JOHN D. MACDONALD
Das Mädchen, die goldene Uhr
und alles andere
Roman
Apex Science-Fiction-Klassiker, Band 50
Apex-Verlag
Inhaltsverzeichnis
Das Buch
DAS MÄDCHEN, DIE GOLDENE UHR UND ALLES ANDERE
Erstes Kapitel
Zweites Kapitel
Drittes Kapitel
Viertes Kapitel
Fünftes Kapitel
Sechstes Kapitel
Siebtes Kapitel
Achtes Kapitel
Neuntes Kapitel
Zehntes Kapitel
Elftes Kapitel
Zwölftes Kapitel
Dreizehntes Kapitel
Vierzehntes Kapitel
Das Mädchen war eine Hillbilly-Schönheit und hieß Bonny Lee, und Kirby Winter fand sie eines Morgens bei sich im Bett. Die Uhr hatte er von seinem stinkreichen Onkel Omar Krepps geerbt, und dazu einen Umschlag, den er erst in einem Jahr öffnen sollte, sonst nichts. Aber mit der Uhr hatte es eine besondere Bewandtnis: Bewegt man nämlich ihren silbernen Zeiger, so kann man die Zeit anhalten und die Welt »einfrieren«, was ihrem Besitzer eine märchenhafte Macht verleiht.
Das Mädchen, die goldene Uhr und alles andere aus dem Jahr 1962 ist einer von nur wenigen Science-Fiction-Romanen von John D. MacDonald, der ansonsten eher für seine Thriller bekannt ist.
Der Roman wurde im Jahr 1980 von William Wiard für das amerikanische Fernsehen verfilmt. Er erscheint als Band 50 in der Reihe APEX SCIENCE-FICTION-KLASSIKER.
Mein lieber Fred,
Sie haben mir nicht gesagt, dass es leicht sein würde. Aber Sie haben mir auch nicht gesagt, dass es so sein würde. Suchen Sie Kirby Winter. Bringen Sie ihn zurück. Scheuen Sie keine Kosten. Ich bekam einen tüchtigen Mann zu meiner Unterstützung. Huddleston war zumindest einmal tüchtig. Heute würden Sie ihn nicht wiedererkennen. Er starrt vor sich hin und seufzt; manchmal kichert er ohne Grund, das ist alles, was ich aus ihm herausbringe.
Wir fanden Kirby Winter, Boss. Wir fanden ihn zweimal. Wenn Sie wollen, dass er ein drittes Mal gefunden wird, dann schicken Sie jemand anderen. Aber es wird reine Geldverschwendung sein.
Empfehlen Sie Ihrem Kunden aufzugeben. Wenn dieser Kirby Winter tatsächlich ein paar Millionen Dollar aus dem Nachlass seines Onkels Omar beiseite geschafft hat, dann wird sie ihm niemand mehr wegnehmen.
Ich weiß, was Sie denken. Sie glauben, dass Kirby Winter mich gekauft hat, und Huddleston auch. Wenn er es nur getan hätte! Dann würde ich besser schlafen.
Ich kann Ihnen nur erzählen, was geschehen ist. Der Tip war absolut richtig. Wir fanden ihn hier im Del Prado in einer großen Suite. Er ist seit zwei Wochen in Mexico City und unter seinem eigenen Namen gemeldet. Er will sich offenbar nicht einmal verstecken, zumindest gibt er sich keine besondere Mühe. Kirby Winter und Begleitung. Die Begleitung besteht aus einer Person, nämlich demselben Frauenzimmer, das vor drei Monaten mit ihm in São Paulo war, eine tolle Frau, kommt aus dem tiefen Süden und sieht aus wie ein Engel. Aber lassen Sie sich nicht täuschen!
Ich verstehe einfach nicht, Fred, wieso Sie und Ihr Kunde glauben, dass dieser Kirby Winter harmlos und hilflos ist. Vielleicht war er es einmal, aber das ist Geschichte. Er ist äußerst selbstbewusst, das können Sie mir glauben. Und was sein Auftreten und seinen Geschmack betrifft, so könnte sich Onassis noch etwas abschauen. Er und seine Hillbilly-Braut lassen es sich sehr gut gehen. Wenn er Angst hat, dass jemand auftauchen und ihm etwas von dem Geld wegnehmen könnte, dann lässt er es sich zumindest nicht anmerken.
Sobald wir sie also aufgespürt hatten, überlegten wir, wie wir sie in die Staaten zurückbringen könnten. Den Großteil der Planungsarbeit musste ich selbst erledigen, denn die seltsamen Ereignisse in São Paulo haben Huddleston verunsichert.
Ich organisierte ein Privatflugzeug, das groß genug für uns vier und den Piloten war und dessen Reichweite es uns ermöglichen würde, über die Grenze zu kommen. Wie Sie vorgeschlagen hatten, schien es am besten, das Mädchen mitzunehmen. Das nächste Problem war: Wie bringen wir sie vom Hotel zum Flughafen? Ich entschloss mich für die schnelle, einfache Methode. Hineinstürzen, eine Pistole auf sie richten und ihnen dann eine Spritze verpassen, die sie sehr, sehr still und gefügig macht. In dieser Verfassung könnten wir mit ihnen hinuntergehen, in ein Auto steigen und losbrausen. Dann hätte ich Sie wissen lassen, wo Sie uns abholen sollen.
Ich kaufte einen Nachschlüssel. Gestern Abend gingen die beiden um etwa neun Uhr fort, und Huddleston und ich wollten sie bei ihrer Rückkehr erwarten. Wir sperrten also auf und warteten. Wir waren beide bewaffnet. Ich hielt die Spritze bereit und hatte einen Mann bestellt, der auf Kommando vor dem Haus Vorfahren würde. Der Pilot war auf Abruf bereit.
Gegen Mitternacht kamen sie lachend und plaudernd zurück. Sobald sie im Zimmer waren, traten wir ihnen mit gezogener Waffe entgegen. Ich frage Sie, Fred, wie konnte es schiefgehen? Ich bin wirklich nicht unvorsichtig.
Aber es ging schief, Fred. Sie müssen versuchen, meine Geschichte zu glauben. Die beiden erschraken ein wenig und starrten uns an, aber dann benahmen sie sich, als handle es sich um den besten Witz der Weltgeschichte. Es erinnerte mich so an São Paulo, dass ich ganz nervös wurde. Huddlestons Farbe versprach nichts Gutes. Ich sagte ihnen, dass niemandem etwas geschehen würde, wenn sie kooperierten. Dieser Kirby Winter macht irgendwie einen schüchternen Eindruck. Er sah mich an und schüttelte traurig den Kopf. Sie hätten geglaubt, so meinte er, dass wir nach São Paulo aufgeben würden. Offenbar wären sie nicht deutlich genug gewesen, daher wollten sie diesmal noch deutlicher werden. Huddleston befahl ihm, den Mund zu halten. Ich ging mit der Spritze auf sie zu und wollte mich zuerst um ihn kümmern. Ich war sehr vorsichtig, Fred.
