übersetzt von Michael Knarr
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Pax Britannia: Leviathan Rising © 2008, 2013 Rebellion.
All rights reserved. First Published by Abaddon Books, 2007. Pax Britannia, Abaddon Books and the Abaddon Books Logo are trademarks or registered trademarks of Rebellion Intellectual Property Limited. The trademarks have been registered or protection sought in all member countries of the European Union and other countries around the world. All rights reserved.
Für Lou, welcher den ersten Teil genossen hat.
Und für Clare, immer.
Deutsche Erstausgabe
Originaltitel: LEVIATHAN RISING
Copyright Gesamtausgabe © 2019 LUZIFER-Verlag
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Cover: Michael Schubert
Übersetzung: Michael Knarr
Dieses Buch wurde nach Dudenempfehlung (Stand 2019) lektoriert.
ISBN E-Book: 978-3-95835-429-6
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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Niemand ist so kühn, dass er ihn reizen darf; wer ist denn, der vor mir stehen könnte?
Hiob, Kapitel 41, Vers 1
Kannst du den Leviathan ziehen mit dem Haken und seine Zunge mit einer Schnur fassen?…
Kannst du mit Spießen füllen seine Haut und mit Fischerhaken seinen Kopf?
Wenn du deine Hand an ihn legst, so gedenke, dass es ein Streit ist, den du nicht ausführen wirst.
Hiob, Kapitel 41, Vers 1, 7 & 8
Reise zum Meeresgrund
Die Venture – ein Dampfschiff, welches vor sechs Tagen Schanghai verlassen hatte – tuckerte Rauch und Dampf rülpsend durch die Wildnis des Ozeans und kämpfte gegen das Auf und Ab der Wellen an. Mit seinem rostigen Deck und den vom Wetter gekrümmten Planken, stemmte sich das dreckige und laute Schiff gegen die Wogen des Meeres. Der Horizont war wolkenverhangen, darunter lag der Pazifik wie eine wogende Masse brodelnder Dunkelheit. Seevögel, weiße Flecken auf dem Grau des Himmels, erhoben sich weit über der einsamen Venture. Ihre misstönenden Schreie verloren sich im heulenden Wind und dem Krachen der Wellen gegen den Bug des Schiffes. Der Dampfer wirkte wie ein rostiger Fleck im trägen Steigen und Fallen des schwarzen Wassers.
Das Schiff schlug in einen weiteren Wellenkamm und das dröhnende Scheppern des Aufpralls schallte durch den Rumpf und ließ die Kielräume erzittern. Captain Engelhard – ein Deutscher bayrischer Abstammung – blickte durch das salzverkrustete Glas vor sich auf die wellenförmigen Berge aus Wasser, welche die Venture umschlossen. Soweit das Auge reichte, war kein Land in Sicht. Nach Engelhards Erfahrung gehörte das wilde Wasser des südchinesischen Meeres zu den rauesten und unberechenbarsten Gewässern der ganzen Welt – nicht unähnlich dem abgebrühten Captain selbst. Mager wie eine Seeschlange und potenziell doppelt so giftig, verlangte Engelhard den Respekt seiner Crew – und deren Furcht. Es war genau wie beim alten Runcorn, unter welchem er seine erste Anstellung als Schiffsjunge auf den Handelsrouten zwischen dem Imperium von Magna Britannia und China innehatte, und nach welchem Vorbild er seinen eigenen Führungsstil modellierte, nachdem er das Kommando über die Venture aufgrund Runcorns vorzeitigem Ableben übernommen hatte.
Nach seiner Erfahrung lief es so: Ein Seemann, der seinen Captain respektierte, seinem Urteil vertraute und seine Entscheidungen ehrte, würde ihm über die sieben Weltmeere bis zum Ende der Welt folgen. Aber einen Mann, der einen fürchtet, den konnte man hinab in Davy Jones Reich oder gar in den Schlund der Hölle selbst führen. Und das war die Sorte Mann, die Engelhard auf seinem Schiff haben wollte.
Einer dieser Männer war sein Erster Offizier, Mr. Hayes. Die Crew der Venture war eine weltbürgerliche Gemeinschaft, Hayes selbst kam aus Rhodesien. Der cremefarbene Wollpullover, den er trug, stand im scharfen Kontrast zu seiner wie poliert wirkenden ebenholzfarbenen Haut. Er war ein Riese von einem Mann, größer und breiter als Engelhard; seine Loyalität erkauft mit dem Versprechen auf Reichtum, seine Grausamkeit hingegen mit dem, was auch immer ihm in seiner Jugend widerfahren war und dafür gesorgt hatte, dass er aus seiner Heimat aufs offene Meer geflüchtet war.
Eine volle Ladung des besten Opiums von den Mohnblumenfeldern der Provinz Sichuan, gebündelt für die Räucherhöhlen von Magna Britannia, befand sich im Bauch des Schiffes. Engelhard brauchte eine Crew, auf die er sich blind verlassen konnte. Er kannte die Risiken solcher Unternehmungen gut genug. Die Risiken, die man für einen gesteigerten Profit und die Aussicht auf ein sorgenfreies Leben auf sich nahm – für willige Ladys und eine nie versiegende Menge Rum. Deshalb brauchte er Männer, die nicht zu zittern anfingen, sobald sie einem Beamten der königlichen Finanzbehörden gegenüberstanden. Auch das Risiko, auf einen Konkurrenten auf hoher See zu treffen, war jederzeit gegeben; ein anderer Captain, der mit einer Lieferung Opium für den Westen das große Ding drehen wollte.
Seit jeher gab es alte Seefahrerlegenden über diese Gewässer. Die meisten handelten vom mysteriösen Verschwinden verschiedener Schiffe während der letzten Jahrhunderte. Es wurde behauptet, dass die unergründlichen Tiefen des südchinesischen Meeres zu den tiefsten Tiefen der Welt gehörten. Der Boden des Ozeans sei angeblich so zerklüftet, dass niemand – noch nicht einmal unbemannte Sonden – jemals in der Lage sein würden, den endgültigen Grund zu erreichen. Und wenn man die bekannten Monster in der Weite des Meeres berücksichtigte, traute man sich gar nicht erst zu fragen, was in diesen zerklüfteten Tiefen hausen mochte.
Allerdings gab es solche Geschichten über jedes Meer der Welt. Geschichten, die das Unerklärliche erklären wollten. Gerüchte über Killerwellen und das spurlose Verschwinden von Schiffen wurden besonders gern von Sklavenhändlern in die unterschiedlichsten Winkel der Welt getragen. Die Tatsache, dass sich die Berichte über das unerklärliche Verschwinden von Schiffen in den letzten Jahren vervielfacht hatten, bedeutete für Captain Engelhard nichts anderes, als das der Opiumhandel und der Wettbewerb zwischen den entsprechenden Captains mit ihren Mannschaften vermehrt einen tödlichen Ausgang gefunden hatte.
