Anna Funck
Heute nicht!
Wer gute Ausreden hat, braucht kein schlechtes Gewissen
Knaur e-books
Anna Funck, TV-Moderatorin, Produzentin und Autorin, wurde 1980 in Lübeck geboren. Seit über zehn Jahren steht sie bereits vor der Kamera. Beim Privatsender RTL wurde Anna Funck zur TV-Moderatorin und Redakteurin ausgebildet, bis die Öffentlich-Rechtlichen 2008 auf sie aufmerksam wurden und der MDR sie unter Vertrag nahm. Dort moderierte sie den »Sachsenspiegel«, stand jährlich als Live-Reporterin auf dem Roten Teppich des Dresdner Semperopernballs. Bekannt wurde sie mit der nationalen Serie »Wir sind überall«, die in der ARD lief. Sie lebt mit ihrem bayerischen Mann und den zwei Töchtern Karlotta und Theresa an der Ostsee. Verlagsrelevante Autoreninfos: Anna Funck ist die Autorin des im Januar 2019 bei Knaur als Paperback erschienen Titels »Egal, ich ess das jetzt! Mein Jahr mit grünen Smoothies, Superfoods und anderen bekloppten Ernährungstrends«.
Ein Imprint der Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.
Covergestaltung: Isabella Materne
Coverabbildung: Isabella Materne
ISBN 978-3-426-45334-6
»Ein kluges Pferd springt nur so hoch, wie es muss.«
Verfasser unbekannt, Lieblingszitat von Johanna
Für Johanna, die es nie leid ist, mit mir über Romantik, das diffuse Zeitgefühl und »heute nicht« zu sinnieren.
Eigentlich wollte ich heute anfangen zu schreiben. Aber dann hab ich es auf morgen verschoben. Sorry.
Da sitze ich an meinem Laptop und bin bereit, anzufangen. Und dann schreibt mir meine Freundin Verena, glücklich verheiratet, zwei Kinder, eine WhatsApp-Nachricht, dass ihr Lover einen Lover habe. Ob sie die Affäre beenden solle. Und meine Freundin Johanna, verheiratet, glücklich kinderlos, dass sie die Kinderwunschfrage nicht mehr ertragen könne und jetzt immer antworte: »Wir würden ja gerne, aber ich habe einen Penis.«
Das hat beides Ablenkungspotenzial, finden Sie nicht? Und ich schreibe schon wieder nicht – dafür tippe ich mein Smartphone-Display wund. Außerdem entdecke ich diese kleine, feine Staubschicht. Sie wissen schon: die im hinteren Schreibtischdrittel, das man beim Putzen immer lieblos links liegen lässt. Da steht bei vielen Menschen ein Drucker, oft schlängeln sich Kabel, oder es wuchert ein Stapel schon fast beleidigter Zeitschriften-Briefe-Rechnungen-Quittungen.
Im Anschluss klebe ich am Kühlschrank. Da war noch Schokolade drin! Die mit den Nüssen!
Aber jetzt muss ich wirklich mal loslegen. Ich denke, es wird Zeit, sich dem inneren Schweinehund zu widmen. Warum? Ganz einfach: Der ist ein possierliches Tierchen. Und der will wirklich nur spielen. Oder uns vor unangenehmen Emotionen bewahren. Oder vor oxidativem Stress, der macht nämlich hässlich und ist langfristig tödlich. Immer ist das Credo: Der muss weg! Überwinden sollen wir den. Loswerden. Wegscheuchen. Platz soll er machen. Im stillen Körbchen sitzen.
Und heute sitze ich hier vor meinem Laptop und sage Ihnen: Das ist ein Fehler. Wieso denkst du das?, leuchtet mein Handy kurze Zeit später auf – meine Freundin Inke, die mit Sicherheit gerade wieder zum fünften Mal die Waschbecken auswischt. Ich hab diese kleine Erkenntnis nämlich gleich mal ein paar viel zu disziplinierten Freundinnen geschickt. Ganz einfach, tippe ich zurück: Wir müssen ihn einfach an die Schnappleine legen. Mal ranziehen, mal laufen lassen. Und auch mal hinter den Schweineohren kraulen. So einfach ist das. Gilt auch für innere Zwänge, Konventionen und alle anderen komischen Spielregeln des Lebens, die wir uns so auferlegt haben.
