Tatort Unterelbe

Kriminal-Geschichten zwischen Buxtehude und Cuxhaven

Monika Heil


ISBN: 978-3-938097-89-2
1. Auflage 2017, Drochtersen (Deutschland)
© 2019 MCE Verlag

Titelentwurf und -foto: digisreen – Herwig Baak

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Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung des Verlags. Alle Rechte vorbehalten!

Inhalt

 

Für Ingeborg und Fritz

 

und natürlich - immer wieder -

 

für meinen lieben Mann Edgar

Rache ist süß

Tatort Jork

 

Ruth Baumann hatte die Diskussionen so satt. Ihre Augen funkelten zornig. Was dachte sich der Junge nur, sie in ein Altersheim abschieben zu wollen? Ja, sie war alt. Ja, sie konnte ohne fremde Hilfe den Alltag nicht mehr gut bewältigen. Ja, sie konnte schlecht laufen. Das alles war dennoch kein Grund, sie als senil und hilflos zu bezeichnen. Zumindest geistig war sie noch immer topfit. Erst letzte Woche hatte sie sich bei den jährlich stattfindenden Lessinggesprächen im Museum Altes Land intensiv in die Diskussionen um die Zukunft der Region eingebracht. Wieder einmal war ihr an jenem Abend bewusst geworden, welch hohes Ansehen sie noch immer in Jork genoss. Es war eine angenehme Abwechslung gewesen, den vielen Bekannten und auch einigen Unbekannten zu begegnen. Dazu kam, dass sie das prächtige alte Gebäude sehr mochte. Es war nicht zu zählen, wie oft sie - allein oder mit Besuchern, die ihre schöne Heimat noch nicht kannten - das Museum in Jork besucht hatte. Es lohnte sich immer. Viele umsichtig ausgesuchte Exponate erklärten anschaulich und nachvollziehbar, wie die Menschen im Alten Land in vergangenen Jahrhunderten gelebt und gehandelt hatten.

Es war ein schöner Abend gewesen, wohl auch deshalb, weil ihr Sohn Zeit und Lust hatte, sie zu begleiten. Dass sie den anschließenden Empfang geschwänzt hatte, fand Ruth Baumann unproblematisch. Holger war geblieben, während sie mit einem Taxi nach Hause fuhr. Es stimmte schon. In letzter Zeit wurde sie schnell müde und fühlte sich oft abgespannt. Manchmal kam Mutlosigkeit dazu. Tage wie heute, an denen sie des Lebens überdrüssig war, kamen immer häufiger. Aber das alles gab ihm nicht das Recht, so mit ihr zu reden. Wieder machte die Erinnerung an ihr Wortgefecht sie wütend.

»Mutter, ich meine es nur gut mit dir.«

Ha, ins gemachte Nest wollten er und seine Silvia sich setzen. In Wahrheit ging es den beiden nur um ihr Haus.

»Unsere wertvollen Möbel, die edlen Teppiche, all das kann ich nicht mit ins Altersheim nehmen.« Sie schaute zum Portrait ihres Mannes, das in Öl gemalt, über dem Kamin hing. »Stell dir vor, Heinrich, dreiundvierzig Quadratmeter! Lieber bringe ich mich um. Ich schwör´s dir! Ich bringe mich um.« Heinrich reagierte nicht. »Du brauchst gar nicht so zu gucken, mein Lieber. Ich habe noch das Pulver, das du im Krieg besorgt hast. Da staunst du, was? Ich wusste, dass du es im Giftschrank aufbewahrt hattest. Bevor ich die Apotheke verkaufte, habe ich es an mich genommen. Holger hat davon keine Ahnung.«

Dass sie das Lebenswerk ihres Mannes in fremde Hände geben musste und nicht an ihren Sohn vererben konnte, schmerzte Ruth Baumann auch nach Jahren noch. Ihr einziger Sohn hatte nicht Apotheker werden wollen. Er zog es vor, als Pharmareferent im Außendienst durch die Gegend zu fahren. Gut, er hatte sich darüber hinaus zu einem allseits anerkannten und kompetenten Ansprechpartner entwickelt, wenn es um Pestizide und Schädlingsbekämpfung ging. Vor Jahren hatte er eine Vielzahl alter und neuer Produkte und deren Einfluss auf die Apfelsorten der Region untersucht. Dabei hatte er die Auswirkungen der Pestizide auf Laub, Farbentwicklung der Schalen, aber auch der Nützlinge dargestellt. In einer Fachzeitschrift wurden einige seiner viel beachteten Aufsätze veröffentlicht. Natürlich war sie als Mutter stolz, dass ihr Sohn viel Anerkennung erfuhr. Dennoch - wie gern hätte sie ihn als Apotheker in dritter Generation im eigenen Geschäft gesehen. Vor Jahren bereits hatte sie ihm eine passende Frau ausgesucht. Aber nein, ihr Sohn setzte seinen eigenen Kopf durch. Er heiratete diese Silvia Engelke, zu der sie von Anfang an kein gutes Verhältnis hatte herstellen können. Und so hatte sie die Apotheke an jene junge Frau verkauft, statt diese als Schwiegertochter ins Haus zu holen.