Nicht, dass Engelhard häufig im Wettbewerb zu einer anderen Mannschaft stand. Dafür war er zu umsichtig. Außerdem hatte er in Vorsichtsmaßnahmen investiert. Eine davon war die alte Walkanone, welche am Bug des Schiffes befestigt war.
Trotz der feucht-kalten Gischt und des kühlen Windes war es in der Kabine ungemütlich warm, dank der überschüssigen Hitze des verrauchten Maschinenraums darunter. Die Luft war dick und voll vom Aroma des Opiums. Die Stahlhülle des Dampfschiffes schlug erneut lautstark gegen die schwarze Wand des Wassers. Das Schiff kämpfte sich durch und schon hob sich der Bug wieder, während die Welle in einem Vorhang aus weißem Schaum zerbarst. Wasser prasselte auf die verschmierte Glasscheibe vor Engelhard und wurde vom Wind davongetrieben. Die Venture senkte sich erneut in das nächste Wellental hinein.
Die Kraft einer Kollision stoppte das Schiff abrupt in seinen Bewegungen. Der heftige Aufprall krachte durch jedes Deck und jede Kabine des alten Dampfschiffes. Das Schiff bockte und Engelhard flog über das Steuerrad genau gegen die Glasscheibe. Das Steuerrad schlug ihm in den Magen und presste ihm die Luft aus der Lunge. Engelhard keuchte und fluchte.
Das wogende Meer zerrte an der Venture, doch aufgrund seiner Erfahrung eines Lebens auf dem Meer wusste Engelhard, dass das Schiff nirgendwo mehr hinfahren würde. Unglaublicherweise war es irgendwie komplett zum Halten gekommen! Das normale Heben und Senken des Schiffes auf dem Meer, welches es wie einen Korken schwimmen lassen sollte, war kaum noch zu spüren.
Tausende Gedanken rasten durch seinen Kopf. Was hatten sie gerammt? Er hatte doch draußen nichts entdecken können. Die Instrumente der Venture hatten auch nicht vor einem anderen Schiff auf Kollisionskurs gewarnt. Was könnte ein Dampfschiff zu solch einem abrupten Halt zwingen, weit entfernt vom Land und mit nichts als der Tiefe des Marianengrabens unter sich? Waren sie mit einem Unterseeboot kollidiert? Doch wäre das der Fall, wie war dann der komplette Stopp des Schiffes zu erklären? Die Maschinen arbeiteten gleichmäßig weiter, die Schiffsschraube drehte sich und doch bewegte sich das Schiff keinen Millimeter. Es war fast, als wären sie auf Grund gelaufen, was hier draußen jedoch vollkommen unmöglich war.
Die Kabine füllte sich mit der aufgeregten Mannschaft. Alle kamen herauf, um zu erfahren, was geschehen war.
»Was war das, Captain?«, fragte Hayes.
Das Schiff schwankte erneut und Engelhard griff nach dem Steuerrad, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Andere Männer griffen nach Handläufen oder fielen auf dem Kabinenboden auf die Knie.
»Wir sitzen irgendwo drauf«, zischte er. »Mr. Hayes, übernehmen Sie das Steuer!«
Engelhard lief aus der Kabine. Die Hälfte seiner Crew folgte ihm. Er schaute über die Reling, dabei hielt er sich an der Walkanone fest. Zuerst sah er lediglich schwarzes Wasser und weißen Schaum, welcher gegen die Hülle des Schiffes schlug. Doch dann erblickte er es! Irgendetwas Graues und Unklares. Eine pockennarbige Fläche unter dem Schiff, in welcher sich der Kiel verfangen hatte. Etwas Gewaltiges!
Das Schiff hob sich plötzlich gefährlich nach Backbord. Der Captain und seine Männer wurden zurück in Richtung der Kabine geschleudert und krachten gegen die Wand. Engelhard zog sich zurück an die Reling und sah, wie der graue Schatten langsam unter dem Schiff vorbeiglitt.
Dann setzte sich die Venture ebenfalls in Bewegung. Hayes verkrampfte, als sich das Steuerrad mit einem Mal bewegte und er versuchte, das torkelnde Dampfschiff wieder auf den alten Kurs zu bringen. Was immer dieses Ding gewesen war, es entfernte sich nun von dem Schiff. Captain Engelhard starrte auf den großen stromlinienförmigen Schatten, als dieser unter den Wellen davon glitt. Der Dampfer nahm wieder Fahrt auf, als wenn nichts geschehen wäre. Das war mal eine Geschichte, die er nach seiner Rückkehr nach Plymouth im The Smuggler's Rest von sich geben konnte.
Sein Blick verblieb nach wie vor auf dem … was immer es war … und Engelhards verwundertes Gehirn benötigte etwas länger, bis er realisierte, dass das Ding gewendet hatte und nun erneut auf die Venture zusteuerte. Die große Gestalt erhob sich aus den stygischen Tiefen. Grau-grünes Fleisch durchbrach die Meeresoberfläche. Ein blasenwerfendes V weißen Wassers zeigte deutlich, wie schnell es immer näher kam.
»Mein Gott!«, keuchte Engelhard. Angst durchdrang ihn. Im nächsten Moment wandelten sich Angst und Unglaube in Instinkt und eingeübte Routinen. »Alle auf ihre Posten!«
Mr. Hayes blieb am Steuerrad. Der Rest der Mannschaft rannte über Deck, um seinem Befehl zu folgen. Captain Josef Engelhard selbst sprintete zum Bug des Dampfers, den auf dem Weg liegenden Hindernissen – Bündeln von Stahlkabeln, Pfosten, bedeckten Bodenluken – wie im Schlafe ausweichend, hinüber zur Walkanone, welche dort wie eine wütende Kriegs-Gallionsfigur thronte.
Während die Unterseekreatur, oder was immer es war, weiter auf die Venture zuschoss, erreichte er die auf einem Drehgelenk befestigte Waffe. Seine Hände schlossen sich um die Griffe, rissen die Kanone herum und richteten sie auf die näherkommende Masse aus.
Engelhard schoss, ohne zu zögern. Die zwei Meter lange Harpune mit ihrer gezackten Spitze löste sich aus der Kanone. Sie zog ein hochdehnbares Stahlkabel hinter sich her, welches sich von einer Winde entrollte und schlug in den weißen Schaum des Meeres. Das Kabel zog sich stramm und der Bug senkte sich gefährlich. Die Venture wurde scharf herumgerissen, als die Harpune ihr Ziel traf, und die Seemänner klammerten sich fest, als das Schiff herumgerissen wurde. Hayes stoppte die Maschinen, um den Widerstand abzumildern. Dann war es still. Das Meer um den Dampfer bewegte sich sanft auf und ab und das Stahlseil lockerte sich.
»Wir haben es erwischt«, sagte Engelhard und konnte es selbst kaum glauben. »Wir haben es erwischt!«
Er verließ die Harpune und schwankte zurück zum Kabinenaufbau, dabei grinste er in die verblüfften Gesichter seiner Mannschaft. »Wir haben es! Holt es ein, damit wir sehen, was wir da gefangen haben. Danach können wir überlegen, was es uns auf dem Schwarzmarkt einbringen wird.«
Mit einem gefährlichen Ruck zog sich das Kabel erneut stramm und klirrte wie eine gespannte Gitarrensaite. Der Bug senkte sich erneut.
