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Roman
Julia Kohli, geboren 1978 in Winterthur, absolvierte eine Buchhandelslehre. Ausserdem studierte sie Wissenschaftliche Illustration sowie Anglistik und Osteuropäische Geschichte in Zürich. Sie arbeitet als freie Illustratorin und Onlineproduzenin bei der NZZ und studiert Kulturpublizistik an der ZHdK. Sie lebt in Zürich. Ihr Manuskript Böse Delphine wurde 2018 mit dem Studer/Ganz-Preis für das beste unveröffentlichte Prosadebütmanuskript ausgezeichnet.
E-Book-Ausgabe 2019
Copyright © 2019 by Lenos Verlag, Basel
Alle Rechte vorbehalten
eISBN 978 3 85787 972 2
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Für Manu
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Ich folgte Bissig zum Warenlift. Er drückte den Knopf für das dritte Untergeschoss und parkierte seinen Transportwagen neben mir. Wir schwiegen. Er schwieg besser.
Im Lift starrte ich auf die gestapelten Zeitschriftenbündel auf seinem Wagen und vermied Augenkontakt. Es war kurz vor sechs Uhr morgens. Aus unerklärlichen Gründen stimmte mich das euphorisch. Als öffnete sich bald ein Tor zu einer besseren Welt. Vielleicht war es auch das Kerosin, das am Flughafen durch alle Ritzen drang. Bewegung, Kraft und Zukunft lagen in diesem beissenden Dunst.
Der Lift setzte sich unsanft in Bewegung, sog Bissig und mich nach unten und liess die Bündel auf dem Wagen erzittern. Eines fiel sofort herunter. Ich hob es auf und platzierte es wieder an seinen Ort. Bissig rückte es zurecht und liess seine Hand auf dem Bündel ruhen. Er traute mir offenbar nicht. Es war mein erster Tag am Flughafen.
Unter der Erde angekommen, betraten wir ein Betonlabyrinth. Ich begleitete Bissig durch den niedrigen, engen Gang. Mangelhaft isolierte Kabel ragten alle paar Meter wie Fühler aus den rohen Wänden. Ich bemühte mich, in der Mitte zu gehen. Vielleicht war da Starkstrom. Arbeiter in blauen Overalls kamen uns entgegen. Ein älterer runder Mann salutierte und zwinkerte mir dabei zu.
Wir erreichten den Raum, in dem die Arbeit verrichtet werden sollte. Der Lagerraum für sämtliche Flughafenkioske. Zeitschriften und Kisten stapelten sich hier. Es roch nach Desinfektionsmittel und Keller. An der Wand vor mir hing ein Poster, auf dem sich eine nackte Blondine räkelte. Ihre Haut spannte sich über ihren prallen, muskulösen Körper und schimmerte in öligem Braun. Härter als die Betonwand. Die Brüste, dem Bersten nahe, schielten sinnentleert in Bissigs neonbeleuchteten Kellerraum. Breitbeinig – in Cowboystiefeln – stand sie vor einem Motorrad und mimte den Katzenblick. Den rechten Zeigefinger hielt sie neckisch im Mund. Ihr zur Fratze verzogenes Gesicht erinnerte mich an Billy Idol.
Während ich direkt vor der nackten Blondine stand und sie neugierig betrachtete, tat Bissig nichts dergleichen und redete mit sich selbst. Wahrscheinlich war die Idee mit dem Bild auch nicht seine gewesen. Es musste das Relikt seines Vorgängers sein – ich stellte mir einen buckligen Knilch vor.
Bissig seufzte laut, als hätte er meine Gedanken gehört. Er setzte sich an seinen Schreibtisch und hantierte unmotiviert mit Lieferscheinen.
Der hölzerne Tisch war auf der Schreibfläche mit einer hässlichen hellgrünen Plastikschicht überzogen worden. Das Ding schien es aus den Fünfzigern bis in den Flughafenkeller geschafft zu haben. Die Farbe des Plastiküberzugs erinnerte mich an die graugrüne Hermes-Schreibmaschine, die im Haus meiner Eltern im Estrich stand. Als Kind hatte ich Stunden unter dem Dach verbracht, sinnlose Wortfragmente auf Papierfetzen getippt und mit Gewalt an den silbernen Hebeln gezogen. Ich lag oft vor der Maschine und schaute mitten in dieses tote Orchester aus Buchstaben. Immer wieder versuchte ich den Prozess zu studieren, vom Druck auf die Taste zum Aufschlag. Etwas an dieser eiskalten Maschinenlethargie machte mich wütend. Ich trieb es mit Tippen bald auf die Spitze. Das Band verhedderte sich, das fröhliche Klingeln wurde immer dumpfer.
