Thomas Straubhaar
Die Stunde der Optimisten
So funktioniert die Wirtschaft der Zukunft
Inhalt
Warum Crashpropheten falschliegen
I.Was wird anders? – Die 3 D als neue Herausforderungen
1.Digitalisierung ist ein Game Changer
2.Daten: wertvollster Rohstoff des Digitalisierungszeitalters
3.Demografie: Alterung, Individualisierung, Vielfalt
4.Warum es anders ist!
5.Die 3 D verlangen eine Neuvermessung der Wirtschaft
II.Was sind die Folgen? – Das Zeitalter der Disruption
6.Disruption im Alltag: Zeit wird wichtiger als Geld
7.Disruption in der Arbeitswelt: Wenn das Atypische normal wird
8.Disruption und neuer Datenkapitalismus
9.Disruption führt zum Ende des Normalfalls
10.Disruption verlangt nach neuer Wirtschaftspolitik
III.Was ist zu tun? – Das Zeitalter der Resilienz
11.Resilienz: Modebegriff oder Leitkonzept?
12.Resiliente Wirtschaftspolitik: Anpassung durch Entdeckung
13.Resiliente Innovationspolitik: Ziele, nicht Wege vorgeben!
14.Resiliente Wettbewerbspolitik: Monopole erst schützen, dann angreifen
15.Resiliente Steuerpolitik: Unternehmer statt Unternehmen besteuern
IV.Resiliente Soziale Marktwirtschaft
16.Resilienter Neoliberalismus: Interessenvertreter für alle, nicht nur für das Kapital
17.Resiliente Arbeitsmarktpolitik: Trampoline statt Sicherheitsgurte
18.Resiliente Bildungspolitik: von der Pyramide zum Zylinder
19.Resiliente Sozialpolitik: Prävention statt Reparatur
20.Wer ist zuständig? Der Nationalstaat schlägt zurück
Die Stunde der Optimisten
Anmerkungen
Literaturverzeichnis
Warum Crashpropheten falschliegen
Im Übergang zu einem neuen Jahrzehnt prägt Zukunftspessimismus die Stimmung. Crashpropheten haben Zulauf.1 Nicht mehr ob, sondern nur noch wann eine Rezession ausbreche oder gar ein Absturz erfolge, interessiert viele Konjunkturexperten.2 Nach einer der längsten Phasen des ungebrochenen ökonomischen Aufschwungs verschlechtern sich für Deutschland die wirtschaftlichen Perspektiven. Jahrelang haben die Zentralbanken die Märkte mit Liquidität geflutet, nun beginnen sie mit einer Entziehungskur. Die amerikanische Notenbank hat die Leitzinsen bereits mehrfach erhöht, weitere Zinsschritte nach oben sind angekündigt. Auch in Europa dürfte die Europäische Zentralbank (EZB) zu Beginn der nächsten Dekade einen Kurswechsel vollziehen und vom lange praktizierten Expansionspfad abrücken. Die mit billigem Geld finanzierte Party der 2010er Jahre ist dann vorbei. Was folgt danach?
Die Erwartungen kippen. Schlechte Nachrichten machen mehr und mehr Optimisten mürbe. Auf breiter Front werden die Wachstumsprognosen für das Bruttoinlandsprodukt (BIP) teilweise massiv nach unten korrigiert. Vielen scheint es nur noch eine Frage der Zeit zu sein, bis erst der Euro, danach die Europäische Union (EU) auseinanderbrechen. Negative kurzfristige Aussichten werden durch langfristige Trends des Klimawandels, der Umweltbelastungen und drohender militärischer Konflikte vor der europäischen Haustür zusätzlich getrübt.
Im Kampf um die geopolitische Vorherrschaft zwischen »America first« und »China 2025« drohen europäische Interessen zerrieben zu werden. Das Machtstreben national(istisch)er Autokraten in Russland, der Türkei und im Nahen Osten erzeugt ein explosives Spannungsfeld. Religionskriege und Terror tun ein Weiteres. Zusammen befeuern die weltpolitischen Brennpunkte eine pessimistische Endzeitstimmung, wie sie vor hundert Jahren schon einmal Europa befiel, als Oswald Spengler den »Untergang des Abendlandes« beschrieb.3
»Was können wir vernünftigerweise erwarten, auf welchem Niveau der Wohlstand in hundert Jahren liegen wird? Was sind die wirtschaftlichen Möglichkeiten für unsere Enkelkinder?«, fragte 1930 in Zeiten großer ökonomischer wie politischer Not und grassierender Zukunftsängste kein Geringerer als John Maynard Keynes, einer der renommiertesten Ökonomen des letzten Jahrhunderts.4 In seinem Ausblick auf die wirtschaftlichen Chancen und Risiken für nachfolgende Generationen sah sich Keynes – angesichts der damaligen Krise nicht wirklich überraschend – einer skeptischen Perspektive seiner Zeitgenossen gegenüber: »Wir leiden gerade jetzt unter einer bösartigen Attacke des ökonomischen Pessimismus. Überall ist zu hören, dass die Epoche des enormen wirtschaftlichen Fortschritts, der das vergangene Jahrhundert kennzeichnete, vorbei sei; dass die rasche Verbesserung des Lebensstandards sich fortan verlangsamen werde; dass in dem vor uns liegenden Jahrzehnt ein Rückgang des Wohlstands wahrscheinlicher sei als eine Verbesserung.«5 Es ist, als hätte Keynes vor fast hundert Jahren nicht allein seine Gegenwart von damals, sondern bereits die Ängste der Gesellschaft von heute im Auge gehabt.
Wie damals in der Zeit nach einem verheerenden Weltkrieg und während einer dramatischen Weltwirtschaftskrise steht die Menschheit im 21. Jahrhundert erneut vor großen Umbrüchen. Erderwärmung und ein Anstieg des Meeresspiegels, eine Übernutzung natürlicher Ressourcen, Hitzewellen und Dürreperioden, Massenarmut und Hungersnöte, Gewalt und Terror, Flüchtlingswellen und ein Aufeinanderprallen der Kulturen werden vorausgesagt.
Dazu kommen demografische Entwicklungen, die in der nördlichen Hemisphäre komplett anders als andernorts verlaufen. Während in westlichen Gesellschaften die geringen Geburtenzahlen zu eher schrumpfenden und demografisch alternden Bevölkerungen führen, werden in Afrika, Asien und Lateinamerika die Bevölkerungsgrößen weiter zunehmen – teilweise beträchtlich.6 Was wird aus der Erde, wenn auf ihr in wenigen Jahrzehnten acht, neun oder gar zehn Milliarden Menschen leben werden?
