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Die Bibelstellen sind nach der im gleichen Verlag erschienenen „Elberfelder Übersetzung“ (Edition CSV Hückeswagen) angeführt.

1. Auflage 2019

© by Christliche Schriftenverbreitung, Hückeswagen, 2019
Umschlaggestaltung: BrockhausDruck, Stephan Schmidt
Satz und Layout: Christliche Schriftenverbreitung
Druck: BasseDruck, Hagen
ISBN: 978-3-89287-594-9

www.csv-verlag.de

Inhaltsverzeichnis

Einleitung

1. Ein persönlicher Brief

Der Brief an Philemon ist ein besonderer Brief. Das liegt nicht daran, dass er der kürzeste der Briefe von Paulus ist. Der Grund ist vielmehr sein Inhalt. Er behandelt eine sehr persönliche Angelegenheit. Es geht vordergründig um ein Problem zwischen Philemon, einem vermutlich wohlhabenden Bruder der Versammlung in Kolossä, und seinem entlaufenen Sklaven Onesimus, der zu ihm zurückkehrt und für den Paulus sich einsetzt. Paulus übernimmt die Rolle eines Vermittlers. Dabei handelt er nicht in apostolischer Autorität, sondern als Bruder unter Brüdern. Er tut das zurückhaltend und höflich und doch so, dass sich Philemon der Bitte des Paulus kaum widersetzen kann.

Wir mögen uns fragen, warum ein solcher Brief in den Kanon der Bibel aufgenommen wurde. Sklaverei gehört – Gott sei Dank – in vielen Ländern der Erde der Vergangenheit an. Die in dem Brief beschriebene Situation kann nicht 1:1 in unsere westlichen Zeitverhältnisse übertragen werden. Niemand wird heute das erleben, was damals passiert ist. Dennoch hat der Brief eine Botschaft für jedes Kind Gottes, das ihn liest. Es geht um Beziehungen unter Brüdern und wie Schwierigkeiten im Geist der Liebe gelöst werden können. Der Brief ist zugleich eine Mahnung an jeden ungläubigen Menschen, sich zu bekehren und zu Gott zurückzukehren. Er zeigt uns, wie ein unnützer Sünder zu einem nützlichen Diener Gottes werden kann.

Es ist nicht ungewöhnlich, dass die Apostel persönliche Briefe geschrieben haben. Neben den Briefen an örtliche Versammlungen gibt es andere Briefe, die an Einzelpersonen gerichtet sind. Paulus schreibt an Timotheus und Titus. Johannes schreibt an eine Schwester und an seinen Freund Gajus. Dennoch ist der Charakter des Briefs an Philemon anders. Alle übrigen persönlichen Briefe behandeln Themen, die eine grundsätzliche Bedeutung für die Familie und die Versammlung Gottes haben. Johannes schreibt in seinem zweiten und dritten Brief darüber, welche Personen, die mit einer christlich klingenden Botschaft zu uns kommen, nicht aufgenommen und welche Personen sehr wohl aufgenommen werden sollen. Paulus behandelt in seinen Briefen an Timotheus und Titus die Frage, wie wir uns in der Versammlung Gottes (im Bild eines Hauses gesehen) verhalten sollen.[1] Das Verhalten der Gläubigen soll den Hausherrn ehren und ein Zeugnis für den Heiland-Gott sein, der die Menschen einlädt, zu Ihm zu kommen.

Das ist im Brief an Philemon auf den ersten Blick ganz anders. Es gibt keinen anderen Brief, der so privat gehalten ist wie dieser Brief. Es geht um Ermahnungen, die konkret nur eine einzige Person betreffen, nämlich Philemon. Dennoch ist der Brief ein Teil des Wortes Gottes und damit nach 2. Timotheus 3,16 „nützlich zur Lehre, zur Überführung, zur Zurechtweisung, zur Unterweisung in der Gerechtigkeit“. Man hat den Brief als einen „Nischenbrief“ bezeichnet.[2] In einem gewissen Sinn ist er das tatsächlich. Zugleich ergänzt er andere Briefe, besonders die an die Kolosser und Epheser, die Paulus zum gleichen Zeitpunkt geschrieben hat.