Der Anblick von Bissigs Schreibtisch beelendete mich. Die Schweiz in den fünfziger Jahren: Bunker, Chalets, Stewis, »administrativ Versorgte«, dick bebrillte Schriftsteller, die ihrer Sekretärin an den Hintern fassten und von ihren sexuellen Abenteuern in Paris schwafelten. Wieso hatte ich diesen Job angenommen?
Bissig trödelte weiter vor sich hin, summte ein Lied und redete kein Wort mit mir. Nach fünfminütigem Schweigen brach er die Stille und erklärte mir die Zeitschriftenzirkulation: woher die neuen Magazine kämen, was mit den alten Magazinen geschehe und welche Gefahren in diesen Arbeitsprozessen lauerten. Nein, die alten Hefte würden nicht einfach verschenkt oder gar weggeworfen, wie manch naiver Mensch glauben wollte. Das Zeug müsse penibel registriert und gebündelt werden. Das Bündeln überhaupt stelle eine der Hauptaufgaben der Kioskarbeit dar, erfuhr ich. Bündeln sei auch nicht einfach Bündeln. Das perfekte Paket zu schnüren sei gar nicht so einfach. Nicht zu dick solle es sein, aber auch nicht zu flach. Circa zwanzig Zentimeter hoch. Und Achtung! Die Kanten: scharf wie Rasierklingen! So mancher habe sich schon eine tiefe Schnittwunde beim Hantieren mit Heften geholt. Das Allerwichtigste sei die Qualität der Schnurbindung. Am besten schnüre man mit einem Doppelstrang, so vermeide man, dass die Bündel plötzlich auseinanderfielen. Dies könne nämlich später passieren, wenn die Pakete auf den Laster geworfen werden. Und diese Typen von der Transportfirma, so versicherte mir Bissig mit abfälligem Blick, die seien nicht besonders zimperlich.
Ich hatte bald zwanzig Bündel geschnürt und verspürte eine gespenstische Zufriedenheit. Jedes Bündel ein Abschluss, jedes Bündel ein Abschied. Registriert, abgestrichen, aufgeladen. Ich hatte noch nichts falsch gemacht. Bissig redete nun immerzu; er war auf den Geschmack gekommen. Doch ich konnte ihm nicht mehr folgen. Meine Gedanken glitten auf den Hochglanzmagazinen ab, stürzten in die Schluchten der wackligen Bündeltürme, folgten den farbigen Schnüren hinauf und hinunter und legten sich zwischen den Gartenzeitschriften zur Ruhe. Ich versuchte mich an Elias’ Gesicht zu erinnern.
Zuerst sah ich seine Zähne wieder. Agent Dale Cooper in Twin Peaks hatte ähnliche. Gesunde, nicht perfekte, aber ordentliche Zähne. Zuversichtliche Zähne. Je mehr ich mich darauf konzentrierte, desto undeutlicher wurde das Bild wieder. Auch der Rest des Gesichts verschwamm.
Ich schaute auf. Bissig sortierte Ware im Gestell. Seine Gestalt glich einem Kegelmännchen. Ich schätzte ihn auf Mitte vierzig. Die dunkelblaue Latzhose betonte seinen Bauch fast grausam. Während sein braunes Haar ölig und dünnfädig nach hinten gekämmt war, schmiegte sich als Gegenstück dazu ein fast schon verwegener, struppiger Schnurrbart an seine Lippen.
Ich begann mir sein Leben vorzustellen. Wie er wohl seinen Feierabend verbrachte? Ich ahnte, dass er einsam war, und er tat mir leid. Doch würde ich mit ihm Zeit verbringen wollen? Ob er Prostituierte besuchte? Vielleicht mochten ihn die Prostituierten, er war einer der verlorenen, gutmütigen Kerle. Ich stellte mir Bissig schwitzend und röchelnd auf einer schmuddeligen roten Steppdecke vor. Unappetitlich, aber harmlos. Er würde sich kümmern, sollte es zu einer Schwangerschaft kommen. Nein, er würde sich sogar freuen und der Betroffenen damit auf die Nerven gehen. Bestimmt besuchte er immer dieselbe Frau. Zu viel Abwechslung war nichts für ihn. Alles musste seinen Platz haben, keine Eile, keine Überraschungen.
