Seit langem ist in einem weiten Tal der Rocky Mountains kein Wolf mehr gesichtet worden. Doch frische Spuren lösen sofort eine Hetzjagd aus. Auch der junge Zane sattelt sein Pferd. Allein folgt er der Fährte um das Tier vor dem Tod zu bewahren. Dabei wird ihm klar, dass er sich gegen die Menschen und ihre Gesetze stellen muss, um das Leben eines wilden Tieres zu schützen.
„Dieser Roman ist ein CROSSOVER-Buch. Wir nutzen diese Bezeichnung für besondere Geschichten, die wir Jugendlichen und Erwachsenen empfhelen.“
„Eines dieser Bücher, die irgendeine Zauberhand den Jugendlichen ins Zimmer oder neben den Teller legen sollte …“
„Ein beeindruckender Aufruf, das Leben von Grund auf zu überdenken und eine andere Welt mit neuen Idealen zu suchen.“
„Stoff für einen packenden Roman.“
„Dieser Roman von Werner J. Egli siedelt im Bereich von Jack London und Rudyard Kipling.“
Roman
Werner J. Egli
wurde in Luzern, Schweiz, geboren und lebt heute als freier Schriftsteller in Tucson (USA) und in Egg bei Zürich. Seine erfolgreichen und in viele Sprachen übersetzten Jugendbücher wurden unter anderem mit dem Friedrich-Gerstäcker-Preis, mit dem Preis der Leseratten (ZDF) und mit dem Jugendbuchpreis der Ausländerbeauftragten des Senats Berlin ausgezeichnet. Egli wurde für den Hans-Christian-Andersen-Preis nominiert, die international höchste Auszeichnung für Jugendliteratur.
Unter www.aravaipa.ch ist der Autor auch im Internet zu finden.
eISBN 978-3-03864-224-4
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Lektorat: Horst u. Fritz Eibl (A)
Umschlaggestaltung: Agentur flin
Bildnachweis: iStock: welcomia
Realisation: Brigitta Vasella
Copyright © 2019 by ARAVAIPA–Verlag,
Egg bei Zürich
ARAVAIPA im Internet: www.aravaipa.ch
1.Kapitel Dämmerung
2.Kapitel Wolfsspuren
3.Kapitel Der Bulle
4.Kapitel Die Jäger
5.Kapitel Der Schuss
6.Kapitel Der Wolf
7.Kapitel Freunde
8.Kapitel Weites Land
9.Kapitel Die Verfolger
10.Kapitel Menschenwelt
11.Kapitel Winterfährte
12.Kapitel Kelso
13.Kapitel Winternacht
14.Kapitel Kanada
Es war ein Wolf in den Hügeln.
Wade Hicks hatte vor einer Woche in der Nähe des Birch Creek Reservoirs seine Spuren entdeckt. Er erzählte niemandem davon. Am Montag hängte er ein Schild an die verriegelte Tür seines Saloons. HEUTE UND MORGEN GESCHLOSSEN. Er lud seinen ganzen Jagdplunder in den alten Jeep und fuhr allein und ohne jemandem seine wirklichen Absichten zu verraten, in die Hügel. Am Mittwoch kehrte er von der Jagd zurück. Er hatte einen Rehbock erlegt, auf dem Piegan-Pass, dort, wo die Straße aufhörte und ein alter Jagdpfad der Indianer über einen offenen Sattel hinwegführte und auf der anderen Seite einen langen Hang hinunter in die Talsenke hinein, in der sich das Birch Creek Reservoir befand. Er war eigentlich nicht darauf aus gewesen, ein Reh zu schießen. Tatsächlich hatte er zwei Tage lang nach dem Wolf gesucht, jedoch nichts anderes gefunden als einige Abdrücke von Pfoten am Rande einer Viehtränke. Am Mittwochmorgen war er am Stacheldrahtzaun, der das Land der Grimball-Brüder von dem der Clark Ranch trennte, auf den Kadaver eines toten Schafes gestoßen, das vom Wolf gerissen worden war.
Wade Hicks kehrte nach Buckhorn zurück, machte am Dienstagabend seinen Saloon auf und erzählte Bill und Jack Grimball davon, die in die Stadt gekommen waren, um sich mit einem Landaufkäufer aus Kalifornien zu treffen.
„Es ist ein Wolf in den Hügeln“, sagte er. „Er hat eines eurer Schafe gerissen.“ Er erzählte ihnen, wo er überall auf Spuren des Wolfs gestoßen war und wo er den Kadaver des Schafes entdeckt hatte. „Bis jetzt“, sagte Wade Hicks zu den Grimball-Brüdern, „bis jetzt habe ich niemandem etwas davon gesagt, außer euch, weil ihr direkt betroffen seid.“
„Bist du sicher, dass es ein Wolf ist?“, sagte Jack Grimball und trank einen Schluck von seinem Bier.
„Ich kenne mich mit Spuren aus“, prahlte Wade Hicks. „Es war kein Kojote.“
„Hast du Clark etwas gesagt?“
„Nein. Noch nicht. Wir müssen es ihm sagen. Die meisten Spuren befinden sich auf seinem Weideland, im Tal des Birch Creek und am Indian Knife und am Little Creek.“
„Er trifft sich morgen mit dem Mann aus Kalifornien, nicht wahr?“
Wade Hicks nickte. „Er kommt morgen in die Stadt.“ „Sagst du es ihm oder sollen wir es ihm sagen?“
„Ich sag's ihm“, sagte Hicks. „Er wird den Mund halten.