Plötzlich war die Spritze verschwunden. Ich blieb stehen und starrte auf meine leere Hand. Kirby Winter und das flachshaarige Hillbilly-Mädchen lächelten mir zu. Ich sah Huddleston an. Ich schwöre Ihnen, Fred, er hatte von einem Augenblick zum anderen alles ausgezogen, was er angehabt hatte; eine große blaue Schärpe war um seine Mitte zu einer Masche gebunden, und auf seiner Brust stand mit Lippenstift geschrieben: »Überraschung!«
Ich dachte an São Paulo. Falls etwas schiefging, war ich entschlossen, Kirby Winter ins Bein zu schießen und die Situation zu retten. Sie wissen, ich schieße schnell und zielsicher und hätte ihn wahrscheinlich genau dort getroffen, wo ich wollte. Aber als ich feuern wollte, hatte ich statt eines Revolvers einen Parfümzerstäuber in der Hand.
Ich starrte Kirby Winter an, aber plötzlich befand ich mich im Fahrstuhl, ohne dass ich wusste, wie ich dorthin gelangt war, und die Tür ging gerade zu. Außer mir waren da noch ein Liftboy, drei Touristinnen mittleren Alters und Huddleston. Die Tür ging zu, und wir fuhren hinunter. Die Damen schrien und fielen in Ohnmacht, und es herrschte ein schreckliches Durcheinander. Ich hatte auch nur eine Schärpe umgebunden, genau wie Huddleston, nur dass meine rosa war. Auf meiner Brust stand: Adios, amigo! Wir waren beide vollkommen kahl geschoren und in Parfüm getränkt. Der hysterische Liftboy fuhr mit uns hinunter in die Eingangshalle und öffnete die Tür. Huddleston war so entsetzt, dass er davonlaufen wollte.
Wie dem auch sei, die Dinge nehmen ihren Lauf, und wenn wir Glück haben und Sie das Geld schicken, um das ich telegraphierte, dann lassen sie uns vielleicht morgen raus. Unser Rechtsanwalt ist der Meinung, dass es keine schwerwiegenden Anklagepunkte gibt, aber sicherlich viele kleine. Er hat sich erkundigt, Kirby Winter und Begleitung sind heute gegen Mittag abgereist.
Meiner Ansicht nach wird Huddleston in Zukunft für niemanden sehr nützlich sein; für mich kann ich nicht garantieren. Wenn Sie glauben, dass man uns gekauft hat, müssen Sie zugeben, dass wir es auf recht eigenartige Weise vertuschen wollten.
Wie gesagt, wenn Ihr Klient Kirby Winter noch einmal aufspüren will, dann schicken Sie jemand anderen. Ich habe mich bemüht, das Geschehene vollkommen unvoreingenommen zu analysieren. Die einfachste Antwort wäre Hypnose. Aber ich glaube, Fred, es war schlicht und einfach Zauberei, wie in den Geschichten, die wir als Kinder gelesen haben. Warum nicht? Wenn es auf der Welt noch Zauberei gibt, dann werden doch die, die sie beherrschen, bestimmt dafür sorgen, dass nichts davon in die Zeitungen kommt, oder? Winters Onkel, dieser Omar Krepps, der war doch angeblich ein sehr geheimnisvoller Kerl, so eine Art Zauberer. Vielleicht hat er vor seinem Tod Kirby Winter noch die Zaubersprüche beigebracht und ihm gezeigt, wie man die Lampe reibt oder was zum Teufel er eben macht.
Denken Sie an São Paulo. Winter und das raffinierte kleine Frauenzimmer haben sechs der größten Kasinos um jeweils etwa siebzigtausend Dollar erleichtert. Wenn das nicht Zauberei ist, Fred, was ist es dann? Benutzen sie eine neue Erfindung?
Ehrlich gesagt, in meiner augenblicklichen Verfassung würde es mich überhaupt nicht erschüttern, wenn das kleine Hillbilly-Mädchen plötzlich in meiner Zelle auftauchte und sich in ein purpurrotes Känguru verwandelte. Nach etlichen solchen Erlebnissen kann einen nämlich nichts mehr erschüttern. Verstehen Sie, was ich meine?
Ihr Klient ist der Meinung - und Sie glauben es vielleicht auch -, dass dieser Kirby Winter ein Dussel war, aber glauben Sie mir, irgendetwas hat ihn verändert. Wenn Sie nicht herausfinden, was dahintersteckt, hat es keinen Zweck, ihm jemand anderen auf die Fersen zu hetzen. Die beiden haben uns angesehen, Fred, als wären sie zwei Marsmenschen. So wie Sie und ich über einen jungen Hund lachen würden, der einen anknurrt: liebevoll und überlegen.
Ich hoffe, dass das Geld schon unterwegs ist, denn falls nicht, sind wir womöglich sehr, sehr lang hier. Ganz gleich, wann wir hier hinauskommen, ich werde mir voraussichtlich einen anderen Beruf suchen. Ich habe irgendwie mein Selbstvertrauen verloren.
Hochachtungsvoll,
- Sam Giotti
Kirbys Welt kam langsam wieder ins Gleichgewicht, aber es kostete ihn unendliche Anstrengung. Der Nachhall seiner einschläfernden Klage quälte sein malträtiertes Bewusstsein. Die Silhouette der Frau, die ihm gegenüber am Tisch saß, zeichnete sich gegen das Fenster ab - ein Fenster, das so groß war wie ein Tennisplatz - und dahinter lag rosig in der Abend- oder Morgendämmerung ein Ozean. Ihre nackten, sonnengebräunten Schultern schimmerten pfirsichfarben, und die schweren blonden Haare leuchteten hell im sanften Licht.
Atlantik, dachte er. Sobald er wusste, um welchen Ozean es sich handelte, war es einfacher, eine Beziehung zurzeit herzustellen. Da er von Florida aus auf das Meer blickte, musste es früher Morgen sein.
»Sie sind Charla«, sagte er vorsichtig.
»Natürlich, lieber Kirby.« Sie sprach amüsiert mit gutturaler Stimme und lachte fast dabei. »Ich bin Ihre neue Freundin Charla.«
Der Mann saß links von Kirby. Er war massiv gebaut, herausstaffiert, geschniegelt und gestriegelt. Er gab einen leisen, belustigten Laut von sich. »Ein spanisches Zeitwort«, sagte er. »Charlar. Plaudern. Ein bedeutungsloses Gespräch führen. Eine Ironie, denn ihre große Begabung liegt im Zuhören, nicht im Reden.«
»Meine große Begabung, Joseph?«, fragte sie mit gespieltem Erstaunen.
»Deine ungewöhnlichste Begabung, meine Liebe. Aber es hat uns beiden großes Vergnügen bereitet, Kirby zuzuhören.«
Kirby notierte in Gedanken Stichworte, die ihm als Wegweiser dienten. Charla, Joseph, Atlantik, Morgendämmerung. Er suchte weitere Hinweise. Es könnte Samstagmorgen sein. Die Beerdigung hatte am Freitag um elf Uhr stattgefunden und die Besprechung mit den Rechtsanwälten um zwei Uhr nachmittags. Um drei Uhr hatte er zu trinken begonnen.