»Was in Teufels Namen!«, war alles, was Engelhard herausbringen konnte, bevor seine Welt aus den Angeln gehoben wurde und das Deck unter ihm verschwand. Sein Fall endete abrupt an der Walkanone.
Die mit Bolzen solide befestigte Kanone wackelte, als die Venture sich aufstellte. Der Bug des Schiffes verschwand in der blasenwerfenden Meeresoberfläche. Gleichzeitig explodierte das Meer um das Schiff herum. Sich krümmende Formen, lediglich als Silhouette vor dem grauen Himmel zu erkennen, wuchsen an allen Seiten des Schiffes empor und schlugen auf den Dampfer nieder, wickelten sich grausam und erdrückend um ihn. Der Schornstein knickte ein und das Dach des Kabinenaufbaus zersplitterte. Die Hülle protestierte knarzend, als sie erst verbogen und anschließend in dutzende Stücke zerrissen wurde.
Mit einem plötzlichen Whoomph wurde die Venture gewaltsam unter die Wasseroberfläche gezogen. Das aufgewühlte Wasser schloss sich über ihr und füllte das Loch, wo kurz vorher noch das Schiff gewesen war. Von einem Moment auf den anderen war nichts vom Opium, dem Dampfschiff oder seiner Mannschaft zurückgeblieben.
Stille senkte sich über den Meeresspiegel. Ein paar zerbrochene Holzbretter und Ölflecken waren die einzigen Anzeichen, dass hier jemals ein Schiff gewesen war. Zwischen dem wenigen Treibgut befand sich außerdem ein einzelner abgenutzter Rettungsring, auf welchem der Name Venture stand. An diesem klammerte sich ein fast bewusstloser Captain Engelhard.
Unter den Donnern der Oberfläche der Tiefe,
weit, weit drunten im abgrundtiefen Meer,
seinen uralten, traumlosen, ungestörten Schlaf
der Krake schläft …
Alfred Lord Tennyson, Der Krake
In 80 Tagen um die Welt
LUXUSLINER SETZT DIE SEGEL ZUR JUNGFERNFAHRT
von unserer Reporterin »an Bord«, Miss Glenda Finch
»In 80 Tagen um die Welt – mit Stil!«
Dies sind die vollmundigen Versprechungen der Carcharodon Shipping Company, den Eigentümern des neuen Unterwasser-Luxusliners Neptune, welcher am 5. Juli von Southampton aus in See stechen wird. Die Company verspricht jenen, die sich eine (ein kleines Vermögen kostende) Kabine leisten konnten, das Erlebnis einer bisher nicht für möglich gehaltenen Luxusreise über die Ozeane der Welt mit allen bemerkenswerten und berühmten Sehenswürdigkeiten.
Jonah Carcharodon stellte diese kühne Behauptung während der Festivitäten rund um den Stapellauf der Neptune wiederholt auf. Mit einer traditionellen Flasche teuren Champagners, welche auch an Bord der Neptune in einer ihrer vielen Bars und Restaurants serviert wird, wurde das Schiff von seiner königlichen Hoheit, dem Herzog von Cornwall, getauft. Gerüchten zufolge hat Carcharodon eine sehr hohe Wette auf seine Jungfernfahrt gegen die Zeit gesetzt.
Neben den geschätzten dreitausend zahlenden Gästen wurden von Jonah Carcharodon einige Ehrengäste und VIPs persönlich eingeladen. Diese sollen der Jungfernfahrt des neuesten Mitglieds der Great-White-Shipping-Line-Flotte einen Hauch von Glamour und ein großes Medieninteresse einbringen. Unter der geladenen Elite soll sich auch der Held des Empire, Ulysses Quicksilver persönlich befinden. Wie aufmerksame Leser der Times wissen, war dieser entscheidend an der Vereitlung einer Verschwörung gegen das Leben ihrer Majestät beteiligt. Doch ob er die Reise für ein wenig Ruhe und Erholung, der Suche nach reizender Bekanntschaft aus den Reihen der Prominenten und neureichen Erbinnen an Bord oder für einen anderen geheimnisvollen Grund antritt, wird die Zeit zeigen.
»Ihr Cognac, Sir«, sagte der Butler und beugte die Hüfte, um seinen Herrn das perfekt in der Mitte des Tabletts positionierte Glas zu reichen.
»Danke sehr, Nimrod«, entgegnete der jüngere Mann mit einem Lächeln und nahm das ballonförmige Glas mit seiner linken Hand. Behutsam schwenkte er dessen Inhalt, bevor er das Glas zu seinem Mund führte. Vor dem ersten Schluck genoss er das vollmundige Aroma des Brandys. Die Geschmacksknospen seiner Zunge erfreuten sich an der prickelnden Berührung, bevor er in den Sinneseindrücken schwelgen konnte, welche der Cognac hervorrief, als er wie flüssiger Honig seine Kehle hinabrann.
»Sehr schön«, sagte er, während er sich auf der Sonnenliege zurücklehnte.
»Sonst noch etwas, Sir?«
»Nein, ich denke, das genügt fürs Erste«, antwortete Ulysses Quicksilver, fuhr sich mit der Hand durch seine Mähne dunkelblonden Haares und rückte die Sonnenbrille zurecht, welche auf seiner Nase thronte.
»Sehr wohl, Sir. Wenn Sie nichts dagegen haben, werde ich mich dann in die Suite zurückziehen und um einige Angelegenheiten bezüglich des Haushalts kümmern, welche meiner Aufmerksamkeit verlangen.«
»Bestens, Nimrod. Worauf auch immer du Lust hast, würde ich sagen«, erwiderte Ulysses und schenkte seinem loyalen Butler ein schalkhaftes Grinsen. Nimrods Antwort bestand aus dem Heben einer Augenbraue, bevor er auf dem Absatz kehrtmachte und steif, mit dem Tablett in der Hand, vom Sonnendeck marschierte.
Ulysses Quicksilver streckte sich auf der Korbliege. Er ordnete seinen cremefarbenen Leinenanzug und lockerte die azurblaue Seidenkrawatte, bevor er die Wärme der Sonne auf seinem Gesicht genoss.
Ein schmerzhafter Stich fuhr durch seine rechte Schulter und erinnerte ihn daran, warum er Jonah Carcharodons Einladung zur Jungfernfahrt der Neptune angenommen hatte. Das Debakel um Queen Victorias 160. Jubiläum war jetzt etwas über einen Monat her, und sein linker Arm war geheilt und benötigte keinen Verband mehr, auch wenn er bei Überdehnungen nach wie vor schmerzte. Seine Schulter jedoch war bei seinem fast tödlichen Absturz am Mount Manaslu im Himalaja erheblich schwerer verletzt worden. Er konnte sich glücklich schätzen, damals mit dem Leben davongekommen zu sein. Nicht, dass das ein Spaziergang gewesen wäre. Er war von der Absturzstelle und dem steil abfallenden Felsvorsprung weggekrochen, als ihn die Unterkühlung außer Gefecht gesetzt hatte. So fanden ihn die Mönche von Shangi-La.