Es geht auch um seine Kälber.“
„Und das Gesetz?“ Jack Grimball blickte Wade Hicks an. „Wölfe sind geschützt, Wade. Die Regierung hat sogar irgendwo im Yellowstone-Gebiet welche ausgesetzt.“
„Ich rede mit Quinn Bates darüber. Ich weiß nicht, wie das ist mit einem Wolf, der dem Vieh zur Gefahr wird, aber so viel ist gewiss, wenn wir die Sache nicht an die große Glocke hängen, wird Quinn nichts unternehmen.“
„Okay“, sagte Bill Grimball. „Du sorgst dafür, dass Quinn uns deckt, und wir sorgen dafür, dass der Wolf kein Unheil mehr anrichtet.“
Darauf tranken sie und Wade Hicks gab eine Runde aus. Später trafen sich die Grimball-Brüder mit dem Mann aus Kalifornien beim Abendessen. Der Mann aus Kalifornien hatte große Pläne und viel Geld. Er redete von Millionen, als hingen in Kalifornien die Bäume voller Dollarscheine. Die Grimball-Brüder waren beeindruckt. Und insgeheim begannen sie noch am selben Abend von Hawaii zu träumen und von schnellen Autos.
Zane Clark hörte erst am Mittwoch davon, als sein Vater am späten Abend nach Hause kam.
„Es ist ein Wolf in den Hügeln“, erzählte Dwight Clark beim Abendessen.
Sie blickten ihn alle an.
„Ein Wolf?“ Zanes Mutter schob den Topf mit den Pellkartoffeln in die Tischmitte.
„Wade Hicks hat in der Nähe des Reservoirs Spuren entdeckt“, bestätigte Zanes Vater.
„Wolfsspuren?“, zweifelte Jasper. „Da gibt es nämlich Unterschiede zwischen dem Pfotenabdruck eines Wolfs und dem eines Hundes, die nur einer erkennen kann, der sich auskennt.“
Jetzt blickte Dwight Clark von seinem Teller auf. Er sah seinen Sohn an und lächelte.
„Wade Hicks ist ein erfahrener Jäger, Jasper“, sagte er. „Früher, als es noch welche gab, schoss er auch Wölfe.“
„Das ist lange her“, entgegnete Jasper.
„Zwanzig Jahre mindestens“, sagte Zanes Mutter. „Von euch war noch keiner auf der Welt, als hier der letzte Wolf geschossen wurde.“
„Wer hat den letzten Wolf geschossen, Mutter?“, fragte Jennifer. „Etwa Mr. Hicks?“
Anne Clark schüttelte den Kopf.
„Nein, das war nicht Wade Hicks, glaube ich.“
„Wer dann?“, wollte Jasper wissen.
„Ich glaube, es war euer Onkel.“
„Onkel Kelso?“
„Ja.“
Zane hatte die ganze Zeit nur seinen Vater angesehen, während er von den Pellkartoffeln aß und von seinem Steak, und es schien, als hörte sein Vater gar nicht zu, aber Zane wusste, dass er jedes Wort vernahm, das am Tisch gesprochen wurde.
„Was glaubst du denn, von wo dieser Wolf hergekommen ist, Zane?“, fragte Jennifer ihren Bruder.
„Keine Ahnung“, gab ihr Zane zur Antwort.
„Bestimmt kommt er aus dem Reservat“, sagte Jasper.
„Aus dem Reservat?“ Mrs. Clark wollte das nicht glauben.
„Warum nicht, Mom?“, sagte Jasper. „Es gibt noch Wölfe im Reservat.“
„Das weiß ich nicht, ob es da noch Wölfe gibt, Jasper.“ Zanes Mutter schmunzelte. „Auf jeden Fall ist mir schon lange keiner mehr begegnet, außer dem alten Black Wolf und der ist nur deshalb gefährlich, weil er halb blind in seinem Pickup herumfährt, als wäre außer ihm niemand auf den Straßen.“
„Es gibt bestimmt Wölfe im Reservat“, beharrte Jasper. „Was meinst du, Zane?“
„Was fragst du mich? Du bist doch hier in dieser Familie der Klugscheißer.“
Jasper erstickte fast an einem Stück Fleisch, das ihm in den falschen Hals geriet. Er lief dunkelrot an, beinahe blau, und Jennifer beugte sich zu ihm hinüber und hieb ihm mit der Faust auf den Rücken. Millie fing an zu schreien. Mrs. Clark stand auf und hob Millie aus dem Kinderstuhl und Millie schrie und spuckte gleichzeitig Gemüsebrei aus und ihr kleiner Kopf schwoll an, bis ihr beinahe die Augen platzten. Mr. Clark blickte auf. Da verließ Zanes Mutter mit der Kleinen auf dem Arm die Küche, und als sie draußen war, hörte Millie auf zu schreien.
„Daran bist du schuld“, sagte Jennifer. „Warum kannst du Jasper denn nicht einfach reden lassen.“
„Er hat mich gefragt, ob es im Reservat noch Wölfe gibt und ich habe ihm geantwortet“, sagte Zane.
„Du hast ihn beschimpft!“
Zane schwieg und stocherte lustlos in seinem Essen herum. Jasper würgte sich den zerkauten Fleischklumpen, der ihm in der Kehle stecken geblieben war, in die hohle Hand. Langsam kam er zu sich. Seine Augen tränten noch und irgendetwas schien mit seiner Kehle nicht mehr in Ordnung zu sein.
„Ich kann es nicht mehr erwarten, bis du endlich abhaust”, krächzte er.
„Das genügt jetzt, Jasper!“, sagte Mr. Clark.
„Das sagst du mir!“, schnappte Jasper zurück. “Warum sagst du das nicht ihm? Er hat doch …“
„Das genügt jetzt“, sagte Dwight Clark noch einmal.
