Sabine Ebert
Roman
Knaur eBooks
© 2019 Knaur Verlag
Ein Imprint der Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.
Ein Projekt der AVA International
Autoren- und Verlagsagentur
www.ava-international.de
Redaktion: Silvia Kuttny-Walser
Stammtafeln: Dr. Stefan Auert-Watzik
Landkarte: Verantw. Redakteur: Prof. Dr.-Ing. Andreas Kowanda; Kartograph: M. Eng. Thomas Zimmermann
Covergestaltung: Alexandra Dohse / grafikkiosk.de
Coverabbildung: Collage unter Verwendung verschiedener Motive von shutterstock und ein Motiv von Arcangel © Stephen Mulcahey
ISBN 978-3-426-45155-7
Diese Landkarte finden Sie auch im Internet unter folgendem Link: www.droemer-knaur.de/herz-aus-stein-bilder
Diese Landkarte finden Sie auch im Internet unter folgendem Link: www.droemer-knaur.de/herz-aus-stein-bilder
Friedrich I., römisch-deutscher König und Kaiser (später genannt Friedrich Barbarossa)
Beatrix von Burgund, seine zweite Gemahlin
Friedrich IV. (von Rothenburg), Sohn des vorherigen Königs Konrad von Staufen, Herzog von Schwaben (unter Vormundschaft Barbarossas)
Weltliche Verbündete:
Pfalzgraf Otto von Wittelsbach, Bannerträger Friedrichs und enger Freund
Graf Ulrich von Lenzburg, Vertrauter des Kaisers
Burggraf Heinrich von Dohna, kaiserlicher Ministeriale
Heinrich der Löwe, Herzog von Sachsen und Bayern
Clementia von Zähringen, seine erste Gemahlin
Welf VI., jüngerer Bruder des 1139 verstorbenen Thronanwärters Heinrich der Stolze, Oheim und Ratgeber Heinrichs des Löwen und Friedrich Barbarossas
Uta von Calw und Schauenburg, seine Gemahlin
Welf VII., ihr Sohn
Weltliche Verbündete:
Graf Adolf von Schauenburg, Holstein und Stormarn
Heinrich von Weida, Ratgeber Heinrichs des Löwen
Graf Gunzelin von Hagen, Statthalter im Abodritenland
Graf Ludolf von Peine, Statthalter im Abodritenland
Graf Christian von Oldenburg
Graf Reinhold von Dithmarschen, Ministeriale des Herzogs
Albrecht von Ballenstedt, ehemals Herzog von Sachsen, Markgraf von Brandenburg, genannt Albrecht der Bär
Sophia von Winzenburg, seine Gemahlin
Otto, Hermann, Adalbert, Dietrich, Siegfried, Heinrich und Bernhard – beider Söhne
Adele, Schwester des Meißner Markgrafen Otto, Witwe des Königs Sven von Dänemark, Gemahlin von Graf Adalbert von Ballenstedt
Otto, Markgraf von Meißen, später genannt Otto der Reiche
Hedwig, seine Gemahlin, Tochter Albrechts des Bären
Albrecht und Dietrich, beider Söhne
Dietrich, Ottos Bruder, Markgraf der Lausitz (später Dietrich von Landsberg)
Dobroniega, seine Gemahlin, Schwester der Herzöge von Polen
Konrad, beider Sohn
Dietrich, außerehelicher Sohn Dietrichs mit Kunigunde von Plötzkau
Dedo, Graf von Groitzsch
Mathilde von Heinsberg, seine Gemahlin
Heinrich, Friedrich – weitere Brüder Ottos
Christian, Ministeriale in Ottos Diensten
Landgraf Ludwig II., genannt der Eiserne
Judith, Tochter Herzog Friedrichs II. von Schwaben und Halbschwester Barbarossas, Ludwigs Gemahlin (später Jutta Claricia von Thüringen)
Niklot, Fürst der Abodriten
Pribislaw und Wertislaw, seine Söhne
Prislaw, sein abtrünniger Sohn in dänischen Diensten, Jarl von Lolland
Lubemar, Bruder Niklots
Woizlawa, Gemahlin von Pribislaw
Borwin, Pribislaws Sohn
Hadrian IV., Papst
Viktor IV., Papst
Paschalis III., Papst
Rainald von Dassel, Kanzler Friedrich Barbarossas und Erzbischof von Köln
Philipp von Heinsberg, Domdekan in Köln, rechte Hand Rainalds, Schwager Dedos von Groitzsch (später Erzbischof von Köln)
Wichmann, Erzbischof von Magdeburg, Neffe des Markgrafen Konrad von Meißen
Hartwig, Erzbischof von Bremen