Als das Bündeln erledigt war, ging es raus. Hinauf. Wir mussten nun die Kioske mit Zeitungen und Magazinen beliefern. Wie ein treuer Hund lief ich Bissig hinterher und machte Bekanntschaft mit den Kioskverkäuferinnen. Man war stets freundlich. Ich war jetzt eine von vielen mit rot-weiss gestreiftem Hemd, in der Hierarchie irgendwo zwischen Putzfrau und Stewardess. Tiefer als die Verkäuferinnen im eleganten Pralinenshop, höher als diejenigen beim Burger-Take-away. Tiefer als die Bankangestellten, etwa auf derselben Stufe wie die fröhlichen Männer auf den Putzmobilen, die langsam und zuverlässig ihre Kreise zogen – in diesem Moment Erbrochenes beseitigten und einen nassen Streifen hygienischer Illusion zurückliessen.
Die Sommersonne heizte die Glasverkleidung des Flughafens auf, und ich sah, wie der Himmel am Horizont lieblich orange-gelb durch das Kerosin flimmerte. Als würde sich die Welt hinter dem Flughafen auflösen – eine erstaunlich beruhigende Vorstellung.
Ich befand mich am Puls der Welt, in einer sicheren Festung. Nur der Boden vibrierte durch die vorbeirollenden Koffer. Die Wichtigkeit des Menschen und seiner Destination legte sich wie ein penetrantes Eau de Toilette über die einfachsten Dinge. Selbst die Flughafenpflanzen schienen verheissungsvoll in ihren Töpfen zu sitzen und gespannt auf die charmant gehauchten Durchsagen zu hören.
Nach der einstündigen Episode am Tageslicht verschwanden Bissig und ich wieder im Keller. Er hatte sich kleine Aufgaben ausgedacht, die er mir zutraute. Ich sollte mit einer Preispistole Etiketten auf Kioskware kleben. Das Gesetz verlange es leider so. Bissig seufzte.
Hunderte von Kaugummis warteten darauf, ausgezeichnet zu werden. Ich leerte sie aus, etikettierte jede Kaugummipackung und legte sie einzeln wieder zurück in ihre Kiste, dicht beieinander, in Reih und Glied. Heimlich freute ich mich über diese Arbeit, da sie mir erlaubte, meinen Gedanken nachzuhängen.
Ich stellte mir ein Treffen mit Elias vor. In einer dunklen Bar – irgendwo am Stadtrand. Wir würden uns gegenübersitzen und uns verlegen anlächeln. Wir hätten uns bestimmt viel zu erzählen.
Ich betrachtete meine Hände. Sie waren vom Bündeln ganz aufgeraut. Ein dünner Schnitt zog sich dem rechten Daumen entlang. Als ich die Wunde zusammendrückte, quoll ein Tropfen Blut heraus. Bissig hatte recht gehabt.
Schnell entwickelte ich ein gewisses Talent im Preisauszeichnen. Rhythmusgefühl und Feinmotorik waren ausschlaggebend. Da die Pistole klemmte, musste ich mich auf diese kleine Tücke einlassen wie auf ein bockiges Pferd. Bald harmonierte ich mit der Pistole und ihrem Fehler. Ich zielte und klebte im Takt des Kioskuniversums. Innert kurzer Zeit hatte ich vier Kisten Ware ausgezeichnet.
Bissig schien ob meinem Eifer etwas ratlos. So hatte er sich das offenbar nicht vorgestellt. Er riet mir, eine Pause zu machen und einen Kaffee trinken zu gehen, ihm werde bestimmt noch etwas einfallen. Ich irrte fünf Minuten in den grauen Gängen herum, fand den Lift zum Glück wieder und steuerte im Erdgeschoss ein Café an.
Mit einem Cappuccino in der Hand setzte ich mich auf eine Bank nahe der Passkontrolle und weinte kontrolliert. Das hatte ich mir mal beigebracht. Ich liess die Tränen langsam ansteigen, blinzelte jedoch, bevor sie über den Rand zu kullern drohten. So heulen privilegierte Menschen, die in ihrem Leben Fehlentscheidungen getroffen haben.