Zwar wurden in Paris 2015 oder Ende 2018 in Kattowitz weitreichende Klimaziele vereinbart. Die Erderwärmung soll auf 1,5 Grad im Vergleich zum Beginn der Industrialisierung beschränkt werden. Aber in der Praxis ist man meilenweit davon entfernt, umzusetzen, was im Prinzip beschlossen wurde. Ähnliche Gräben zwischen dem, was an sich zu tun wäre, und dem, was tatsächlich getan wird, klaffen bei vielen Themen, die weltweit gemeinsam anzugehen wären. Eher macht sich das Gegenteil breit, globales Vorgehen scheitert an nationalen Interessen. Grassierender Populismus und autoritäre Tendenzen provozieren das freiheitliche, offene und demokratische Gesellschaftsmodell Westeuropas. Protektionismus und Handelskonflikte verunsichern die Wirtschaft. Aus unterschiedlichen Gründen um Asyl Suchende verursachen vielfältige Spannungen – gerade auch innerhalb der Aufnahmegesellschaften in Europa und in Deutschland.
Künstliche Intelligenz und kluge Algorithmen eröffnen neue Perspektiven jenseits menschlicher Vorstellungskraft. Werden Roboter Arbeitskräfte unterstützen, ergänzen oder verdrängen? Ein »Ende der Arbeit« ist für Teile der Gesellschaft eher Fluch denn Segen. Viele fürchten gar, dass selbst lernende digitale Systeme und virtuelle Netzwerke gerade dabei sind, komplett unabhängige und unkontrollierbare künstliche Wesen zu schaffen, die dereinst die Menschheit nicht nur besiegen, sondern zum Untergang verdammen werden.7
In rasendem Tempo stellen neue Technologien lange gültige Weisheiten und alte Glaubenssätze in Frage. Lebenswirklichkeit und Alltag verändern sich in fundamentaler Weise und mit enormer Dynamik. Die sich nur schemenhaft abzeichnenden Veränderungen bleiben diffus. Gerade die extreme Unsicherheit darüber, was sein wird, löst bei vielen Menschen starke Befürchtungen aus. Klar ist lediglich, dass wenig bleibt, wie es ist. Vertrautes und Bekanntes wird verloren gehen. Was jedoch als Neues folgen wird, ist kaum erkennbar und bleibt unbekannt.
Keine Zweifel bestehen jedoch, dass die Menschheit in der Tat vor existenziellen Herausforderungen steht. Dabei verfügt sie über Mittel, alles mit Bravour und Erfolg zu bewältigen oder aber alles zu zerstören und die Apokalypse herbeizuführen. Und es ist nicht auszuschließen, dass morgen schon vieles schlechter wird – noch bevor das vorliegende Buch gedruckt, ausgeliefert und der Öffentlichkeit vorgestellt worden ist, kann manches schiefgehen. Vieles wäre dann Makulatur, aber – und das ist entscheidend – nicht alles. Denn selbst wenn das Bisherige zusammenbricht, ist das nicht der Weltuntergang. Es würde weitergehen, vielleicht völlig neu und komplett anders, möglicherweise zunächst schlechter. Aber selbst das wäre nicht das Ende, sondern böte Chancen für einen Neuanfang. So wie das nach früheren Krisen und Katastrophen, politischen Umstürzen, wirtschaftlichen Kollapsen und gesellschaftlichen Umbrüchen nicht anders war.
Die Stunde der Optimisten schlägt jetzt
In Zeiten größter Not, nach Volksaufständen, Revolutionen und Kriegen oder Weltwirtschaftskrisen hat immer schon die Stunde null geschlagen. Deshalb beginnt jetzt die Stunde der Optimisten. Gerade die Erinnerung daran, dass der Zukunftspessimismus nichts Neues ist, hilft weiter.
Seit der Vertreibung aus dem Paradies plagte die Menschen immer schon die Sorge, dass über ihnen der Himmel einstürzt, die Sintflut alles mitreißt und die Apokalypse all das zerstört, was über Jahrtausende aufgebaut worden war. Aber die Welt ist nicht untergegangen. Weder Naturkatastrophen noch Hungersnöte und Versorgungskrisen, weder Seuchen und Epidemien wie die Pest noch Weltkriege, weder das Waldsterben noch das Ozonloch haben die Menschheit auf ihrem langen Weg zu stetig verbesserten Lebensbedingungen wirklich aufhalten können.8
Allerdings sind einzelne Kulturen und Gesellschaften im Laufe der Weltgeschichte zusammengebrochen und verschwunden, wie es der US-amerikanische Physiologe und Evolutionsbiologe Jared Diamond in seinem Buch »Kollaps« eindrücklich beschreibt.9 Und der interdisziplinär forschende Wirtschaftswissenschaftler Mancur Olson hat in seinem »Aufstieg und Niedergang von Nationen« gezeigt, wie mikroökonomische Profitmaximierung Einzelner zu makroökonomischem Scheitern ganzer Volkswirtschaften führen kann – aber eben nur für einzelne Gesellschaften, nicht jedoch für die Welt insgesamt.10
Offenbar gab es für die Menschheit insgesamt bisher immer wieder Überlebensstrategien, die es Bevölkerungen ermöglichten, Existenzkrisen mit unglaublichem Erfolg zu bewältigen. Alles in allem jedoch ist die Geschichte der Menschheit eine Erfolgsgeschichte – zumindest wenn man sich bewusst macht, dass bei allem Auf und Ab im Laufe der Jahrtausende immer mehr Menschen immer länger, gesünder und materiell besser ausgestattet leben als ihre Vorfahren.11 Wieso sollte es ausgerechnet im 21. Jahrhundert der Menschheit erstmals in der Geschichte nicht gelingen, den Kindeskindern eine bessere Welt zu hinterlassen? So viel Pessimismus und die Hoffnungslosigkeit, dass die besten Jahre vorbei sind und nicht noch kommen werden, haben kommende Generationen nicht verdient.
Das Gespenst des Endes des Wohlstands ist immer wieder aus dem Sarg der Geschichte geholt worden. Bisher jedoch immer zu Unrecht. Wenn Zeiten schlechter wurden, wie in der Zwischenkriegszeit des letzten Jahrhunderts oder nach dem Wirtschaftswunder der Nachkriegszeit, sorgten Basisinnovationen wie Containerschiffe oder das Internet für neuen Schwung. Die Digitalisierung ist die Basisinnovation der Gegenwart. Sie wird in Zukunft für eine Dynamik sorgen, deren Dimensionen mit den herkömmlichen Messverfahren heute nicht einmal ansatzweise erfasst werden können. Damit einher gehen – bei allen Risiken – gute Chancen auf ein besseres Leben für kommende Generationen.