Sie aßen und sie hörten draußen Cody bellen und ihre Mutter redete leise mit Millie. Nach einer Weile kam sie zurück und setzte die Kleine in den Kinderstuhl und Millie starrte Zane an, als wäre er ein ungeladener Gast am Tisch.
„Der Wolf könnte auch von Kanada heruntergekommen sein“, sagte Jasper plötzlich in die Stille hinein. „Durch den Park.“
„Das ist sehr gut möglich“, pflichtete ihm seine Mutter bei. Sie streifte Zane mit einem ernsten Blick. „Es ist gut möglich, dass sich ein Wolf aus den Bergen im Park verirrt, weil überall Touristen sind.“
„Wir holen morgen den alten Bullen von dort oben herunter“, sagte Dwight Clark, ohne aufzublicken. „Und wenn es uns die Zeit erlaubt, sehen wir uns mal nach dem Wolf um.“
„Ich geh mit“, sagte Jasper mit vollem Mund.
„Wir fahren früh, Jasper“, sagte sein Vater. „Wir brechen auf, bevor es Tag wird.“ Er trank die Bierdose leer und erhob sich von seinem Stuhl am Kopfende des Tisches. Wie jeden Abend ging er zum Fenster, nahm seine Zigaretten vom Brett und steckte sich eine zwischen die Lippen. Es war noch hell draußen. Lange Schatten flossen von den Hügeln herunter und breiteten sich über der Hochebene aus. Es war Spätsommer. Herbst und Winter kamen hier, im Norden Montanas, früh. In den Hügeln hatte es schon den ersten Frost gegeben. Der Wald an den Nordhängen war voller gelber Flecken, wo Gruppen von Espen wuchsen, und weiter oben, an den Ausläufern der Rocky Mountains, waren die meisten Bäume schon kahl.
Dwight Clark verließ die Küche. Zane hätte ihn gerne gefragt, was nun mit dem Land auf der anderen Seite des Spotted Horse Canyon los war, für das sich irgendein reicher Spekulant aus Kalifornien interessierte. Deshalb war Zanes Vater nämlich an diesem Tag in die Stadt gefahren. Um sich mit Morton Parker zu treffen, der mit großen Plänen in diese entlegene Ecke Montanas gekommen war und sich am Vortag schon mit den Grimball-Brüdern getroffen hatte.
„Was wird mit dem Wolf geschehen, Mom?“, erkundigte sich Jennifer bei ihrer Mutter, als ihr Vater die Küche verlassen hatte. Sie begann, das Geschirr abzutragen.
„Man wird ganz sicher Jagd auf ihn machen“, antwortete Anne Clark.
„Der hat keine Chance dort oben“, sagte Jasper.
„Wölfe sind geschützt“, gab Jennifer zu bedenken.
„Nicht hier“, entgegnete ihr Jasper.
„Überall in den Vereinigten Staaten“, beharrte Jennifer. „Wetten, dass sein Fell gegerbt ist, bevor der erste Schnee fällt?“
Da niemand auf Jaspers Herausforderung einging, erhob er sich und ging hinaus. Er machte im Wohnzimmer den Fernseher an. Zane blieb am Tisch sitzen und blickte aus dem Fenster zu den nahen Hügeln hinüber, die nun dunkel vor der blutroten Sonne lagen. In einer Stunde würde es dort draußen im Land, wo die Lichter der Stadt nicht hinreichten, so dunkel sein, dass einem Menschen, der zum Himmel aufblickte, schwindelig werden konnte vom Geflimmer und Gefunkel des Sternenmeeres, das sich von den Felszacken der Rocky Mountains nach Osten hin endlos über dem Hochland ausbreitete, bis hin zum Missouri River. Und während er zum Fenster hinausstarrte, dachte er an den einsamen Wolf, der dort oben in den Hügeln herumstreifte. Seit zwanzig Jahren hatte es im Tal des Birch Creek keine Wölfe mehr gegeben. Jetzt war einer zurückgekehrt, einer, der sich wahrscheinlich verirrt hatte oder der in seinem Revier aufgescheucht worden war von der Gefährlichkeit eines neuen Eindringlings, der nicht dorthin gehörte, wo dieser Wolf herkam. Auf der Flucht vor jenen mochte er sein, die ihn in ihrer von ihnen geschaffenen und kontrollierten Welt nicht am Leben lassen wollten, weil er wild war und unbezähmbar und Angst einflößend. Und auf der Suche mochte er sein, auf der Suche nach einem letzten Rest jener anderen Welt, aus der schon seine Vorfahren verjagt worden waren.