Ich war nun siebenundzwanzig. Die letzten sieben Jahre hatte ich in einer heruntergekommenen Buchhandlung gearbeitet. Vor einem halben Jahr hatte ich begonnen, Geschichte zu studieren. Geschichte, weil man die Vergangenheit nicht mehr ändern konnte. Eine Flucht in eine Fundgrube ohne Ende. Ich stellte mir vor, dass ich mich darin verlieren würde und nie wieder auftauchen müsste.
Meine ehemaligen Schulkollegen doktorierten mittlerweile, gründeten Firmen, bekamen Kinder und reisten nach Kamtschatka und auf die Fidschi-Inseln. Eine Bekannte doktorierte sogar in diesem Moment auf den Fidschi-Inseln.
Wieso nicht Buchhändlerin werden, hatte ich damals gedacht. Immer Bücher um sich haben. Die Tatsache, dass Kunden in den Laden kommen würden, verdrängte ich. Schnell merkte ich, dass ich kein Talent hatte, Menschen Bücher aufzuschwatzen, und noch weniger hatte ich Lust, in ihre fordernden, ewig unzufriedenen Augen zu schauen. Bald hatte ich mich komplett ins Büro zurückgezogen, schrieb dort Rechnungen und Mahnungen. Es hätte noch zwanzig Jahre so weitergehen können, wäre das Geschäft nicht pleitegegangen.
Die Gelegenheit für den Absprung. Umorientieren, optimieren, sich neu erfinden, sich neu erzählen, sein Potential ausschöpfen, hatte es auf dem Arbeitsamt geheissen.
Ich entschied mich für ein Studium und einen flexiblen Job. Mit den Flughafenkunden würde ich schon irgendwie zurechtkommen, dachte ich leichtsinnig. Optimieren würde ich mich später.
Der Mief der alten Buchhandlung, so wurde mir nun bewusst, haftete jedoch immer noch an meiner Haut. Ich hatte mich an das Entziffern unleserlicher Karteikarten und das Schreiben auf Kohle-Durchschlagpapier an der Schreibmaschine gewöhnt. Zwischen den Parkettfugen in meinem ehemaligen Büro steckte der Staub mehrerer Jahrzehnte, wenn nicht Jahrhunderte. Es gab im Laden dunkle Ecken, wo sich niemand je zu schaffen machte. Der Putz fiel regelmässig von den hohen Wänden, so dass mir jeweils Krümel und ganze Brocken entgegenkamen, wenn ich einen Ordner aus dem Gestell zog. Ich hatte schon damals geahnt, dass sich dieses Reich auflösen würde.
Ich vermisste die meditativen Morgenstunden, in denen ich nach Diktat des achtzigjährigen Chefs Zahlen für die Mehrwertsteuer in einen Rechner eintippte. Ich konnte das absolut fehlerfrei und war stolz darauf. Wie ein trainierter Affe. Ich mochte das Geräusch des Rechners, der bei jeder Summe ratterte und Zahlen wie ein kleines Maschinengewehr auf den Papierstreifen hämmerte. Auch der Versand von Hunderten Werbeprospekten hatte mich nie gestört. Ich konnte vier Stunden in der gleichen Position verharren, immer wieder den gleich gefalteten Bogen um Prospekte legen und in einen Umschlag stecken.
Die Idiotenarbeit war Gold wert. Sie erlaubte mir Schwimmversuche im eigenen, dunklen Ozean. Es zog mich in die Tiefe. Dort unten floss alles ineinander. Ich wurde zu anderen, die anderen wurden ich. Ich hielt ängstliche Hände. Vielleicht meine. Oder ich unterhielt mich mit Tieren, hatte Sex in einem Sarg in Camden Town, mit einer jüngeren Version von Robert Smith. Dies alles, während mein Chef sich mit seinem löchrigen Stofftuch die Nase putzte und seine Hornbrille richtete.
Ich trauerte einer Zeit nach, die es für mich nie gegeben hatte. Ich hatte mich nur in deren Staub gesuhlt. Dieser Staub hatte mich eingelullt, mit mir Schabernack getrieben und mich träumen lassen.
Vielleicht wollte ich auch nur meine Ruhe. Ich hatte diese schon gewollt, als ich sehr jung war und man mich zwang, neue Kinder kennenzulernen. Kinder, die mir immer wieder von meinen Eltern, Bekannten und Grosseltern vorgestellt wurden. Quirlige, abenteuerlustige Akrobaten und Prinzessinnen. Claudias, Natalies, Stefans und Jacquelines, mit denen ich mich anfreunden sollte. Sie machten mir Angst. Ich erinnere mich an eine Nadja, die mir im Garten wie besessen den Spagat vorführte. Ich sass dort, sah zu, und es wurde mir bewusst, wie beschissen es doch ist, ein Kind zu sein. Was sollte ich mit diesem Spagat? Ich schwor mir, in Zukunft Freunde zu suchen, die keinen Spagat machten.