Für die positive Erwartung der Optimisten und gegen die negative der Pessimisten spricht schlicht die Empirie. Bis heute liefert die lange Evolutionsgeschichte einen klaren Beleg zugunsten der optimistischen Sicht.12 Es geht der Menschheit heute materiell besser als jeder Generation früherer Zeiten, und zwar überall, nicht etwa nur in Europa. Nahezu weltweit ist die Kindersterblichkeit niedriger, ist die Lebenserwartung höher und haben mehr Menschen mehr Wohlstand, als es für ihre Vorfahren der Fall war: »Schritt für Schritt, Jahr für Jahr wird die Welt besser. Nicht nach jedem einzelnen Maßstab in jedem einzelnen Jahr, aber in der Regel trifft es zu. Auch wenn wir vor riesigen Herausforderungen stehen: Wir haben enorme Fortschritte gemacht. Das ist die faktengestützte Weltsicht« – so ist es in einem rundum überzeugend dokumentierten Bestseller des zu Ende gehenden Jahrzehnts zu lesen, in »Factfulness«, geschrieben vom schwedischen Arzt, Statistiker und Professor für Gesundheitswissenschaften Hans Rosling, gemeinsam mit seiner Schwiegertochter und seinem Sohn.13
Dass die besten Jahre nicht vorbei sind, sondern erst noch kommen werden, soll die zentrale Botschaft dieses Buches sein. Ziel der folgenden Darlegungen ist es, eine optimistische Alternative zu pessimistischen Untergangsszenarien anzubieten. Das geschieht durchaus im Bewusstsein, dass schwergewichtige Risiken und eine Vielzahl von Gefahren die Menschheit bedrohen und eine existenzielle Krise verursachen können – aber eben nicht zwangsläufig müssen.
Völlig unstrittig ist, dass Unsicherheit und Unschärfe der zu erwartenden Entwicklungen bestenfalls schemenhaft erkennen lassen, was kommen könnte und sein wird. Deshalb kann es kein vernünftiges Ziel sein, alles und jedes beschreiben, erklären und bewerten zu wollen, was sich in künftigen Zeiten verändern und ergeben wird. Vielmehr ist es die Absicht des Verfassers, aus einer europäischen Perspektive aufzuzeigen, wie Ökonomie und Ökonomik in Zukunft funktionieren und wie westliche Gesellschaften auf die kommenden Herausforderungen reagieren sollten, um den Wohlstand ihrer Kindeskinder zu mehren. Dabei steht Deutschland im Zentrum. Die Interessen der Nachbarn werden vergleichsweise vernachlässigt. Das gilt ganz besonders für die Hoffnungen und Erwartungen, Nöte und Sorgen von Gesellschaften außerhalb Europas.
Das Buch will für Deutschlands Politik, Gesellschaft und Wirtschaft angemessene Reaktionen auf die großen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts aufdecken. Weil viele Veränderungen alles andere als scharf erkennbar sind, plädiert es für schrittweise graduelle Anpassungsverfahren und weniger für konkrete Handlungsanweisungen. Es soll ein Kompass geliefert und nicht die Marschrichtung vorgegeben werden. Es geht um allgemeine Orientierung und nicht um das Aufzeigen großer Würfe und konkreter Wege oder gar eine Umsetzung alles umfassender Masterpläne mit detaillierten Maßnahmenkatalogen.
Auch wenn momentan der Wohlstand in mancher Hinsicht gefährdet scheint, sodass Optimismus schwerfällt, wird – gerade deswegen – im Folgenden ganz bewusst Partei ergriffen für die klar normative Position, dass die deutsche Gesellschaft es in ihren eigenen Händen hat, kommende Anforderungen bewältigen zu können. Wegweisend ist dabei die Überzeugung, dass der erste Schritt zu einer erfolgreichen Problemlösung darin besteht, zu begreifen, was sich – bei aller durchaus immensen Unsicherheit, die natürlich auch für eine optimistische Vorausschau zu beachten ist – an künftigen Herausforderungen dennoch bereits heute erkennen lässt. Verstehen, wie sich die Wirtschaft in Zukunft ändert, beraubt viele Ängste ihrer Grundlagen.
In einem zweiten Schritt können danach Chancen und Risiken abgeleitet werden, die sich aus den prognostizierten Veränderungen ergeben. Ein besseres Verständnis der Ökonomie ermöglicht und erzwingt eine neue Ökonomik. Damit ist die Wissenschaft gemeint, die analysiert, wie die Wirtschaft der Zukunft funktioniert. Daraus lassen sich in einem dritten Schritt erst eher allgemeine Erfolg versprechende Überlebensstrategien erarbeiten, die dann in einem vierten Schritt für Deutschland weiter zu analysieren sind.
Quintessenz der folgenden Gedankengänge ist, dass die Erfolgschancen dafür, dass es in Deutschland den Kindeskindern besser und nicht schlechter als ihren Eltern gehen wird, nicht gottgegeben sind. Sie sind das Ergebnis einer von Menschen gemachten Politik. Und mehr Wohlstand für alle muss nicht Utopie bleiben. Ein besseres Leben für kommende Generationen kann – ja, muss! – realistisches und realisierbares Ziel für Deutschlands Gesellschaft, Wirtschaft und Politik sein. Bedingung für eine gut gelingende Zukunft ist jedoch, dass die Stunde der Optimisten schlägt. Und zwar jetzt.
I.Was wird anders?
Die 3 D als neue Herausforderungen
Digitalisierung, Daten und Demografie sind die fundamentalen Herausforderungen kommender Dekaden. Die 3 D stellen Bisheriges und Altbekanntes ganz grundsätzlich in Frage – und zwar nicht etwa nur in der Wirtschaft, sondern ebenfalls in Gesellschaft und Politik.
Digitalisierung wird das Zusammenleben im Kleinen wie im Großen komplett verändern. Der entscheidende Unterschied zu früheren Basisinnovationen ist dabei, dass Digitalisierung weit mehr als eine technologische Innovation ist, die in der Wirtschaft und dort insbesondere in der Arbeitswelt alles umkrempeln und den Strukturwandel beschleunigen wird. Digitalisierung ist eine kulturelle Revolution. Sie wird ganz grundsätzlich die Art und Weise prägen, wie Menschen (zusammen)leben, wohnen, arbeiten, sozial und politisch aktiv werden (oder auch nicht). Sie wird alte Werturteile, Hierarchien und Verhaltensmuster des Miteinanders hinterfragen, verdrängen und durch neue Spielregeln und Vorgehensweisen ersetzen. Sie wird generell Breite und Tiefe des ökonomischen, gesellschaftlichen und kulturellen Wandels noch einmal zusätzlich erweitern.
Daten sind die Antriebskraft des Digitalisierungszeitalters. Sie liefern den Rohstoff, den Algorithmen zu höherwertiger Information verdichten und veredeln. Künstliche Intelligenz und autonome Netzwerke von Maschinen und Robotern tun dann ein Weiteres, um Mehrwerte zu schaffen. Der Datentransfer wird den Warenhandel ergänzen und es ermöglichen, Wertschöpfungsketten neu und anders zu gliedern. So können mit Daten gefütterte dreidimensionale Drucker an Ort und Stelle der Kunden maßgeschneiderte und damit passgenaue Individuallösungen fertigen. Dezentralisierung der Herstellung von Gütern und Dienstleistungen und eine Rückkehr des Lokalen werden (wieder) attraktiv(er).
Mit Big Data wird aber auch Big Business einhergehen.14 Wem gehören welche Daten, wer kontrolliert, was damit gemacht wird, und wie lassen sich globale Großkonzerne der Datenökonomie – wie Alphabet, Amazon, Facebook oder Microsoft – in die Pflicht nehmen, nationale Regulierungen und Vorschriften einzuhalten und ihre Gewinne dort zu versteuern, wo sie entstehen? Ebenso realistisch wird, dass ein staatlicher »Big Brother« über alles Bescheid weiß, was Kund(inne)en und Bürger(innen) so treiben. Eine permanente Überwachung des Privaten rückt näher. Was in China heute schon an staatlicher Kontrolle gang und gäbe ist, kann auch in Deutschland möglich werden.
