nach Walthüren. Seine Lehrzeit ist um. Nun wird er mein Gehilfe. Er ist ein guter Steinmetz.« Der Alte stapfte aus der Werkstatt.

»Nach Walthüren?« Philipp drehte sich um, doch die Bewegung geriet ihm zu schnell und der Raum begann sich vor seinen Augen zu drehen. Dann wurde alles dunkel.

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Als er wieder erwachte, fand er sich allein in der Werkstatt. Sein Schädel brummte und hinter den Augen saß ein stechender Schmerz. Er hatte keine Ahnung, wie lange er weggetreten war. Da er den Branntwein noch auf der Zunge spürte, konnte es nicht allzu lange gewesen sein.

»Nikolaus?«, rief er. »Conrad? Johannes?«

Er erhielt keine Antwort.

»Meister Thaddäus?«

Nichts. Das Gepäck der Zwillinge war ebenfalls verschwunden. Nur der leere Krug stand noch auf der Werkbank.

Mühsam rappelte sich Philipp auf. Der Boden schien sich verflüssigt zu haben, jeder Schritt war eine Herausforderung. Ein spaßiges Gefühl, hätte nur sein Schädel nicht so geschmerzt!

Auf einmal kitzelte ein seltsamer Geruch seine Nase. Er kam aus der Schreibstube und war scharf und beißend. Philipp schlurfte hinüber, doch die Stube war menschenleer. Das Fässchen mit dem Schießpulver stand noch auf dem Schemel. Ein kleines, blaues Flämmchen tanzte darauf zu.

Jetzt erkannte Philipp den Geruch. Es war Schwefel! Plötzlich fiel alle Benommenheit von ihm ab und er konnte einen Moment lang klar denken. Feuer! Himmel, sobald die Flamme das Pulverfass erreichte, würde die gesamte Werkstatt in die Luft fliegen! Er musste etwas unternehmen!

Fieberhaft schätzte er die Entfernung zwischen der Flamme und dem Fässchen ab. Unmöglich. Er konnte es nicht rechtzeitig schaffen. Das Feuer war nicht mehr zu löschen, seine einzige Chance lag in der Flucht. Er musste hier raus, so schnell wie möglich.

Philipp spürte sein Herz bis zum Hals pochen. Seine Beine wogen zentnerschwer. Die Füße verhedderten sich, er stolperte und stürzte zu Boden.

Ein alles betäubender Knall zerfetzte die Luft, ein durchdringender Gestank erfasste seine Nase, ein grenzenloser Schmerz seinen gesamten Körper. Dann versank die Welt erneut in Schwärze.

KAPITEL 2

Walthüren, im Mai 1622

Vogelgezwitscher drang durch das Fenster in die enge Schlafstube unter dem Dach, Stimmengewirr, das Klappern eines Karrens und die Geräusche der alltäglichen Arbeiten. Es musste schon recht spät am Morgen sein, denn die Luft erwärmte sich zunehmend. Seit Tagen schien die Sonne ungewöhnlich heiß. Die Felder vor den Stadttoren sogen Licht und Wärme gierig auf, denn der Winter war endlos und eisig gewesen. Kein Mensch wusste, wie lange der frühe Sommer noch anhalten würde. Im vergangenen Jahr hatte es auch im Juni noch geschneit, die Schafe waren auf der Weide erfroren und zu Pfingsten stürzten gemeinsam mit riesigen Hagelkörnern dreizehn Vögel tot vom Himmel. Böse Zeichen, wisperten die Leute und bekreuzigten sich.