Es war absehbar, dass ich an einem Zwischenort landen würde. Zwischen Ankunft und Abflug, in einer milden Vorhölle.
Ich blickte in den leeren Kaffeebecher und schüttelte den Rest Schaum, der noch am Boden klebte. Er wollte sich nicht lösen.
Vor den Schranken der Passkontrolle spielten sich kleine Dramen ab. So kurz vor der Grenze wurden Hemmungen abgelegt wie Kleider an einem Nacktbadestrand. Man fühlte sich in dieser Zone zu Gefühlsausbrüchen legitimiert. Ich freute mich. Die Emotionen anderer kamen mir gelegen. Wie der jämmerliche Clown Pierrot sass ich auf meiner Bank – eine Träne im Augenwinkel –, während sich Paare und Familien trennten. Ich hörte sie letzte, bedeutungslose Worte austauschen, unbeholfene Floskeln, wie sie in Familien so hin- und hergeworfen werden. Wir werden dich vermissen. Pass auf dich auf. Jaja, Mami. Treib’s nicht zu wild. Werd ich nicht. Schreib uns. Und so weiter.
Ein Mitarbeiter der Putzbrigade fuhr mit seinem Elektrowagen an mir vorbei und grüsste mich. Ich hob verlegen meine Hand und blickte mich kurz um. Wir hatten uns noch nie gesehen. Mir wurde plötzlich bewusst, dass ich nun Teil einer verschworenen Gemeinschaft war. Ich schaute runter auf mein gestreiftes Hemd.
Halina! Mein Name schallte durch die Abflughalle. Was machst du hier? Meine Gedanken stürzten ins Leere, als ich die Frau in kanarienvogelfarbigen Strandkleidern sah. Dann erkannte ich Nora wieder. Wir hatten als Teenager zusammen einen Kurs für autogenes Training besucht. Damals war sie stets barfuss unterwegs gewesen, mit bimmelnden indischen Ketten an den Fussgelenken. Sie hatte ein paar Monate in einer Psychiatrie verbracht, so viel wusste ich noch. Drogenprobleme, bipolare Störung, Depressionen.
Ich arbeite, also jobbe hier, also im Buchkiosk, also noch nicht wirklich, ist erst Einführung im Lager, muss die Abläufe kennenlernen. Das »Buch« im Buchkiosk hatte ich extra betont. Wahrscheinlich, weil es eine Spur weniger trostlos klang als nur Kiosk. Was die ganze Sache unendlich trostlos machte. Ist mein erster Tag, ergänzte ich und zuckte mit den Schultern, als hätte ich etwas verbrochen.
Nora hatte beängstigende Glubschaugen. Sie glänzten wissbegierig und tanzten gefährlich prall über mir, als könnten sie jeden Moment aus ihren Höhlen springen.
Sie reise nach Hawaii, um zu surfen, so wie jedes Jahr. Sie habe eine Stelle als Sozialarbeiterin und dieser Urlaub sei der einzige Ausgleich zu all den Elendsgeschichten. Sie fuhr sich durch das kurzgeschnittene blondierte Haar und blickte auf die Anzeigetafel.
Es dauerte etwa zwei Minuten, bis eine peinliche Stille eintrat. Eine Ewigkeit her, hm … Ja. Wir würden uns nicht nach unseren Telefonnummern fragen, das wussten wir. Unsere Wege trennten sich. Tschüss. Tschau. Mach’s gut. Schöne Reise.
Ein Anflug von Neid überkam mich. Nora war ein Phönix. Sie hatte ihre Abgründe erkundet, um jetzt ein richtiges Leben zu leben. Bald würde sie in Hawaii auf riesigen Wogen reiten. Geläutert, allein und stärker als je zuvor. Von der Misere zur Erleuchtung. Ich fühlte mich von Noras Strahlen angesengt und sehnte mich nach dem Keller. Mit erhöhtem Pulsschlag kehrte ich zurück zu Bissig.