War er jung, dieses verlorene Geisterwesen, von dem Wade Hicks nur Spuren gesehen hatte, mutig und verwegen seinem Instinkt gehorchend, das Rudel, dem er angehört hatte, zu verlassen, weil es zu groß geworden war und seine eigenen Überlebenschancen dadurch zu klein? Oder war er ein alter Rüde, ausgestoßen und davongejagt von den jüngeren und stärkeren Rüden? Noch hatte ihn niemand zu Gesicht bekommen. Noch war er unsichtbar und deshalb sicher. Aber Zane wusste, dass man bald damit anfangen würde, nach ihm zu suchen. Und die Männer von Buckhorn würden seinen Spuren folgen und nicht eher ruhen, bis sie ihn einholten und stellten und er ihnen nur noch mit toten Augen begegnen konnte. Sie würden ihm Fallen stellen, die sie unter einem Teppich bunten Herbstlaubes versteckten. Drahtschlingen würden sie auslegen, die selbst dem geschärften Blick eines Wachsamen entgingen, und sie würden ihn mit blutigen Kadavern frisch erlegten Wildes, die sie mit Strychnin vergifteten, in Versuchung bringen. Und sie würden ihm mit ihren Jagdgewehren auflauern und einem von ihnen würde es schließlich gelingen, ihn zu töten. Sein Fell und sein Kopf würden später in Wade Hicks' Kneipe Platz finden, aufgehängt zwischen all den verstaubten Köpfen von Wapitihirschen und Bergschafen, zwischen ausgestopften Mardern und Vielfraßen und in der Nähe des mächtigen Schädels eines Bisonbullen, der noch aus einer Zeit stammte, als Millionen von ihnen durch die unendlichen Prärien des Hochlandes zogen, wo heute nur noch magere Rinder grasten und Wildkaninchen längst zu einer Plage geworden waren. Und er würde sich in guter Gesellschaft befinden, zusammen mit Schwarzbären und Adlern und dem letzten Grizzly, den Wade Hicks vor einigen Jahren in den Whitefish-Bergen mit einem wohl gezielten Herzschuss zu Tode gebracht hatte.
Zane fürchtete um den Wolf, der dort draußen vielleicht in dieser Nacht eines der Grimball-Schafe reißen würde oder eines der Kälber, die mit ihren Muttertieren in den Hügeltälern weideten und selbst in der fernen Stadt, in Great Falls, würden dann die Zeitungen darüber berichten, dass ein Wolf in die Täler beim Birch Creek Reservoir zurückgekehrt war und die Gegend in der Nähe des Nationalparks unsicher machte.
Nein, dieser Wolf hatte keine Chance, am Leben zu bleiben, und kein Gesetz, das zu seinem Schutz erlassen worden war, vermochte ihn wirklich zu schützen.
„Bist du mit dem Essen fertig?“, fragte Zanes Mutter in seine Gedanken hinein.
Zane erhob sich und trug sein Geschirr zur Anrichte hinüber. Millie beobachtete ihn von ihrem Kinderstuhl aus. Zane nahm einen grauen Kieselstein aus der Hosentasche und steckte ihn sich ins rechte Auge. Millie begann sofort zu brüllen. Mrs. Clark und Jennifer fuhren herum, aber sie sahen nicht mehr, wie Zane den Stein aus dem Auge in seine Hand fallen und in seiner Hosentasche verschwinden ließ.
„Was hast du ihr getan?“, fragte Jennifer argwöhnisch.
„Nichts“, sagte Zane und ging hinaus. Im Wohnzimmer lag Jasper auf dem alten Plüschsofa und bohrte in der Nase, während er in die Glotze starrte.
Draußen war Dwight Clark dabei, den Viehanhänger an den Pickup zu koppeln. Die Sonne ging unter. Cody lag auf der Veranda und knabberte an einer dicken Zecke herum, die sich ihm zwischen den Pfotenzehen in die Haut gebohrt hatte.
Zanes Vater saß hinter dem Steuerrad des neuen Pickups, den er vor einem Monat beim Dodge-Händler in Great Falls gekauft hatte. Die Fahrertür war offen und Dwight Clarks linkes Bein, das er beim Fahren nicht brauchte, weil der Pickup mit einem automatischen Getriebe ausgestattet war, hing über das Trittbrett herunter. Er schaffte es auf Anhieb, so an den Anhänger heranzufahren, dass der Zughaken mit der Kugel genau unter der Anhängerkupplung zu liegen kam. Außer ihm brachte das sonst keiner fertig. Er stieg aus, und ohne seinen Sohn anzusehen ging er nach hinten zum Heck des Pickups und drehte mühelos und gleichmäßig die Buglaufradstütze herunter, bis sich die Kupplung über die Zughakenkugel senkte und die Sicherheitsarretierung einschnappen konnte. Zane ging an ihm vorbei und Tara kam vom Schuppen herüber und folgte ihm zum Rundkorral, in dem ein halbes Dutzend Sattelpferde untergebracht waren. Zane hörte, wie sein Vater die Sicherungskette festmachte, bevor er schließlich den Motor des Pickups ausschaltete.
Es wurde schnell kalt.
Unten, auf der Ebene, auf der Straße nach Great Falls, fuhr ein Laster im blauen Dunst der Dämmerung, die Zanes Großvater die „Wiege der Nacht“ nannte. Der Laster, ein Sattelschlepper, hatte die Lichter an, die Scheinwerfer und all die kleinen Lämpchen an den Ecken und Kanten, die seine schattenhafte Silhouette einrahmten. Lautlos dem eigenen Scheinwerferlicht folgend, glitt er drei oder vier Meilen entfernt durch die Dämmerung, und erst als er hinter einem Hügelrücken, der sich flach und lang in die weite Ebene hinauszog, verschwunden war, vernahm Zane das monoton brummende Geräusch des Dieselmotors.
Sein Vater ging ins Haus. Jemand machte von innen die Lampe auf der Veranda an. Cody kam über den Platz. Tara knurrte ihn leise an und er blieb in sicherer Entfernung stehen und gähnte verlegen.
Als sein Vater wieder herauskam, saß Zane auf der obersten Stange des Korralzaunes direkt neben dem Tor, sodass er sich seitlich gegen den Torpfosten lehnen konnte. Tara lag hinter ihm am Boden. Die Pferde fraßen von dem Heu, das Zane ihnen gebracht hatte. Sie zerrupften einen Ballen Alfalfa und schleuderten das gepresste Heu um sich, bis es lose am Boden lag. Dann fraßen sie es aus dem Staub, und während sie fraßen, beobachteten sie einander und manchmal warfen sie den Kopf hoch und schnaubten.