Otto, Bischof von Freising, Halbbruder Konrads von Staufen
Rahewin, Schreiber Ottos von Freising
Evermod, Bischof von Ratzeburg
Sven III., König (später Sven Grathe)
Adele, Tochter Konrads von Wettin, des Markgrafen von Meißen und der Lausitz, seine Gemahlin
Waldemar I., König (später Waldemar der Große)
Sophia von Minsk, seine Gemahlin
Absolon, Erzbischof von Lund
Asker, Bischof von Roskilde
Meister Marchese, Kriegsmaschinenkonstrukteur
Graf Guido von Biandrate, Mailänder und Vertrauter des Kaisers
Acerbus Morena, Konsul von Lodi und Chronist
Vladislav, König
Kazimir, Herzog
Bogislaw, sein Bruder, Herzog
Raimund von Muldental, Richard und Gero – Christians Freunde
Randolf von Muldenstein, Ritter am Hof des Markgrafen von Meißen, Christians Erzfeind
Luitgard, junges Mädchen am Meißner Hof
Josefa, Heilerin in Meißen, genannt »die alte Muhme«
Stefano di Stella, Dolmetscher in Diensten des Kaisers
Marie Claire, Hofdame von Friedrich Barbarossas Gemahlin Beatrix
Recht und Unrecht
Adele von Meißen, dänische Königin und Gemahlin von Sven III. Estridsson; Roskilde, 9. August 1157
Panische Schreie gellten durch die eben noch friedliche Sommernacht, Waffengeklirr mischte sich mit dem Krachen von umgeworfenen Bänken und zerschellenden Krügen.
Keuchend vor Entsetzen stützte sich Adele, die Tochter des verstorbenen Markgrafen von Meißen und junge Gemahlin des dänischen Königs Sven, mit beiden Händen auf einen wackligen Tisch. In dieses ärmliche Versteck hatte Sven sie eben erst geführt – kurz bevor das Blutbad da draußen begann.
Am liebsten würde sie sich die Ohren zuhalten und die Augen schließen. Als könnte sie damit auslöschen, was im Palast neben dem Dom und in den Gassen vor sich ging. Fast meinte sie, den Kuss zu spüren, den ihr geliebter Mann ihr geben wollte, bevor er dieses schmale, windschiefe Haus unterhalb des Doms verließ. Doch sie hatte sich von ihm abgewandt.
Denn auf dem kurzen Weg vom Palast hierher war Adele klar geworden, was Sven plante. Etwas so Abscheuliches und Unentschuldbares, dass sie nicht wusste, ob sie ihm je würde verzeihen können.
Sofern er überhaupt noch lebte.
Gemeinsam mit seinen Männern hatte Sven das Schwert gegen seine beiden Vettern und Mitkönige erhoben, Knut und Waldemar – bei einem Fest hier in der dänischen Königsstadt Roskilde, mit dem alle drei ihren Friedensschluss feiern wollten. Vor einer Viertelstunde noch hatte Adele mit ihnen an der Hohen Tafel gesessen und geplaudert.
Nun war sie vor Schreck wie gelähmt. Jäh schoss ihr der Mageninhalt in die Kehle. Mit Not schaffte sie es, zu einem Bottich zu stürzen, in den sie sich erbrach, bis nur noch Galle kam.
Janne, ihre Leibdienerin und einzige Begleiterin, hatte seit der Ankunft im Versteck auf Knien und händeringend Gebete heruntergehaspelt. Nun hielt sie ihrer Herrin Kopf und Schleier und griff dann nach einem Krug Wasser, damit Adele den üblen Geschmack aus dem Mund spülen konnte.
»Sollen wir wirklich hier warten, bis es vorbei ist?«, flüsterte sie ängstlich. »Hier sind wir nicht sicher, meine Königin. Aber ohne männliche Begleiter können wir nirgendwohin. Und wenn Euch jemand erkennt …«
Auch Janne hatte Svens Absichten durchschaut. Als er seine Gemahlin zu später Stunde persönlich aus dem Palast hinausgeleitete, brachte er Adele zu ihrem Erstaunen nicht in ihr Quartier, wie sie anfangs hoffte, da sie sich nach einem langen Tag schon auf das Bett freute. Sondern er führte sie in dieses unscheinbare Haus, ohne irgendwelche Fragen zu beantworten.