Man staunt, einen fast banal erscheinenden Brief mit einem solch speziellen Thema neben anderen gewaltigen Themen der Bibel wie die Schöpfung, die Erlösung, die Versammlung, die Zukunft usw. zu finden. Paulus hat Briefe mit tiefgehendem Inhalt geschrieben und das Geheimnis von „Christus und seiner Versammlung“ offenbart. Trotzdem nimmt er sich die Zeit, ein ganz persönliches und privates Thema zu behandeln und sich für einen entlaufenen Sklaven einzusetzen. Wir staunen über das Geheimnis der Inspiration, denn es war der Geist Gottes, der Paulus veranlasste, diesen Brief genau so zu schreiben, wie er ihn geschrieben hat. „Die Tatsache, dass es uns geschenkt ist, die tiefen Gedanken Gottes zu kennen, verhindert keinesfalls, dass wir uns mit der Liebe unter Brüdern beschäftigen und aufmerksam auf die Einzelheiten des Familien- und Versammlungslebens achten. Die erhabensten Abschnitte des Wortes Gottes offenbaren uns Gott, der Liebe ist und der diese Liebe anderen gegenüber erwiesen hat. Paulus ist dafür ein schönes Beispiel. Er schenkte den zeitlichen Problemen und zugleich den geistlichen Fragen seine volle Aufmerksamkeit.“[3]

2. Der Anlass des Briefs

Obwohl der Hintergrund des Briefs nicht ausführlich beschrieben wird, kann man aus den wenigen Andeutungen relativ klar erkennen, was passiert sein muss. Philemon hatte einen Sklaven mit Namen Onesimus. Wie er zu ihm gekommen war, wird nicht gesagt. Es mag sein, dass er als Sklave gekauft worden war oder dass er bereits als Sklave geboren war. Beides ist möglich. Irgendwann machte er sich dann aus dem Staub und floh. Es liegt nahe, dass er nicht mit leeren Händen gegangen ist, sondern seinen Herrn vorher noch bestohlen hat (vgl. V. 18).

Was Onesimus zu seiner Flucht veranlasste, wissen wir ebenfalls nicht. Zwei Gründe sind denkbar:

  1. Er war mit seiner Situation als Sklave unzufrieden und wollte persönliche Freiheit haben. Dabei können wir davon ausgehen, dass Philemon kein harter und unbarmherziger Herr war. Nach allem, was Paulus über ihn schreibt, wird Philemon seine Autorität gegenüber Onesimus wohl kaum missbraucht haben.
  2. Er hatte im Haus von Philemon das Evangelium gehört und war es leid geworden, immer wieder neu davon zu hören. Immerhin fanden im Haus von Philemon die Zusammenkünfte der örtlichen Versammlung statt, und das wird sicherlich nicht unbemerkt geblieben sein. Man kann sicher voraussetzen, dass Philemon sein Haus mit dem Evangelium bekannt gemacht hat.

Onesimus floh nach Rom. Wie er dorthin gelangte, wird uns nicht gesagt. Menschlich gesprochen war das jedenfalls eine gute Lösung, denn nach römischem Recht war ein Sklave, der seinen Herrn verließ, dem Tod geweiht, wenn man ihn aufgriff. Es war damals nicht unüblich, dass Sklaven die Flucht ergriffen. Deshalb gab es sogar eine Art „Sklaven-Polizei“, die darauf spezialisiert war, entlaufene Sklaven aufzugreifen und zu ihrem Herrn zurückzubringen, oder sie – wenn das nicht möglich war – auf dem Sklavenmarkt neu zu verkaufen. Deshalb hatte Onesimus sich auf die weite Reise nach Rom gemacht, um dort in der größten Stadt des Römischen Reichs unterzutauchen. Die Menschenmenge war für ihn der vermeintlich beste Schutz. Außerdem bot die Stadt vieles, was einem jüngeren Mann in Freiheit attraktiv erscheinen konnte.

Onesimus musste – wie viele andere – lernen, dass man zwar Menschen weglaufen kann, Gott aber nicht. Weglaufen löst selten ein Problem. Das gilt für einen unbekehrten Menschen genauso wie für einen Gläubigen. Niemand kann vor Gott weglaufen. Er findet uns überall. Die Geschichte vom „verlorenen Sohn“ in Lukas 15 lehrt das eindrucksvoll im Blick auf Ungläubige, Psalm 139 im Blick auf Gläubige.