Zanes Vater kam herüber. Er trug ein Wollhemd, das ihm über die Hose hing, und eine Jeansjacke darüber.
„Hier“, sagte er und reichte Zane eine Jacke, die ihm seine Mutter aus dickem, gelbem Zeltstoff genäht hatte, mit Cordsamteinsätzen an den Ärmeln und am Kragen.
Zane zog die Jacke an.
Dwight Clark lehnte sich gegen den Stangenzaun, stützte die angewinkelten Arme auf der obersten Stange auf und legte das Kinn darauf. Er trug keinen Hut. Dunkles Haar klebte an seinem Kopf. Den ganzen Tag hindurch hatte er seinen Stetson getragen. Die Haut, die durch die Haarsträhnen schimmerte, war weiß, während sein Gesicht und sein Nacken tief gebräunt waren.
Er zündete sich eine Zigarette an und hielt Zane die Schachtel hin. Zane nahm eine Zigarette heraus und steckte sie sich zwischen die Lippen. Sein Vater gab ihm mit einem Zippo Feuer. Sie rauchten schweigend und beobachteten dabei die Pferde. Tara erhob sich und trottete zum Schuppen zurück, in dem sie am Vortage ihre Welpen zur Welt gebracht hatte. Zane und sein Vater redeten kein Wort miteinander. Die Stille und der Anblick der Pferde verband sie mehr, als es Worte vermocht hätten. Es tut gut, hier zu sein, allein mit ihm und den Pferden, dachte Zane. Sie wussten beide, dass sie dies nicht mehr oft tun würden. Vielleicht erschienen deshalb Zane diese Minuten so wichtig und kostbar. Vielleicht wünschte er deshalb, dass ihm dieses Gefühl für immer erhalten bleiben würde.
Die Pferde sahen gut aus. Fünf von ihnen waren erfahrene Sattelpferde, die sie selbst eingeritten hatten. Zwei von ihnen gehörten Zane. Cheyenne und Dakota. Cheyenne war ein Muskatschimmel, der auch klettern konnte. Zane brauchte ihn häufig dazu, Kälber aufzutreiben, die sich im rauen Gelände an den Osthängen der Berge verlaufen hatten. Dakota war besser für die Arbeit im Korral geeignet, bei der Kälber und Jungrinder mit Brandzeichen versehen, enthornt, kastriert, markiert und geimpft wurden. Dakota war auch nicht schlecht im bergigen Gelände, aber es machte ihm weniger Spaß als Cheyenne, hinter verängstigten Kälbern herzujagen, die noch nie ein Pferd mit Reiter gesehen hatten.
„Cheyenne oder Dakota?“, fragte Dwight Clark seinen Sohn, als hätte er dessen Gedanken erraten.
„Cheyenne“, sagte Zane.
Sein Vater nickte. Cheyenne hatte nun den Kopf erhoben. Seine Vorderbeine waren gespreizt. Er sah ziemlich ungelenk aus, wie er dort über dem Alfalfa Heu stand und herüberäugte. Grashalme hingen ihm aus dem Mund. Er schnaubte kaum hörbar, so als wüsste er, dass sie eben von ihm gesprochen hatten.
„Zane.“
„Ja?“
Zane blickte seinen Vater nicht an, aber er spürte dessen Blick auf sich gerichtet.
„Du hast dich entschieden, nicht wahr?“
Die Worte aus Dwight Clarks Mund blieben im Staub hängen, der als dünner Schleier über dem Korral und dem Platz zwischen dem großen Schuppen und dem Ranchhaus schwebte, aufgewirbelt von den Hufen der Pferde. Erst wenn es noch kühler wurde und die Pferde gefressen hatten, würde sich der Staub allmählich legen und die Luft würde klar sein, klar und kalt im Licht der Sterne und des Mondes, der groß aus der Prärie steigen würde, als hätte er sich dort den Tag über im gelben Gras verborgen gehalten.
Eines der Pferde latschte zum Brunnen und trank. Es hielt die Nüstern ins Wasser und blies den Atem aus und trank. Cheyenne richtete sich auf und schüttelte seine zottige Mähne.
„Nach dem Roundup gehst du, Zane. Das ist eine gute Zeit.“
„Warum nicht?“, sagte Zane. „Nach dem Roundup gibt es hier wenig Arbeit.“
„Es ist an der Zeit, dass du weggehst. Hier wird sich vieles ändern.“
„Ja.“ Zane lächelte, ohne dass es sein Vater sehen konnte. „Ich weiß nur nicht, wohin.“
„Irgendwohin.“ Sein Vater hatte die Zigarette halb heruntergeraucht. Er warf sie hinter sich auf den harten Boden. „Du bist siebzehn. Als ich siebzehn war, war Krieg in Vietnam. Ich ging nach Vietnam.“
„Ich denke, ich gehe nach Nevada. Oder noch weiter südwärts. New Mexico vielleicht. Oder Arizona. Dort gibt es keinen Winter.“
„Texas“, sagte Dwight Clark und hörte dem Klang des Wortes nach wie dem Echo eines verlorenen Traumes. „Ich wollte immer nach Texas. Seit ich diesen alten Newman Streifen Hud gesehen habe. Da wollte ich unbedingt hin, wo der Himmel so weit ist wie hier bei uns und wo es Pferde gibt und Land ohne Zäune.“
„Vielleicht gehe ich nach Texas.“
„Gut. Ich wollte immer nach Texas. Jetzt gehst du dorthin. Das ist richtig so, verstehst du? Das ist vollkommen in Ordnung.“
„Großvater meint, dass es das, wonach ich suche, auf dieser Welt nicht mehr gibt. Auch nicht in Texas.“
„Kann gut sein, dass der alte Mann Recht hat. Aber was weiß er denn von dieser Welt. Er hat sein Leben im Reservat verbracht. Einmal, als Junge, da war er auf einer Indianerschule irgendwo in Süddakota oder wo. Später war er einmal oder zweimal in Great Falls. Und als Touristenattraktion zur Weltausstellung in Seattle, mit bunten Federn auf dem Kopf.“
„Er sieht die Welt durch seine Augen.“
„Seine Welt, die existiert schon lange nicht mehr, Zane, und es nützt auch nichts, dass er ihr nachtrauert.“
Zane gab seinem Vater darauf keine Antwort. Sie sahen den Pferden zu, die allmählich ihre klaren Formen verloren und in die Dämmerung eintauchten, als wären sie nicht mehr als Schatten des vergangenen Tages, körperlos und ohne Seele.