Das war auch nicht nötig. Auf dem Weg hierher konnten die beiden jungen Frauen sehen, wie Sven sein Schwert gürtete, das er vor Beginn des Festes abgelegt hatte – zum Zeichen dafür, dass er den Frieden der Halle achten würde. Und seine dreihundert Kämpfer, die gerade aus Schonen eingetroffen waren und für die vor dem Palast reichlich aufgetafelt wurde, trugen allesamt Rüstung.
Dann war Sven sofort in den steinernen Palast neben dem Dom zurückgelaufen und hatte mit seinen waffenstarrenden Männern das Blutbad eröffnet.
Der Zorn der Angegriffenen würde vor seiner fremdländischen Gemahlin nicht haltmachen.
Falls Sven den Kampf gegen Knut und Waldemar verlor, war Adele keine Königin mehr, sondern die Witwe eines Eidbrüchigen und Königsmörders.
Falls er siegte, wäre sie die Gemahlin eines Eidbrüchigen und Königsmörders. Knut und Waldemar waren beliebt; die Dänen würden diesen heimtückischen Überfall nicht ungerächt lassen.
Adele wusste, dass Sven schon einmal vorgehabt hatte, seine beiden Vettern und Konkurrenten um den Thron in einen Hinterhalt zu locken und zu töten. Ihr Vater, Markgraf Konrad, sollte sie dazu auf den Meißner Burgberg einladen. Doch er hatte dieses Ansinnen sofort zurückgewiesen – entrüstet und angewidert.
Wie konnte ich mich so in Sven täuschen?, fragte sich die junge Frau. Wie konnte ich diesen Mann nur lieben? Und was soll ich jetzt tun? Sie hatte sich blenden lassen von seinem Aussehen und seinem Auftreten: Groß, blond und stark war er. Und sehr in sie verliebt.
Doch nun schwebten Janne und sie in Lebensgefahr und brauchten all ihre Sinne und all ihren Mut. Sie durften nicht in diesem Versteck bleiben, in das Sven sie geführt hatte, bevor er zu seiner grausigen Tat schritt.
Das war nur wenige Augenblicke her. Trotzdem hatte Adele keine Ahnung, ob ihr Gemahl noch lebte. Ob er seine beiden Mitkönige und Verwandten getötet hatte – oder Knut und Waldemar ihn.
Die Schreie, der Lärm und die kreischenden Stimmen der Fliehenden draußen verebbten nicht, sondern wurden immer lauter.
»Niemand darf uns hier finden«, raunte sie angstvoll ihrer Leibdienerin zu. »Und niemand darf uns erkennen!«
Mit zitternden Fingern versuchte Adele, die Schnüre ihres Prunkgewandes zu lösen, in dem sie bis eben noch beim Fest mit Svens Vettern und Knuts bildschöner Schwester Sophia von Minsk Versöhnung gefeiert hatte. Den Friedensschluss, der jedem der Thronanwärter den Titel König und ein Drittel des Landes zusicherte.
»Wohin wollt Ihr denn gehen?«, jammerte die sonst so beherzte Janne. »Es gibt keinen Ort in Dänemark, an dem Ihr noch sicher seid, sobald sich herumspricht, dass Euer Gemahl den Frieden gebrochen und seine eigenen Verwandten ermordet hat.«
Die rundgesichtige Dienerin hielt kurz inne, lauschte dem Lärm von draußen und wisperte: »Hört nur! Bald weiß es jeder in dieser Stadt.«
Denn draußen kreischte eine Frau wieder und wieder: »Sven bringt alle um! Sven Estridsson hat den König getötet!«
Welchen der Könige?, dachte Adele verzweifelt. Ich weiß nicht einmal, ob dies allein seine Idee war oder ob er sich mit einem der beiden anderen verbündet hat. Doch blieb ihr jetzt keine Zeit, darüber nachzudenken, wie sie Sven nach dieser Ungeheuerlichkeit noch zur Seite stehen konnte, sollte er die Nacht überleben. Sie musste fort von hier, denn Svens Feinde würden nach ihr suchen.
Nur wohin?