Er drehte vorsichtig den Kopf und betrachtete das leere Lokal. Ein Barkeeper im weißen Jackett stand mit verschränkten Armen und gesenktem Kinn unter den in der Morgendämmerung blass wirkenden Kristallleuchten.
»Sind diese Lokale die ganze Nacht geöffnet?«, fragte Kirby.
»Selten«, antwortete Joseph. »Aber man reagiert zuvorkommend auf ein kleines Geldgeschenk. Eine freundschaftliche Geste. Zur offiziellen Sperrstunde hatten Sie noch viel zu erzählen, Kirby.«
Im Lokal war es heller. Sie sahen ihn freundlich an. Sie waren reife, gutaussehende Menschen. Sie waren die zwei großartigsten Menschen, die er je kennengelernt hatte. Beide sprachen mit leichtem Akzent, hatten internationales Flair und behandelten ihn herzlich und liebevoll.
Plötzlich kam ihm ein schrecklicher Verdacht. »Sind Sie... sind Sie Journalisten - oder so etwas Ähnliches?«
Beide lachten laut. »Ach nein, mein Lieber«, antwortete Charla.
Er schämte sich. »Für Onkel Omar ist - war - schon der bloße Gedanke an jede Art von Publicity entsetzlich. Wir mussten immer sehr vorsichtig sein. Er zahlte einer Firma in New York dreißigtausend Dollar im Jahr, damit er nicht in die Zeitungen kam. Aber die Leute haben immer herumgeschnüffelt. Sie hörten ein winziges Gerücht über Omar Krepps und machten eine große Geschichte daraus; Onkel Omar wurde immer furchtbar wütend darüber.«
Charla legte ihre Hand mit warmem Druck auf die seine. »Das spielt doch jetzt keine Rolle mehr, lieber Kirby, nicht wahr?«
»Wahrscheinlich nicht.«
»Mein Bruder und ich sind natürlich keine Journalisten, aber Sie könnten mit Journalisten reden. Sie könnten die Welt wissen lassen, wie gemein er zu Ihnen gewesen ist und wie abscheulich er Ihnen die Jahre selbstloser Ergebenheit vergolten hat.«
Sie war so verständnisvoll, dass Kirby am liebsten geweint hätte. Aber seine unbequeme Ehrlichkeit ließ ihm keine Ruhe. »Ich war nicht ganz selbstlos. Wenn man einen Onkel hat, der fünfzig Millionen Dollar schwer ist, gibt es schon tiefere Beweggründe.«
»Sie haben uns aber erzählt, dass Sie ihn oft verlassen haben«, warf Joseph ein. Charla zog ihre warme Hand zurück, und Kirby vermisste sie.
»Ich bin immer wieder zurückgekommen«, gab Kirby zu. »Er hat mir versichert, dass ich sein Lieblingsneffe bin und dass er mich braucht. Wofür? Er hat mich ständig auf Trab gehalten, das war alles. Ich hatte keine Möglichkeit, ein eigenes Leben zu führen. Seit elf Jahren, seit ich das College verlassen habe, schickte er mich mit verrückten Aufträgen durch die ganze Welt. Sogar auf dem College bestimmte er, welche Vorlesungen ich belegen sollte. Der alte Mann bestimmte mein ganzes Leben.«
»Das haben Sie uns schon erzählt, mein Lieber«, versicherte im Charla mit heiserer Stimme. »Die vielen Jahre, die Sie geopfert haben!«
»Und dann kein Pfennig!«, stellte Joseph hart fest.
Das helle Licht des Morgens schmerzte Kirby in den Augen. Er gähnte. Als er die Augen öffnete, waren Joseph und Charla aufgestanden. Joseph ging zum Barkeeper. Charla berührte Kirby an der Schulter. »Kommen Sie, Sie sind erschöpft.«
Ohne zu fragen folgte er ihr durch die Glastüren und die riesige, unbekannte Hotelhalle. Wenige Schritte vor den Fahrstühlen blieb er stehen. Sie blickte fragend zu ihm auf. Ihr Gesicht war makellos, die graugrünen Augen waren riesig, die feuchten Lippen leicht geöffnet, die honigfarbene Haut schimmerte etwas dunkler als die Haare, und für einen Augenblick vergaß er, was er sagen wollte.
»Ja, mein Lieber?«
»Ich wohne doch nicht etwa hier?«
»Joseph hält es für besser.«
»Wo ist er?«
»Wir haben ihm Gute Nacht gesagt, Kirby.«
»Tatsächlich?«
»Kommen Sie, mein Lieber.«
Der Lift trug sie durch duftende, samtene Stille empor. Kirby ließ sich willenlos durch einen langen Korridor führen. Aus ihrer mit Edelsteinen besetzten Handtasche holte sie einen Schlüssel und sperrte die Tür zur Suite auf. Sie ließ die Jalousien zum Schutz vor den morgendlichen Sonnenstrahlen herunter und führte ihn in ein Schlafzimmer. Das Bett war aufgeschlagen. Ein neuer Pyjama und neue Toilettenartikel lagen für ihn bereit.
»Joseph denkt an alles«, versicherte sie ihm. »Er besaß einmal einige Hotels, aber dann begannen sie ihn zu langweilen, und er verkaufte sie. Nehmen Sie jetzt eine heiße Dusche, Kirby, und dann schlafen Sie.«
Als er in seinem neuen Pyjama ins Schlafzimmer zurückkam, wartete sie auf ihn. Sie hatte sich umgezogen und trug einen Morgenmantel aus einem weichen, goldfarbenen Stoff. Sie hatte die Haare gebürstet. Als sie sich erhob, kam sie ihm ohne die hohen Absätze sehr klein vor. Der eng anliegende Morgenmantel umhüllte und enthüllte gleichzeitig eine Figur, bei der sich die Kameralinsen der Männer beschlugen, die Fotos für die Mittelseiten freizügiger Zeitschriften machten. Ihre Kurven und Formen hatten genau die richtigen Proportionen, nur einen Hauch voller. Kirbys Puls hämmerte, und er hatte das Gefühl, als hätte ihm jemand mit einem gepolsterten Stock leicht auf den Kopf geklopft. Er kam sich so gewinnend vor wie ein Stallbursche, empfand aber gleichzeitig eine feierliche Verantwortung. Vor ihm stand eine Klassefrau, reif, duftend, teuer, gebildet, weich und makellos. An sie konnte man sich nicht einfach heranmachen, daherschlurfen und unsinniges Zeug reden. Er machte sich Mut, indem er an Cary Grant dachte und versuchte mit einem zärtlichen Lächeln, das wissend und verlangend wirken sollte, auf die Frau zuzuschlendern.