Demografie wird in zweifacher Weise eine zentrale Rolle bei sozioökonomischen Veränderungen spielen. Erstens verstärken neue Technologien eine in Deutschland ohnehin bereits zunehmende Individualisierung der Lebensformen. Soziale Medien ermöglichen neue Netzwerke jenseits bisheriger Kontakte. Das hat immense Rückwirkungen auf Zusammengehörigkeitsgefühle, Solidargemeinschaften und das für eine Gesellschaft so wichtige Sozialkapital.15 Wer kümmert sich noch vor Ort um das große Ganze, wenn viele in aller Welt unterwegs sind?
Zweitens altert die deutsche Bevölkerung demografisch. Die Anzahl der Senior(inn)en wird hierzulande weiter stärker anwachsen als die Anzahl der Jüngeren. Entsprechend gewichtiger werden Ältere im politischen Machtgefüge. Sie werden das Sagen haben – und die Jungen werden mehr und mehr zu befolgen haben, was Ältere beschließen. Das wird weitreichende Rückwirkungen auf die gesellschaftliche und politische Akzeptanz dessen haben, was technologisch durch künstliche Intelligenz und Big Data alles möglich werden wird.
Die 3 D werden Alltag und Lebenswirklichkeit komplett verändern. Digitalisierung und Daten sind nur die Technik, die den Alltag der demografisch älter werdenden Bevölkerung auf den Kopf stellen werden. Wirklich entscheidend für Wirtschaft, Gesellschaft und Politik ist jedoch, wie neue Technologien dazu führen, dass Menschen Dinge anders als zuvor erkennen, bewerten und gestalten und dass sie ihr Verhalten überdenken, anpassen und neu ausrichten. Deshalb sind Digitalisierung und Daten eine Voraussetzung, Demografie aber ebenso eine Notwendigkeit, dass aus einer technischen eine kulturelle Umwälzung wird.
Wie die neue Welt aussehen wird, bleibt in weiten Teilen momentan noch unbekannt. Anderes lässt sich heutzutage erst unscharf erkennen. Sicher aber ist, dass ein business as usual und ein »Weiter so wie bisher« nicht genügen werden, um allen zu erwartenden neuen Möglichkeiten, Risiken und Chancen neuer Technologien, demografisch alternder Gesellschaften und den sozioökonomischen Veränderungen auch nur annähernd gerecht zu werden. Neue Antworten sind unverzichtbar.
1.Digitalisierung ist ein Game Changer
Science-Fiction wird Realität. So lässt sich am besten veranschaulichen, was die Digitalisierung für die Welt im 21. Jahrhundert bedeuten wird. Legende sind bereits Filme wie »Blade Runner«, »Matrix«, »2001: Odyssee im Weltraum«, »A.I. – Künstliche Intelligenz« und »I, Robot«, in denen Androiden, Replikanten, Kunstwesen und Roboter das Kommando über den Menschen zu übernehmen versuchen. In »Her« verliebt sich ein beruflicher Briefeschreiber in die weibliche Stimme seines mit künstlicher Intelligenz ausgestatteten Betriebssystems, in »Passengers« wandern Passagiere an Bord eines gigantischen Raumschiffs aus, um außerirdische Kolonien zu erschließen und der Menschheit auch außerhalb der Erde ein Überleben zu ermöglichen – ein Szenario, das auch der Astrophysiker Stephen W. Hawking als möglich, nötig, wenn nicht sogar unverzichtbar einschätzte.16 Das Kino nimmt prägnant und eingängig vorweg, was die Gesellschaft in der Wirklichkeit der Zukunft erwarten könnte, wohl sogar erwarten wird.
Die digitale Revolution wird den Lebensalltag des 21. Jahrhunderts so prägen wie gegen Ende des 18. Jahrhunderts die industrielle Revolution den Übergang in die Neuzeit. Sie ist nach Dampfmaschine, Stromgenerator und Druckerpresse die vierte Allzwecktechnologie mit der Fähigkeit, flächendeckend die Produktivität gleichermaßen in allen Sektoren und Branchen zu steigern.17 Erst mit Kohle befeuerte Dampfmaschinen und danach mit Strom betriebene Fabrikanlagen waren die Antriebskräfte der Industrialisierung. Die durch Druckmaschinen möglich werdende Vervielfältigung von Information und Wissen sorgte für eine dynamische Verbreitung von Modernisierung und Fortschritt. Daten und Algorithmen sind der Motor des Digitalisierungszeitalters.
Unzählige Analysen, Studien und Prognosen liegen vor, die aus nahezu jeder Perspektive detailliert beschreiben und vermeintlich präzise voraussagen, wie neue Technologien den Alltag, das Zusammenleben, Wirtschaft, Gesellschaft und Politik komplett verändern werden.18 Meist ist es gar nicht mehr die Frage, »ob«, sondern nur noch, »wann« alles, was vorstellbar ist – und noch viel mehr, auch was momentan noch nicht einmal ansatzweise erkennbar ist –, möglich werden wird. Nahezu nichts dürfte bleiben, wie es heute ist.
Roboter werden dem Menschen die Arbeit erleichtern, aber auch abnehmen. Künstliche Intelligenz wird das menschliche Gehirn ergänzen, vielleicht verbessern, teilweise ersetzen. Kluge Algorithmen rechnen in jeder Situation und Lebenslage alle denk- und verfügbaren Optionen verschiedener Alternativen durch, prüfen und bewerten von alleine die Folgen. Autonome Mobile befördern anstelle der Automobile Personen sowie Güter.
Integrale Datennetzwerke werden dem Menschen ein zielführendes Verhalten nicht nur vorschlagen, sondern immer öfter auch vorgeben und gleich ohne Zustimmung anderer ausführen. Denn mehr und mehr werden digitale Assistenzsysteme gleich selber entscheiden und umsetzen, was sie als »richtig« berechnet haben – möglicherweise vermehrt sogar gegen den eigenen Willen der Betroffenen. Autonome Systeme werden in Produktion, Be- und Vertrieb oder Wartung, aber auch bei der Mobilität und im Verkehr oder bei der Pflege komplexe Arbeitsvorgänge bis hin zu Diagnose und Therapie übernehmen. Implantierte Sensoren, vernetzt mit alles umfassenden Datenbanken, werden in der Lage sein, jederzeit und überall das Verhalten und den Gesundheitszustand zu kontrollieren und gegebenenfalls auch zu korrigieren. Sachgerechte Maßnahmen oder passgenaue medizinische Reaktionen können ohne zeitlichen Verzug eingeleitet und auch ohne menschliches Tun vollzogen werden. Das Krankenhaus bereitet alles für eine Notoperation vor, bevor dem Patienten auch nur ansatzweise bewusst ist, dass er akut lebensbedrohlich erkrankt ist.