Sie wollte leben und zu ihrem erst wenige Wochen alten Töchterchen fliehen, das sie in Lüneburg in guter Obhut hatte zurücklassen müssen – auf Svens Befehl. Vermutlich hatte er da die Untat schon geplant, die er heute beging.
»Hilf mir in ein schlichtes Kleid und verbirg mein Haar«, flüsterte sie Janne zu. Mit ihren bebenden Fingern wollte es einfach nicht gelingen, die Schnürungen an den Seiten des prachtvollen Bliauts zu entwirren.
Zu ihrem Glück und ihrer großen Verwunderung hatte sie in dem Versteck eine ihrer Kleidertruhen vorgefunden. Ein weiterer Beweis dafür, wie kaltblütig Sven seinen Verrat geplant hatte.
Janne zerrte ein schmuckloses Wollkleid über die Königin und verbarg Adeles auffälliges Haar – es war schwarz gelockt und nicht blond wie das der meisten Däninnen – unter einem doppelt verknoteten Tuch.
»Wenn Ihr draußen erkannt werdet, schlagen sie uns tot«, barmte sie, während sie der Königin ihren eigenen schlichten Umhang anlegte. »Ist es nicht sicherer, hier zu warten? Selbst wenn wir es bis zum Hafen schaffen … Kein Schiff nimmt zwei ehrbare Frauen ohne männliche Begleiter auf!«
Roskilde lag auf einer Insel, und es stimmte: Ohne Beisein eines Ehemannes oder anderer Verwandter als Vormund durften sie nicht reisen, geschweige denn ein Schiff betreten.
»Selbst wenn Ihr mit Edelsteinen bezahlt … Dadurch würde man Euch sofort erkennen … Oder als Diebin hinrichten, sofern Ihr nicht Namen und Titel enthüllt«, fuhr Janne mit der Beschreibung ihrer Notlage fort.
»Es gibt nur eine Möglichkeit für uns, zu überleben«, wisperte Adele zurück und drückte Jannes Hand. »Hab Mut, vertrau auf Gott und komm mit mir! Es sei denn, du willst hier auf deinen Mann warten.«
Sie öffnete die Tür einen winzigen Spalt und spähte hinaus.
Die Gassen waren vollgestopft mit flüchtenden, kreischenden Menschen. Aus dem hell erleuchteten Palast sah sie Männer mit bluttriefenden Schwertern kommen und nach neuen Opfern suchen. Davor lagen zerstückelte Leichen; bei einigen hatten die Kleider Feuer gefangen. Fackeln und brennende Bänke beleuchteten die schrecklichen Bilder vor dem Palast mit zuckendem Licht in sternenklarer Nacht.
Die meisten Bewohner des Viertels versuchten immer noch, sich in den Dom zu retten und Zuflucht in Gottes Haus zu finden. Mütter trugen ihre Kinder auf dem Arm oder zerrten sie an der Hand mit sich. Mancher hatte hastig noch ein paar Habseligkeiten zusammengeschnürt, andere trugen nur Unterhemd und Umhang und liefen barfuß. Wer nicht schnell genug war, drohte von der panischen Menge umgerannt und zermalmt zu werden.
»Zum Hafen?«, flüsterte Janne.
»Nein. Dort hinauf!« Adele wies mit dem Kinn auf die Kathedrale neben dem Palast, zu der die Menschen angstvoll strömten. Sie zog sich die Gugel tiefer ins Gesicht und tat das Gleiche auch bei Janne.
Der Saum ihres Kleides verfing sich an einem Holznagel. Heftig zerrte sie, und der Stoff zerriss.
Die junge Meißnerin griff nach der Hand ihrer Vertrauten und rannte los, bis das Seitenstechen sie zum Stehenbleiben zwang. Sie hielt kurz inne, schnappte nach Luft und rannte dann weiter. In der Linken trug sie ein kleines Bündel, in das sie ein warmes Kleid, ihren silbernen Haarreif und die edelsteinbesetzten Ringe geschnürt hatte – für den Fall, dass sie jemanden für seine Hilfe bestechen musste.
»Und wenn uns Bewaffnete angreifen? Oder uns irgendwer erkennt?«, keuchte Janne.
»Wir können sonst nirgendwohin. Und in dem Versteck hätte man uns schon bald gefunden. Also lauf schnell!«
Immer wieder spähte Adele nach links und rechts, so gut es in dem wilden Durcheinander von verängstigten Menschen ging, zog ihre Vertraute mit sich, während sie sich unter diejenigen mischten, die zum Dom flüchteten. Sie ließen sich von den Stadtbewohnern mitreißen und folgten dem Strom derer, die nur noch das geöffnete Kirchenportal als Ziel vor Augen hatten.