Und da mache ich einfach nicht mehr mit. Ab heute gilt: heute nicht. Und damit fange ich sofort an.
Wenn ich etwas mache, dann richtig. Dafür bin ich bekannt. Mein Mann Jenz schaut mir gerade grinsend über die Schulter. Das gilt nämlich besonders für mit ihm zu teilende Popcornschüsseln, Eisbecher oder Schokoladentafeln: Meistens kriegt er nicht mehr viel ab. Halbe Sachen sind nicht so mein Ding. Deshalb knöpfe ich mir meinen Perfektionismus auch nicht einfach so vor, sondern mache das ganz professionell. Habe ein Seminar gebucht. Finden Sie albern? Kann ich im ersten Moment verstehen. Aber wissen Sie was? Habe beschlossen, dass mir das egal ist. Ich rechtfertige mich nicht. Heute nicht.
Wie es dazu kam? Rückblick: Beim Einkaufen lief mir Silke über den Weg. Typ: Ich bin total gestresst von meinem Leben, aber mache Yoga, weil das hip ist und dagegen helfen soll. Jetzt bin ich gestresst von den Yogakurszeiten, aber das merkt bestimmt keiner.
»Hallo, Anna!«
»Silke, wie geht’s dir?«
»Wunderbar! Ich habe aufgehört, mich über die inkompetente Mathelehrerin und das Hipster-Bürschchen von Religionslehrer meiner beiden Großen zu ärgern!«
»Das ist ja super. Wie hast du das geschafft?«
Man muss dazu sagen: Silke hatte derartige Wutanfälle, was eben genannte Personen angeht, dass man wirklich dachte, sie würde dem Hipster-Lehrer die Bartfussel abreißen. Oder der Mathelehrerin, die aussieht, als würde sie selber noch in die picklige Mittelstufe gehen, mit ihrem Kitten-Heel-Absatz die Chucks punktieren.
»Diese Kinder wollen Lehrer sein!«, hatte sie mich jedes Mal wutschnaubend vor dem Schultor begrüßt. »Unsicher und verpeilt sind die. Und dann wundern die sich, wenn meine Jungs die nicht ernst nehmen! Selbst schuld, wenn man schon wie eine hierarchieablehnende Zecke in die Schule kommt! Dann übernehmen Friedrich und Karl eben. So ist das nun mal!«
Kurz und gut: Silke ist ein absoluter Härtefall.
»Ich habe einen Kurs bei Constanze gebucht. ›Loslassen leicht gemacht‹. Ich habe die Wut ins All geschickt. Jetzt bin ich ganz entspannt. Auch wenn ich mit Idioten leben muss. Irgendwann ist die Grundschulzeit ja auch vorbei.«
»Was ist das für ein Kurs?«
»Solltest du auch mal machen. Irgendwas muss man ja immer loslassen. Ich schicke dir die Kontaktdaten. Muss weiter. Küsschen!«
Eigentlich halte ich von solchen Kursen ja nichts – aber Silkes neue Entspannung gefällt mir. Und was habe ich zu verlieren? Entweder nix oder Leidensdruck. Das kann ja nie schaden. Meinen Perfektionismus zum Beispiel würde ich gerne etwas reduzieren. Aufschieber sind nämlich die größten Perfektionisten. Wussten Sie das? Habe etwas Psychologieliteratur gewälzt. Gerade weil Prokrastinateure eben diesen Perfektionsanspruch haben, schieben sie immer wieder. Der Zeitpunkt und die Umstände, um es perfekt zu machen, scheinen nämlich nie die richtigen zu sein. Welch Paradoxon. Deshalb leiden sie auch so. Wie ich. Weil wir eine Aufgabe vor uns herschieben, die uns wichtig erscheint, und unter der Nichtausführung leiden, als würden wir ein Gebirge tragen. Nichtperfektionisten erachten einfach so vieles als unwichtig, dass sie diesen Druck gar nicht kennen. Ja, es ist kompliziert. Oder eigentlich gar nicht: Alles, was ich tun muss, ist, mir selbst zu suggerieren, wie unwichtig diese Dinge sind. Dann: Leiden eliminiert. Denn was nicht wichtig ist, pressiert ja nicht.