Philipp drehte sich im Bett um und verkroch sich tiefer unter seinem Strohsack. Sonne, Regen, Schnee und Hagel – was juckte ihn das Wetter? Am liebsten hätte er den ganzen Tag auf seiner Bettstatt verbracht, wo er mit niemandem reden musste und vor den Fallstricken des Alltags gefeit war. Das ganze Leben war eine einzige tiefe Grube, in die man jederzeit stürzen konnte. Jeder Schritt ein Wagnis, jeder Tag barg Gefahren. Er hasste es, aufzustehen. Nur im Bett, in seiner engen Kammer, fühlte er sich frei und geborgen. Nur hier schlich sich gelegentlich ein Lächeln auf seine Lippen, hier, wo keiner ihn sah und störte. Warum konnte er nicht einfach den ganzen Tag in dieser Stube bleiben?

Leise Schritte trippelten die schmale Treppe empor. Philipp zog sich den Strohsack übers Ohr. Vielleicht ließen sie ihn ja heute in Frieden, wenn er einfach schwieg?

Die Schritte verharrten vor seiner Tür, ein kurzes Zögern folgte, dann klopfte jemand vorsichtig an.

Anna. Er hatte sie längst am Gang erkannt, niemand sonst setzte die Füße so sorgfältig und bedächtig auf. Philipp hielt die Luft an und bewegte sich nicht. Er konnte das unsichere Innehalten seiner Schwägerin regelrecht riechen, ihren leisen Seufzer erahnen. Würde sie umdrehen? Leise nach unten tänzeln und ihrem Gatten Zacharias mitteilen, dass sein Bruder noch schlief?

Die Klinke bewegte sich und ein scharrendes Geräusch ertönte. Philipp spürte tiefen Verdruss in sich aufsteigen. Natürlich ging sie nicht. Sie ließen ihn niemals in Ruhe. Niemals.

Annas kleine Hand legte sich auf seine Schulter. »Aufstehen, Philipp! Es ist ein so wundervoller Tag. Willst du ihn verschlafen?«

Wundervoll? Was sollte an einem Tag wundervoll sein, wenn man ihn nicht sehen konnte?

»Die Sonne lacht, lieber Schwager. Und wir sind schon fast mit dem Frühstück fertig. Nun komm schon.«

Sie drehte sich um, Philipp hörte es am Rascheln ihres Kleides. Dann stiegen die zarten Füße wieder die Treppe hinab, beschwingter, als sie heraufgekommen waren, jetzt, da die unangenehme Aufgabe des Weckens erledigt war.

»Die Sonne lacht«, ahmte er hämisch ihre Stimme nach, als er wieder allein war. »Die Sonne lacht …«

Die dumme Sonne konnte ihm gestohlen bleiben. Was hatte er schon von ihrem Strahlen, wenn er den blauen Himmel nicht sehen konnte, die kleinen Schäfchenwolken, die darüber zogen, die grünen Wiesen vor der Stadt und die bunten Blumen?

Ja sicher, er konnte die warmen Sonnenstrahlen spüren. Wenn er sich ihnen zu lange aussetzte, verbrannten sie seine Haut und er schwitzte. Und das war auch schon alles, was die Sonne ihm bescherte. Er pfiff auf sie, genau wie auf Regen, Schnee oder Nebel.

Fluchend setzte er sich auf. Es nützte ja nichts. Wenn er nicht nach unten ging, würde das nächste Mal nicht die zarte Anna kommen, sondern sein Bruder persönlich, und dessen Weckmethoden waren weit weniger sanft als die seiner Gattin.

Philipp hatte in den vergangenen Monaten jeden erdenklichen Trick ausprobiert, um sich einen Tag Ruhe zu verschaffen. Funktioniert hatte keiner. Langsam tastete er sich zum Waschtisch. Er setzte die Füße vorsichtig auf, denn wenn die Schritte auch nur ein bisschen zu groß gerieten, schlug er sich den Zeh schmerzhaft am Tischbein an.

Das kalte Wasser, das Anna am Vorabend frisch in die Schüssel gefüllt hatte, war mittlerweile lauwarm geworden. Ein paar getrocknete Rosenblätter schwammen darin herum. Philipp klatschte sich eine Handvoll ins Gesicht, benetzte auch seine Arme, dann hielt er inne. Das musste an Körperpflege bis zum Abend genügen – ein Krüppel brauchte schließlich nicht nach Rosenwasser zu duften.