Einmal erhielt Adele einen so wuchtigen Stoß in den Rücken, dass sie stolperte und beinahe stürzte. Janne fing sie auf.
Die junge Meißnerin fürchtete schon, dass jemand anklagend auf sie zeigen und schreien würde: »Da ist die Königin! Die Frau des Mörders! Schlagt sie tot!«
Doch zum Glück erkannte niemand sie. Unter Einsatz der Ellenbogen kämpften sie sich weiter durch, keuchend vor Atemnot und Angst.
Doch als sie das Innere der Kirche erreicht hatten, versuchte Adele erst gar nicht, sich in der Menge zu verstecken. Sie drängte sich mit Janne zum Altar vor, legte ihre rechte Hand auf den mit bestickten Tüchern verzierten Altartisch und sagte, leise und um Atem ringend, zu dem dort stehenden Messdiener: »Ich … ersuche … um … Kirchenasyl.«
Der Geistliche – noch jung, mager, mit hängenden Schultern und zutiefst verschreckt von dem Ansturm schreiender Menschen – hob abwehrend die Hände.
Mit zittriger Stimme murmelte er: »G-geht zu den anderen! Wir werden gemeinsam dafür beten, dass das Grauen ein Ende findet. Und für das Seelenheil der Toten.«
Er wollte sich abwenden, aber Adele gebot ihm mit einer Geste Einhalt und zischte leise: »Schaut genau her! Wir können nicht zu den anderen. Ich wiederhole: Wir erbitten Kirchenasyl.«
Ihre Hand lag immer noch auf dem Altar.
Der Bursche hielt inne und starrte sie an.
Endlich begriff er, wen er vor sich hatte: die junge Königin aus meißnischen Landen. Und Gemahlin des Mannes, der, dem Wehgeschrei der Menschen nach zu urteilen, das Gemetzel im Palast begonnen hatte.
Sein Gesicht, in dem sich Schrecken und Entschlusslosigkeit abwechselten, verlor das letzte bisschen Farbe. Seine Hände flatterten.
»Seid Ihr von Sinnen?«, ächzte er mit sich überschlagender Stimme. »Wenn Euch jemand erkennt, wird die Heiligkeit dieses Ortes das Volk nicht davon abhalten, hier das nächste Blutbad zu entfesseln!«
»Deshalb stehen wir vor Euch und erbitten Kirchenasyl«, wiederholte Adele eindringlich, die den ängstlichen Burschen am liebsten bei den Schultern gerüttelt hätte. Durch seine Begriffsstutzigkeit würde er noch das Blutbad auslösen, das er mit Worten schon heraufbeschwor. Aber natürlich durfte sie sich nicht an einem Geistlichen vergreifen.
»Im Namen der barmherzigen Jungfrau!«, mahnte sie.
Es war am Gesicht des Burschen abzulesen, wie allmählich Bewegung in seine Gedanken kam. »Das muss der Bischof entscheiden«, flüsterte er. »Und Hochwürden weilt beim Festmahl …«
Was in ihm als Nächstes die Erkenntnis dämmern ließ, dass er nicht einmal wusste, ob Bischof Asker überhaupt noch lebte.
Roskilde war die größte und bedeutendste Stadt Dänemarks, und ihr Bischof zählte zu den Verwandten und engen Vertrauten König Waldemars. Ebenso wie der mächtige Absalon, Heerführer und Ziehbruder von Waldemar, mit Sicherheit der künftige Bischof von Roskilde und Erzbischof von Lund. Sofern er noch lebte.
Die Gedanken des überforderten Kirchendieners wollten sich einfach nicht ordnen, und das Geschrei der Zufluchtsuchenden im Dom hinderte ihn daran, einen Entschluss zu fassen.
»Geht! Ich kann hier nicht für Euer Leben garantieren«, zischte er.
Dieser Narr wird uns in seiner Einfalt wirklich noch ans Messer liefern, dachte Adele voller Ungeduld. Einige wurden schon auf die Szene am Altar aufmerksam.