Eine Woche später. Ich parke vor Constanzes Haus. Constanze ist alles andere als hauptberuflich esoterisch, und deshalb habe ich mich sofort angemeldet. Im echten Leben ist sie knallharte Richterin, was mich sofort überzeugt hat. Dazu Raucherin, Lebefrau, tiefe Stimme, immer in Rot gekleidet. Die Kombi aus »volle Packung Paragrafenleben« und »Wir atmen jetzt mal ganz bewusst« finde ich einfach spitze. Ich hüpfe ja auch gerne zwischen den Welten hin und her – das sollte passen. Heute esoterisch, morgen pragmatisch. Ich bin so voller Vorfreude, dass ich fast einen Schweinehund mitnehme, dessen Leine so lang ist, dass Herrchen gar nichts merkt. Statt aufs Handydisplay zu glotzen und auf der anderen Straßenseite stehen zu bleiben, vielleicht etwas mehr Achtsamkeit? Kann deinem Bello das Leben retten. Ja, ich stimme mich schon mal ein auf mein neues Ich.
Dass Autos hier auf dem Sandweg hinter den Dünen verboten sind, hat mir Constanze dann erst hinterher gesteckt. Na ja. »Es irrt der Mensch, solang er strebt«, hieß es ja schon in Goethes Faust. Besser nicht mehr streben. Vielleicht klappt das ja ab morgen. Oder es war ein Zeichen des Universums, dass ich es in jedem Fall schaffen werde, den inneren Schweinehund platt zu machen. Oder zu zähmen, liebe Peta-Aktivisten. Geht ja auch vegan, fellfreundlich und bio.
»Wir beginnen mit einer Affirmation, Ladys! Schreibt nieder, was euch tragen soll. Und was ihr heute hier loswerden wollt!« Constanze muss gar nicht erst warmlaufen. Sie zündet so engagiert die Kerzen in ihrem Yogaraum an, als wäre es Trick 17 für den Einstieg in ihr Paralleluniversum. »Ich habe heute ein paar Idioten für einige Jahre in gesiebte Luft gesteckt – jetzt brauche ich Entspannung und etwas Lebensbejahendes! Lasst los, und ihr werdet frei sein!«
»Hast du das auch zu deinen Knackis gesagt?«, frage ich grinsend.
»Schreib du lieber deine Affirmation auf!« Constanze ist herzlich wie streng, und das ist vermutlich auch gut so. Die anderen Teilnehmerinnen schauen – bis auf eine kräftige Mittvierzigerin, die sich als »Nadin, aber ohne ›e‹« vorstellt – eher schüchtern drein. Der Rest sieht aus wie die Büroopfer von Stromberg.
Eine zierliche blonde Nina fragt: »Und wenn ich nicht so genau weiß, was ich da schreiben soll?«
»Dann wird der Satz schon zu dir finden!«, erklärt Constanze. »Jede von euch ist aus einem bestimmten Grund hier. Jede von euch will etwas loslassen. Jetzt könnt ihr es durchziehen – und ich helfe euch. Bildet mal einen Kreis.«
Das machen wir auch prompt – nur Nadin ohne »e« setzt sich wie ein faules Ei in die Mitte. Aber das stört keinen. Vielleicht muss sie ja auch einen Unsichtbarkeitskomplex entsorgen.