 

*

 

Holger Baumann hatte die ewigen Nörgeleien seiner Frau gründlich satt. Silvia stellte sich das zu einfach vor. Er konnte doch seine eigene Mutter nicht entmündigen lassen. Die alte Dame war nicht mehr gut zu Fuß, zugegeben, aber im Kopf war sie noch ganz fit. Silvias ständige Vorwürfe, er sei seiner Mutter gegenüber zu nachgiebig, gingen ihm auf die Nerven. Ab und zu wünschte Holger, er sei sie beide los. Manchmal kam er auf seltsame Gedanken. Ohne die Sorgen um seine Mutter und ohne das Generve seiner Frau ginge es ihm viel, viel besser. Oft blieb er auf dem Weg durch Jork sehnsüchtig vor den lockenden Werbeplakaten eines Reisebüros stehen: Amerika, Neuseeland, Australien. Nicht, dass er sich diese Ziele nicht leisten könnte. Nein, an finanziellen Gründen lag es nicht. In der Vergangenheit hatten sie einige Reisen unternommen. Doch Urlaub nach Rügen, Dänemark oder in den bayerischen Wald waren kein Ersatz für seine Träume. Holger hatte Sehnsucht nach anderen Kontinenten, anderen Kulturen, anderem Lebensgewohnheiten. Das Problem war - Silvia weigerte sich schlicht, ein Flugzeug zu besteigen. Und allein zu fliegen, kam nicht infrage.

»Du lässt mich nicht mit deiner Mutter allein. Ich bin nicht deren Kindermädchen.«

Er hatte das so satt!

 

*

 

Silvia Baumann dachte Tag und Nacht über das Leben im Allgemeinen und ihres im Besonderen nach. Sie saß in ihrer geräumigen Dreizimmerwohnung und dachte an das Haus ihrer Schwiegermutter. Das war alles so ungerecht. Da saß die Alte auf dem ganzen schönen Geld und sie und Holger mussten sehen, wie sie über die Runden kamen. Gewiss, Holger hatte ein gutes Einkommen und sie verdiente ihr eigenes Taschengeld. Beklagen durfte sie sich nicht. Trotzdem. Wenn sie wenigstens in das Haus einziehen könnten! 200 Quadratmeter Wohnfläche! Tausend Quadratmeter Grundstück! Aber Holgers Mutter weigerte sich strikt, in ein Altersheim zu ziehen. Ab und zu holte Silvia einen Artikel hervor, den ihr Mann in einer Fachzeitung veröffentlicht hatte. Für den Laien klang er wahrscheinlich wie Fachchinesisch. Sie aber konnte, aufgrund ihrer eigenen Ausbildung, vieles nachvollziehen. Besonders interessiert las sie immer wieder seine Ausführungen über Pestizide, die dem Anwender gefährlicher werden könnten als den Insekten, denen sie den Garaus machen sollten. Es ging um eine Mischung aus Bleiarsen und Schwefelkalk. Beides wurde heute nicht mehr angewendet, ließ sich aber immer noch beschaffen. Immer öfter schlugen Silvias Gedanken Purzelbäume. Sie endeten stets mit einem gemurmelten: »Nein, nichts Ernstes. Nur ein bisschen Angst einjagen. Das sollte man mal machen.«

Dass sie an dem Haus ihrer Eltern keine Rechte hatte, störte sie dagegen nicht. Den Hof würde eines Tages ihr Bruder erben, und das ging in Ordnung. Bei ihnen galt seit Generationen das sogenannte Ältestenrecht. Lars war der Ältere. Auch Holger würde ja eines Tages das Haus seiner Mutter erben. Er war ihr einziger Sohn. Nur wann?