»Ich habe Euch jetzt drei Mal um Asyl gebeten und an Eure Pflicht und geltendes Recht gemahnt«, erinnerte sie mit Nachdruck und Würde, aber gedämpfter Stimme. »Die Vorfahren meines Gemahls ließen diese Kirche erbauen und sorgten für die Verbreitung von Gottes Wort in diesem Land. Sie liegen hier begraben. Wenn Ihr uns fortschickt, ladet Ihr Blutschuld auf Euch. Wollt Ihr das?«
Der dürre Messdiener krümmte sich vor Unbehagen.
»Ich stifte einen goldenen Ring. Mit dem Gold könnt Ihr das Altarkreuz verzieren«, lockte sie und hob vielversprechend ihr Bündel ein wenig an.
Da endlich fiel ihm ein Ausweg ein.
»Geht in die Gruft, rasch!«, zischte er und deutete auf die Gittertür, die in das Gewölbe führte, in dem die dänischen Könige beigesetzt wurden. Harald Blauzahn, Sven Gabelbart, Sven II. Estridsson …
»Versteckt euch dort. Ich bringe Brot und etwas zu trinken, sobald sich die Lage beruhigt.«
Mit Gottes Hilfe leben der Bischof, Absalon und Waldemar noch, dachte er. Sollen sie entscheiden, was aus diesen Weibern wird. Ich halte sie hier fest, bis Gott, mein Bischof und mein König über sie richten.
Die beiden jungen Frauen huschten durch die Tür und waren so erst einmal den Blicken der meisten anderen in der Kirche verborgen. Bald kam der verunsicherte Messdiener mit einem Krug Wasser zurück. Er reichte ihn durch das Gitter, stammelte, Brot würde er noch bringen, und suchte einen Schlüssel aus seinem schweren Bund heraus, mit dem er das Gitter zur Gruft abschloss.
»Jetzt sind wir bei den Toten gefangen«, murmelte Janne.
»Oder geschützt von ihnen«, flüsterte Adele, der selbst bei der Vorstellung graute, die nächsten vierzig Tage zwischen den Sarkophagen zubringen zu müssen. Doch so lange würden sie sicher nicht bleiben. Sobald der Bischof von Roskilde sie sah, würde er mit dem Erzbischof von Bremen verhandeln, damit der ihm die nur schlecht gelittene Meißnerin abnahm. Im Tausch für Silber oder einen Gefallen.
Durstig trank sie von dem Wasser, denn das Essen beim Festmahl war kräftig gewürzt gewesen. Schweiß rann ihr den Rücken hinab und durchtränkte ihr Unterkleid.
Sie wollte den Krug gerade an Janne weiterreichen, als von der großen Pforte des Doms eine sonore, weit tragende Stimme erklang.
»Macht Platz!«
Sofort wichen die Menschen beiseite, um den Bischof durchzulassen, der offenbar direkt vom Festmahl kam. Seine Kleider waren blutbesudelt.
Mit eiligen Schritten trat er auf den Altar zu, kniete nieder, senkte den Kopf und schlug ein Kreuz, dann erhob er sich und wandte sich zu den Menschen um, die hier Zuflucht gesucht hatten.
»Läutet alle Glocken! König Knut ist tot!«, rief er, und in der Menge flammte sofort ein vielstimmiges Wehgeschrei auf. Knut war der Herrscher über diesen Landesteil gewesen – Seeland.
Bischof Asker hob beschwichtigend eine Hand und gebot Schweigen.
»Ein Vertrauter von Sven Estridsson ermordete ihn. Sven selbst hat unter Bruch des Gastrechts und aller Eide diesen Angriff begonnen, die Bluttat befohlen.«
»Lebt Waldemar?«, erklang eine zittrige Stimme aus der Menge der Lauschenden. Waldemar war der jüngste der drei dänischen Könige, erst Mitte zwanzig.
»Der König von Jütland wurde am Bein verwundet. Doch mit Gottes Hilfe konnten er und sein Ziehbruder Absalon entkommen«, fuhr der Bischof laut fort. »Wie durch ein Wunder sind sie entschwunden, trotz Waldemars Verletzung.«
Nun fragt doch endlich!, dachte Svens Gemahlin aufgebracht und mit wild klopfendem Herzen, während sie sich vorsichtig dem Gitter näherte, um den Bischof im Blick zu behalten.
»Was ist mit Sven?« Endlich stellte eine schrille Frauenstimme die Frage. Adele erstarrte und machte sich auf das Schlimmste gefasst.