Aber er stieß mit seinen nackten Zehen gegen das grausam dünne Bein eines kleinen Tisches, schrie schmerzlich auf und verlor das Gleichgewicht. Er stürzte auf die Frau zu und umklammerte sie, aber nur um einen Sturz zu vermeiden, und nicht aus einem unziemlichen anderen Grund. Der Sprung und die fuchtelnden Arme erschreckten sie; sie zischte ihn bestürzt an und warf sich zur Seite. Eine verzweifelte Hand griff nach dem goldenen Stoff am Ausschnitt ihres engen Kleides. Das feste Gewebe hielt einen Augenblick stand, aber als sie wie Eisläufer eine Pirouette drehten, zerriss es. Er taumelte in die entgegengesetzte Ecke, sah noch kurz, wie sie aus dem Kleid schlüpfte, herumwirbelte, auf der Bettkante aufschlug, abprallte und mit einem gedämpften Laut auf der anderen Seite verschwand.
Er setzte sich auf, schob das zerrissene Kleid zur Seite, umfasste seine Zehen mit beiden Händen und jammerte leise.
Ihr strubbeliger Kopf tauchte langsam und vorsichtig hinter dem Bett auf, und sie sah ihn mit großen Augen argwöhnisch an. »Sie sind so stürmisch, Liebster!«
Sein Gesicht war schmerzverzerrt. »Halten Sie bitte den Mund. Seit ich mich erinnern kann, passiert mir das, und ich kann auf die lustigen Witze wirklich verzichten.«
»Sie machen das immer?«
»Mir passiert immer etwas. Für gewöhnlich laufe ich nur davon. Im Sommer 1958 ging ich einmal mit einer schönen Frau in ihre Suite im siebenten Stock des Continental Hilton in Mexico City. Drei Minuten nachdem ich die Tür geschlossen hatte, gab es ein Erdbeben. Der Verputz fiel von den Wänden, das Hotel bekam einen Riss, und wir mussten im Dunkeln über die Treppe hinuntertappen. Die Lobby war voll von zerbrochenem Glas. Also seien Sie bitte still, Charla.«
»Werfen Sie mir meinen Morgenmantel herüber, Liebster.«
Er knüllte ihn zusammen und warf ihn ihr zu. Dann erhob er sich, humpelte zum Bett und setzte sich. Sie ging um das Fußende des Betts herum und setzte sich neben ihn. Sie hatte einen Gürtel so um den Morgenmantel gebunden, dass er nicht klaffte.
»Armer Kirby.«
»Ich weiß.«
Sie streichelte seinen Arm und lachte. »So schnell hat mich noch niemand ausgezogen.«
»Sehr komisch!«
Sie berührte sein Kinn und drehte seinen Kopf, so dass er ihr in die Augen sehen musste. Sie sah sehr traurig aus. »Sie führen mich in Versuchung, Liebster, weil Sie so süß und nett sind. Heutzutage wird zu viel Theater gespielt, und zu viele Männer sind in jeder Hinsicht anders als Sie.«
»Wenn alle so wären wie ich, dann wäre das Überleben der Menschheit in Frage gestellt.«
Sie zog ihn näher zu sich. Er küsste sie, zuerst schüchtern, dann mit wachsender Begeisterung. Als er sie auf das Bett warf, befreite sie sich von ihm, schüttelte den Kopf und schnitt ihm ein Gesicht. »Nein, Liebster. Joseph und ich haben Sie sehr gern. Sie haben eine schreckliche Zeit hinter sich, und Joseph hat mich gebeten, mich um Sie zu kümmern. Jetzt seien Sie ein braves
Schäfchen und springen Sie ins Bett. Ziehen Sie das Oberteil des hübschen Pyjamas aus und legen Sie sich auf den Bauch, dann werde ich dafür sorgen, dass Sie sich sehr, sehr wohl fühlen.«
»Aber...«
»Seien Sie kein Spielverderber, Liebster. Fürs erste wollen wir es bei einer Freundschaft belassen, finden Sie nicht?«
»Wenn Sie mich fragen...«
»Still. Eines Tages werden Sie mein Liebhaber werden, vielleicht schon bald, wer weiß? Macht die Ungewissheit nicht mehr Spaß? Seien Sie ein braver Junge.«
Er streckte sich aus, wie sie es befohlen hatte. Sie drehte alle Lichter aus, bis auf eines. Dann trat sie an das Bett, goss eine kühle, duftende Flüssigkeit auf seinen Rücken und begann mit geschickten Fingern die Muskeln auf seinem Rücken, auf den Schultern und auf dem Nacken zu kneten.
»Sie haben wirklich wunderbare Muskeln«, sagte sie.
»Isometrisches Muskeltraining.«
»Was?«
»Übungen, die jeder machen kann.«
»Ach so. Jetzt entspannen Sie sich. Tauchen Sie in die Dunkelheit ein, liebster Kirby. Geben Sie sich nur Ihren Empfindungen hin.«
»Hmm.«
»Ruhen Sie sich aus. Entspannen Sie sich.«
Unter ihren beruhigenden Händen ließ seine Anspannung nach. Er war vollkommen erschöpft und wäre am liebsten im Schlaf versunken wie in einem grundlosen, pechschwarzen Sumpf. Aber ihre Berührung, ihre sanfte, neckende Stimme, das Bewusstsein ihrer duftenden, erotischen Anwesenheit hielten ihn wach und ließen ihn an der Oberfläche des Schlafes dahindämmern. Sie summte eine Melodie, die ihm vertraut vorkam, als hätte er sie in einem ausländischen Film schon gehört.
Seine Gedanken wanderten zurück zum vergangenen Mittwoch um Mitternacht. War das vor siebenundfünfzig Stunden gewesen? Zu diesem Zeitpunkt hatte ihn in seinem Hotel in Montevideo die Nachricht erreicht. Der alte Mann war tot. Omar Krepps. Onkel Omar. Der Gedanke war erschreckend, dass der Tod Macht über den seltsamen, unverwundbaren kleinen Mann hatte.
Als er an die Rückreise dachte, sank er immer tiefer in die Arme des Schlafs und die Bilder wurden verworrener; Charla veränderte sie. Der Jet mit der busenförmigen Nase hob von einer hellen, seidigen Rollbahn ab, die einem zarten Körper glich, während sich die schattenhaften, nackten Stewardessen summend um ihn scharten. Im Halbschlaf wurde ihm verschwommen bewusst, wie ihn Charla umdrehte und ihm half, die Pyjamajacke anzuziehen. Ihr Mund legte sich süß und schwer auf seinen. Als er versuchte, die bleischweren Arme zu heben, um sie festzuhalten, war sie verschwunden. Er glaubte, sie sagen zu hören: »Es tut mir leid, Liebster.« Er hätte gern gewusst, was ihr leid tat. Dann ging das Licht aus. Die Tür schnappte ins Schloss, und er versank im Nichts.