Er streckte sich erneut, um zu prüfen, ob sich noch weitere Schmerzen zeigen würden. Bei der Erfüllung seiner Pflicht hatte er sich eine ganze Reihe von Verletzungen zugezogen, an welche sich sein Körper hin und wieder erinnerte.
Da war der Hauch eines Krampfes in seinem linken Bein, ebenso wie ein dauerpräsenter dumpfer Schmerz in seiner Seite. Diese Gefühle waren in ihrer Vertrautheit fast beruhigend. Er brachte seine rechte Schulter in eine etwas bequemere Position und befühlte die Haut unter dem Hemd. Dort befanden sich die vier Narben, welche der Pterodactyl hinterlassen hatte, als dieser kurioserweise sein Leben rettete.
Aber das gehörte alles der Vergangenheit an. Zu seiner unmittelbaren Zukunft gehörten nun einige Wochen Erholung auf einem vergnüglichen Abstecher in wärmeres Klima. Sein Bruder Barty würde währenddessen die Renovierungen des Mayfair-Hauses in London überwachen. Natürlich unter den aufmerksamen Augen von Mrs. Prufrock, Ulysses Köchin und Haushälterin.
Plötzlich schob sich ein Schatten vor die wärmende Scheibe der Sonne, welche am wolkenlosen Himmel über dem Luxusliner hing. Ulysses nahm seine Sonnenbrille ab, kniff die Augen zusammen und fokussierte die nicht unansehnliche Erscheinung vor sich.
»Sie sind Mr. Quicksilver, nicht wahr? Oder kann ich Sie Ulysses nennen?«
Ulysses lächelte und musterte die hübsche junge Frau von oben bis unten. Er registrierte die klassischen zarten Kurven ihres Körpers, welche durch das blaugrüne Kleid atemberaubend betont wurden. Kühn stand die Farbe in scharfem Kontrast zu dem Blau ihrer Augen und den fein frisierten Locken ihres goldblonden Haares. Mit den freien Schultern und Armen und dem Dekolleté wäre das Kleid besser als Abendgarderobe geeignet gewesen, und nicht auf dem Sonnendeck oder dem wasserdichten Promenadendeck.
Hier und jetzt sagte das Outfit über seine Trägerin aus, dass sie eine unabhängige junge Frau war, die ihren eigenen Weg in der Welt gehen wollte, ohne Rücksicht darauf, was andere von ihr dachten. Und dennoch wirkte sie fast übertrieben selbstsicher, als wenn sie verzweifelt versuchte, einen bleibenden Eindruck zu machen, aus Angst vergessen oder im schlimmsten Fall, einfach übersehen zu werden.
»Entschuldigung, aber Sie erwischen mich wohl auf dem falschen Fuß, Miss …«
»Glenda Fisch, Berichterstatterin der Times.«
»Ah, die Klatschkolumnistin.«
Für einen kurzen Moment verzog sich der Mund der Frau in Missachtung, aber dann kehrte ihr strahlendes Lächeln wie eine Sonne zurück, die hinter einer vorbeiziehenden Wolke hervorkommt. »Sie kennen also meine Arbeiten?«
»Ich habe in der Vergangenheit ihre Kolumnen gelesen. Nur zum amüsanten Zeitvertreib, verstehen Sie. Und ich glaube, ich war gelegentlich das enthaltene Subjekt.«
»Dann wissen Sie ja, dass ich auch über Ihre Arbeiten informiert bin.«
»Nun, es ist eben schwierig, das eigene Licht unter den Scheffel zu stellen, wenn man die Queen vor dem sicheren Tod durch die Hand einer psychotischen Größenwahnsinnigen während der größten öffentlichen Feier der Dekade vor den Augen der Presse gerettet hat. Ich glaube jedoch, dass ich darüber hinwegkommen werde. Heute noch auf der Titelseite, und morgen wird eben jene als Verpackung für Fish & Chips oder ähnliches genutzt.«
»Oh, da machen Sie sich unbedeutender als Sie sind, Ulysses«, antwortete die Reporterin. »Aber da Sie schon Ihre Rolle in der Rettung von Ihrer Majestät Leben erwähnen: Wären Sie bereit, mir ein Interview zu geben? Warum laden Sie mich nicht auf einen Drink ein? Dann könnten Sie mir alles darüber erzählen.«
Seinen Blick immer noch auf den Schatten im Dekolleté der jungen Frau gerichtet – wie konnte etwas, das nicht mehr als ein kleiner leerer Raum zwischen zwei Brüsten war, so anziehend sein? – schob Ulysses demonstrativ seine Sonnenbrille zurück auf die Nase.
»Guten Tag, Miss Finch.«
Die Neptune bot die perfekte Verschmelzung aus einem Fünf-Sterne-Hotel und der besten dampfgetriebenen Technologie des ganzen Empire. Vier gewaltige Rolls-Royce-Maschinen – jede so groß wie ein Londoner Stadthaus, wurde gesagt – bewegten das riesige Schiff mit einer Geschwindigkeit von 20 Knoten über das offene Wasser, so denn das Meer und das Wetter mitspielten. Das Schiff selbst hatte eine Länge von 930 Metern und war 15 Stockwerke hoch.
All diese technologische Pracht und industrielle Kreativität diente jedoch letzten Endes ausschließlich der Unterhaltung. Menschen wollten die sieben Weltmeere bereisen, entspannen, die Welt sehen, und dabei unterhalten werden. Und zur Unterhaltung gab es an Bord wahrlich reichliche Möglichkeiten.
Neben drei Kinosälen, dem Varieté-Theater, zahlreichen Restaurants, Bistros und Bars sowie dem berüchtigten Casino Royale gab es weiterhin Indoor-Squashplätze und Outdoor Tennisplätze, ein Fitnessstudio, ein Solarium und drei Swimmingpools. Das Promenadendeck war jedoch wahrscheinlich die herrlichste Alternative zur Freizeitgestaltung. Über zwei Drittel der Schiffslänge angelegt, war die Promenade fast 400 Meter lang. Zwei komplette Umrundungen boten somit einen Spaziergang von beinahe 1,6 Kilometern!
Dies mochte auf den ersten Blick nicht besonders klingen, jedoch wurde die gesamte Promenade durch einen Aufbau aus verstärkten Glas und Stahl bedeckt. Dieser Aufbau hielt dem gleichen Wasserdruck stand, wie der Rumpf des Schiffes. So konnten die Passagiere einen Spaziergang entlang der Promenade genießen, wenn die Neptune einen ihrer geplanten Tauchgänge zu den Unterwasserstädten entlang der Route einlegte. Neben den Spaziergängen bot die Promenade natürlich auch Möglichkeiten an einer Reihe von traditionellen Spielen teilzunehmen, wie beispielsweise dem Wurfringspiel.