Constanze erklärt: »Oft klammern wir uns im Leben an Dinge, die uns gar nicht guttun. Jobs. Beziehungen. Ehen. Verletzungen. Muster. Und obwohl sie uns schwächen und unglücklich machen, halten wir daran fest. Oft fehlt uns der Mut – wir haben Angst vor Veränderungen. Aber heute machen wir etwas anders: Wir stellen uns diesen Gefühlen! Wir befreien uns vom Seelenballast! Wir glauben an uns und die Wirklichkeit, die wir erschaffen wollen! Wir erwarten keine Wunder – wir werden selbst unser eigenes sein!«
Die Kerzen flackern, Nadin ohne »e« sieht tief entschlossen aus, Blondine Nina weint lautlos, und ich überlege, kurz mal den Arm zu heben und die Hand nach der Spannung auszustrecken, die im Raum hängt wie eine Gewitterwolke. Stattdessen greife ich nach einer Kleenexbox und schiebe sie Nina zu.
»Danke!«, flüstert es neben mir.
Constanze lässt den Blick schweifen. »Geht jetzt bitte in euch und schreibt. Eure Worte gehen so in euren Geist über. Auf den einen Zettel, was ihr gehen lassen wollt, den vergraben wir später. Auf den zweiten die Eigenschaft, die euch begleiten soll!«
Die Bleistifte knarzen auf dem Kartonpapier, so still sind wir. Ich schreibe: Wenn ich meinen inneren Schweinehund akzeptiere und liebe, bin ich frei! Ich will meinen übertriebenen Perfektionismus beerdigen! Und weniger nett sein, was ich aus Höflichkeit fast weggelassen hätte! Und: Freude durch Fünf-gerade-sein-Lassen!
Plötzlich wandelt sich die Gruppendynamik. Nina knüllt das Taschentuch zusammen, Nadin ohne »e« schreibt mit Zunge zwischen den Zähnen, die anderen scheinen plötzlich Kontur zu bekommen. Zuversicht liegt in der Luft. Fünf Frauen sitzen im Kreis und fühlen sich wie kurz vor Schulbeginn: Keiner weiß, was kommt, aber es fühlt sich aufregend an, und irgendwas wird in der Zuckertüte schon drin sein, das man gebrauchen kann.
»Kann ich auch ›Selbstvertrauen‹ schreiben?«, fragt Nina zaghaft.
»Natürlich. Wunderbar!«, ermutigt Constanze sie.
»Und Selbstliebe?«, piepst es von hinten aus der Stromberg-Reihe.
»Wunderbar!«, entgegnet Constanze mit den gütigsten Augen, die ich je in ihrem Gesicht gesehen habe.
»Geht auch mehr Sex? Oder überhaupt Sex?«, fragt Nadin ohne »e«.
»Wunderb… Nein! Schreib einfach: Leidenschaft. So genau musst du das auch nicht präzisieren, Nadin! Und jetzt: Holt euch bitte die Steine hinter dem Paravent.«
Tatsächlich liegt dort ein regelrechter Steinhaufen. Und ich rede nicht von kleinen Kieseln.
»Bitte pro Person nur einen Stein!«, erklärt unsere Lehrerin und erinnert mich stark an den Film Das Leben des Brian: »Zur Kreuzigung? … Zur Tür raus, jeder bitte nur ein Kreuz, linke Reihe anstellen.«
Sterben soll hier ja schließlich auch etwas. Eine Eigenschaft. Ein Klammeraffe der miesen Angewohnheiten. Also dann. Gut, dass uns keiner sehen kann. Wir schleppen unsere Steine im Kreis herum. Und je mehr Runden wir schleppen, desto länger werden meine Arme. Die Steine symbolisieren das, was wir loslassen wollen, Schmerz und Leid. Aber so langsam möchte ich nicht loslassen, sondern wegschmeißen. Wie lange denn noch? Bald habe ich Oberarme wie Hulk. Fühle mich auch schon ganz grün. Diese Last ist doch hausgemacht. Die Zeit eine amorphe Masse, träge und dehnbar wie klebriges Hubba Bubba.