Gott verfolgte den Weg von Onesimus sehr genau. Wir können sicher sein, dass Onesimus in Rom keine Menschen gesucht hatte, die Christen waren und dazu noch seinen Dienstherrn Philemon kannten. Was er sicher nicht suchte, ließ Gott ihn finden.[4] Im Gefängnis in Rom traf er an einem von Gott bestimmten Tag den inhaftierten Paulus. Gott ist souverän, und niemand kann sich seiner Vorsehung widersetzen. Wie genau die beiden sich kennenlernten und warum Onesimus im Gefängnis war, wissen wir nicht. Es ist nicht so wichtig. Wichtiger ist, dass es wohl keinen Menschen gab, mit dem Paulus in Kontakt kam und dem er nicht das Evangelium sagte.

Was in Kolossä nicht geschehen war, passierte jetzt in Rom. Onesimus erlebte eine echte Bekehrung und Paulus war das „Werkzeug“, das Gott dazu benutzte (V. 10). Er nahm den Herrn Jesus im Glauben an und war nun als „Bruder“ ein Teil der Familie Gottes und gleichzeitig ein Glied am Leib Christi. Paulus nennt ihn einen „treuen und geliebten Bruder“ (Kol 4,9). Im Gefängnis traf er im Übrigen nicht nur Paulus, sondern lernte Timotheus, Tychikus und Epaphras kennen. Es war erneut ein Beweis der Souveränität Gottes, dass Epaphras aus der gleichen Stadt wie Philemon kam. Menschen mögen das als Zufall bezeichnen. Wir erkennen es als einen Teil des großen Plans Gottes an.

Onesimus wurde sehr bald ein nützlicher Diener für Paulus. Worin sein Dienst bestand, können wir nicht bestimmt sagen. Jedenfalls hätte Paulus ihn gerne bei sich in Rom behalten. Allerdings gab es etwas, das vorher unbedingt geregelt werden musste. Außerdem wollte er Philemon entscheiden lassen. Onesimus muss Paulus erzählt haben, was in Kolossä passiert und unter welchen Umständen er nach Rom gekommen war. Er hatte seine Vorgeschichte nicht verschwiegen. Wir zweifeln nicht daran, dass Paulus ihn darauf aufmerksam machte, dass er die Sache zwischen ihm und seinem irdischen Herrn regeln musste. Es genügte nicht, seine Sache mit Gott in Ordnung gebracht zu haben. Die irdische Beziehung zu Philemon konnte so nicht bleiben, wie sie war.

Onesimus muss das eingesehen haben, und so kam der Tag, wo er – gemeinsam mit Tychikus – Rom verließ, um nach Kolossä zurückzukehren. Es war kein einfacher Weg, denn das römische Recht stand auf der Seite Philemons. Er hätte nach Belieben mit ihm verfahren können. Nicht wenige entflohene und aufgegriffene Sklaven fanden ihren Tod an einem Kreuz oder auf andere Weise. Doch Paulus hatte Vorsorge getroffen. Im Reisegepäck der beiden befanden sich nicht nur die Briefe an die Epheser und Kolosser, sondern ein weiterer Brief, der an Philemon gerichtet war. In diesem Brief verwendete sich Paulus für sein „Kind“ Onesimus, der im Gefängnis zum Glaubensbruder für Paulus und damit auch für Philemon geworden war. Diesen Brief sollte Philemon lesen und danach entscheiden, wie er mit Onesimus verfahren würde.

3. Der Inhalt des Briefs

Der Brief beweist eindrucksvoll, was die Gnade und Liebe Gottes im Herzen von Menschen bewegen kann. Wir lernen, wie Menschen sich ändern und Beziehungen auf einem neuen Fundament gelebt werden können. Die göttliche Liebe und die Gnade können alle Entfremdungen heilen, die unter Brüdern aufkommen und existieren mögen. Philemon und Onesimus sind die beiden Hauptpersonen, und zwischen ihnen hatte es tatsächlich eine Entfremdung gegeben. Paulus versuchte, im Geist der Gnade und Liebe zu vermitteln. Der Brief spricht von Anfang bis zum Ende über die Liebe und zeigt, wie sie sich unter Brüdern äußern kann.

Gnade und Liebe Gottes hatten Onesimus gerettet. Gnade und Liebe veranlassten Paulus, sich für ihn einzusetzen und zu vermitteln. Gnade und Liebe sollten Philemon motivieren, Onesimus wieder aufzunehmen. Der Brief zeigt deutlich, dass Gottes Gnade und Liebe Menschen verändern.

Ein Schlüsselwort des Briefs ist in der Tat „Liebe“. Fünfmal spricht Paulus von Liebe oder von solchen, die geliebt werden (V. 1.5.7.9.16). Der Brief illustriert, was Paulus in 1. Korinther 13 über die Liebe schreibt. „Die Liebe sucht nicht das Ihre“ (1. Kor 13,5).