Am reizvollsten an einer Kreuzfahrt waren natürlich neben dem Schiff selbst die Orte, welche man auf der Reise besuchen konnte. Zu den Reisezielen der Jungfernfahrt der Neptune gehörten die berühmte Atlantic City, der komplett restaurierte Tempel des Jupiters, eine Shopping-Tour durch Amerikas beliebte Stadt New York, die prähistorischen Wildparks von Costa Rica, die unvorstellbaren Korallengärten von Pacifica und ein kurzer Ausflug auf dem Kairo-Express über die Halbinsel von Sinai, um die Pyramiden von Gizeh zu besichtigen.
Das Donnern des Elefantengewehrs hallte durch den urzeitlichen Dschungel und scheuchte einen Schwarm Reiher kreischend aus den Baumkronen auf. Der Parasaurolophus brüllte und warf seinen Kopf zurück, als die Kugel Kaliber 4 ihr Ziel fand. Sie traf die Kreatur in der Flanke, durchschlug die einem Nashorn ähnliche Haut und ließ Blut und Fleisch aus der Wunde spritzen. Der zweibeinige Pflanzenfresser stockte in seinem anmutigen Lauf und versuchte das Gleichgewicht mithilfe seines dicken Schwanzes zu halten. Über die Lichtung verstreut begleiteten ungestüme Pachycephalosaurus die Flucht des größeren Dinosauriers.
Ulysses Quicksilver nahm einen weiteren Schluck Earl Grey Tee aus der feinen Elfenbeintasse. Für einen Moment genoss er den Geschmack genauso wie das Sonnenlicht auf seinem Gesicht. Es tat gut, das Schiff für einen kleinen Ausflug verlassen zu haben und Dinosaurier zu jagen, auch wenn das leichte Schaukeln der Sänfte ihm das Gefühl vermittelte, nach wie vor an Bord des Schiffes zu sein.
»Guter Schuss, Major!«, rief er.
»Danke sehr!«, rief der backenbärtige korpulente Major Marmaduke Horsley zurück, während er das Gewehr nachlud. »Ein weiterer Treffer sollte das Biest erledigen.«
Der Parasaurolophus trompetete erneut. Seine Verletzung ließ ihn humpeln. Er bewegte sich auf die Bäume am Rande der Lichtung zu, um Schutz zwischen ihnen zu suchen.
»Oh nein, das wirst du nicht tun!«, rief der Major. Er wandte sich an den indianischen Hirten, der den Triceratops mit der Sänfte steuerte: »Du da! Dino-Fahrer! Zack, zack, wird bald? Der verdammte Bursche haut ab! Komm schon, Mann. Wir dürfen ihn nicht verlieren.«
Mit einem Schrei des Führers, welcher in einem Sattel auf den breiten Schultern der Kreatur direkt hinter dem Kamm der Bestie saß und diese umsichtig mit einem knisternden Elektrostachel steuerte, jagte der Dinosaurier vorwärts. Ulysses versuchte dabei, seine Hose nicht mit Tee voll zu kleckern.
Horsley brachte das Gewehr wieder an seine Schulter. Schnell erfasste er das unverwechselbare Profil seiner Beute im Fadenkreuz. Das Elefantengewehr knallte erneut. Ein zufriedenes Grunzen entwich dem Major, als der Parasaurolophus aufgrund der Pulverisierung seines kleinen Gehirns mit gelösten Muskeln auf den Boden krachte.
»Gut gemacht, Major!«, rief Miss Birkin und winkte dem Ex-Armeeoffizier enthusiastisch vom Rücken eines Brontosaurus zu. Sie hatte einen Sonnenschirm in der Hand um die äquatoriale Sonne von ihrer sensiblen milchweißen Haut fernzuhalten.
»Schönen Dank, Miss Birkin! Das sollte eine schöne Ergänzung meiner Trophäensammlung sein. Ich werde es ausstopfen und über dem Kamin in meinem Wohnzimmer anbringen.«
»Ich glaube, da haben sie einen ordentlichen Eindruck hinterlassen, Major«, stichelte Ulysses.
»Was? Blödsinn! Ich kann diese scheußliche Frau nicht ausstehen«, schnaubte Horsley. »Zu überzeugt von ihren halbgaren Verschwörungstheorien.«
Ulysses nahm Blickkontakt zu John Schafer auf, welcher neben seiner Verlobten in einer weiteren aus Bambus und Baumwolle bestehenden Sänfte saß, genau gegenüber Constances ständig anwesender Anstandsdame. »Guten Tag, Mr. Schafer, Miss Pennyroyal. Genießen Sie die Show?«
»Aber natürlich, Mr. Quicksilver«, rief Constance über die Lichtung zurück. »Sehr aufregend!«, ergänzte sie, während sie mit einem Fächer wedelte und ihre perfekten Porzellanwangen sich röteten.
»Es geht doch nichts über eine Wilmington-Jagd, nicht wahr?«, rief Schafer zurück.
»Da haben Sie recht«, stimmte Ulysses zu.
Einer der eingeborenen Führer rief plötzlich etwas, das durch die Reihe weitergegeben wurde. Daraufhin zeigten die Hirten deutliche Zeichen von Aufregung. Ihr Verhalten wurde von Major Marmaduke Horsley nicht übersehen.
»Hey, du«, bellte er ihren Führer an. »Was geht da vor? Was soll dieses Geschrei?«
»Ein Fleischfresser, ein Allosaurier wurde gesehen, Mensab«, erklärte der Mann in stark akzentuiertem Englisch.
»Wo?«
»Zwei Meilen westlich von hier. Er nähert sich einem Wasserloch.«
»Worauf warten wir dann, Mann? Eine solche Trophäe können wir nicht davonkommen lassen! Oder, Quicksilver?«
»Gott bewahre, Major.«
»Sieht so aus, als ob über dem Kamin noch ein weiteres Plätzchen belegt werden kann, nicht wahr?«
»So sieht’s aus.«
Mit einer Fanfare aus missgestimmten Grunzen und polternden Pflanzenfresserfürzen, setzte sich der Triceratops unter dem Antrieb seines Führers in Bewegung.
Der Major drehte sich mit einem wilden Funkeln in den Augen zu Ulysses um. Sein Monokel thronte genau angepasst über dem rechten Auge.
»Waren Sie schon mal bei einer Großwildjagd, Quicksilver? Ich meine, eine Jagd auf richtig großes Wild?«
Ulysses Gedanken schweiften zu dem Ausbruch der Dinosaurier zurück, welche vor kurzem eine Schneise durch die Hauptstadt gezogen hatten, im Zusammenhang mit den terroristischen Gräueltaten von Darwinian Dawn.
»Da gab es dieses eine Mal«, antwortete er.
»Nun, die Jagd hat erneut begonnen, nicht wahr?«
»Richtig, Major. Genauso ist es.«
Dem Start des größten Passagierschiffs der Welt beizuwohnen, vermittelte ein Gefühl von Optimismus. Viele fühlten, dass dies die Geister der fast apokalyptischen Ereignisse zum 160. Thronjubiläum Ihrer Majestät, Queen Victorias, zu vertreiben helfen würde. Lasst uns hoffen, dass diese dunklen Zeiten hinter uns liegen. Lasst uns vorwärts blicken, auf das herannahende neue Jahrtausend; mit Freude, Hoffnung und einer positiven Einstellung im Herzen.