Digitalisierung ist mehr kulturelle als technologische Revolution
Bei allem Neuen ist eines entscheidend: Digitalisierung ist zwar durchaus eine Angelegenheit von Technik, Glasfaserkabeln, autonomen Mobilen, selbst fliegenden Drohnen und eigenständigen Robotern. Weit mehr aber als eine technologische ist sie eine kulturelle Revolution. Die neue Lebenswirklichkeit ist nicht nur die alte Welt mit Internetanschluss.19
Sie ist komplexer, vielfältiger und damit vollständig anders als die bisherige. Deshalb sind Forderungen nach einer modernen digitalen Infrastruktur oder einer elektronischen Onlineverwaltung zwar völlig richtig, aber bei Weitem nicht ausreichend. Mehr und schnellere Breitbandversorgung oder flächendeckende Hochgeschwindigkeitsnetze für die Datenwirtschaft sind nur eine notwendige, jedoch keine hinreichende Voraussetzung, um als Gesellschaft im Digitalisierungszeitalter erfolgreich mithalten zu können. Mehr und anderes jenseits von Technik ist ebenso unverzichtbar.
Weit über das hinaus, was technologisch machbar sein wird, verändert Digitalisierung in fundamentaler Weise die bisher gültigen sozioökonomischen Spielregeln. Sie wird bestimmen, wie Menschen miteinander umgehen und kommunizieren, Neuigkeiten und Wissen austauschen, soziale Kontakte pflegen, Nachrichten sammeln, bewerten und austauschen, Ein- und Verkäufe tätigen.
Vor allem aber wird Digitalisierung die Geschwindigkeit der Kommunikations- und Informationsflüsse erhöhen, die Möglichkeiten zu Flexibilität und Mobilität erweitern, damit traditionelle Bindungen und Beziehungsnetze schwächen und die Individualisierung vorantreiben. Andererseits wird sie Abhängigkeiten von Daten und Datennetzwerken schaffen, die Pflege bestehender Kontakte, die Schaffung neuer Kontakte zu neuen Bezugspersonen und sozialen Netzwerken erleichtern und völlig neue Formen von Interaktion und Zusammenleben ermöglichen.
Digitalisierung ist somit für Wirtschaft, Gesellschaft und Politik ein Game Changer in nahezu allen Lebensbereichen. Sie setzt alte Spielregeln im Kleinen wie gültige Gesetzmäßigkeiten im Großen außer Kraft. Sie ermöglicht und erlaubt in vielfacher Weise völlig neue mikro- oder makroökonomische Reaktionen und Verhaltensweisen. Sie verändert fundamental, wie Menschen wohnen, arbeiten und ihre Zeit verbringen werden, wie und wo Firmen was produzieren und wie das Zusammenleben innerhalb und zwischen Gesellschaften organisiert sein wird.
Smartphone als Beispiel eines Game Changers
Das Beispiel des Smartphones und seiner sozioökonomischen Folgeeffekte veranschaulicht, wie revolutionär und flächendeckend die Digitalisierung Alltag, Beruf und Freizeit verändert. Niemand hätte sich vor einer Generation auch nur annähernd vorstellen können, wie das Smartphone mit seinen Apps mit atemraubender Geschwindigkeit nahezu alles in Wirtschaft und Gesellschaft durchdringt und Kommunikation und Verhalten komplett auf neue Wege führt. Was am 9. Januar 2007 mit der Vorstellung des ersten iPhones auf der Macworld-Konferenz in San Francisco begann, hat in weniger als einer Dekade weltweit die Art und Weise der Datenübermittlung und -verarbeitung auf den Kopf gestellt. Heute halten mehr als vier Milliarden Menschen mehr Rechenleistung in ihrer Hand, als die NASA vor wenigen Jahren benötigte, um Menschen auf dem Mond landen zu lassen.20
Das Smartphone mit seinen unzähligen Apps ist allgegenwärtig geworden. Für viele bestimmt es Lebensgefühl und Tagesrhythmus. Es ist das Erste, was sie morgens, und das Letzte, was sie abends interessiert. Immer wieder, oft schon manisch, wird das Smartphone zur Hand genommen, um auch wirklich nichts zu verpassen, was irgendwo passiert und irgendwie von Belang sein könnte. Nachrichten sind ständig und überall verfügbar. Eine Erreichbarkeit ist jederzeit möglich. Raum und Zeit schrumpfen, Privates und Berufliches verschmelzen. Die ganze Welt reduziert sich auf einen berührungsaktiven Bildschirm, der in jeder Hosentasche Platz findet.
Das iPhone war der Pionier. Die Smartphones von Samsung, LG, Motorola, Xiaomi, Huawei und vielen anderen Herstellern waren die Nachahmer. Zusammen sorgten sie seit dem Januar 2007 dafür, dass die Digitalisierung in einer Tiefe und Breite und mit einer Intensität das alltägliche Leben zu bestimmen begann, wie es vorher niemand auch nur annähernd erwartet hätte. Ursprünglich war das iPhone als mobiler Zugang zum Internet gedacht. Es sollte einen voll leistungsfähigen Internetanschluss im Handtaschenformat für unterwegs ermöglichen. Entsprechend ging es zunächst vor allem darum, einseitig Inhalte wie Dokumente, Musik, Bilder, Videos oder Landkarten herunterzuladen. Dann wurde eher unerwartet als geplant viel mehr daraus.
iPhone-Käufer emanzipierten sich von passiven Informationsempfängern zu interaktiven Nutzern. Sie tauschten wechselseitig mit- und untereinander Informationen aus. Waren es erst Texte, wurden über die mit immer leistungsfähigeren Kameras ausgestatteten Smartphones zunehmend Bilder und Videos verschickt. Damit veränderte sich die Kommunikationskultur fundamental.
Der Onlinechat wurde wichtiger als persönliche Gespräche. Anstatt miteinander zu reden, werden Nachrichten über das Smartphone ausgetauscht. Snapchat ersetzt den Anruf. Mit Bildern und Videos illustrierte WhatsApp-Botschaften verdrängen die dröge SMS. Soziale Netzwerke treten an die Stelle von Mitgliedschaften in Sportvereinen, kulturellen oder kommunalen Vereinigungen. Sie bieten rasch und umfassend Rat und Hilfe, Verständnis und Akzeptanz in allen Lebenslagen und für alle Alltagsprobleme.
Mit den Smartphones wurde eine durch Verkürzungen und Emoji-Piktogramme geprägte informelle Sprache gesellschaftsfähig. Nicht nur Private nutzen kurze Tweets, um auf sich und ihre Meinung aufmerksam zu machen. Mittlerweile sind elektronische Häppchen zur schnellsten und wichtigsten Nachrichtenquelle auch in Politik und Gesellschaft geworden. Liebte Barack Obama noch sein Blackberry, regiert sein Nachfolger Donald Trump die USA per Twitter. Mit weniger als 140 Zeichen langen Botschaften hält er die Welt in Aufregung, sorgt für Unmut und Ängste bei den einen, Zustimmung und Unterstützung bei den anderen.