Ein schlaksiges junges Mädchen, das Kirby noch nie gesehen hatte, holte ihn unsanft aus den Tiefen des Schlafs. Sie rüttelte ihn wach. Alle Lichter im Zimmer waren an. Er stemmte sich auf den Ellbogen hoch. Sie rannte so schnell um das Bett herum, dass er Mühe hatte, ihr mit den Augen zu folgen. Sie schrie auf ihn ein, und die Worte ergaben keinen Sinn. Ihr schmales Gesicht war zorngerötet, und die grünen Augen quollen vor Wut hervor. Der dunkelblonde Haarschopf war wirr gestutzt. Sie trug ein korallenrotes Hemd, eine gestreifte Stretchhose und fuchtelte mit einer Strohtasche herum, die so groß war wie eine Schnarrtrommel.
Er brauchte eine Weile, bis er begriff, dass sie in einer Sprache schrie, die er nicht verstand.
Als sie Luft holte, warf er zaghaft ein: »No comprendo, Señorita.«
Sie setzte sofort ihren Redeschwall in fließendem Spanisch fort. Er sprach gut Spanisch, aber nicht so gut. Sie sprach einen sehr bildhaften Slang, bei dem sich ein mexikanischer Taxifahrer wahrscheinlich die Ohren zugehalten und das Heil in der Flucht gesucht hätte.
»Mas despacio, por favor«, bat er, als sie das nächste Mal Luft holte.
Sie sah ihn mit schmalen Augen an. »Passt Ihnen Englisch?«
»Wofür?«
»Wo ist meine verdammte Tante? Was, zum Teufel, gibt ihr das Recht zu diesen raffinierten Tricks! Nach Jahren bekomme ich das erste ordentliche Fernsehdrehbuch zu Gesicht, und sie schafft es, dass sie mich feuern!
Ich bin nicht ihre Sklavin, und sie kann mich nicht einfach her zitieren. Wo ist dieser sonderbare Joseph, Freundchen? Wagen Sie ja nicht, einen der beiden zu decken! Ich bin mit ihren jämmerlichen kleinen Unterläufern noch immer fertiggeworden. Ich will Fakten hören, und zwar gleich!«
Ihre Nasenflügel bebten, ihre kleine Nase berührte fast die seine, und sie starrte ihm direkt in die Augen. »Nun, wird's bald!«
»Fakten?«
»Fakten, Mensch!«
Sie sprach mit kaum merklichem Akzent, aber irgendetwas kam ihm daran entfernt bekannt vor.
»Ich glaube, Sie sind im falschen Zimmer.«
»Ich weiß, dass ich im falschen Zimmer bin. Die anderen Räume der Suite sind leer. Darum bin ich hier. Lenken Sie nicht ab!«
»Eine Suite?«
Sie stampfte mit dem Fuß auf. »Eine Suite! Jawohl! Jetzt wachen Sie endlich auf! Kommen Sie zu sich! Das ist eine luxuriöse Suite im achten Stockwerk des Hotels Elise in Miami Beach. Es ist zehn Uhr abends, und heute ist ein wahnsinnig lustiger Sonnabend im April. Diese Suite wurde von Charla Maria Markopoulos O'Rourke, meiner unfrommen Tante, gemietet, und es hat mich zwanzig Dollar Bestechung gekostet hereinzukommen, nachdem ich von der Pazifikküste hergeflogen bin.«
»Charla!« brachte er heraus. Er wusste plötzlich, wo er sich befand und warum ihm der Akzent des Mädchens bekannt vorgekommen war, auch wenn er nicht ganz so ausgeprägt war wie Chartas. Bis zu diesem Augenblick hatte er geglaubt, dass er in Montevideo war. »Onkel Omar ist tot«, sagte er.
»Sparen Sie sich die blödsinnigen Codewörter, Freundchen. Ich gehöre schon seit ewig langer Zeit nicht mehr zu Chartas Wolfsrudel. Die kleine Filiatra hat ihren Namen, ihre Weltanschauung und ihre Lebensweise geändert, weil sie die schlauen, dreckigen Tricks bis obenhin satt hatte. Ich heiße jetzt Betsy Alden, bin eine ordentliche Bürgerin und eine gute Schauspielerin. Charla würde gut daran tun, mir schnell wieder meine Rolle zu verschaffen, sonst verprügle ich sie, dass ihr Hören und Sehen vergeht.«
»Wenn Sie einen Schritt zurücktreten, könnte ich besser denken.«
Sie trat an das Fußende des Bettes und sah ihn zornig an. »Wo ist sie?«
»Sie glauben offenbar, dass ich für sie arbeite.«
»Spielen Sie nicht den Schlaumeier, Freundchen.«
»Bitte glauben Sie mir. Ich heiße Kirby Winter und habe einen schrecklichen Tag hinter mir. Ich war betrunken und habe Charla gestern Abend kennengelernt. Ich kannte nicht einmal ihren vollen Namen. Ich weiß nicht, wer Sie sind. Ich weiß nicht, wo Charla steckt. Ich habe nicht die leiseste Ahnung, wovon Sie sprechen.«
Das Mädchen starrte ihn an und biss sich auf die Lippe. Misstrauen und Zorn verflogen langsam. Kalte, höhnische Verachtung lag in ihrem Blick.
»Tut mir schrecklich leid, Mr. Winter. Ich habe einfach nicht gedacht. Ich hätte mir gleich denken können, dass Sie nicht dazugehören. Sie sehen nicht klug genug aus. Sie sehen eher aus wie jemand, der gern seinen Spaß hat. Muskulös, sauber und ernsthaft. Aber dass Sie nicht einmal ihren richtigen Namen kennen! Da staune ich wirklich. Charla übereilt anscheinend die Dinge und kämpft verzweifelt. Ist sie für Sie nicht ein wenig zu alt?«
Die Verachtung schmerzte ihn mehr als ihr unerklärlicher Zorn.
»Ich habe aber nur...«
»Sehen Sie auf dem Schreibtisch nach, bevor Sie gehen, Mr. Winter. Sie gibt großzügige Trinkgelder, habe ich gehört.«
Das Mädchen wirbelte herum und verließ das Zimmer; die Tür knallte hinter ihr ins Schloss. Das Echo des Knalls hallte dröhnend durch seine verkaterten Gehirnwindungen, und ihm wurde übel. Kalter Schweiß brach ihm aus den Poren. Er legte sich wieder hin, schloss die Augen und kämpfte gegen die aufkommende Übelkeit. Das verdammte Mädchen hätte trotz ihrer moralischen Ansichten so viel Anstand besitzen können, das Licht wieder abzudrehen. Er fragte sich, ob man vor Durst umkommen könne, während einen die Übelkeit quält. Gleich würde er aufstehen und das Licht abdrehen, gleich, nur noch ein paar Augenblicke.
Hinter den geschlossenen Jalousien schimmerte das Tageslicht. Das Licht im Zimmer war abgeschaltet. Er stand auf und tappte ins Bad. Er sah auf die Uhr. Sie war stehengeblieben. Er fühlte sich schwach, aber ausgeruht, und er hatte Durst und einen richtigen Heißhunger. Aus dem Spiegel blickte ihm sein schüchternes, albernes Lächeln entgegen, das hinter rötlichbraunen Bartstoppeln verschwamm. Hatte er das aufgebrachte Mädchen nur geträumt? Und Montevideo? Und die Beerdigung? Charla hatte er bestimmt nicht geträumt, da war er ganz sicher. Seine Erbschaft fiel ihm ein, und sofort war er verärgert und niedergeschlagen. Aber er fühlte sich zu wohl, um lange niedergeschlagen zu bleiben.