Silvia war die Tochter des reichen Obstbauern Tamo Engelke aus Jork. Sie und ihr Bruder Lars waren auf dem schönen großen Apfelhof, erbaut im typischen Stil der reichen Marschbauern mit roten Backsteinen und weißem Holzfachwerk, aufgewachsen. Selbstverständlich schmückte eine große Prunkpforte den Eingang des Grundstücks. Ihre Kindheit verlief unbeschwert und weitestgehend sorgenfrei. Die Jugend brachte all die Fallstricke mit sich, die eine heranwachsende junge Frau ereilen können. Sie hatte eine fundierte Ausbildung im Obstanbau genossen. Ab und zu half sie ihrer Mutter beim Verkauf in dem gut sortierten Hofladen. Ansonsten leistete sie Hilfe, wo immer sie gebraucht wurde.

Hin und wieder übernahm Silvia auch Gästeführungen auf dem Hof. Wortgewandt gab sie interessante Einblicke in die Arbeitsweise heutiger Familienbetriebe. Sie referierte über Pflanzenschutz, Lagerung und Vermarktung, beantwortete kluge und nicht so kluge Fragen ihrer Tagesgäste. Silvia war stolz, in dem größten zusammenhängenden Obstanbaugebiet Europas leben zu dürfen. Über alle gängigen Apfelsorten der Region hätte sie stundenlang erzählen können. Die Führungen waren eine schöne Abwechslung für sie.

Besonders in der Erntezeit, wenn die polnischen Erntehelfer auf dem Hof lebten, wurde jede Hand gebraucht. Dann war sie oft in der Küche zu finden. Die vielen Helfer wollten mit drei Mahlzeiten am Tag versorgt werden. Als Anerkennung steckte ihr der Vater ab und zu einen größeren Schein zu.

»Sag´s nicht der Mutter«, flüsterte er stets mit verschwörerischer Miene, und Silvia bedankte sich mit einem Kuss auf seine unrasierte Wange. Bevor sie abends nach Hause ging, zog sie die Mutter ab und zu beiseite und steckte ihr heimlich einen größeren Schein in die Jackentasche. »Sag´s nicht dem Vater«, flüsterte sie und Silvia bedankte sich mit einer herzlichen Umarmung. So hatte sie immer eine stille Reserve, von der nicht einmal Holger wusste.

Als Silvia volljährig wurde, erfüllte sich der große Traum ihrer Kindheit. Sie wurde Altländer Blütenkönigin. Eine unvergesslich schöne Zeit, in der sie die Region ein Jahr lang weltweit bei Messen und anderen Veranstaltungen in einer historischen Altländer Hochzeitstracht repräsentieren durfte. Sogar die Kanzlerin hatte sie bei einer entsprechenden Reise nach Berlin kennengelernt und ihr einen Korb frischer Vitamine überreicht. Der Höhepunkt war ohne Frage das Altländer Blütenfest im Mai. Dann bewegte sich ein eindrucksvoller Blütenkorso durch den Ort und zog Tausende von Besuchern an. Jedes kleine Mädchen in der Region träumt davon, einmal Blütenkönigin in Jork zu sein. Und Silvia Engelke war eine von ihnen.

Damals hatte sie Holger Baumann kennen und lieben gelernt. Sie hatten in der eindrucksvollen St. Matthiaskirche geheiratet, ihre Hochzeitsbank am Deich errichtet und auf dem Hof ihrer Eltern ein unvergessliches Fest gefeiert. Sie waren in ihre kleine Wohnung in der Ortsmitte gezogen. Der Himmel hing voller Geigen für sie. Jeden Sonntag beim Gottesdienst dankte Silvia ihrem Herrgott für das Glück, das er ihr beschert hatte. In der Matthiaskirche hatten ihre Eltern eine eigene Bankreihe. Dieses Privileg konnte ein aufmerksamer Beobachter an den Bankwangen ablesen, die - mit hübschen Malereien geschmückt - die entsprechenden Namen enthielten.

Sie und ihr Mann hatten stattdessen ihre Hochzeitsbank. »Wie die von Gottfried Ephraim Lessing und seiner Frau Eva König«, erzählte sie den Hofgästen gern und schmückte ihren Bericht mit weiteren Details. »Der Dichter hatte am achten Oktober 1776 in Jork geheiratet und aus jenem Anlass eine mit den Daten markierte Bank gestiftet. Ihre Bank steht noch heute vor dem Rathaus. Wenn Sie durch die Stadt gehen, dann genießen Sie einen Blick auf das reich geschmückte Gebäude im Altländer Stil. Beides ist ein Erinnerungsfoto wert«, empfahl sie jedes Mal. »Die Tradition der eigenen Bank wird von einigen Brautpaaren bis in die heutige Zeit fortgesetzt«, schloss sie dann ihre Ausführungen. »Bei Radwanderungen am Deich bieten sie immer wieder willkommene Rast.«

Im Laufe der Jahre hatte sich die Liebe der Eheleute Baumann abgenutzt. Kinder waren ihnen - grundlos - verwehrt geblieben. Silvias Wesen änderte sich schleichend. Unzufriedenheit breitete sich in ihrem Herzen und auf ihren Gesichtszügen aus.