Videos schauen statt Bücher lesen
Smartphones, Apps und soziale Medien prägen auch eine neue Art und Weise des Denkens, Entscheidens und Handelns. Vor allem bei Jugendlichen verändert das Smartphone die Informationsaufnahme. Buchstaben werden durch (bewegte) Bilder erst ergänzt, dann zunehmend abgelöst. Anstatt lange Texte zu lesen, schauen sich Schüler(innen) und Studierende lieber kurze erklärende Videos oder Dokumentarfilme an. Werden auch unsere Kindeskinder noch lesen oder mehr und mehr nur noch bewegte Bilder als Quelle der Inspiration und des neuen Wissens nutzen? Werden also Lehrfilme und Lernvideos das Lehrbuch ersetzen oder ergänzen?
Einfach zugängliche Internetangebote wie Wikipedia und Google werden zu allgemein anerkannten Informationsquellen. Kostenlose Onlineangebote ersetzen gedruckte Nachrichtenmagazine, Zeitungen und Zeitschriften. Auch wenn Hirnforscher und Pädagogen mit Verve und guten Gründen gegen die Eroberung von Klassenzimmern und Hörsälen durch digitale Medien protestieren und auf schwerwiegende Mängel wie Lern- und Leseschwächen hinweisen, dürfte der Widerstand nicht wirklich erfolgreich sein.
Mit rasender Geschwindigkeit hat nämlich in den letzten Jahren so oder so die Digitalisierung die Welt des Studiums bereits komplett verändert. Neue Informations- und Kommunikationstechnologien bieten heute unvorstellbare Möglichkeiten, orts- und zeitunabhängig in Sekundenschnelle universitäre Lehrprogramme, Studiengänge und akademische Bildungsangebote zu nutzen. Perfekt durchstrukturierte Onlinevorlesungen, elektronisch verfügbare Lehrvideos in Topqualität, Foliensätze, Übungsaufgaben und Prüffragen mit Musterantworten sind mühelos und kostengünstig oft sogar gratis abrufbar. Cross- und multimediale Zusatzangebote aus Mediatheken, Hintergrundmaterialien, Zugriff auf Datenbanken, Quellen und weiterführende Literatur gehören genauso dazu wie bestens passende Fallstudien aus der Praxis, Anwendungsbeispiele, Chatrooms, Netzwerke, interaktive Foren, Seminare und Tutorien. Das »Studium virtuale« ermöglicht täglich, werk- und feiertags, rund um die Uhr dann, wenn es passt, Zugang zum Wissen der klügsten Gelehrten und deren feinsten und besten Ideen.
Wer braucht bei so exzellenten Onlinestudienbedingungen noch Lehrangebote, die zu fixen Zeiten an festen Orten vorgetragen oder im schlechtesten Fall vorgelesen werden von Professor(inn)en, deren Interesse an der Lehre nachrangig ist oder deren pädagogische Fähigkeiten niemals wirklich gefördert wurden? Wieso sollen Studierende noch in (überfüllten) Hörsälen und »Universitäten wie Müllhalden«21 sitzen, wenn sie von zu Hause aus oder von wo und wann auch immer Vorlesungen der weltweit qualifiziertesten, hoch motivierten und didaktisch bestens geschulten Professor(inn)en besuchen können, dargeboten mit den modernsten Hilfsmitteln? Wie von einer Flutwelle angetrieben wird in den kommenden Jahren die Lehre aus dem Hörsaal herausgeschwemmt und hinein ins Internet gespült werden.
Das Smartphone ermöglicht Mitsprache für alle
Neben den Rückwirkungen auf Alltag, Schule und Ausbildung hat die Digitalisierung auch fundamentale Auswirkungen politischer und gesellschaftlicher Art. Smartphones geben Menschen eine Stimme, die sie vorher nicht hatten, und zerstören somit Informationsmonopole. Sie sorgen für eine breite Informationsteilhabe – vor allem natürlich in jenen Weltregionen, die in früheren Zeiten von Nachrichten abgeschnitten waren. Sei es, weil Staaten nicht über die notwendige Technologie verfügten, oder aber, weil Feudalherrscher nicht wollten, dass die Bevölkerung Bescheid weiß.
Wer etwas weiß, muss neuer Medien wegen damit rechnen, dass andere bald auch Bescheid wissen. Auch deshalb fühlen viele einen ständigen Drang, rasch das Smartphone zur Suche nach Neuigkeiten zu nutzen, um ja nicht zu spät aktuelle Informationen zu erhalten. Wissensvorsprünge haben eine immer kürzere Haltbarkeit. Wer über neueste Entwicklungen nicht rechtzeitig im Bilde ist, kann sich ebenso rasch blamieren. Das gilt nicht nur für Geschäftliches, sondern genauso für Privates.
Um Informationsmonopole zu knacken, bedarf es nicht einmal leaks oder illegaler Hacker. Oft liefern Suchmaschinen rasch die erwünschten Informationen, was (scheinbar) Tatsache ist, wer mit wem was vereinbart hat oder wo was zu welchen Preisen zu haben ist. Entsprechend können die gewonnenen Erkenntnisse genutzt werden, um klügere Entscheidungen zu treffen, günstiger einzukaufen oder rascher ans Ziel zu kommen. Das spart Kosten.
Genauso wenig können Informationsvorsprünge in Zeiten des Smartphones noch als Herrschaftswissen missbraucht werden. Wer etwas behauptet, wird postwendend mit den tatsächlichen Gegebenheiten konfrontiert. Deshalb ist auch die ganze Aufregung über das postfaktische Zeitalter aufgebläht. Es gab immer Aufschneider, Lügner und Fantasten. Smartphones machen es heutzutage nur in Sekundenschnelle für alle und alles möglich, falsche Fakten rasch aufzudecken und Ignoranten in flagranti zu entlarven.
Smartphone ist Anfang, nicht Ende des gläsernen Menschen
Die Geschichte der Smartphones liefert besten Anschauungsunterricht dafür, wie rasch und gewichtig neue Angebote neue Nachfrage schaffen können. Praktisch aus dem Nichts heraus entstand nicht nur eine riesige Nachfrage nach neuen Mobilfunkgeräten – die mittlerweile zu rund anderthalb Milliarden verkauften iPhones und mehr als zweieinhalb Milliarden Nutzern von Smartphones führte.22 Ebenso gigantisch war die Welle an Anwendungssoftware, die Hand in Hand mit den neuen Möglichkeiten der Smartphones alte Geschäftsmodelle und traditionelle Verhaltensweisen überrollte.
Millionen von Apps haben in den letzten Jahren alles verändert, was Menschen sich vorstellen können. Nichts, was nicht durch spezielle Onlineprogramme organisiert, verkauft, betrieben, reguliert, abgerechnet und dokumentiert werden könnte. Im Ergebnis werden Abläufe, Transport- und Mobilitätskonzepte optimiert, Dienstleistungen kundenfreundlicher, Ressourcen geschont, Fahrzeuge und Wohnungen gemeinsam genutzt. Dank effizienterer Information und Kommunikation kann mit weniger Aufwand ein größerer Ertrag erwirtschaftet werden. Das ist gelebte Nachhaltigkeit. Sie sorgt gleichzeitig für Milliardenumsätze und Millionen neuer Arbeitsplätze.