Der Brief an Philemon ist kein Lehrbrief im eigentlichen Sinn. Er erklärt nicht die christliche Lehre, sondern zeigt, wie sich biblische Lehre (besonders die in den Briefen an die Epheser und Kolosser) im Alltag zeigt und wie sie praktisch umgesetzt werden kann. Paulus fordert Philemon nicht direkt auf, seinen Sklaven freizulassen. Er zeigt vielmehr, wie im Geist von Gnade und Liebe Schwierigkeiten unter Brüdern gelöst werden können. Gerade darin liegt eine wesentliche praktische Unterweisung für uns. Niemand von uns hat etwas mit entlaufenen Sklaven zu tun, die zurückkommen. Doch zwischenmenschliche Probleme im Volk Gottes – unter Brüdern und Schwestern – kennen wir alle. Die Gnade überwindet jegliche sozialen Unterschiede – was unsere Beziehungen innerhalb des Leibes Christi (der Versammlung) betrifft. Innerhalb des neuen Menschen sind solche sozialen Unterschiede ohnehin nicht vorhanden (Kol 3,11). Deshalb sind wir in der Lage, einander zu vergeben, wenn einer Klage gegen den anderen hat (Kol 3,13).

Es liegt in der Natur der Menschen, dass uns kaum etwas so sehr erregt wie die Tatsache, dass andere unsere Interessen verletzen und uns Unrecht tun. Wenn das Gleiche anderen geschieht, sind wir relativ ruhig. Wenn es uns selbst betrifft, zeigen wir häufig einen anderen Geist. Es mag sein, dass wir uns jahrelang an persönliches Unrecht erinnern, das man uns angetan hat. Dann besteht die Gefahr, dass sich eine Wurzel der Bitterkeit festsetzt (Heb 12,15), und wir sind nicht in der Lage, den Unmut aus unserem Herzen zu entfernen (Pred 11,10). Dieser Brief wird uns helfen, mit solchen Dingen besser umzugehen.

4. Die Verbindung zu anderen Briefen von Paulus

Der Zusammenhang zwischen dem Brief an Philemon und dem an die Kolosser ist offensichtlich. Gleiches gilt für den Brief an die Epheser. Alle drei Briefe wurden im Gefängnis in Rom geschrieben und durch Tychikus überbracht. Hinzu kommt der Brief an die Philipper, der ebenso im Gefängnis geschrieben wurde, allerdings einen anderen Überbringer hatte. In allen vier Briefen bezieht Paulus sich darauf, dass er nicht frei, sondern inhaftiert war.

a) Kolosserbrief: Dieser Brief zeigt den Gläubigen als jemand, der mit Christus gestorben und auferweckt ist. Er hat neues Leben – Auferstehungsleben –, das jetzt wirksam wird und die Wesensmerkmale des neuen Menschen ichtbarwerden lässt. Wie sich das äußert, zeigen die Kapitel 3 und 4 ausführlich. Der Brief an Philemon demonstriert das an einem praktischen Beispiel. Die Unterschiede, die es unter Menschen gibt, existieren in dem neuen Menschen nicht: Da ist nicht „Grieche und Jude, Beschneidung und Vorhaut, Barbar, Skythe, Sklave, Freier, sondern Christus alles und in allen“ (Kol 3,11). Philemon sollte vergebungs- und aufnahmebereit sein. Er sollte beweisen, dass er den alten Menschen abgelegt und den neuen angezogen hatte.

b) Epheserbrief: Dieser Brief zeigt die Wahrheit von Christus und seiner Versammlung. Jeder wiedergeborene Mensch, der den Heiligen Geist besitzt, ist ein Glied am Leib Christi und ist untrennbar mit allen anderen Gliedern verbunden. Der Brief an Philemon zeigt, welche praktischen Konsequenzen das hat. Selbst unsere „privaten“ und „persönlichen“ Befindlichkeiten beeinflussen andere und können nicht völlig losgelöst betrachtet werden. Paulus, Philemon und Onesimus – so unterschiedlich sie waren – gehörten alle zu dieser Versammlung Gottes. Sie waren Glieder des einen Leibes. Wenn Philemon seinen Sklaven Onesimus tatsächlich aufnehmen würde (und wir zweifeln nicht, dass er es getan hat), dann handelte er in Übereinstimmung mit dem, was Paulus den Ephesern der Lehre nach erklärt.