»Krüppel«, sagte er laut. »Krüppel.« Damit er es nur nicht vergaß.

Auf dem Weg zu seinen Kleidern, die er auf dem einzigen Schemel in seiner Kammer abgelegt hatte, stieß er sich dann doch noch den Zeh an. Verflucht! Was stand da auf dem Boden herum, mitten im Weg, wo es nicht hingehörte?

Ein leises, überschwappendes Geräusch erinnerte ihn daran: der Nachttopf. Er grinste böse. Anna würde aufwischen müssen, wenn sie den Topf leerte.

Dann seufzte er. Warum war er eigentlich so gehässig? Anna hatte ihm schließlich nichts getan – sie hatte ihn nur geweckt und das in bester Absicht und auf Geheiß ihres Ehemanns, seines Bruders. Genau genommen war Anna immer freundlich zu ihm und bemühte sich um sein Wohlwollen. Sie leerte seinen Nachttopf freiwillig, denn Philipp war durchaus in der Lage, diese Tätigkeit selbst zu verrichten. Warum konnte er ihr dafür nicht einfach dankbar sein?

Tief sog er die warme Luft durch die Nase. Er wusste genau, warum er seine Schwägerin so scheußlich behandelte. Weil er ein Krüppel war. Ein hässlicher, grausamer Krüppel. Und als solcher durfte – nein, musste er sich auch hässlich und grausam betragen. So einfach war das.

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»Mein Bruder gesellt sich doch noch zu uns!« Zacharias klang spöttisch und ein wenig ärgerlich. »Was verschafft uns die Ehre? Hunger? Durst? Oder ist dir nur wieder eine Bosheit eingefallen, mit der du uns den Tag verderben kannst?«

Schweigend umrundete Philipp den Tisch, bis er zu dem Platz gelangte, der üblicherweise für ihn bestimmt war. Er tastete nach dem Bierkrug, nach der Schüssel mit Hafergrütze, nach dem Löffel, doch seine Hände griffen ins Leere.

»Warum musst du ihn immer ärgern, Zacharias?«, seufzte Anna. »Lass ihn in Ruhe.« Philipp hörte, wie sie aufstand, Richtung Küche lief, um ihm sein Morgenmahl zu bringen. Weit kam sie allerdings nicht.

»Bleib sitzen, Weib.«

»Ich will ihm doch nur eine Schüssel Hafergrütze …«

»Setz dich wieder an den Tisch, sage ich.«

Anna gehorchte. Sie wusste ebenso gut wie Philipp, was der Tonfall ihres Gatten zu bedeuten hatte: Der Hausherr stand kurz vor einem seiner gefürchteten Wutausbrüche. Die kamen schnell, unvorhersehbar und waren gewaltig.

»Ich glaube, mein Bruder wird sich heute sein Morgenmahl selbst holen.« Nun klang die Stimme leise und bedrohlich, ein gefährliches Anzeichen.

»Aber zuerst …«, fuhr Zacharias unerbittlich fort, »… zuerst wird er sich ordentlich waschen. Wir leben hier in einem Bürgerhaus, nicht im Schweinestall. Du stinkst, Philipp, und das dulde ich nicht in meinem Haus! Hast du mich verstanden?«

Eine böse Erwiderung lag Philipp auf der Zunge, doch er schluckte sie hinunter. Stattdessen senkte er den Kopf, einmal, zweimal, ein angedeutetes Nicken nur – gerade genug, um Zacharias keinen Anlass zum Wutausbruch zu liefern.