Nach intensivem Nachdenken war ihm noch eine Aufgabe für mich eingefallen. Ich sollte im Lager nebenan die Regale abstauben. Der neue Raum war noch trostloser als der erste. Nicht einmal eine nackte Frau hing an den Wänden. Hohe graue Metallgestelle reihten sich aneinander. Traurige, unbrauchbare Relikte eines Kiosklebens wucherten aus alten Kisten. Ein riesiges Pappschild, das verschiedene Eissorten anpries, lehnte an der Wand und erinnerte an einen längst vergangenen Sommer. Das blaue Putzmittel verströmte eine ätzende Frischenote. Ich kannte es. Das billigste, 2.90 das Stück.
Den Rest des Tages verbrachte ich abwechselnd auf allen vieren am Boden oder auf der Leiter. Ich putzte penibel jede Stelle, auch die oberste Ablage, die ohne Zweifel nie einem Blick ausgesetzt war. Egal. Abstauben, hatte Bissig gesagt, also staubte ich ab. Eins nach dem anderen.
Durch die Verbindung von Putzmittel, Metall und Staub spürte ich zum ersten Mal seit meiner letzten Bronchitis, dass ich Lungen hatte. Obwohl mir das Atmen immer schwerer fiel und es irgendwo in mir drin rasselte, leerte ich einen schmutzigen Wasserkessel nach dem anderen. Die Stunden flogen vorbei, und plötzlich war meine erste Schicht beendet. Es war zwei Uhr nachmittags. Ich hatte nichts gegessen.
Im Zug machte sich eine vollkommene Taubheit in mir breit. Trotz Müdigkeit konnte ich die Augen nicht schliessen. Vor dem Zugfenster tanzten Beton und Graffiti rhythmisch ihren elektrischen Tanz mit den Stromleitungen, Sonnenstrahlen flackerten hinter den Hochhäusern der Agglomeration hervor. Die Wirklichkeit jenseits des Flughafens schien mir wie ein schmutziges Abziehbild, das sich immer und immer wieder ablöste. Ich fiel in einen Sekundenschlaf und zuckte zusammen, als mich das gnadenlos fröhliche Sommerlicht nach einem Tunnel wieder traf.
In einem öffentlichen Schwimmbad sass ein gebräunter Typ auf einem riesigen Spiderman-Badetuch und rieb sich in Zeitlupe Sonnencreme auf die Waden, neben ihm stand ein Ghettoblaster. Der Anblick befremdete mich vom Zugfenster aus, als hätte ich Einblick in ein exotisches Terrarium. Das Konzept Schwimmbad schien mir plötzlich bizarr. Da sassen diese Wesen und brieten sich in der Sonne auf seltsamen Tüchern, die ihre Individualität unterstreichen sollten. Dann kühlten sie sich im Wasser ab. Dann wiederholten sie das Ganze. Dann paarten sie sich irgendwo, weil sie sich im Schwimmbad kennengelernt hatten. Dann würde der Nachwuchs bald auch ins Schwimmbad gebracht werden. Und so weiter. Ein merkwürdiger Zyklus. Ich stutzte, als ich die Durchsage hörte. Ich war in die falsche Richtung gefahren, stadtauswärts.
Als ich auf den nächsten Zug zurück wartete, zog ich Bilanz. Ich hatte mich eindeutig zu sehr treiben lassen in meinem Leben. Ich hatte mich in Tagträumen verloren, hatte anderen zugesehen, wie sie Reisen planten, ihre Sachen packten, Träume verwirklichten, Karrieren verfolgten. Währenddessen war ich im Staub versunken. Und ich hatte mich ausschliesslich in Schwachsinnige verliebt – und Schwachsinnige hatten sich in mich verliebt.
Bruchstücke und Unausgegorenes bestimmten mein Leben. Es wimmelte von unbrauchbaren Fragmenten, unnötigen Affären, schlechten Schnappschüssen. Da war keine Klammer, die alles umschloss. Alles franste aus, genau wie meine Verwandtschaft, die sich auf der ganzen Welt niedergelassen hatte und aus mindestens zwanzig Nationen bestand. Die wenigsten von ihnen hatte ich je zu Gesicht bekommen. Und meine Eltern hatten es nie für nötig gehalten, ein Familienalbum zu führen, Stammbäume zu studieren. Zu spiessig. Hunderte von Polaroidfotos stapelten sich stattdessen in hässlichen grauen Plastikschachteln im Estrich. Manche klebten jetzt unzertrennlich aneinander und zerstörten sich gegenseitig.