»Okay, Ladys, ihr dürft ablegen. Spürt die Leichtigkeit. Lasst los. Ihr habt Mut bewiesen. Den Königsweg zur inneren Weisheit eingeschlagen. Entscheidet euch für die Liebe, nicht für das Ego, das nur Angst, Zweifel, Hass und Missgunst keimen lässt. Ändert die Perspektive. Und sagt: ›Ich lasse los und lasse mich vertrauensvoll in den Fluss des Lebens gleiten.‹«
Wir stimmen mit ein, als würden wir uns bei den Anonymen Alkoholikern vorstellen – und steigern uns, als gäbe es dort zur Begrüßung Prosecco. Danach wird’s dann bunt: Nina muss Papiere zerschneiden, die für das stehen, was sie noch festhält, und sich vergeben. Nadin ohne »e« darf eine Piñata vermöbeln, zwei der Büroopfer springen Trampolin, um Grenzen zu überhüpfen, und ich darf Seifenblasen machen und meine Vorsätze schillernd in die Yogaraumluft wabern lassen.
Das gefällt mir viel besser. Humor und allgemeine Emsigkeit haben die Stille abgelöst.
»Ich vergebe mir und all meinen Teilen zu hundert Prozent. In alle Richtungen der Zeit«, murmelt Nina fröhlich. Schnippschnapp.
»Klingt, als hättest du schon Ersatzteile!«, lacht Nadin ohne »e« und haut mit einem Baseballschläger auf die Piñata ein.
Die Büroopfer hüpfen jetzt immer im Wechsel von Trampolin zu Trampolin, bis eine sagt: »Oh, ich hab Pipi gemacht. Sorry.«
»Du auch?«, fragt die andere.
»Mädels, Zeit für die letzte Kerze!« Coach Constanze holt uns alle zusammen. Wir machen alle einen großen Schritt nach vorn. Wieder voller Symbolkraft, versteht sich. Vor uns steht ein Pflanzenkübel mit Erde.
»Zeit, die manikürten Pfötchen schmutzig zu machen: Vergrabt eure Papiere und behaltet eure neuen Errungenschaften im Herzen. Die Erde wird das Papier zu Erde werden lassen, aber etwas Neues wird wachsen. Gratulation! Und jetzt gibt’s oben Schampus – wer will. Außer für diejenigen, die ein Alkoholproblem loslassen wollten.«
Am Ende des Tages stehen Nina, Nadin ohne Sie-wissen-schon, Constanze und ich auf ihrer Terrasse und stoßen an.
»Toll, dass du gekommen bist, Anna, hätte ich nie gedacht, dass du mal freiwillig bei mir loslässt!«, lacht Constanze.
»Ich, ehrlich gesagt, auch nicht!«, erkläre ich schmunzelnd.
»Darf man über seine Affirmationen sprechen?«, fragt Nadin.
»Wenn dir danach ist!« Constanze zündet sich eine Zigarette an und inhaliert tief.
»Also, ich hätte gerne mehr S…«
»Ja, wissen wir ja bereits, Nadin. Das wird schon!«, unterbricht sie die herzschmerzgeheilte Nina. »Wir waren aber gerade bei Anna!«
»Ich bin wegen meinem inneren Schweinehund hier, den wollte ich mal professionell umarmen und gleichzeitig den krankhaften Perfektionismus kleinkriegen.«
»Das wäre auch was für mich, verdammt, hätte ich ergänzen sollen …«, murmelt Nadin ohneundsoweiter.
»Dann wird dir das auch gelingen!« Constanze schaut in den abendlichen Sternenhimmel: »Die Essenz des Wunsches begleitet dich ab sofort. Und das reicht. Die Welt verändert sich, sobald wir anders über uns denken. Das Wunder kommt nie von außen – es ist in uns selbst. Und jetzt, meine Lieben, ab ins Bett. Ich habe morgen einen langen Prozesstag und muss früh raus. And never forget: Ihr seid Liebe! Gute Nacht!«
Ein Abend in einem Haus am Stadtpark. Die Kiesauffahrt ist frisch geharkt. Die Gartenlaternen leuchten. Der Gastgeber, ein Freund aus Teenagertagen, ist 45 geworden und hat zum Dinner eingeladen. Dresscode: fashionable. Wobei hier vermutlich seine Frau dahintersteckt, die endlich ihre Chance auf einen großen Auftritt gewittert hat. Wo den doch sonst die Geliebte für sich beansprucht. Kennen Sie diese Menschen? Das sind die, die ihre Hochzeit im feinsten Anglo-German-Klub feiern, die den teuersten Fotografen anheuern und mindestens einen Monat auf Hochzeitsreise gehen, aber auch relativ flott mal zur Abwechslung mit den Trauzeugen schlafen. Leider haben sie meistens auch die falschen Gäste eingeladen, denn die werfen sich wie Hyänen auf jedes Detail und ziehen alles durch den Kakao – noch bevor die Braut sich so betrunken hat, dass sie fast mit dem Falschen nach Hause geht. Alles schon mitgemacht.