Nach einer ausgiebigen Dusche rasierte er sich mit dem neuen Rasierapparat, putzte sich mit einer ungewohnten, nach Minze schmeckenden Zahnpaste die Zähne und ging - ein großes Handtuch um die Hüften geschlungen - wieder in sein Schlafzimmer. Jemand hatte die Jalousien hochgezogen, und goldener Sonnenschein strömte herein. Auf dem Nachttisch stand ein großes Glas mit eiskaltem Orangensaft und daneben lag eine mit violetter Tinte in kühner und doch weiblicher Handschrift verfasste Nachricht. Auf das schwere, blaugraue Briefpapier waren die Buchstaben C.M.M.O'R. geprägt. Die Initialen sahen wie eine ungewöhnliche Abkürzung von Commodore aus, und er wusste, dass das aufgebrachte Mädchen kein Traum gewesen war. Charla Maria Markoirgendwas O'Rourke.
Kirby, Liebling. Ich habe die Dusche gehört und bin in Aktion getreten. Sie müssen vollkommen fertig gewesen sein, Sie Ärmster. Dienstbare Geister sind auf dem Weg und bringen so etwas wie ein Notstandspaket. Ihre Kleider wurden fortgeschafft; den Tascheninhalt finden Sie auf dem Tisch. Die Pakete liegen auf dem Stuhl. Bevor gestern Abend unten die Läden schlossen, habe ich nur nach Gefühl eingekauft. Wenn die Bestie satt und angekleidet ist, finden Sie mich auf der Sonnenterrasse. Unnötig zu fragen, ob Sie gut geschlafen haben. Guten Morgen, Liebling. Ihre Charla.
Er blickte aus den Fenstern. Sie gingen nach Osten. Die Sonne stand schon hoch am Himmel. Die Tür zum Salon der Suite war angelehnt. Er griff nach dem Telefon und fragte nach der Uhrzeit. »Zwölf Minuten nach zehn an einem strahlenden Sonntagvormittag in Florida«, sagte das Mädchen keck.
Er rechnete nach: siebenundzwanzig Stunden in der Klappe. Er trat zu dem Stuhl, auf dem die Pakete aufgestapelt waren. Weiße Boxershorts aus Nylontrikot, Taillenweite achtundsiebzig, das stimmte. Espandrillos, Größe L. Bequem. Eine graue Dacron-Hose mit Stulpen. In der Taille saß sie perfekt. Im Schritt war sie vielleicht etwas kürzer als er sie gewöhnlich trug, aber es ging. Ein kurzärmeliges Sporthemd mit Button-down Kragen. Größe und Schnitt waren in Ordnung, aber die Farben des leichten Seidenhemdes! Schmale Längsstreifen in Grau, Hellblau, Korallenrot und Hellgelb, die durch schwarze Linien voneinander getrennt waren. Als er das Hemd zuknöpfte, klopfte es an der Tür zum Korridor. Zwei flinke uniformierte Kellner schoben mit höflichem Lächeln einen großen, klimpernden Wagen herein und deckten auf schneeweißem Leinen sein reichliches Frühstück, das in Terrinen warmgehalten wurde. Sie brachten ihm auch eine Sonntagszeitung. Er versuchte, ihnen nicht zu zeigen, dass ihm das Wasser im Mund zusammenlief. Alles wurde erledigt, Sir. Danke, Sir. Wenn Sie noch einen Wunsch haben, Sir. Hoffentlich verschwanden sie, bevor er mit den Händen nach den Eiern schnappte.
»Sollen wir den Champagner jetzt öffnen, Sir?«
»Den was?«
»Den Champagner, Sir.«
»Natürlich, den Champagner. Lassen Sie ihn noch.«
Erst als nur noch eine zweite Tasse Kaffee übrig war, konnte er zumindest so tun, als interessiere ihn die Zeitung. Und auch dann konnte er sich nicht darauf konzentrieren. Zu viele Rätsel waren ungeklärt. Er drehte sich um und hob die Champagnerflasche aus dem Eiskübel. Die Flasche war nicht etwa halbvoll; es war eine volle, elegante Flasche. Er umwickelte sie gerade mit einer frischen Serviette, als ihm das zweite Champagnerglas auf dem Tablett auffiel.
Wie groß muss der Wink sein, damit ich ihn verstehe, dachte er, nahm die Flasche und die Gläser und kam sich unvergleichlich weltgewandt vor, als er sich auf die Suche nach Charla O'Rourke machte. Zuerst kam er in ein leeres Schlafzimmer ohne Sonnenbalkon, danach in ein zweites, viel größeres Schlafzimmer mit nach Osten hin geöffneten Balkontüren. Er suchte nach einer gewandten Begrüßung und trat lächelnd mit zusammengekniffenen Augen in den gleißenden Sonnenschein hinaus. Charla lag auf dem Rücken ausgestreckt auf einer breiten Sonnenliege aus Aluminium mit weißer Plastikbespannung und hatte die Arme hinter dem Kopf verschränkt. Ihr goldfarbener Körper glänzte vor Sonnenöl und Schweiß und war von der Sonne gerötet. Kirby Winter blieb stehen und starrte sie an; seine höflichen Floskeln waren alle vergessen. Fast hätte er die Champagnerflasche fallengelassen. Charla schien zu schlafen, zumindest atmete sie tief und gleichmäßig. Sie trug drei Dinge: eine lächerliche Andeutung von einem Tanga, weiße Plastikschalen auf den Augen und ein blaues Handtuch, das Turban-artig um ihren Kopf geschlungen war. Er schwieg einfältig; von tief unten drang das Tosen der Brandung an sein Ohr, auf der Collins Avenue dröhnte der Verkehr und von irgendwoher kam leise Musik. Keineswegs mollig, dachte er. Wie kam ich darauf? Stämmig wie ein Akrobat, die Kurven etwas ausladender als erwartet. Einfach unvorstellbar!
Sie nahm die Plastikschalen von den Augen, setzte sich auf und lächelte ihn an. »Sie Ärmster, Sie müssen erschöpft gewesen sein!«
»Äähh«, antworte er mit dünner Stimme.