»Der Eidbrecher und Königsmörder hat seine Männer um sich geschart, um Waldemar zu suchen. Sie sind alle fort. Die Kämpfe in dieser Stadt sind beendet. Also geht wieder in eure Häuser! Doch zuvor lasst uns beten für Waldemar und Absalon und für das Seelenheil von König Knut!«
Nun begann jemand, die Glocken zum Tod des Königs zu läuten; vielleicht der magere, begriffsstutzige Messdiener. In die dunklen Töne mischten sich die Gebete der Menschen im Dom, die ausnahmslos alle niedergekniet waren.
Nur langsam leerte sich das Kirchenschiff.
Adele und Janne hatten sich ein Stück zurückgezogen, um nicht gesehen zu werden. Doch sie wussten, sie würden nun bald Besuch bekommen.
Noch immer läuteten die Glocken für König Knut. Der Tote lastete schwer auf Adeles Seele. Sie hockte sich hin, umschloss die Knie mit den Armen und drückte sich verzweifelt gegen die Wand. Ob Knuts Schwester Sophia in Sicherheit war, die Verlobte Waldemars? Beim Mahl vorhin hatten sie noch freundlich miteinander geplaudert. Sophia von Minsk hatte die Tafel vor ihr verlassen; vielleicht war das ja ihre Rettung gewesen?
O Sven, ich hoffe, du hast nicht auch noch ihr Blut an deinen Händen!, flehte Adele stumm und voller Bitterkeit.
Ein Klirren verriet ihr, dass die Gittertür zur Gruft geöffnet wurde.
Mühsam stemmte sie sich hoch und wischte sich die Tränen von den Wangen.
Wie erwartet kam Bischof Asker. Ein grauhaariger Mann mit scharf geschnittenen Gesichtszügen und einem Blick, der Adele Schauer über den Rücken jagte. Mit ebensolchen unerbittlich eisgrauen Augen hatte einst ihr Vater Konrad seine Gegner eingeschüchtert, der einstige Markgraf von Meißen und der Lausitz.
Der Bischof leuchtete ihr mit einer Fackel ins Gesicht.
»Sehr klug von Euch, das Haar zu verbergen …«
»Hochwürden, ich schwöre bei der Heiligen Mutter Gottes, dass ich nichts von den schändlichen Plänen meines Gemahls wusste. Er hat mich von der Tafel fortgeführt, wie Ihr Euch vielleicht erinnert. Und ich …«
Nun brach ihr die Stimme, Tränen schossen ihr erneut in die Augen, und sie hauchte: »Sophia? Lebt sie noch?«
»Ich wüsste nicht, was Euch das angeht«, meinte Asker kühl und verschränkte die Arme vor dem Leib. »Was soll ich nun mit Euch machen? Ich darf Euch nicht für die Schandtaten Eures Gemahls zur Rechenschaft ziehen. Doch Ihr werdet verstehen, dass ich Eure Anwesenheit hier nicht länger dulden kann als unbedingt nötig.«
Er sah ihr ins Gesicht. »Andererseits wären Waldemar und Absalon unter gewissen Umständen glücklich, Euch zum … Austausch zu haben.«
Adele sah zweifelnd auf, spielte Gelassenheit vor diesem eiskalten Mann, weil ihn Tränen nicht rühren würden. Wie einst ihren Vater Konrad von Wettin, Gott sei seiner Seele gnädig.
»Glaubt Ihr wirklich, ein Weib könnte als Geisel wertvoll genug sein, um gegen einen Mann ausgetauscht zu werden?«, wandte sie ein.
»Eine Königin vielleicht. Eine Königin, die von ihrem Gemahl geliebt wird …« Der Bischof lächelte kühl.
Würde sich Sven meinetwegen ergeben?, überlegte Adele und verneinte die Frage sofort. Er liebt mich, aber seinen Stolz und seine Krone liebt er noch mehr. Er ist von dem Wahn besessen, alles haben zu können, das ganze Land und mich, und Dänemark würde ihm seine Schandtaten verzeihen.
»Ich weiß nicht, ob mein Gemahl noch lebt. Aber eines weiß ich sicher: Nach dieser Blutnacht wird er kein König mehr sein«, antwortete sie. »Also bin ich auch keine Königin mehr. Besprecht Euch mit den deutschen Bischöfen, Hochwürden. Sie werden dafür sorgen, dass ich sicher nach Meißen geleitet werde.«
Für Sven würde es keine Rettung und kein Erbarmen geben. Sonst hätte der Bischof sie aufgefordert, sich zu ihrem vor Gott angetrauten Ehemann zu begeben. Doch für ihn schien Svens Tod eine sichere Sache zu sein. Ob nun in dieser Nacht, morgen oder übermorgen.