»Gut«, sagte Zacharias, ein wenig ruhiger. »Sobald du sauber bist – und ich meine wirklich sauber, auch dort, wo du jede Nacht an dir herumfummelst –, sobald du also nicht mehr stinkst, kannst du in die Küche gehen, dir einen Teller Grütze holen, einen Krug Bier, und essen und trinken, soviel du magst. Schließlich bist du mein Bruder und sollst weder Hunger noch Durst leiden. Anna wird dir allerdings nicht dabei helfen.«

»Aber Zacharias! Er weiß doch gar nicht, wo alles steht! Wie soll er …«

»Schweig! Ich schätze deine Meinung, Anna. Aber in dieser Angelegenheit will ich keine Widerrede mehr hören! Du hast meinen Bruder lange genug verhätschelt. Er ist kein kleines Kind und bis auf seine Augen ist alles an ihm heil. Höchste Zeit, dass er endlich lernt, seinen Alltag zu meistern! Fast drei Jahre ist der Unfall nun her! Wahrlich lange genug, um sich mit dem Schicksal abzufinden, wie es sich für einen Christenmenschen gehört. Lange genug, um Verbitterung und Boshaftigkeit abzulegen. Doch wie kann er lernen, auf eigenen Beinen zu stehen, wenn du ihn umsorgst wie eine Glucke ihr einziges Küken?«

Anna schwieg und Philipp war sich sicher, dass sie die Lippen gekränkt zusammenkniff. Es war grausam von Zacharias, so etwas zu sagen, wo er doch genau wusste, wie sehr seine Frau darunter litt, nur ein einziges Kind geboren zu haben, einen Sohn, der vor wenigen Jahren allzu früh verstorben war.

»Von nun an weht ein anderer Wind«, fuhr Zacharias fort. »Ich werde es nicht länger dulden, dass du hier den ganzen Tag müßig herumlungerst, Philipp. Deine Laune wird dadurch nicht erträglicher. Von nun an wirst du deinen Beitrag zu unserem Haushalt leisten. Es gibt genügend Dinge, die auch ein Blinder tun kann.«

Krüppel, dachte Philipp bitter.

»Ja, verzieh nur das Gesicht! Ich will deine üble Stimmung nicht weiter ertragen. Was glaubst du, weshalb Vater und Mutter dich nicht mehr bei sich haben wollten? Warum sie mich baten, dich bei mir aufzunehmen?«

Eine warnende Stimme meldete sich in Philipp. Halt bloß den Mund, sagte sie.

»Weil sie es nicht mehr mit dir aushalten konnten!«, fuhr Zacharias unbarmherzig fort. »Deinen Griesgram, deine Klagen, dein Schweigen. Weil du sie krank gemacht hast mit deinen stummen Vorwürfen, die sie nicht verdienen.«

»Das ist nicht wahr!«

»Oh, mein Bruder spricht mit mir! Welch seltenes Vergnügen! Natürlich ist es wahr.«

»Nein! Sie sind alt. Sie konnten sich nicht ausreichend um mich kümmern.«

»Und warum hast du ihnen diese schwere Aufgabe dann nicht erleichtert? Mein Gott, Philipp! Vater hat dich immer besonders innig geliebt. Dein Schicksal hat ihm das Herz gebrochen. Und du selbst wärst der einzige gewesen, der seinen Kummer hätte lindern können. Indem du dich mit deinem Los abfindest, das Beste daraus machst. Gott hat es dir so zugeteilt! Du hast dein Augenlicht verloren, das ist schlimm. Aber du bist kein mittelloser Bettler. Du hast eine Familie, die sich um dich kümmert. Du hast ein Zuhause. Aber das alles ist dir nichts wert, du bedauerst dich den lieben langen Tag und verleidest den Menschen deine Anwesenheit. Dein Verhalten ist schändlich.«

Philipp schnappte nach Luft. Die Worte seines Bruders waren ungeheuerlich. Wie konnte Zacharias es wagen, Gott für sein Unglück verantwortlich zu machen? Philipp hatte sich nie etwas zuschulden kommen lassen. Die Explosion war gewiss nicht Gottes Werk gewesen. Sie war das Werk des Bösen. »Du weißt nicht, wovon du sprichst!«, stammelte er.