„Sie werden diesen Wolf töten“, sagte Zane.
„Sie werden ihn wahrscheinlich töten“, sagte sein Vater mit einem Kopfnicken.
„Das ist es eben, was Großvater meint. Es gibt keine Wölfe mehr.“
„Nicht hier.“
„Ja.“
„Willst du deswegen von hier weg?“
„Ich weiß nicht. Nicht nur deswegen.“
„Ich hoffe, du findest, was du suchst.“
Zane wusste selbst nicht genau, warum es ihn von hier wegtrieb, wo er geboren worden und aufgewachsen war. Es lag vielleicht daran, dass die Welt, die er nicht kannte, immer mehr mit jener Welt kollidierte, die ihm so viel bedeutete, dass er ihr lieber den Rücken zukehrte, als mit anzusehen, wie sie mit rücksichtsloser Konsequenz Stück um Stück zerstört wurde. So erwachte in ihm während der letzten Jahre ein Gefühl, das sein Vater Wanderlust nannte. Diese innere Unruhe hatte Zane lange Zeit verunsichert. Auch der Entschluss, seine Sachen zu packen und nach dem Roundup wegzugehen, hatte nichts daran geändert, dass er sich verloren fühlte. „Dass du weggehen willst, das liegt vor allem daran, dass Indianerblut in deinen Adern fließt, mein Sohn“, hatte ihm seine Mutter einmal mit einem Lächeln gesagt, als er mit ihr über diese Dinge gesprochen hatte. „Das wilde Erbe deiner Vorfahren treibt dich hinaus und auf die Suche nach einer anderen Welt. Dabei müsstest du gar nicht so weit weggehen. Dein Großvater würde dich mit offenen Armen empfangen, Zane.“
Ja, sie hatten beide, sein Vater und seine Mutter, Verständnis für seinen Wunsch, von hier wegzugehen, denn sie wussten, dass er eines Tages wieder zurückkehren würde, weil er hierher gehörte.
„Für einen Wolf ist hier kein Platz, Zane“, sagte sein Vater plötzlich. „Woanders vielleicht. Dort, wo der herkommt, dessen Spuren Wade Hicks entdeckt hat, dort muss es noch mehr von ihnen geben.“
„Und wo ist das?“
„Irgendwo in den Rocky Mountains. Nördlich der Grenze. In den entlegenen Gebieten von Kanada.“
„Es soll auch in Montana noch welche geben.“
„Es sind einige ausgesetzt worden. Weit entfernt von Orten, wo sie Schaden anrichten könnten.“
„Nur hier gibt es keine mehr, seit Onkel Kelso den letzten geschossen hat.“
„Es wurde keiner mehr gesichtet, das stimmt.“
„Das war, kurz bevor ihr zusammen weggegangen seid?“
Zane hörte, wie sein Vater Luft holte. „Ein oder zwei Jahre zuvor“, sagte er. „Genau weiß ich das nicht mehr. Aber seither wurden keine Schafe mehr gerissen. Und auch keine Kälber.“
Zane blickte seinen Vater von der Seite an. Seine schmale Silhouette wurde schwach von der Lampe auf der Veranda beleuchtet. Die grauen Stoppeln in seinem fleckigen Dreitagebart glitzerten. Er sah zu den Pferden hinüber, die jetzt alle beim Trog standen. Einige tranken. Andere standen dort im aufgeweichten Dreck. Der Jährling, der noch nicht zugeritten war, stand auf der anderen Seite des Korrals. Er hob den Kopf und schnaubte.
„Von damals willst du nicht reden, ist es so?“, sagte Zane.
„Ja“, antwortete sein Vater. Zane hörte am Tonfall seiner Stimme, dass er wirklich nicht darüber reden wollte. Er hatte es nie getan. Auch seine Mutter nicht. „Alles, was damals geschah, gehört einer Vergangenheit an, über die sich ein tiefer Schatten gelegt hat“, sagte seine Mutter einmal. „Bitte uns nicht, in diesen Schatten einzudringen, Zane. Das wäre nicht gut.“
Unten auf der Ebene, wo es schon Nacht war, glitten Lichter durch die Dunkelheit und verschwanden hinter den Hügeln, die sich schwarz wie ein Scherenschnitt aus der grundlosen Tiefe erhoben. Der Mond war aufgegangen, gläsern und mit einem Hof, den die Indianer ‚Moon Dog‘ nannten. Jennifer kam aus dem Haus, um die Schweine zu füttern. Im Pferch entstand Tumult. Die Säue und Ferkel grunzten und quiekten. Jennifer schüttete die Küchenabfälle in den Trog. Dann ging sie in den Schuppen und füllte eine große Schüssel mit Mais und Hafergrütze, die sie am Nachmittag zur Verfütterung vorbereitet hatte.