 

*

 

Eines Tages fuhr Holger Baumann zu einem vierzehntägigen Fortbildungsseminar an den Bodensee. Zwei Wochen Abstand von seinen privaten Problemen taten ihm gut. Tagsüber war er beschäftigt. Abends saß er mit anderen Lehrgangsteilnehmern bei lebhaften, fröhlichen Gesprächen und ein, zwei Gläschen Wein zusammen. Nachts lag er schlaflos in seinem Bett und grübelte. Immer öfters kam ihm der Gedanke, Schluss zu machen. Schluss mit dieser Ehe, die in seinen Augen langsam zum Scherbenhaufen geriet, Schluss mit den zermürbenden Diskussionen mit seiner Mutter. Er überlegte, eine Pflegerin zu engagieren und dieser die Verantwortung zu übertragen. Finanziell konnte sich seine Mutter das leisten. Der Erlös aus dem Verkauf der Apotheke war beträchtlich. Das Haus war schuldenfrei und Platz für eine Hausangestellte war vorhanden. Sie könnte das Gästezimmer mit eigenem Bad im Souterrain bewohnen. Und er würde sich von Silvia trennen. Endgültig. Er, Holger Baumann, würde endlich einmal nur an sich denken. Dann könnte er reisen, wohin er wollte und wann er wollte. Seine Stimmung wurde von Tag zu Tag besser. Gleich nach seiner Rückkehr wollte er tabula rasa machen.

 

*

 

Silvia Baumann hatte eine Idee. Nichts Ernstes. Nur ein wenig Angst einjagen. Sie sprach Adam Kowalski und Pawel Nowak an. Die beiden Erntehelfer kannte sie seit Jahren. Gemeinsam hatten sie schon so manches Bier getrunken. Sie waren zwei sympathische Schlitzohren, die keinen Schabernack ablehnten und immer dabei waren, wenn es eine Gelegenheit gab, einen schnellen Euro zu verdienen. Mit dem Gesetz waren sie bisher nicht in Konflikt geraten. Allerdings wussten beide, es wäre gut, wenn die eine oder andere Aktion nicht ans Tageslicht käme.

Silvia lud sie eines Abends zu sich in ihre Wohnung ein.

»Aber nichts den anderen sagen«, bat sie flüsternd, und die beiden nickten zustimmend. Der Stolz, bei der Tochter des Chefs privat eingeladen zu sein, stand ihnen dennoch ins Gesicht geschrieben. Es wurde ein fröhlicher und ein für alle Beteiligten interessanter Abend. Endlich konnte sich Silvia ihren Frust von der Seele reden. Nach dem dritten Cognac hatte sie die beiden Männer auf ihrer Seite. Schnell wurden sie handelseinig. Als die beiden spät in der Nacht aufbrachen, hatte Adam ziemlich Schlagseite beim Laufen, und Pawel trug einen fremden Hausschlüssel in seiner Tasche.

 

*

 

Es war ein lauer Spätsommerabend, als Ruth Baumann beschloss, ihrem Leben ein Ende zu setzen. Ihr Sohn war weit weg zu einem Seminar. Nur ein einziges Mal hatte er sich telefonisch gemeldet. Und ihre Schwiegertochter rief von allein gar nicht an. Heute Morgen hatte Ruth es getan. Das Telefonat gestaltete sich zuerst mehr als unerfreulich. In welchem Ton sprach dieses junge Ding mit ihr? Unmöglich!

»Ich habe keine Zeit«, hatte sie zu hören bekommen. Und dann kam wieder die ewige Litanei vom Altersheim. Ruth hatte scheinbar eingelenkt.

»Wahrscheinlich hast du ja Recht. Lass uns das alles bei einem guten Glas Wein besprechen, ja? Komm heute Abend bei mir vorbei. Bitte.« Sie hörte, wie Silvia scharf Luft holte und vermutete, dass die Jüngere jetzt glaubte, ihren Ohren nicht trauen zu können. Ihre Strategie schien aufzugehen.

»Fein Ruth, wenn das so ist, werde ich mir die Zeit nehmen. Ich mache uns einen leckeren Salat und bringe zwei Steaks mit. Die isst du doch so gern.« So freundlich hatte die Stimme ihrer Schwiegertochter lange nicht geklungen.