Ob Jona Carcharodons kühne Behauptung stimmen würde, dass das neueste und beste Kreuzfahrtschiff der Welt ein unvergleichliches Erlebnis bot, werden die Glücklichen unter uns, welche der Eröffnungsreise beiwohnen, abwarten müssen. Aber seien Sie versichert: Ihre Augen und Ohren werden bis zum Ende der Reise mit an Bord sein und Ihnen das Gefühl geben, jedem Schritt auf unserem Weg beizuwohnen.
Und, wie die Leser dieser Kolumne sicherlich wissen, ist Carcharodon der Öffentlichkeit nicht unbekannt. Gerade erst im vergangenen Jahr, noch bevor die Neptune die Werft verlassen hatte, gab es Gerüchte über finanzielle Unregelmäßigkeiten und der angeblich drohenden Insolvenz seiner Firma.
Ulysses ging über den mahagonigetäfelten und mit plüschigen Teppichen ausgelegten Korridor zu seiner Suite auf dem VIP-Deck und spielte dabei mit dem Zimmerschlüssel in seiner Hand. Der Reichtum, welcher sogar in den Korridoren zwischen den Kabinen zur Schau gestellt wurde, war irrsinnig. Ulysses hatte die Gerüchte über die finanziellen Herausforderungen der Great White Shipping Line gehört. Allerdings hatte er keine Vorstellung davon, ob der Bau eines Schiffes wie der Neptune für einen solchen Beinahe-Bankrott verantwortlich sein könnte oder ob Jonah Carcharodon sich einfach nur etwas Nettes gönnte. Ulysses war sich jedoch sicher, dass die Carcharodon's Shipping Company vom Erfolg oder Misserfolg des neuen Flaggschiffs abhängig war. Die Reise würde entweder der unwiderlegbare Beweis eines Triumphes sein, welcher die Aktien des Unternehmens in ungeahnte Höhen schießen lassen könnte, oder die größte Kreuzfahrtlinie der Welt würde ohne jede Spur versenkt werden.
Ein Kratzen am Hinterkopf riss ihn aus seinen Gedanken. Sein stets alarmbereiter sechster Sinn hatte sich gemeldet, ähnlich einer Vorahnung. Er blickte nach rechts und stand auf einmal direkt vor Miss Glenda Finch von der Times. Sie stand im Türrahmen und versuchte ungezwungen zu wirken.
»Aber, Miss Finch«, sagte Ulysses mit einem raubtierhaften Grinsen im Gesicht, als er die Mulde im offenherzigen Dekolleté der Reporterin erneut wahrnahm, ebenso wie den seitlichen Schlitz des Kleides, welcher ein formschönes Bein entblößte. »Was für eine schöne, wenn auch unerwartete Überraschung. Ich wusste gar nicht, dass Sie ebenfalls auf diesem Flur wohnen. Ich hatte angenommen, dass alle Pressemitglieder zwei Etagen tiefer auf einem Zwischendeck untergebracht sind.«
Für einen kurzen Moment geriet das leuchtende Lächeln der Reporterin ins Wanken, die Pupillen weiteten sich etwas, aber dann, nur einen Wimpernschlag später, hatte Miss Finch ihre eiserne Gelassenheit wieder im Griff.
»Mr. Quicksilver. Zweimal an einem Tag. Die Leute werden zu tuscheln anfangen. Ich war lediglich …«
»Auf der Suche nach etwas – Entschuldigung – jemand?« Ulysses blickte ihr unverwandt ins attraktive Gesicht. Seine Lippen lächelten weiterhin, seine Augen jedoch nicht.
»Eigentlich war ich auf der Suche nach Ihnen.«
»Wirklich?«
»Wollten Sie mich nicht auf einen Drink einladen?«
Selbstsicher legte sie ihren Arm in den seinen und drehte ihn mit einer ballettartigen Bewegung herum, um ihn zurück zum großen Atrium und schließlich in eine der Bars zu führen.
Was führt sie im Schilde?, fragte sich Ulysses und ertappte sich selbst. Immer im Dienst, was Quicksilver, altes Haus? Was es auch war, es konnte wahrscheinlich warten. Außerdem war ein wohltuender Drink in ablenkender Begleitung doch genau das, wofür diese Reise gedacht war. Zumindest jetzt und hier.
»Natürlich. Warum nicht, Miss Finch? Warum nicht? Wodka auf Eis mit einem Hauch von Limone, wenn ich mich korrekt an meine gelegentliche Lektüre Ihrer Kolumne erinnere.«
»Aber Ulysses, sich an das Lieblingsgetränk einer Dame zu erinnern … Sie schmeicheln mir.«
»Das tue ich tatsächlich. Und warum auch nicht? Eine Frau wie Sie, mit einem Kleid wie diesem, verdient es aufrichtig … umschmeichelt zu werden.«
»Vorsicht, Ulysses. Die Leute werden reden.«
»Nein, meine Liebe, Sie werden reden. Und ich kann es kaum erwarten zu hören, was Sie über sich selbst zu berichten haben.«
Und welche Abenteuer uns auf der Reise erwarten werden, müssen wir einfach abwarten. Ihre Glenda Finch verabschiedet sich. Bis zum nächsten Mal.
Vierzehn zum Dinner
»Ladies und Gentlemen«, knisterte die dünne Stimme des Droiden-Butlers, »das Dinner ist serviert.«
Begleitet von einem freudigen Stimmgewirr machten sich die Gäste des Captain's Dinner auf den Weg in den verspiegelten Speisesaal.
Der Raum war prahlerisch dekoriert, inklusive einer Reihe großer goldumrahmter Spiegel. Der Renaissance nachempfundene Statuen von Delfinen und Meerjungfrauen füllten den Raum. Das Dreizack-Logo der Neptune prangte allgegenwärtig an jeder möglichen Stelle. Dieser Raum ähnelte einer Unterwasser-Schatzhöhle. Gold, Silber und Kristall setzten sich von dem dunklen Blau und Seegrün der Vorhänge, Tapeten und Teppiche ab.
Ein langer Tisch war für das Dinner eingedeckt. Drei polierte Kandelaber standen darauf verteilt und verbreiteten Kerzenlicht. Dieses wurde von den unzähligen Spiegeln reflektiert und erfüllte den Speisesaal mit einem Schimmer, welcher wiederum die Kristallgläser, das feine Porzellan und das silberne Besteck glänzen ließ.
Anstelle einer festen Wand zog sich über die komplette Steuerbordseite des Raumes eine Stahlblase mit eingesetzter Glasscheibe, ähnlich jener auf dem Promenadendeck. Diese erlaubte dem Captain und seinen Gästen einen ungehinderten Blick auf das Meer, egal ob sich das Schiff über oder unter den Wellen befand.