Irgendwo in den Hügeln heulte ein Kojote.
Cody wurde unruhig.
Jeder von ihnen fing sich sein eigenes Pferd ein. Jasper war an diesem Morgen zuerst auf den Beinen. Es war noch dunkel. Das einzige Licht beim Korral stammte von der Lampe auf der Veranda. Das Licht beleuchtete die Pferde nur schwach. Sie trabten dicht gedrängt am Korral Zaun entlang im Kreis. Jasper bückte sich zwischen zwei Zaunstangen hindurch, das Lasso wurfbereit an seiner rechten Seite herunterhängend. Die Pferde drehten ab und Jasper ließ die Schlinge mit einer schnellen Aufwärtsbewegung seines rechten Armes fliegen. Die Schlinge öffnete sich weit und senkte sich über Kopf und Hals eines mausgrauen Wallachs, dem Dwight Clark vor vielen Jahren den Namen Tex gegeben hatte. Jasper holte ihn aus den anderen Pferden heraus und führte ihn am Schopf aus dem Korral und zum Schuppen hinüber, wo er ihm ein Stallhalfter anlegte. Er machte Tex mit einem Hanfstrick am Haltebalken fest, striegelte ihn und kratzte ihm die Hufe aus, bevor er ihm die Satteldecke und den Sattel auflegte.
Zane ging hinunter, nahm eines der Lassos, die im Vorraum aufgehängt waren, zur Hand und verließ das Haus. Draußen vor der Tür lag Cody. Zane stieg über ihn hinweg und er legte sich auf den Rücken und Zane kauerte sich nieder und kraulte ihn am Bauch.
Jennifer kam vom Holzschuppen her, der an das Haus angebaut war, ein paar Holzscheite auf den Armen. Sie beeilte sich, der Kälte zu entgehen und ins Haus zurückzukehren.
Zane holte Cheyenne aus dem Korral, legte ihm das Stallhalfter an und machte ihn hinten am Viehanhänger fest. Erst nachdem sie die Pferde verladen hatten, gab es Frühstück. Millie schlief noch. Sie redeten nicht viel, als sie in der Küche am Tisch saßen. Anne Clark trug das Essen auf. Es gab Eier und Speck und Bratkartoffeln. Jasper trank fast eine halbe Gallone Milch.
Im Morgengrauen fuhren sie durch den Spotted Horse Canyon. Die nicht geteerte Straße wurde schmaler und holpriger und einmal musste Zane anhalten und Jasper, der auf der anderen Seite seines Vaters saß, musste aussteigen und einen Steinbrocken aus dem Weg räumen, der in der Kälte der Nacht von einer Felsklippe hoch über der Schlucht weggebrochen und auf die Straße heruntergefallen war.
Wenn sie zu dritt im Pickup Truck unterwegs waren und Dwight Clark nicht am Steuer saß, nahm er den Platz in der Mitte ein. Einmal prüfte er Jasper mit der Frage, woran man einen echten Cowboy erkennen konnte, wenn drei Männer in einem Pickup saßen. Zane konnte sich erinnern, dass er vor Jahren auch ihm diese Frage gestellt hatte, und er dachte schon, dass Jasper, der Klugscheißer, im Gegensatz zu ihm damals, seinem Vater die richtige Antwort geben würde. Aber dem war nicht so. Jasper wusste es auch nicht. „Der echte Cowboy ist der, der in der Mitte sitzt“, erklärte ihm Dwight Clark mit bierernster Miene. „Der in der Mitte muss nämlich erstens den Pickup nicht fahren und zweitens auch nie aussteigen, wenn es ein Hindernis aus dem Weg zu räumen oder ein Viehgatter zu öffnen gibt.“
„Scheißkomisch“, sagte Jasper.
Sie hatten Cody dabei. Er lag zwischen Jaspers Füßen auf dem Fußboden, so klein, dass er beinahe aussah wie ein Fuchs. Cody verfügte über eine ausgezeichnete Spürnase und einen scharfen Rinderverstand. Eigentlich war er ein Bastard, der sich für einen reinrassigen australischen Schäferhund hielt. Trotz seines fortgeschrittenen Alters jagte er beim Auftrieb noch immer wie ein Verrückter stundenlang hinter Kälbern und Kühen her, schnappte nach ihren Beinen, wenn sie nicht parierten, und hörte nicht eher mit seinem Gekläff auf, bis er eine ganze Herde schön ordentlich beieinander hatte, sodass sie nur noch von einem oder zwei Reitern übernommen und zum Brandkorral getrieben werden musste.
Hinten, im alten Viehanhänger, fuhren die Pferde mit; Tex, der ältere zuverlässige Wallach, den Zane früher bei schwierigen Aufgaben geritten hatte, Chinook, ein ramsnasiger Falbe, den Dwight Clark als Fohlen einem Cowboy aus Wyoming abgekauft hatte, und Zanes Cheyenne. Jasper hatte eigentlich zuerst Bonito, einen jungen und übermütigen Hengst reiten wollen, aber seine Mutter hatte ihn gebeten, doch lieber Tex mitzunehmen, da es sich bei dem alten Bullen um ein unberechenbares Biest handelte. Außerdem streifte ja auch noch dieser Wolf dort oben herum, und ein junges Pferd wie Bonito konnte leicht seine Ruhe verlieren, wenn es die Witterung eines wilden Tieres aufnahm. Das musste auch Jasper einsehen, und wenn es überhaupt einen Menschen gab, auf den er hin und wieder hörte, dann war das seine Mutter.
Jasper machte das Radio an.