»Und ich sorge für den Rotwein«, versprach Ruth Baumann.

 

Silvia überlegte, ob sie sofort zum Hof ihrer Eltern gehen und mit Pawel Nowak sprechen sollte, damit die Beiden nicht gerade heute...

Dann verwarf sie den Gedanken. Sie war mit Luisa Ferlemann, einer Bekannten, zu einer Radtour entlang der Apfelplantagen und einem gemeinsamen Cafébesuch in der Nähe der Mühle Aurora verabredet. Vielleicht fand sie noch kurz Zeit, zum elterlichen Hof zu gehen und den beiden Bescheid zu geben, bevor sie zu ihrer Schwiegermutter fuhr. Mist aber auch, dass sie sich keine Handynummer von den Polen notiert hatte.

 

*

 

Ihr Essen auf Rädern kam gegen halb zwölf. Markus, der nette junge Mann vom Betreuungsdienst, war gern bereit, für Ruth die Flasche französischen Rotweins zu öffnen. Er freute sich mit der alten Dame, dass sie noch so gut beieinander war und die schönen Dinge des Lebens genießen konnte.

»Lassen Sie sich den Wein gut schmecken. Aber nicht zu viel auf einmal«, warnte er lächelnd.

»Wo denken Sie hin, junger Mann? Meine Schwiegertochter kommt dieses Wochenende und versorgt mich. Ich werde mir heute Mittag ein Gläschen genehmigen. Der Rest ist für den Abend. Sie brauchen erst am Montag wieder zu kommen.«

»Na, dann wünsche ich eine schöne Zeit.« Weg war er. Auf dem Weg zu seinem Auto war er gedanklich bereits bei der Bosseltour mit seinen Freunden. Wie gut, dass Frau Baumann ihn Sonntagmorgen nicht benötigte. Das Wetter sollte auch halten. Also alles paletti.

Ruth Baumann trank zu Mittag nur Mineralwasser. Sorgfältig deckte sie später den Tisch für zwei Personen. Sie öffnete die Terrassentür, um die milde Sommerluft herein zu lassen. Dabei lauschte sie kurze Zeit dem Zwitschern in der Hecke, die ihre weitläufige Terrasse umgrenzte. Sie liebte den Gesangswettstreit der Gartenvögel, der die Stille ihres Hauses wohltuend unterbrach. Das Zwitschern begleitete sie bis hinüber zum Kamin, über dem das riesige Porträt ihres verstorbenen Mannes hing. Ruth erklärte ihm noch einmal ihre Pläne. Dass er ihre Beweggründe verstand, konnte sie nur hoffen. Leise versprach sie: »Bald komme ich zu dir, mein Lieber. Für immer.«

Sie holte das Pulver aus dem Safe und versteckte es in ihrer Jackentasche. Danach stellte sie den Bordeaux auf den Tisch und wischte sorgfältig die großen Schwenkgläser aus. Sie wurden nur noch selten benutzt. Das Telefon lag griffbereit vor ihr auf dem Tisch. Die Handy-Nummer ihres Sohnes war eingespeichert. Ein trauriges Lächeln umspielte Ruths Lippen. Es war alles so einfach. Ihr Sohn war weit weg. Auf ihn konnte kein Verdacht fallen. Sie würde ihn nachher anrufen und erzählen, dass sie Silvia zum Essen erwarte. Und dann sollten die Dinge ihren Lauf nehmen. Bis der junge Mann vom Betreuungsdienst am Montagmorgen zwei Tote finden und die Polizei alarmieren würde, wäre alles überstanden. Und Holger tat sie auch einen Gefallen. Dessen war Ruth absolut sicher. Er konnte endlich in sein Elternhaus zurückkehren. Allein. Sie stand ihm nicht mehr im Wege und - wenn alles nach Plan lief - seine Frau auch nicht. Das Pulver reichte allemal für zwei Personen.

 

*

 

Die Terrassentür stand offen. Sie brauchten nicht einmal den Haustürschlüssel zu benutzen. Die beiden Männer trugen schwarze Trainingsanzüge, schwarze Wollmützen und gleichfarbige Masken. Sie gaben sich keine Mühe, leise zu sein. Ruth starrte die beiden Gestalten an, ihre Augen vor Schreck geweitet. Sie ballte ihre Finger zur Faust, die sie auf ihren Mund presste. Ihr Atem ging stoßweise. Sie konnte nicht fliehen. Ihre Beine versagten den Dienst.