Wer glaubt, dass die Smartphone-Euphorie den Höhepunkt überschritten habe, dürfte bald eines Besseren belehrt werden. Der Siegeszug der Smartphones ist nicht am Ende, er ist gerade am Ende seines Anfangs angekommen. Was mit dem iPhone begann, wird mit dem gläsernen Menschen enden.
Noch bremsen Datenschutz und fehlende flächendeckende Verbindungsnetzwerke den nächsten Digitalisierungsschub. Aber es ist nur eine Frage der Zeit, bis Algorithmen und künstliche Intelligenz von der Wiege bis zur Bahre nahezu sämtliche persönlichen und beruflichen Daten zu individuellen Verhaltens- und Bewegungsprofilen verdichten werden.
Das Beispiel der Smartphones, der Apps und der damit verbundenen sozioökonomischen Anpassungen an neue Möglichkeiten und Verhaltensweisen veranschaulicht, dass Digitalisierung tatsächlich die Lebenswirklichkeit der Massen komplett verändert. Fast zwangsläufig hat die digitale Revolution eine gesellschaftliche und ebenso eine kulturelle Revolution zur Folge. Digitalisierung ist eben weit mehr als business as usual und dass man im Beruflichen Hierarchien abbaut, sich duzt und nicht mehr siezt.
Digitalisierung erzwingt ein neues Denken: »Digitalisierung kann man nicht verordnen. Da gibt es keine Roadmap, die mit der Management-Software nach Schema F abgearbeitet werden kann. Mit Kick-off, Kreativ-Workshop und Abschlusszertifikat an der Wand. Digitalisierung ist eine Geisteshaltung«, so Frank Schmiechen, Chefredakteur des Onlinemagazins Gründerszene.23 Notwendig sind eben auch die gesellschaftliche Akzeptanz, der politische Wille und die ökonomische Überzeugung, Altbewährtes und Bisheriges zu hinterfragen, zu überprüfen und gegebenenfalls anzupassen.
2.Daten: wertvollster Rohstoff des Digitalisierungszeitalters
»Daten sind die wertvollste Ressource«, daran lässt die britische Wochenzeitschrift The Economist nicht die geringsten Zweifel.24 Öl und Gas waren die Energie des Industriezeitalters; Daten sind der Rohstoff der Digitalisierung. Sie sind der Treiber für beides: direktes Wirtschaftswachstum und indirekte (Verhaltens-)Veränderungen, die sich in Wirtschaft, Gesellschaft und Politik gegenseitig verstärken. Neue Geschäftsmodelle entstehen, wie Amazon, Airbnb oder Uber, die als digitale Plattformen alte Platzhirsche vom Markt verdrängen – beispielsweise Kaufhausketten und Einzelhändler.
Daten ersetzen Güter. So erübrigt Wikipedia als kostenloses Onlineangebot das gedruckte Lexikon. Das ist mehr als nur ein ökonomischer Umbruch; es ist eine gesellschaftliche Umwälzung. Social Media verändert, wie Menschen Informationen erhalten, filtern, bewerten, teilen und wie sie darauf reagieren. Hinter dem gedruckten Lexikon, der klassischen Zeitung oder der Wochenzeitschrift standen Hundertschaften von Journalist(inn)en, Lektor(inn)en, Redaktionen, Herausgeber(innen)gremien und Verlagen. Am Ende konnte in jedem Impressum nachgeschlagen werden, wer wofür verantwortlich war.
Twitter-Nachrichten, Hashtags, Bilder und Videos von Influencern auf einschlägigen Kanälen stehen einfach da, viele bleiben ungeprüft. Meist geben die Äußerungen und News Einzelmeinungen und persönliche Ansichten wieder. Sie werden gar nicht mit der Absicht in den sozialen Medien verbreitet, ab- und ausgewogen nach Objektivität zu suchen. Weit mehr geht es um Aufmerksamkeit und Einfluss. Der schnelle Klick, die Likes und Links und nicht die nachhaltige, unabhängige Information sind das Ziel.
Daten verlangen nach neuer Ökonomik
Die Datenökonomie unterscheidet sich fundamental von der Ökonomik der Güterwirtschaft. Denn obwohl Daten so wertvoll sind, folgen sie nicht den traditionellen Angebots-Nachfrage-Mechanismen, die für Lebensmittel, Textilien, Möbel oder Autos gang und gäbe sind. Daten kosten nahezu nichts. Wenn die Fixkosten für Netzinfrastruktur, Hard- und Software einmal entstanden sind, können Daten mit sehr geringen Grenzkosten, also nahezu ohne Zusatzkosten, von vielen anderen verarbeitet, verbreitet und weiterverwendet werden. Dabei gibt es – wiederum anders als bei Gütern – keine Abnutzung. Daten werden durch Gebrauch nicht verbraucht, sie werden nicht schlechter oder weniger. Somit besteht zwischen verschiedenen Nutzungszwecken von Daten kein Konflikt. Dass Filme von Netflix oder Musik von Spotify von mehreren Personen oft sogar gleichzeitig angesehen und gehört werden, verringert die Qualität von Bildern und Tönen in keiner Weise. Genauso können Millionen von Menschen zur selben Zeit die gleichen Homepages ansehen oder elektronische Nachrichtenportale besuchen, ohne dass Informationsgehalt, Seh- oder Lesegenuss geschmälert wird.
Es schränkt den Nutzen anderer nicht ein, wenn Daten mehrfach anderweitig von Drittpersonen genutzt werden. Daten sind nahezu ohne Grenzkosten nutzbar, und zwar für alle und auch gleichzeitig. Das heißt, die Nutzung von Daten durch eine weitere Person verursacht zunächst keine zusätzlichen Kosten, wenn die Daten erst einmal vorliegen. »Nur, weil jemand bestimmte Daten nutzt, schließt dies – anders als eben beim Öl – nicht die parallele oder sequenzielle Nutzung derselben Daten durch andere aus.«25 Im Gegenteil: Gerade die Weiterverwendung, die Verknüpfung und Mehrfachnutzung von Daten erzeugt positive Netzwerkeffekte und macht deren Gebrauch für alle Beteiligten eher noch wertvoller.
Die gravierenden Unterschiede zwischen Güter- und Datenökonomie machen es so verwunderlich bis fragwürdig, wenn einfach alte Konzepte der Statistik und der wirtschaftswissenschaftlichen Analyse mit bestenfalls rudimentären Korrekturen verwendet werden, um das Wesen von Big Data zu messen und zu verstehen. Eigentlich würde die Digitalisierung in vielerlei Hinsicht ein neues Grundverständnis dessen erforderlich machen, was in der Ökonomie abläuft.