»Sie haben den Champagner gebracht, wie lieb von Ihnen! Stimmt etwas nicht? Ach natürlich, das Puritaner-Syndrom.« Sie griff nach einer kurzen weißen Frotteejacke und zog sie ohne Eile an. Er wünschte, dass sie die Jacke zuknöpfte und wünschte es gleichzeitig nicht. Sie ließ es bleiben. »Wir verbringen so viel Zeit in Cannes, dass ich eure seltsamen Tabus vergesse. Sie können aufhören, mich so anzustarren, mein Junge. Glauben Sie, dass ich genug gehabt habe?«
»Äähh?«
Sie presste einen Daumen auf die rundliche Oberseite ihres honig-rosafarbenen Oberschenkels, und beide sahen zu, wie der weiße Fleck langsam verging. Sie beobachteten den Vorgang aufmerksam. »Ich würde sagen, es war genug«, meinte sie schließlich. »Für manche Leute ist sonnengebräunte Haut attraktiv, aber es verändert die Hautbeschaffenheit. Die Haut wird ziemlich derb.« Sie erhob sich geschmeidig, ging an ihm vorbei und verschwand im Dämmerlicht des großen Schlafzimmers. »Kommen Sie herein, Liebster!« Er folgte ihr; die Flasche und Gläser hielt er immer noch in den Händen, und er war unfähig, einen Gedanken zu fassen.
Er sah nicht, dass sie nach drei Schritten unvermittelt stehenblieb. Seine Augen hatten sich noch nicht an das Dämmerlicht gewöhnt, und er rannte in sie hinein. Plötzlich spürte er ihre Wärme, roch ihren Duft nach Öl und Parfüm und ließ durch den Zusammenstoß die Flasche auf seinen Fuß fallen. Charla stolperte einen Schritt zurück. Mit der Hand, die die Flasche gehalten hatte, griff er nach ihr, schätzte dabei die Entfernung falsch ein und versetzte ihr einen ziemlich heftigen Schlag auf die Schulter. Sie stieß gegen einen Fußschemel, fiel hin und schlug heftig auf. Sie sagte etwas in einer Sprache, die er nicht verstand, aber irgendwie war er froh darüber.
Sie kroch auf die unversehrte Flasche zu, ergriff sie und stand auf. »Wenn Sie endlich aufhören, auf einem Fuß zu hüpfen, Mr. Winter, können Sie mir ein Glas Champagner einschenken.«
»Es tut mir leid.«
»Zum Glück haben Sie mit Ihren Spielchen nicht bereits auf dem Balkon begonnen, Kirby.«
»Charla, ich habe nur...«
»Ich weiß, mein Lieber.« Sie lockerte den Draht und ließ geschickt den Korken knallen. Nach seinem Sturz schäumte der Champagner heftig, als sie die beiden Gläser füllte. Sie setzte die Flasche ab, nahm ihm ein Glas aus der Hand und sah ihn abwägend an, während sie trank. »Statt Parfüm bringen Sie mir Heilsalbe, Liebster, statt Juwelen, Verbandstoff. Jetzt füllen Sie mein Glas noch einmal und gedulden Sie sich. Ich steige in die Wanne und wasche das Öl ab. Kann ich Ihnen trauen und Sie meinen Rücken schrubben lassen?«
»Ähh.«
»Nein, wir wollen es lieber nicht riskieren. Sicher ist sicher, Kirby. Der Champagner tropft Ihnen vom Kinn. Warten Sie bitte nebenan auf mich.«
Er trug die Flasche und sein Glas in den großen Salon der Suite, und seine Knie waren weich wie Butter. Er setzte sich vorsichtig hin, leerte sein Glas und füllte es aufs Neue. Er hatte den Eindruck, ständig zwei Bilder gleichzeitig zu sehen. Er mochte schauen, wohin er wollte, er sah Charla auf dem Rücken liegen, wie auf einer unübertroffen scharfen Nahaufnahme für immer auf Kodachrome gebannt: Die großen, runden, festen Brüste mit der öligen Sonnenbräune, die makellose, straffe Haut, die um eine Nuance dunkleren Brustwarzen, groß aber nicht derb, die spitz seitlich nach oben auf das tropische Blau des Morgenhimmels zeigten.
Er schüttelte heftig den Kopf, und das überdeutliche Bild wurde unscharf. Als er noch einmal den Kopf schüttelte, versank es im Wirrwarr seiner Erinnerungen, von wo er es jedoch jederzeit hervorholen konnte.
Das metallische Geräusch, mit dem das Wasser in die fast volle Wanne stürzte, verklang, und als er sich vorstellte, wie sie hineinstieg, stöhnte er laut auf. Vielen Dank, Onkel Omar. Vielen Dank, dass du einem hilflosen jungen Mann ein so tiefes Misstrauen gegen Frauen und ihre Machenschaften eingeimpft hast. Als Ergebnis bekomme ich als reifer Mann von zweiundreißig Jahren Krämpfe in den Zehen und bringe kein vernünftiges Wort heraus, wenn ich vor einer schönen, halbnackten Frau stehe.
Aber er vermutete, dass Charla mit ihren Reizen auch einen weitaus erfahreneren Mann aus der Fassung bringen konnte.
Bei seinen spärlichen Erfahrungen und seiner übergroßen Schüchternheit, die er sorgfältig zu verbergen suchte, wunderte es ihn, dass er bei ihrem Anblick nicht in verrücktes Kichern ausgebrochen und dreißig Meter über den bunten Dächern der Strandhütten mit einem Satz über die Zementeinfassung gesprungen war.
Er kannte den hoffnungslosen Verlauf seiner zwanghaften Suche nach sexuellem Selbstbewusstsein. In dieser von Hugh Heffner geprägten Welt war er offenbar der einzige, der nie zu einem Häschen kam. Mit der Zeit wurde es immer mehr zu einer Frage des Stolzes als des Begehrens.
Die Frauen fanden ihn durchaus attraktiv. Mühevoll hatte er sich einen Plauderton voll verdeckter Anspielungen angewöhnt, der bei den Frauen den Eindruck erweckte, dass er an diese unverbindliche Zerstreuung genauso gewohnt war wie jeder andere. Doch er hatte gegen die verdammte Schüchternheit zu kämpfen. Wo fängt man an? Wie fängt man an? Waren mehrere ungebundene Frauen anwesend, so hatte er es in seiner Taktik zu wahrer Kunstfertigkeit gebracht: Er machte jede glauben, dass er sich intensiv für eine der anderen interessierte.
Hin und wieder überwand er seine Schüchternheit und ging zum entscheidenden Angriff auf sein Ziel über, und dann verschwor sich mit Sicherheit alles gegen ihn. Er war kein besonders komischer Mann, und es deprimierte ihn, wenn er an die vielen Slapstick-Situationen zurückdachte. Man sollte doch meinen, dass sich ein Mann von Rang einer Frau wie Charla nähern konnte, ohne sie aus Tollpatschigkeit wie ein Gänseblümchen zu entblättern und über das Bett zu schleudern. Wenn er daran dachte, stieg ihm die Schamröte ins Gesicht.
Vermutlich verkrampfte er sich, sobald es ernst wurde. Es war wie beim Baseball, wenn der Neuling endlich zum Zug kommt und vor Aufregung den Ball fallen lässt.
Manchmal schaltete sich die Natur ein, so wie damals bei dem Erdbeben. Er begann allmählich zu glauben, dass er verhext war.