»Ganz ruhig, Muttchen«, hörte sie eine warme, fast freundliche Stimme mit slawischem Akzent. »Leg schön deine Arme auf die Stuhllehnen und vor allem – keinen Ton, hörst du? Dann geschieht dir nichts.«

Die beiden Männer waren mit wenigen Schritten bei ihr. Sie fesselten die alte Dame mit den langen Stricken, die sie mitgebracht hatten. Am Ende war Ruth samt Armstuhl verschnürt wie ein Paket. Fieberhaft überlegte sie, was sie sagen oder tun könnte. Ihr fiel nichts ein. Tatenlos musste sie zusehen, wie die Männer agierten.

»Im Schreibtisch soll eine Kassette mit Bargeld sein. Sieh´ nach«, hörte sie den einen in befehlendem Ton flüstern. Woher wusste das dieser Kerl? Was wurde hier gespielt?

»Hören Sie«, krächzte Ruth.

»Still, Muttchen, du hast jetzt nichts zu sagen. Hast du das verstanden?«

Der Mann taxierte den gedeckten Tisch. »Sie erwarten Besuch?«, fragte er, und es klang fast wie freundliche Konversation. Ruth registrierte, dass er von dem unpassenden ´Du` zu einem höflichen ´Sie` übergegangen war. Sie nickte, versuchte ein verbindliches Lächeln. Es misslang.

»Meine Schwiegertochter kommt zum Essen.«

»Genial«, feixte der Jüngere. »Und dann findet sie das arme Schwiegermütterchen, rettet es und die Alte ist ihr dankbar bis an ihr Lebensende.« Sein Lachen klang spöttisch. »Wie in deutsche Märchenbuch.«

Der andere warf die restlichen Stricke, die er in seinen Händen gehalten hatte, achtlos auf den Boden. Er öffnete eines der Schreibtischfächer und zog eine Kassette heraus. Ruth beobachtete es fassungslos.

»Der Inhalt gehört euch«, hatte Silvia versprochen. Ihre Bezahlung sozusagen.

Adam juckte es in den Fingern. Er stand im Rücken der alten Dame. Sie würde nichts bemerken. Pawel war abgelenkt, denn er war mit Geldzählen beschäftigt. Mit einer schnellen Bewegung nahm er ein kleinformatiges Bild von der Wand und steckte es unter seinem Pullover in den Hosenbund. Das Motiv kannte er aus einem Bildband über Worpswede. Den hatte er auf dem Apfelhof auf einem Sideboard entdeckt. Dort lagen auch Büchern über das Alte Land, das Elbe-Weser-Dreieck und Hamburg. Adam war klar, dass der Diebstahl der Tochter des Chefs nicht gefallen würde. Weitere Beute außer der Geldkassette war nicht vereinbart. Aber wie sollte sie ihm das nachweisen?

Kurz darauf waren sie mit ihrer Beute verschwunden.

 

*

 

Ruth schäumte vor Wut. Dass sie vor einer halben Stunde noch hatte sterben wollen, war ihr entfallen. Das Schlimmste war, sie kam nicht an ihr Telefon. Einer der beiden Kerle hatte es - wahrscheinlich versehentlich - aus ihrer Reichweite geschoben. Zudem waren ihre Arme bewegungsunfähig an die Stuhllehne gefesselt. Wer würde sie hier finden? Und - vor allem - wann? Holger war in Friedrichshafen und, dass ihre Schwiegertochter tatsächlich käme, glaubte sie nach dem Überfall nicht mehr. Sie hatte den polnischen Akzent der Männer registriert und schnell begriffen, dass die Gangster Informationen hatten, die nur von Silvia kommen konnten. Nur, was bezweckte sie mit der Aktion? Der Inhalt der Geldkassette rechtfertigte keinen Überfall. Jedenfalls nicht für die Frau ihres Sohnes. Da waren nur knapp tausend Euro drin. Für die beiden Polen war das möglicherweise attraktiv. Nach ihrem Schmuck im Schlafzimmer hatten sie nicht gesucht. Dessen Wert war beträchtlich. Vergeblich versuchte sie, die Beweggründe ihrer Schwiegertochter zu erfassen. Erneut wurde ihr bewusst, dass sie jetzt ein ganz anderes Problem hatte. Markus würde erst am Montag gegen Mittag wieder erscheinen. Schrecklich! Was konnte sie tun?

 

*

 

Als sie eine halbe Stunde später hörte, dass die Haustür geöffnete wurde, konnte sie es erst nicht fassen. Wer war das? Die Diebe wussten, dass die Terrassentür offen stand, Holger war weit weg. Silvia? Nein. - Doch! Ihre Schwiegertochter stand in der Tür und erfasste die Situation sofort.