Also, damit wir uns nicht falsch verstehen: Lästern über die Braut geht gar nicht, und das werde ich auch niemals tun. Aber mal nicht extrageschmeidig sein – das ist etwas Neues für mich. Ich gehöre ja auch zu diesen netten Dingern, die dem Gastgeber immer ein gutes Gefühl geben wollen, helfen, loben, das Gespräch am Laufen halten, immer witzige Anekdoten im Gepäck haben. Das ist einer der Gründe, warum man immer gerne »Anna dazusetzt«. Ich werde als Entertainmentfaktor unentgeltlich gebucht, was manchmal auch anstrengend sein kann. Zum Beispiel, wenn man noch unverheiratet neben Lehrern, Beamten oder am Katzentisch mit den renitenten Fällen sitzt. Zum Glück sind die Zeiten Geschichte.
In diesem Fall bin also der miese Gast ich. Denn ich habe beschlossen, mal nicht so konform zu sein. Schließlich muss doch nicht jedes Gespräch wie Teflon sein. Mit dabei: meine sehr stylishe Freundin Johanna, 36, Schwedin, Anwältin mit Doktortitel, Kanzleipartnerin in einer der führenden Wirtschaftskanzleien Europas und nie um ein ehrliches Wort verlegen. Man muss fast sagen: Johanna ist in diesem Fall mein Vorbild. Sie ist nie nett um des Nettseins willen. Eher haut sie einem eine Karre Mist um die Ohren, als dass sie mit Honig-ums-Maul-Schmieren anfängt. Die Gäste vor mir schleimen sich bereits durch die Haustür: »Danke für die Einladung! So schön, euer Haus«, »Was für ein tolles Kleid!«, »Das sieht aber gut aus!«. Das letzte Lob bezieht sich auf das eingeflogene Rind, das liegt nämlich anmutig blutig auf einer Glasplatte drapiert.
Johanna kommt mit entgegen und verzieht bereits die Mundwinkel.
»Und? Nette Runde?«, frage ich sie, als ich meinen Mantel an der Garderobe aufhänge.
»Total. Bin gleich wieder gefragt worden, warum wir noch keine Kinder haben.«
»Verstehe. Was hast du gesagt? Hast du die Penisnummer durchgezogen?«
»Nein, hier nicht. Einige der Gäste sind ja wirklich nett. Ich habe nach ihrem Gehalt gefragt und in das leere Gesicht geantwortet: ›Das tut mir jetzt leid. Ich dachte, hier sind intime Fragen erlaubt.‹ Seitdem lächelt mich eine von den Natterngezüchten so süß an, als würde sie mich gerne mit den australischen Rinderlappen totschlagen.«
Der Abend plätschert erst mal unauffällig vor sich hin. Die Frau, die gerne intime Fragen stellt, aber selbst keine beantworten will, heißt Cornelia und hat so viel Botox in der Stirn, dass sie auch die Hauptrolle in Die Maske neben Cher hätte übernehmen können. Und sie ist immer noch sauer auf Johanna. Denn selbstbewusste, kinderlose Frauen, die das freiwillig sind und auch noch frech werden, sind hier nicht vorgesehen. Ich muss immer wieder schmunzeln.
Die Frau des Jubilars ist vorgestern Veganerin geworden (»Aber bitte genießt das gute Stück Fleisch, das hat einen weiten Weg bis auf eure Teller hinter sich!«) und knabbert nur noch Gemüse.