Auf einem zweiten vor einer Wand platzierten Tisch befand sich neben einer Auswahl an Dinner-Weinen, Schnäpsen und Champagner eine glitzernde Eisskulptur: Der Gott des Meeres höchstpersönlich, mit einem Dreizack in der Hand auf einem Thron aus Jakobsmuschelschalen.
Lilien schmückten sowohl die Tische als auch die großen Vasen in den Ecken des Raumes. Lediglich der Abgestumpfteste oder Blasierteste würde bei diesem Anblick nicht ins Staunen geraten.
Der Gastgeber des Abends wartete in seiner beeindruckenden Gala-Uniform hinter einem üppigen Dinnerstuhl aus weißem Holz, meerblau gepolstert, bestickt mit dem Neptune-Dreizack-Logo in Türkis und Gold. Captain Connor McCormack, von seiner Crew liebevoll Mac genannt, hatte eine beeindruckende Ausstrahlung. Es war auf den ersten Blick offensichtlich, warum seine Untergebenen ihn respektierten. In Hab-Acht-Stellung stand er steif wie ein Brett. Seine goldenen Knöpfe glänzten frisch poliert. Das silberblonde Haar trug er in einem perfekten Seitenscheitel. Sein Hut klemmte unter dem rechten Arm.
»Ladies und Gentlemen«, sagte er, »ich möchte diese Gelegenheit dazu nutzen, Sie offiziell an Bord der Neptune und an meinem Tisch willkommen zu heißen.«
Die versammelten Dinnergäste bedankten sich höflich für diesen Willkommensgruß.
»Sehr beeindruckend, Captain McCormack«, sagte eine Frau, offensichtlich in den mittleren Jahren, welche sie jedoch mit vornehmen Verhalten und ruhiger Würde trug.
»Vielen Dank, Lady Denning«, entgegnete der Captain mit seinem warmen schottischen Akzent liebenswürdig und nickte ihr höflich zu.
»Netter Kamin«, sagte Major Horsley, während er mit seiner Pfeife an den Sims pochte. »Der von mir eingesackte Allosaurus würde sich gut darüber machen.«
Ein Gast nach dem anderen fand seinen Sitzplatz oder wurde von einem der Robo-Butler dorthin geführt, während diese mit Geduld darauf warteten, das Essen zu servieren. Alle Plätze waren mit Karten ausgestattet, auf welchen sich die Namen der Ehrengäste der Neptune in einwandfreier Handschrift wiederfanden.
Das Captain's Dinner war eine weitere Gelegenheit für die Elite unter den Passagieren, sich eindrucksvoll zu kleiden und der Gesellschaft zu zeigen, dass sie ihr stets eine Nasenlänge voraus war. Anders als der Captain trugen die Herren alle maßgeschneiderte schwarze Anzüge. Die einzige persönliche Freiheit bestand in der Wahl der Westen nebst Schärpen.
Die Damen jedoch versuchten sich gegenseitig auszustechen. Überall sah man Satin, Seide und Chiffon in den derzeitigen Modefarben Seegrün, Aquamarin und Türkis sowie extravagante, mit Edelsteinen besetzte Accessoires, Schleifchen, mit Spitzen versetzter Schnickschnack und üppige Federboas. Einige der jüngeren Damen trugen auffallend gewagte Schnitte, welche viel nackte Haut ans Tageslicht brachten; insbesondere Miss Finch. Die etwas älteren Damen kleideten sich eher traditioneller und zurückhaltender.
Auf Bitten von Captain McCormack nahmen die versammelten Gäste ihre Plätze ein, sobald sie diese gefunden hatten. Dabei fiel dem Captain auf, dass noch nicht alle Gäste anwesend waren. Drei Plätze blieben leer.
Die Türen des Speisesaals wurden von zwei Automaten-Drohnen erneut geöffnet und der wahre Gastgeber der Dinner-Party wurde hereingeführt.
Auch wenn alle Anwesenden auf Wunsch von Captain Connor McCormack hier waren, so war es in Wahrheit der Eigentümer der Carcharodon Shipping Company und somit auch Eigentümer der Neptune gewesen, welcher die Teilnahme durch Einladung zur Jungfernfahrt überhaupt erst ermöglichte: Der an einen Rollstuhl gebundene exzentrische Milliardär Jonah Carcharodon.
Carcharodon wurde von einer schüchternen jungen Frau in den Speisesaal geschoben, deren Attraktivität stark durch eine dicke Hornbrille getrübt wurde. Sie trug ein schmeichelhaftes schwarzes Kleid. Ihr blondes Haar war zurückgekämmt und auf dem Kopf mit einer Spange in Form eines Hais befestigt. Der Hai war mit Juwelen besetzt, was aufgrund der Tatsache, dass sie den Kopf zu Boden gerichtet hielt und mit den Augen den Teppich zu ihren Füßen fixierte, für jeden ersichtlich war. Sie vermittelte den Eindruck von Scheue und Unwohlsein.
Jonah Carcharodon hingegen genoss die Aufmerksamkeit, welche ihm sein spätes Erscheinen einbrachte. Ein leichtes Lächeln umspielte seine dünnen Lippen. Obwohl er an den Rollstuhl gebunden war und sich sein Alter von über sechzig Jahren an den grauen Haaren, tiefen Rillen im Gesicht und hohlen Wangen deutlich zeigte, war da ein Funkeln von Beharrlichkeit und Lebenskraft in den Augen des Mannes, welches man eher bei einem jüngeren Mann erwartet hätte.
»Mr. Carcharodon«, begrüßte ihn Captain McCormack, »und Miss Celeste. Willkommen. Ich glaube, nun fehlt lediglich noch ein letzter Gast. Ich schlage vor, dass wir alle ein Glas Champagner zu uns nehmen, während wir warten?«
»McCormack«, warf Carcharodon ein. »Ich glaube, dass Ihre Gäste lange genug gewartet haben. Lassen Sie das Essen auftragen.«
»Sehr wohl, Sir«, stimmte der Captain zögerlich zu. Er nickte nach einem der Robo-Kellner. Dieser schlug daraufhin einen kleinen Bronzegong in seiner Hand an. »Ladies und Gentlemen, das Dinner ist eröffnet.«
Als alle Gäste saßen, fuhr Carcharodons persönliche Assistentin diesen an den Fuß des Tisches, genau gegenüber von Captain McCormack. Anschließend nahm sie neben ihm Platz. Die Automaten-Butler tischten die Vorsuppe aus dampfenden Silberterrinen auf. Ein Aroma von rotem Thai-Curry und Kokosnuss füllte den Raum.
»Sie werden ein gewisses Thema bei diesem Essen feststellen«, erklärte der Captain seinen Gästen. »Je ein typisches Gericht von einigen unserer unterschiedlichen Reiseziele, welche wir auf dieser Jungfernfahrt entweder bereits passiert haben oder noch besuchen werden.«
Die Türen des Speisesaals öffneten sich erneut, dieses Mal jedoch ohne die Hilfe von Droiden. Im Türrahmen stand ein Gentleman, welcher dank der zahllosen Bilder und Berichte der Zeitungspresse und des Fernsehens über die katastrophalen Ereignisse rund um das 160. Thronjubiläum Queen Victorias im gesamten Königreich bekannt war.