»Mein Gott, Ruth! Was ist denn hier los?« Gespielt aufgeregt kam die Jüngere ins Zimmer. Ruth wirkte erschöpft. Kraftlos flüsterte sie: »Gut, dass du da bist. Bitte, mach mich erst mal los.« Silvias Gedanken schlugen Purzelbäume. Die Situation war grotesk. Fast hätte sie laut gelacht. Hatten die Jungs doch tatsächlich den heutigen Tag für ihren Überfall gewählt. Zu dumm, dass ihre Radtour mit Luisa so lange gedauert hatte. Die beiden hatten sich derart verplaudert, dass die Zeit am Ende nicht gereicht hatte, die Polen auf dem Hof zu informieren.

Sie stellte den Korb mit den Esswaren auf den Boden, rührte sich dann jedoch nicht von der Stelle.

»Um Gotteswillen, Ruth was ist passiert?« Ihre Stimme klang aufgeregt schrill. Die alte Dame berichtete in kurzen, abgehackten Worten, immer wieder von einem bühnenreif schluchzenden »Oh Gott, oh Gott« unterbrochen. Dass sie ahnte, die Auftraggeberin dieses Überfalles zu kennen, erwähnte sie mit keinem Wort.

Silvia taxierte das Zimmer. Der Schreibtisch stand offen. Sie entdeckte sofort, dass ein Porträt in Öl fehlte, das den ersten Apotheker Baumann zeigte. Ein echter Mackensen. Woher wussten die Polen, wie wertvoll das kleine Bild war? Das war nicht zu fassen. Das werde ich den Jungs nicht durchgehen lassen, beschloss sie. Sinn der Aktion war gewesen, ihrer Schwiegermutter vor Augen zu führen, wie gefährlich es in ihrem Alter war, allein im Haus zu leben. Von echtem Diebstahl war nicht die Rede gewesen. Gut, das Geld zu entwenden, war auch nicht richtig. Aber irgendwie hatte sie den Jungs schließlich einen Anreiz bieten müssen.

»Ach Ruth, siehst du endlich ein, dass es besser ist, wenn du in ein gut geführtes Altersheim gehst? Was hätte alles passieren können? Nicht auszudenken. Bitte, versprich´ mir, dich umgehend in einer Seniorenresidenz anzumelden.«

Aha, daher wehte der Wind. Was für ein Aufwand, ihren Willen zu brechen.

»Ach Kind, du stellst dir das alles so einfach vor«, lamentierte die Ältere. »Ich will hier nicht weg.«

»Ruth, wenn ich nicht zufällig gekommen wäre, hätte dich kein Mensch gefunden.« Silvia mischte Mitleid in ihre Stimme. »Ich darf mir gar nicht vorstellen, was du erleiden musstest, du Arme. Du hättest tot sein können.«

»Bin ich aber nicht.«

»Gottseidank, Ruth. Allein der Gedanke ...«

»Hast ja Recht. Wenn mich erst Montagmittag der junge Mann vom Betreuungsdienst gefunden hätte, wäre ich bis dahin wahrscheinlich wirklich tot.« Sie setzte eine kleine Pause. »Trotzdem.« Ihr Starrsinn behielt die Oberhand. Silvia sollte sich nicht einbilden, dass ihr Manöver fruchtete.

Damit allerdings brachte sie ihre Schwiegertochter auf eine weitere spontane Idee. Ihr blieb also bis Montagmittag Zeit. Niemand wusste, dass sie heute Abend bei ihrer Schwiegermutter zu Gast war. Und dass Ruth das überraschende Geschehen ausplauderte, würde sie zu verhindern wissen. Endlich bewegte sie sich auf den Lehnstuhl zu, auf dem ihre Schwiegermutter - noch immer gut verschnürt - ausharrte. Sie lockerte die dünnen Seile, bis die alte Dame ihre Arme befreien konnte. Ruth schloss erschöpft die Augen.

»Holst du mir bitte ein Glas Wasser?«, krächzte sie.

»Sofort.« Silvia griff nach dem Korb mit den Lebensmitteln und lief in die Küche. Sie schloss die Tür hinter sich und atmete tief durch, während sie ein Glas mit Wasser füllte. Dann ging sie ins Bad und suchte die handbeschrifteten Röhrchen. Schlaftabletten. Merkwürdig. Rosa Schlaftabletten. Nun ja. Es war keine Zeit zu verlieren.