»Ein ausgesprochen törichter Gedanke, Weib«, entgegnete Asker grimmig lächelnd. »Dazu müsste ich mich mit Erzbischof Eskil von Lund beraten, doch der wird unerhörterweise in deutschen Landen festgehalten. Und Euer Kaiser Friedrich Rotbart weigert sich, etwas dagegen zu unternehmen. Eskil würde auch nie gegen Euch eingetauscht werden wollen, wie Ihr selbst bereits festgestellt habt. Das wäre unter seiner Würde. Deshalb will er auch nicht, dass die Dänen Lösegeld für ihn sammeln. Und der Erzbischof von Bremen ist uns feindlich gesinnt.«
»Dann wendet Euch an den Erzbischof von Magdeburg, er ist mein Vetter«, flehte Adele.
»Würde der für Euer sicheres Geleit zahlen? Oder Eure Brüder, die Markgrafen von Meißen und der Lausitz?«
»Ihr könnt Euch gewiss mit meinem Vetter Wichmann von Magdeburg einigen. Oder mit meinen Brüdern«, antwortete sie und dachte dabei an Dietrich. Ob Otto als der Älteste bereitwillig für sie sein Silber hergeben würde, daran zweifelte Adele. Aber vielleicht legte seine junge Gemahlin Hedwig ein gutes Wort für sie ein.
»Ich werde um Klarheit beten und erst eine Entscheidung treffen, nachdem ich mich mit Waldemar und Absalon über Euer künftiges Schicksal besprochen habe. Bis dahin bleibt Ihr hier. Als unser Gast«, verkündete Asker, wobei er das Wort Gast so hart aussprach, dass Adele wusste, sie war seine Gefangene und Geisel. Aber vorerst geschützt vor der nach Rache dürstenden Menge. Eine Entscheidung würde der berechnende Bischof erst treffen, sobald er sichere Nachricht von Svens Tod hatte. Vom Tod des Mannes, in den sie sich einst verliebt hatte.
Vielleicht war sie schon Witwe und ihr Töchterchen eine Halbwaise? Adele schauderte bei der Vorstellung, welches Schicksal ihrem Gemahl wohl beschieden war. Bilder standen ihr vor Augen, die ihn verblutend am Boden zeigten.
Als hätte er ihre Gedanken erraten, fügte der Bischof an: »Bleibt diese Nacht hier verborgen. Ich werde über ein angemessenes Quartier für Euch nachdenken. Heute wäret Ihr nicht sicher, sollte Euch irgendjemand erkennen.«
Das Kirchenasyl galt in einem Bereich von sechzig Schritten ab dem Kirchenportal. Doch heute Nacht würde angesichts der Verwünschungen und Racheschreie gegen Sven selbst die Begleitung eines Bischofs die Gemahlin des Königs nicht schützen.
Ohne weiteres Wort wandte sich der Geistliche ab.
Der magere Bursche, der sich inzwischen wieder eingefunden hatte, drückte Janne wortlos einen Kanten Brot und eine brennende Kerze in die Hand, dann schlurfte er dem Bischof hinterher. Die beiden jungen Frauen hörten, wie er das Gitter klirrend verschloss. Adele war froh, vor der Flucht aus dem Versteck noch einmal das Nachtgeschirr benutzt zu haben, denn auf dem Fest hatte es reichlich zu trinken gegeben. Dann fragte sie sich, wie sie angesichts ihrer Lage noch solch banale Überlegungen anstellen konnte.
Müde und aufgewühlt zugleich, immer noch fassungslos über die schicksalsschweren Geschehnisse der letzten Stunden, wickelten sich die beiden jungen Frauen in ihre Umhänge und legten sich auf dem blanken Boden nieder, um in der Nähe der Toten Schlaf zu finden. Jede von ihnen betete lange und stumm.
Sven, welche Schuld hast du nur auf dich geladen?, dachte Adele wieder und wieder und wusste: Er war verdammt. Tränen rannen ihr übers Gesicht.
Die Glocken läuteten die ganze Nacht hindurch. Und Adele wusste nicht, ob sie nur für den toten König Knut erklangen oder auch für Waldemar. Oder Sven.