Er sah anders aus als bei den Liveübertragungen am 16. Juni. Weniger blutig und zerbeult. Das Haar nicht durcheinander. Ebenso wenig war seine Kleidung ramponiert. Heute trug er wie die anderen männlichen Gäste einen schwarzen Anzug. Dieses Standard-Outfit schmückte er mit einer goldenen Weste aus grober Seide und einer burgunderfarbenen Krawatte nebst rosenförmiger diamantener Krawattennadel aus. In der rechten Hand hielt er sein Markenzeichen – den Stock mit dem Kopf aus Blutstein.
Alle Augen richteten sich auf den Neuankömmling.
»Guten Abend, Ladies und Gentlemen. Captain McCormack«, sagte Ulysses Quicksilver. »Bin ich zu spät?«
Lächelnd ließ der Dandy seinen Blick über die am Tisch verteilten Gesichter schweifen. Manche erwiderten sein Lächeln höflich, manche schauten gleichgültig drein. Die Minderheit schaute empört und ablehnend. Dazu gehörte auch Jonah Carcharodon. Wenn es eines gab, was der Schiffsmagnat nicht leiden konnte – wenn man die Gerüchte, dass er sein gesamtes Privatvermögen in den Bau der Neptune gesteckt hatte, außen vorließ – dann war es, übertrumpft zu werden.
»Ah, Mr. Quicksilver. Wir dachten, Sie würden nicht mehr kommen«, sagte Carcharodon in frostigem Ton. »Wir wollten gerade ohne Sie beginnen.«
»Kein Grund, sich zu sorgen«, erwiderte Ulysses. »Ich bin ja jetzt da, sodass die Party starten kann.«
»So, Mr. Sylvester, ich hörte, Ihr Arbeitgeber ist zu krank für unsere kleine historische Reise.«
»Ich fürchte, genauso ist es, Mr. Carcharodon«, stimmte der aalglatte junge Mann mit dem glänzenden zurückgegeelten Haar zu.
Alles an ihm, angefangen bei seiner restriktiven Haltung bis hin zu seiner schneidigen Kleidung, schrie für Ulysses nach einem draufgängerischen Geschäftsmann. Dies war ein Mann auf einer Mission, die Karriere stets vor Augen. Als Repräsentant von jemandem so Mächtigen und Einflussreichen wie Josiah Umbridge aufzutreten, dem Gründer und Eigner von Umbridge Industries – der führende Industrielle des Imperiums, mit unzähligen Fabriken und Stahlwerken unter seinem Namen – belegte das. Ulysses bezweifelte ernsthaft, dass Dexter Sylvester während der gesamten Kreuzfahrt ausspannen würde. Sicherlich würde er sein Netzwerk durch neue Bekanntschaften unter den einflussreichen Passagieren ausbauen. Ebenso würde er seine Arbeit für Umbridge Industries, wie auch immer diese aussah, aus der Ferne fortführen und per Fern-Differenzmaschine versenden. Die Neptune war mit dem modernsten elektronischen Radio-Fernschreiber-Kommunikationssender ausgestattet.
Das Dessert wurde serviert: Crème brûlée mit warmem Beeren-Püree. Ulysses Quicksilver betrachtete die Gäste, als diese sich auf die Süßspeise stürzten. Dank seines freundlichen Charmes und der sympathischen Umgehensweise mit allem und jedem, hatte er nach kurzer Zeit an Bord bereits die Bekanntschaft mit einem Großteil des Personals als auch der anderen Passagiere gemacht. Als Folge davon wusste er über praktisch jeden am Tisch eine ganze Menge. Er stellte fest, dass da noch mehr war, was er wissen wollte. Es hatte den Anschein, als ob keiner der zur Weltumschiffung Eingeladenen auf seine Weise ohne Vorgeschichte war. Ein befreundeter Schriftsteller aus seiner Schulzeit in Eton hatte ihm einmal Folgendes gesagt: »Jeder ist der Protagonist seiner eigenen Lebensgeschichte. Jeder ist ein Held in einer Geschichte, die es wert ist, erzählt zu werden. Im echten Leben gibt es keine Nebenfiguren.«
Er begann in Gedanken für jeden seiner Reisegefährten eine Akte anzulegen. Darin enthalten waren jeglicher Klatsch und Tratsch, Fakten, Beobachtungen und Gerüchte, die er bislang aufgeschnappt hatte. Und wie es sich gehörte, begann er diese Arbeit mit ihrem symbolischen Gastgeber, dem Captain, welcher am Kopf des Tisches saß.
Captain Connor McCormack war, wie erwartet, der erfahrenste, vertrauenswürdigste und kompetenteste Captain der Carcharodon Flotte. Um das Kommando über den neuen tauchfähigen Liner zu übernehmen, gab er das Kommando über die Nautilus auf, welche bis zum Bau der Neptune das Flaggschiff der Great White Line gewesen war. Von Kopf bis Fuß der maritime Held und dennoch mit einem leicht gelösten Weltschmerz, welchen sein Blick nicht verbergen konnte. Ulysses vermutete, dass er zu Beginn seiner Karriere nie damit gerechnet hätte, als Captain eines Luxusliners zu enden.
Finanziell, und vor allem mit Blick auf den Ruhm, war dieser Karriereweg wohl nicht der übelste. Ulysses hatte diesen Ausdruck von Weltschmerz schon einige Male gesehen, vor allem bei pensionierten Armeeveteranen, deren Lebensmittelpunkt, für Queen und Land zu kämpfen und zu dienen, plötzlich wegbrach. Ohne ihren Lebensmittelpunkt fühlten sich viele wie kastriert, ohne den Feinden des Imperiums ins Gesicht zu schauen und sie aufrichtig bekämpfen zu können. Vielleicht hatte sich Captain McCormack kein Amt auf See gewünscht. Ulysses konnte ihn sich durchaus als Kommandant eines Raumschiffs vorstellen, auf dem Weg in unbekannte Territorien außerhalb der Grenzen des Solarsystems. Ein forschender Weltraum-Abenteurer auf der Suche nach fremden Leben in anderen Welten.
Rechts neben dem Captain saß ein Mann, welchen Ulysses vorher nie getroffen hatte, obwohl sein Name in diversen Zeitungsartikeln um das gleiche Debakel, in welchem sich Ulysses selbst wiedergefunden hatte, in einigen Zeilen erwähnt worden war. Vielleicht war das der Grund, warum Professor Maxwell Crichton, emeritierter Professor für Genetik und Evolutions-Biologie am National History Museum und einstiger Kollege des viel geschmähten Professors Ignatius Galapagos – von welchem er sich krampfhaft zu distanzieren versuchte – die Einladung zu einer Weltreise angenommen hatte: Um der Hetzjagd der Boulevard-Presse zu entkommen.