Im Canyon kam nichts rein. Die Felswände stiegen zu beiden Seiten der Straße und des Flusses senkrecht auf. Sie führte ein langes Stück in der Tiefe des Canyons dem Spotted Horse Creek entlang, einem wilden Quellfluss des Dupuyer Creek, der im Laufe der trockenen Sommermonate viel von seiner sonstigen Wildheit verloren hatte. Ein Reh, das in der Schlucht vor der Nachtkälte Schutz gefunden hatte, floh vor dem Pickup her dem Straßengraben entlang, übersprang eine steinige Böschung und jagte in kurzen Bocksprüngen den Steilhang hinauf in die Sicherheit einer tief ausgewaschenen Kerbe zwischen den schroffen Felsklippen hinein. Dort oben, hoch über der Straße und dem Fluss, hing das Licht der Morgensonne rotgolden von den zackigen Felsrändern.
Die Straße wand sich an den Steilhängen hinauf zum Plateau, auf dem sich einer der großen Sammelkorrals der Clark Ranch befand. Diesem Plateau hatten die Vorfahren der Clarks den Namen „Roundup Plateau“ gegeben, weil im Herbst, beim alljährlichen Auftrieb, die nicht markierten Kälber aus den Hügeln und Tälern hierher getrieben und im Sammelkorral untergebracht wurden, bis sie alle gebrannt waren.
Hier oben, auf dem Hochplateau, fuhren sie im warmen Licht der Sonne. Auf dem Gras glitzerte der Tau, der in den Morgenschatten noch gefroren war. Die Straße machte einen weiten Bogen zum Zaun, der das Weidegebiet der Clark Ranch von dem der Grimmball-Brüder trennte. Auf der anderen Seite des Zaunes waren die flachen Hügelkuppen und die weiten Senken von den Schafen ziemlich abgegrast, aber es waren nirgendwo Schafe zu sehen.
Sie fuhren jetzt mit der Sonne schräg im Rücken in nordwestlicher Richtung zum Sattel hinauf, hinter dem sich das Tal des Birch Creek ausbreitete. Zu beiden Seiten der Straße waren die Hänge mit kleinen Espenwäldern bedeckt, die mit den grünen Auen ein leuchtendes Fleckenmuster bildeten. Einige Rinder der Clark Ranch standen dicht an der Straße und beobachteten den Pickup und den Anhänger, mit seitwärts mahlenden Unterkiefern wiederkäuend. Mehrere Kälber rannten davon, als sie den Pickup sahen und den großen Viehanhänger dahinter, der im wirbelnden Staub und in den tiefen Fahrrillen hin und her schlingerte. Die Luft hier oben war so klar, dass sich weit im Norden die schneebedeckten Gipfel der Rocky Mountains gläsern weiß vom Blau des wolkenlosen Himmels abhoben, als wären sie Inseln in einem Ozean des Alls.
Jasper drehte am Suchknopf des Radios herum, bis er endlich den Oldie-Kanal drauf hatte. Elvis sang gerade von einem Jungen in einem Ghetto. Dwight Clark mochte Elvis. Er war sozusagen mit ihm aufgewachsen. Er sang mit. „In the Ghetto … In the Ghetto …“
Sie hörten Elvis zu und dann Jerry Lee Lewis und sie fuhren den alten Karren bis zu einer Viehtränke, wo Zane anhielt. Sie stiegen aus, und während Jasper gegen einen der verwitterten Zaunpfosten pinkelte, holte Dwight Clark Nägel und Hammer aus der Werkzeugkiste und befestigte ein Schild, das ins Gras heruntergefallen war, an einem der anderen Pfosten. NO HUNTING, war darauf zu entziffern und das Schild war von Kugeln durchlöchert.
Zane ging auf einen Hügelbuckel. Von hier oben konnte er die Fußhügel am Ende des Spotted Horse Canyon nicht mehr sehen und auch nicht die Ranch, die sich dort unten befand, aber dafür reichte an diesem klaren Tag die Sicht bis weit über die zerfurchte und bucklige Hochebene, die sich von den Fußhügeln aus endlos nach Osten hin ausbreitete, bis hin zu den Bear Paw Mountains und den Little Rocky Mountains, die früher zum Jagdgebiet der Piegan gehört hatten.
Zane hatte keine Ahnung, warum er dieses Land so sehr liebte, dass ihm in diesem Moment das Herz wehtat. Er verspürte den merkwürdigen Wunsch in sich aufsteigen, ein Baum zu sein, eine Kiefer am Osthang der Rocky Mountains, die mit ihren tief im Boden verankerten Wurzeln allen Stürmen zu trotzen vermochte, oder ein Stein, der irgendwo hier oben im Gras und in der Sonne lag, still und unberührt, seit die Welt entstanden war und alles begonnen hatte.
Dwight Clark rauchte eine Zigarette, und als er sie geraucht hatte, stiegen sie ein und sie fuhren weiter zum Sattel, den sie Piegan-Pass nannten. Es gab nichts dort oben außer einem kleinen Korral, aus den Stämmen junger Kiefern gebaut, und einer alten Weidehütte am Rand einer Mulde, in der das vom Sattel herabfließende Regenwasser durch einen niederen Erd- und Gerölldamm aufgestaut und gesammelt werden konnte. Diese natürliche Viehtränke war zurzeit vollständig ausgetrocknet. Zane fuhr den Pickup mit dem Anhänger auf einen schiefen Platz am Ende der Straße. Sie stiegen aus. Es wehte ein kühler Wind aus dem Nordwesten. Sie zogen ihre Jacken an und Jasper ging nach hinten und machte die Hecktüren des Viehanhängers auf.