Ihre Freundin Agatha springt ihr auch gleich bei: »Also, wir haben Fleisch auch total reduziert.«
Ihr Mann, der schon das zweite Stück Beef hinunterschlingt, guckt ganz erschreckt: »Echt? Seit wann?«
»Seit neulich, Schatz, als ich beschlossen habe, dass das ab sofort so ist!«, zischt Agatha zurück. Das wird später Ärger geben. Aber noch scheinen alle friedlich.
Bis irgendwann das Thema »Ehe« zur Sprache kommt. Plötzlich ist Leben in der Bude. Die Gastgeberin ereifert sich: »Also ich bin echt froh, dass ich rechtzeitig vom Markt genommen worden bin. Jetzt irgendwo alleinerziehend ohne Geld dasitzen – das wäre nichts für mich. Und viele Frauen verdienen dann ja nichts mehr, finden nie wieder jemanden und leben unter der Armutsgrenze.«
»Ja, so wie Anna!«, lacht Johanna.
Was natürlich ironisch gemeint ist, da ich immer tolle Moderationsjobs hatte und nach Gatte Nummer eins ja Gatte Nummer zwei kam, den ich wirklich empfehlen könnte, wenn er noch zu haben wäre. Es ist still am Tisch geworden. Johannas Humor ist ein bisschen wie getrocknete, pulverisierte Chilis. Die einen können damit, die anderen heulen. Oder denken, es geschieht gleich ein Unglück. Ich finde ja, einer Anwältin mit Präzedenzfällen, die europaweit Beachtung finden, steht das.
Die Gastgeberin ist eher so Typ Nach-oben-geheiratet-mit-zu-langen-fake-Wimpern. »Ja, Anna, du hast bestimmt Schlimmes erlebt.«
»Ehrlich gesagt: Es gibt nichts Besseres als Dinge, die man bis zur Selbstaufgabe versucht hat, loszulassen. Du weißt ja, was mit den Schwestern von Cinderella passiert ist. Wenn der Schuh nicht passt, einfach mal andere anprobieren.«
»Genau!«, ergänzt Johanna grinsend. »Macht ihr ja auch. Dein Mann probiert ja auch hin und wieder diese Flugbegleiterin. Und dich stört das ja nicht mal. Ist ja auch deine alleinige Entscheidung, was du tolerierst und was nicht. Das geht niemanden etwas an. «
»Bitte?« Alle Frauen gucken uns an. Johanna hat gesagt, was alle wissen, aber niemand offen ausspricht. Cornelias Zornesfalte erdrückt gerade das Botox in der Stirn.
Ich bin als Erste wieder verbal am Start und ziehe über Los: »Hier sind doch intime Gespräche okay? Kinderwunsch, Trennung, Betthäschen – wir sind doch unter uns?«
Johanna nickt neben mir, greift aber schon mal nach ihrer Handtasche.
»Ihr seid … ihr seid …«, atmet Cornelia schwer aus. Und fügt dann in Richtung Jubilar hinzu, der in der Männerrunde auf dem Sofa vor uns sitzt: »Björn Alexander. Ich muss mich wirklich wundern.«
Der Jubilar ist in Nöten. »Nein, bitte, was auch immer war, das war doch bestimmt nicht so gemeint, Hasi.«
»Doch. Genau genommen schon.« Johanna grinst. Das Wagyu Beef ist bestimmt schon kalt in seiner Blutlache.
»Aber wisst ihr was?«, schlage ich vor. »Wir wollen euch nicht eure politisch korrekte Feier versauen – mit dem armen Rind, das mit so viel Kerosin antreten musste, für euch Teilzeitveganer und Intime-Fragen-Herausposauner. Wir gehen jetzt. Und den Stock hinten drin, den lasst mal da – aber ruft uns nicht mehr an.«
Als wir am nächsten Morgen immer noch über die Nummer lachen, vibriert mein Handy, der Jubilar Björn Alexander: Habe verrückterweise mehr als zufrieden in der Garage geschlafen. Macht Johanna auch Scheidungsrecht?