Die Ökonomik findet ihre statistischen Grundlagen in der Agrarwirtschaft und ihre Weiterentwicklung im Zeitalter der Industrialisierung. Sie hat sich bereits mit Dienstleistungswirtschaft und Wissensgesellschaft schwergetan. Beide entzogen sich gängigen (statistischen) Verfahren der Messung, des Zählens und Bewertens, wie sie in der Güterwirtschaft mit ihren haptischen, physisch fassbaren Produkten charakteristisch sind. Gleiches und noch viel mehr anderes gilt in besonderem Maße für die Datenwirtschaft mit ihren nicht greifbaren, in virtuellen Räumen fließenden Bits und Bytes.
Die Datenwirtschaft verlangt ein radikales Umdenken in nahezu allen Dimensionen ökonomischen Denkens, das sich stark an physischen Gütern orientiert, mit abnehmendem Grenznutzen beim Konsum und steigenden Grenzkosten bei der Herstellung. Big Data ist »riesig, rasend, erschöpfend, gleichzeitig vielfältig wie ganzheitlich und beliebig skalierbar«.26 Daten sind unsichtbar. Das macht es für die Statistik so schwierig, sie zu erfassen. Deshalb tun sich herkömmliche Verfahren zur Messung ökonomischer Aktivitäten so schwer. Daten wabern virtuell und »undinglich«, losgelöst von Standorten, In- und Ausland, durch Internet und Orbit. Eine geografische Abgrenzung von Herkunft, Verarbeitung, Vermarktung und Nutzung wird dadurch nahezu vollständig unmöglich gemacht. Information und Kommunikation beruflicher Art, aber auch innerhalb sozialer Netzwerke, lassen sich nur schwerlich an nationalen Grenzen aufhalten, auch nicht, wenn Zollstationen errichtet oder Schutzmauern verstärkt werden.
Daten sind wie Dienstleistungen und Wissen nicht dinglicher Natur. Aber es gibt einen entscheidenden Unterschied. Dienstleistungen sind entweder an Güter oder Personen gebunden, Daten hingegen nicht. Bevor Schall und Töne gegen Ende des 19. Jahrhunderts durch technische Erfindungen erst in elektrischen Strom, Druck und Schwingungen umgewandelt, aufgezeichnet und gespeichert und danach anderswo wiedergegeben werden konnten, musste, wer Musik hören wollte, unmittelbar und direkt an Ort und Stelle der Musiker sein.
Schallplatten, Tonbänder, CDs und Musikvideos machten im 20. Jahrhundert eine Dienstleistung zunächst zur Ware, die gehandelt, gelagert und losgelöst vom Ort der Herstellung, des Konzerts oder Tonstudios, genossen werden konnte. Anfang des 21. Jahrhunderts verlor als Folge neuer digitaler Technologien Musik in beträchtlichem, wenn auch nicht vollständigem Ausmaß ihre ursprüngliche Bindung zu Personen (also den Musikern) oder Gütern (also Tonträgern). Lediglich noch bei Live-Events findet eine örtliche und zeitliche Bindung zwischen Herstellung und Nutzung statt. Ansonsten speisen Musiker virtuelle Clouds mit digitalen Daten, die weltweit und gleichzeitig von Massen abgerufen werden können, ohne dass die Hörenden sich gegenseitig stören oder durch gleichzeitiges Abspielen der Musik Qualitätsminderungen verursacht werden.
Qualität, nicht Quantität zählt
Der Wert von Daten ist nicht so sehr eine Frage der Quantität. Im Gegenteil: Die Masse der an sich verfügbaren Daten ist heute so gigantisch groß, dass zunächst viel Aufwand zu betreiben ist, um sie zu bewerten, zu filtern, zu verdichten, zu veredeln und sach-, kunden- oder nutzergerecht aufzuarbeiten. Sie sind damit gleichzeitig für den einen Vorleistung und für die anderen Endprodukt. Aber: Obwohl viele Personen die gleichen Daten gleichzeitig auf verschiedene Art und Weise nutzen, wird die Qualität der aus Daten gewonnenen Informationen und Einsichten nicht schlechter, sondern vielleicht sogar besser. Wer Daten teilt, hat nicht weniger, sondern mehr davon. Aus der gemeinsamen Datennutzung kann ein Mehrwert für alle entstehen – etwa, wenn aus einer Vielzahl unterschiedlicher Blogeinträge ein Allgemeinwissen darüber entsteht, wie Alltagsprobleme – etwa die Entfernung von Kleiderflecken – einfach behoben werden können.
Daten sind also eher ein öffentliches als ein privates Gut. Ein Ausschluss von Nutzern durch Bezahlschranken hat wenig mit technischen Kapazitätsgrenzen, Abnutzungseffekten oder gegenseitiger Beeinträchtigung zu tun. Sie erfolgt aus kommerziellen Gründen, um die Hersteller für ihren Aufwand zu entschädigen. Aber nur für einen Bruchteil der Datentransfers kommen Bezahlsysteme zur Anwendung. Der Großteil der Daten ist mehr oder weniger frei verfügbar, so wie Allgemeinwissen auch allen ohne direkte Gegenleistung zugänglich ist.
Daten sind um Dimensionen rascher hin und her zu bewegen als Güter, aber auch als Dienstleistungen, bei denen sich entweder Patienten in die Praxis oder Ärzte zu Hausbesuchen bewegen müssen. Bei Onlinebehandlungen erfolgt eine Beratung aus der Ferne. Telemedizin erlaubt, Operationen durchzuführen, bei denen die Chirurgin Tausende von Kilometern weit entfernt vom Patienten das Skalpell fernsteuert. Künftig werden implantierte Sensoren verbunden mit Datenbanken und mit Hilfe von Algorithmen dafür sorgen, dass Herzschrittmacher, Insulinpumpen, Blutdruckregler und vieles andere mehr automatisch und ohne Zutun Dritter von alleine das auslösen, was medizinisch geboten scheint. Dass sich damit eine Reihe von juristischen Verantwortlichkeits- und Haftungsfragen völlig neu stellen, ist offensichtlich.
Rückkehr der Dezentralisierung
»Digitalisierung« und »Daten« werden auch eine längst verloren geglaubte Dezentralität wieder ermöglichen. Industrialisierung ging in weiten Teilen mit Zentralisierung einher. Die Fixkosten der Güterproduktion – also die hohen Kosten der Produktionsanlagen, Fertigungsstraßen und Maschinen – verlangten nach Fabriken, in denen Massen von Beschäftigten aktiv tätig waren. Von einem Standort aus wurden dann möglichst hohe Stückzahlen hergestellt. So ließen sich Durchschnittskosten senken.
Mit der Zentralisierung ging eine Spezialisierung einher. Die Glieder der industriellen Wertschöpfungskette wurden in immer kleinere Teile zerlegt. So lohnte es sich für jedes einzelne Glied, spezielle Facharbeiter auszubilden und ebenso spezielle maschinelle Fabrikationshilfen anzuschaffen. Je größer die Stückzahlen waren, umso stärker konnten die Spezialisierungsvorteile – also besseres Wissen und leistungsfähigere Maschinen