 

*

 

Als Ruth hörte, wie die Tür ins Schloss fiel, öffnete sie die Augen. Vorsichtig griff sie in die Jackentasche und holte die kleine Tüte mit dem weißen Pulver hervor. Ihre Hände zitterten so sehr, dass sie versehentlich den gesamten Inhalt in ihr Rotweinglas schüttete. Sie wollte nach der Flasche greifen, stieß stattdessen an das Telefon, das nun, da ihr Oberkörper nicht mehr verschnürt war, in erreichbarer Entfernung lag. Polternd fiel es zu Boden. Ruth keuchte entsetzt. Schließlich schaffte sie es, ein Glas Bordeaux einzuschenken. Zu mehr reichte ihre Kraft nicht.

Silvia kam mit dem Wasser zurück. Ihr Blick fiel auf das gefüllte Rotweinglas.

»Aber Ruth, willst du dich umbringen? Du kannst jetzt keinen Wein trinken. Nach der Aufregung und bei deinen Herzproblemen!« Schnell zog sie das Glas auf ihre Seite. »Hier, trink einen Schluck Wasser. Ich habe dir zwei Kopfwehtabletten darin aufgelöst.«

Ruth trank gehorsam. Sie wusste, es waren nur Vitamintabletten im Haus, auch wenn die Beschriftungen der Röhrchen anderes vermuten ließen. Silvia griff nach der Rotweinflasche und las die Angaben auf dem Etikett. Donnerwetter. So viel verstand sie von Wein. Das war ein guter Tropfen.

»Alle Achtung, Ruth. Da hast du uns wirklich etwas Besonderes aus deinem Weinkeller geholt.« Sie griff nach dem Glas, schwenkte die rote Flüssigkeit und hielt es gegen das Licht. Schließlich hob sie es ihrer Schwiegermutter entgegen und rief in ironisch-zuckersüßem Ton: »Auf dein Wohl, liebe Schwiegermama.«

Ruth schwieg. Silvia lehnte sich zurück, schloss die Augen und begann:

»Weißt du was?« Und dann redete sie sich ihren ganzen Ärger von der Seele. Weder ihre Schwiegermutter noch ihr Mann kamen gut dabei weg. Ruth ließ sie reden. Sie blieb scheinbar ruhig in ihrer unbequemen Haltung sitzen. Es wäre ihr auch nichts anderes übrig geblieben. Silvia hatte zwar die Stricke am Oberkörper gelockert, ihre Füße waren nach wie vor gefesselt. Keiner von beiden schien das bei dem Durcheinander bemerkt zu haben. Ab und zu trank sie einen Schluck Wasser. Immer wieder fielen ihr - scheinbar von Müdigkeit übermannt - die Augen zu. Ihre Atmung klang ruhig und gleichmäßig. Silvia leerte die Flasche Wein allein. Ganz plötzlich setzten die Krämpfe ein. Eine Minute später war die Jüngere tot.

 

*

 

Ruth Baumann blinzelte vorsichtig. Offenbar war sie tatsächlich kurz eingeschlafen. Sie erfasste die Situation und war schlagartig hellwach. Sie warf einen Blick auf ihre Schwiegertochter, die tot in ihrem Sessel hing. Dann schaute sie zur großen Wanduhr. Es war kurz vor zwölf. Also noch immer Freitag. Sie brauchte lange, bis sie es geschafft hatte, die Stricke an ihren Beinen und Füßen zu entfernen. Erst dann konnte sie ihre steifen Knochen in Bewegung setzen. Mühselig quälte sie sich hoch. Stöhnend schaute sie suchend um sich. Sie hob ihr Handy vom Boden auf und drückte auf die eingespeicherte Nummer der örtlichen Polizei. Bis zu deren Eintreffen hatte sie sich überlegt, wie der Tathergang gewesen war. Was für eine Aufregung! Erst der brutale Überfall der beiden Maskierten, während sie mit ihrer Schwiegertochter zusammensaß. Sie überlegte, wie gut es war, dass einer der Gangster seine Stricke unbeachtet auf den Boden hatte fallen lassen. So konnte sie den Polizisten den Hergang glaubwürdig erzählen. Ihre Schwiegertochter hatte sich nach vielen Mühen selbst befreien können. Gerade, als sie versuchte aufzustehen, fiel sie in ihren Sessel zurück. Offenbar plötzlicher Herzstillstand. Ruth erkannte das sofort. Sie war Apothekerwitwe. Sie verstand einiges von Medizin, hatte selbst in ihrer Jugend drei Semester...

Ihr fröstelte. Es zog von der noch immer geöffneten Terrassentür.