»Schluss jetzt!« Zacharias hieb die Faust auf den Tisch. »Du wirst dich in Zukunft besser betragen, sonst sitzt du nicht mehr gemeinsam mit uns am Tisch. Hast du das verstanden?«

Philipp knirschte mit den Zähnen. Wie er den Bruder hasste! Dieses selbstgerechte Gebaren verabscheute! Er versuchte, sich Zacharias’ Gesicht vorzustellen, doch es fiel ihm schwer. Zwischen ihm und seinem Bruder lagen dreiundzwanzig Jahre. Schon als er ein kleiner Junge war, lebte Zacharias mit seiner Frau Anna in Würzburg. Sie hatten sich nur selten gesehen. Philipp erinnerte sich an einen hoch gewachsenen, kräftigen Mann mit dichtem, ein wenig struppigem, gelbem Haar, buschigen Brauen und hellen braunen Augen. Die Leute sagten, sie sähen einander ähnlich. Am ehesten war ihm das Lachen des Bruders im Gedächtnis geblieben. Wenn Zacharias in heiterer Stimmung war, konnte er so tönend und mitreißend lachen, dass sich kein Mensch dem entziehen konnte. Dann flogen ihm alle Herzen zu. Seit Philipp in seinem Hause lebte, hatte er dieses Lachen allerdings nur selten gehört.

»Ob du mich verstanden hast?«, riss ihn der Ältere aus den Gedanken. Philipp knirschte noch einmal mit den Zähnen. Geh zum Teufel, hätte er am liebsten gesagt, doch er nickte zögernd.

»Gut. Dann haben wir das geklärt. Nach dem Frühstück entleerst du deinen Nachttopf und dann kommst du zu mir in die Werkstatt.«

»In die Werkstatt?« Philipp erschrak. Das war unmöglich. Schon bei dem Gedanken daran zog sich alles in ihm zusammen. »Nein«, sagte er, und schüttelte unwillkürlich den Kopf.

»Was genau war unklar an meinen Worten?«

»Das kann ich nicht. Tu mir das nicht an, Zacharias!«

»Hast du Angst, sie fliegt in die Luft? Ich kann dir versichern, dass es bei mir kein Schießpulver gibt.«

»Das ist es nicht.«

Nein, das war es beileibe nicht. Die Vorstellung, eine Bildhauerwerkstatt zu betreten, und ganz besonders die seines Bruders, war schlicht unerträglich. Es hätte schließlich sein Altar werden sollen, sein Meisterwerk, an dem Zacharias nun arbeitete. Nachdem die Werkstatt des Vaters verwüstet worden war, nachdem Michael Juncker seinen jüngsten Sohn Philipp schwer verletzt und mit scharfen Splittern in beiden Augen auf dem Boden liegend gefunden hatte, war die Welt des Alten zusammengebrochen. Noch am selben Tag hatte er den Vorschuss, den Magister Jodocus Hoffius ihm für seine Arbeit gezahlt hatte, zurückgegeben und den Pfarrer von Walthüren gebeten, seinen ältesten Sohn Zacharias in Würzburg mit dem Auftrag zu betrauen. Was der Pfarrer nach kurzem Zögern getan hatte. Und der hoch verschuldete Zacharias hatte gern angenommen.

Gemeinsam mit seinem Augenlicht musste Philipp all seine Hoffnungen begraben. Der Traum von der eigenen Werkstatt war ausgeträumt, der von einer glücklichen Ehe mit Katharina Keim ebenso. Wer heiratete schon einen Krüppel?

Philipp konnte die Werkstatt des Bruders nicht betreten. Das war zu viel verlangt.

»Und vergiss bloß nicht, dich zu waschen, bevor du mein Refugium betrittst!«

Geh zum Henker, sagte die innere Stimme noch einmal. Damit er dir den Kopf abschlägt, dich rädert und vierteilt! Doch diesmal suchten die Worte ihren Weg ins Freie, Philipp konnte sie nicht zurückhalten.