Manchmal war es einfach Pech, wie vergangenes Jahr mit Andrea in Rom. Er hatte sie vor der kreischenden Menge gerettet, die sie mit Elizabeth Taylor verwechselte. Sie hatten ein unterhaltsames Gespräch geführt. Sie wohnten im selben Hotel, im selben Stockwerk. Sie war allein und wollte sich von einer schlechten Ehe und einer chaotischen Scheidung erholen. Stillschweigend waren sie übereingekommen, dass er die paar Meter über den Korridor kommen und an ihre Tür klopfen würde; sie wollte ihm dann öffnen.
Die Aussicht entsetzte ihn. Er hatte sich zu ungezwungen und weltmännisch gegeben. Sie erwartete von ihm sicherlich Zuvorkommenheit, europäische Gewandtheit und Erfahrung. Etwas viel für jemanden, dessen letzte Affäre - besser gesagt, dessen einzige Affäre - sich vor zwölf Jahren auf dem Rücksitz eines 1947er Hudson in Johnstown, Pennsylvania abgespielt hatte. Es war in einer öffentlichen Parkanlage gewesen, und es hatte heftig geregnet. Das Mädchen hieß Hazel Broochuk, war aufdringlich gewesen und hatte Pockennarben; die Affäre hatte ganze zwölf Minuten gedauert, zwölf einmalig unbeholfene Minuten.
Das waren kaum die richtigen Erfahrungen für ein Rendezvous mit einer Frau, die Liz Taylor zum Verwechseln ähnlich sah, aber er war entschlossen, seine Rolle so gut er konnte zu spielen. Er nahm ein brühheißes Bad, zog seinen Morgenmantel aus Wollstoff an und marschierte mit geballten Fäusten und zusammengebissenen Zähnen im Zimmer auf und ab. Schließlich ging er siegesbewusst zur Tür, trat in den Korridor und zog die Tür hinter sich zu. Dabei klemmte er ein großes Stück seines Morgenmantels ein. Die Tür fiel ins Schloss. Die Schlüssel lagen drinnen auf dem Schreibtisch. Vielleicht gab es auf dieser Welt Männer, die selbstsicher genug waren, ohne Morgenmantel an die Tür zu klopfen. Es hätte auf alle Fälle keine Zweifel über den Grund des Besuches zu dieser späten Stunde offen gelassen. Aber Kirby Winter war kein solcher Mann.
Am schlimmsten war es wahrscheinlich damals gewesen, als er, vom Brandy mutig gemacht, mit einem entzückenden, süßen Mädchen Hand in Hand das große Haus in Nassau verließ und mit ihr wie der Wind im Mondschein zum Strandhaus hinunterlief. Auf halbem Weg verfing er sich unterhalb des Kinns in einer Wäscheleine aus Draht.
Aber auf jede Gelegenheit, die ihm das Schicksal verwehrt hatte, kamen zwei, bei denen er entsetzt und in Schweiß gebadet die Flucht ergriffen hatte. Er grinste höhnisch über sich selbst und trank den Champagner. Du bist ein Clown und ein Feigling, Kirby Winter, ein unfähiger, neurotischer, konfuser Feigling, und trotzdem spazierst du herum und erweckst bei den Frauen den Eindruck, dass du ein Herzensbrecher bist. Wahrlich großartig!
Charla kam ins Zimmer. Noch ehe er aufstehen konnte, setzte sie sich ein wenig von ihm abgerückt in die Ecke der Couch. Sie war barfuß, trug kurze rosa Shorts, ein rosa-weiß gestreiftes, trägerloses Top und ein rosa Band im Haar. Wenn er nicht sie, sondern den Hintergrund fixierte, sah sie aus wie fünfzehn. Zwar erschreckend frühreif, aber nicht älter als fünfzehn. Nur beim genauen Hinsehen entdeckte man das schlaffe Gewebe unter Kinn und Augen und die Falten um den Mund.
»Noch einmal, Liebster«, bat sie und hielt ihm ihr leeres Glas hin. Er füllte es, goss auch in seines nach und stellte die Flasche wieder in den Eiskübel. »Dieses Hemd steht Ihnen wirklich.«
»Danke. Es ist hübsch. Auch die anderen Dinge sind hübsch. Aber ich kann das wirklich nicht annehmen...«
Sie verzog das Gesicht. »Plötzlich so spießig? Haben Sie schlechte Laune, wenn Sie aufwachen? Ich schon. Deshalb habe ich Sie allein gelassen, Kirby.«
»Nein, ich habe keine schlechte Laune, nur...«
»Es reichte nicht, Ihren Anzug einfach zu bügeln. Sie bekommen ihn heute Nachmittag wieder, zusammen mit Ihrer Krawatte, den Socken und so weiter. Das Hemd habe ich weggeworfen. Hoffentlich hängen Sie nicht aus irgendeinem Grund daran. Es war schäbig. Sagen Sie mir jetzt, dass es Ihnen wirklich besser geht. Wenn man sich besonders anstrengt, dann...«
»Es geht mir sehr viel besser, Charla.«
Sie zog die Knie auf die Couch, kreuzte die Beine und musterte ihn mit zusammengekniffenen Augen, während sie trank. Sie hatte eine lange Taille. Die vollen Hüften und Brüste ließen ihre Taille schmäler wirken, als sie tatsächlich war. Die glänzenden Beine waren kurz und kräftig, passten aber genau zu ihr.
»Böse auf mich?«, fragte sie.
»Hätte ich einen Grund dafür?«
»Ich habe Sie ein wenig geneckt, wissen Sie es noch?«
»Ja.«
»Frauen können grausam sein, stimmt's?«
»Vermutlich.«
»Könnte sein, dass ich Sie wieder necke.«
Er wurde unruhig. »Könnte sein.«
»Aber irgendwann werde ich vielleicht aufhören, Sie zu necken.« Sie starrte ihn mit großen, unschuldigen Augen an. »Armer, kleiner Mann. Wie werden Sie wissen, wann es so weit ist und ich es ernst meine?«
Er suchte nach einem neuen Gesprächsstoff. »Dieses Mädchen.«
»Ach ja! Sie hat Sie gestört. Meine Nichte. Sie nennt sich jetzt Betsy Alden. Ich war sehr böse auf sie, Kirby, und bin es immer noch.«
»Sie hat sich ziemlich aufgeführt.«
Charla zuckte die Achseln. »Ich habe offenbar ihrer Karriere entsetzlich geschadet. Es geschah nicht mit Absicht. Ich wollte nur, dass sie herkommt und mich besucht. Schließlich bin ich ihre einzige Tante. Sie wollte nicht kommen, weil sie sich einbildet, dass ihre Schauspielerei wichtiger ist. Da fiel mir ein alter Freund ein. Ich rief ihn an, und er rief wieder einen guten Freund an. Plötzlich brauchten sie sie nicht mehr. Ist das so furchtbar?«
»Nur, wenn sie keinen anderen Job findet.«
»Sie meint, dass es nicht so leicht wäre. Sie hat mich verwünscht und sich sehr laut und gewöhnlich benommen. Früher einmal war sie ein so liebes Kind; es ist kaum zu glauben.«
»Ist sie abgereist?«