Mein Mann: »Du immer mit deiner Handtasche. Schrecklich. Räum die doch mal auf.« Mein Mann fünf Minuten später: »Schatzl, kannst du meinen Geldbeutel/meinen Autoschlüssel/die Flyer einstecken?« Kennt jeder, oder? Trotzdem ärgere ich mich jedes Mal, wenn ich nichts finde. Dafür ziehe ich dann regelmäßig Schnuller, angebissene Pizzastangen, alte Brötchentüten, eine vertrocknete Grünpflanze und ein Bataillon Orks mit raus.
Meinem Mann, perfekt organisiert, könnte spontan die Handyrechnung vom 15.7.2008 aus seinen Ordnern ziehen, glüht dann gerne der Kopf, und er gibt Brunftlaute von sich. Hat aber nichts mit Paarungsbereitschaft zu tun. Eher mit dem Entsetzen eines Aufräum-Nerds, der für Messy-Momente selbst im kleinsten Mikrokosmus kein Verständnis aufbringen kann. Ich liebe ihn ja – aber er gehört zu der Sorte Mann, die den Geschirrspüler neu sortiert, wenn Sie wissen, was ich meine? Ist vermutlich auch ein bisschen Berufskrankheit, da er für ziemlich viele Menschen und Projekte verantwortlich ist und immer den Überblick haben muss. Dafür hat er keine Ahnung, warum ich täglich den Küchentisch abwische. Macht er einmal im Monat mit der flachen Handkante. Reicht ihm. Mir, der Frau, die in ihrer Handtasche wohnt, nicht. Deshalb passen wir auch so gut zusammen. Mal schüttelt der eine den Kopf, mal die andere.
Aber zurück zur Handtasche: Ich will sie aufräumen, immer. Nur wann? Ich erinnere mich an diesen einen Abend, an dem ich es tatsächlich tat. Ich räumte alles raus, fand Kosmetikpröbchen, freute mich, fand einen abgeleckten Lolli, ekelte mich, warf ihn weg, entsorgte Dinge in den Müll und heftete Quittungen ab, wie Selbstständige das so machen. Und dann entleerte ich die leere Tasche aus der offenen Fenstertür in den Garten. Krümel halt. Und es machte KLONK. Bis heute frage ich mich, was das wohl war und wo meine Uhr geblieben ist. Denn unter dem Fenster sind leider dichte Hecken, Reste von Efeuauswucherungen und Kellerschächte.
Aufräumen war nie überflüssiger. An einem anderen Tag stand ich mit zwei fertigen Kindern im Supermarkt. Karlotta mit plötzlichem Schulkindschnupfen, Theresa, unsere Jüngste, braucht ihren »Jijä!!!«. Anderes Wort für Schnuller. Gott sei Dank habe ich die Tasche nicht aufgeräumt. Finde noch Servietten vom letzte Pommesbudenbesuch und einen »Jijäääää!!!«. Außerdem Pizzastangenbruch. Alle begeistert.
Und meine Freundin Inke raunte mir zu: »Bist du jetzt eine von denen? Die immer alles dabeihaben? Diese Apfelschnitz-in-Tupperware-Tanten, die vorher noch Trinkflaschen füllen, bevor sie das Haus verlassen und Fingerfood einvakuumieren?«
»Ich? Gott, nein! Nie! Das ist alles nur aus Faulheit da, aus Gründen des Nichtaufräumens.«
Dann kommt der Tag, an dem mir meine Cousine Britta in Montreal eine kleine Mini-Umhängetasche schenkt. Wie eine Clutch. Ich bin begeistert. Ab sofort nur minimaler Stauraum. Wir schlendern durch Old-Montreal, essen Poutine und laufen kreuz und quer Richtung Downtown. Nur mein Mann kommt immer wieder an und fragt: »Und wo tue ich jetzt meinen Geldbeutel/die Autoschlüssel vom Leihwagen/die Flyer/die Mitbringsel hin?«
Ich: »Tja. Alles übersichtlich und aufgeräumt – aber kein Platz. Ist nur eine Ein-Personen-Handtasche.« Der Arme muss also mit ziemlich dicken Hosen- und Jackentaschen herumrennen, sieht dabei übermäßig gut gepolstert aus und sehnt sich bestimmt heimlich nach meiner großen Handtasche mit Untermietern.