Regine Kölpin
Roman
Knaur eBooks
Regine Kölpin ist 1964 in Oberhausen geboren, lebt seit ihrem fünften Lebensjahr an der Nordseeküste und schreibt Romane und Geschichten unterschiedlicher Genres. Sie ist auch als Herausgeberin tätig und an verschiedenen Musik- und Bühnenproduktionen beteiligt. Außerdem hat sie etliche Kurztexte publiziert. Ihre Arbeiten wurden mehrfach ausgezeichnet. Regine Kölpin ist verheiratet mit dem Musiker Frank Kölpin. Sie haben fünf erwachsene Kinder, mehrere Enkel und leben in einem kleinen Dorf an der Nordsee. In ihrer Freizeit verreisen sie gern mit ihrem Wohnmobil, um sich für neue Projekte inspirieren zu lassen. Mehr unter www.regine-koelpin.de
© 2020 Knaur Verlag
Ein Imprint der Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.
Illustrationen im Innenteil von Shutterstock.com: Möwen: avh_vectors, Büsche: jamesjoong, Haus: Oliver Hoffmann
Covergestaltung: Semper Smile, München
Coverabbildung: Semper Smile unter Verwendung von Motiven von Shutterstock / Eric Isselee; Suzanne Tucker; NadyaEugene; Pawel Kazmierczak; Nataliia K
ISBN 978-3-426-45465-7
Cara, Liebes, wir sind spät dran!« Thomas klang drängelnd, denn er hatte es wie immer eilig, weil er mal wieder den Wecker ausgemacht und sich noch ein paarmal im Bett umgedreht hatte. Dabei stand an diesem Morgen im Büro doch ein wichtiger Termin an. Jetzt ärgerte er sich maßlos und brach in hektische Betriebsamkeit aus. »Wir müssen uns jetzt wirklich sputen!«
Thomas nahm seinen Job bei der Softwarefirma sehr ernst, und die Arbeit schien ihn in der letzten Zeit regelrecht aufzufressen. Er war unkonzentriert, oft schlecht gelaunt und stand unglaublich unter Strom.
»Ich beeile mich ja schon! Bin gleich so weit!« Cara war im Badezimmer ihrer Etagenwohnung, die sie nach dem Auszug ihrer beiden inzwischen erwachsenen Kinder Wiebke und Tim gekauft hatten. Sie lag in einem Mehrfamilienhaus der Wilhelmshavener Südstadt nahe des Bontekais.
Im Moment versuchte Cara verzweifelt, ihre Jeans zu schließen. Von einem Tag auf den anderen ging sie plötzlich nicht mehr zu. So als hätte irgendwer über Nacht die Hose enger genäht. Cara zog den Bauch ein, konnte den Knopf am Ende schließen und seufzte erleichtert. Dann schlüpfte sie in das grasgrüne Sweatshirt und prüfte ihr morgendlich verknittertes Gesicht. Das Ergebnis war deprimierend. Die Falten traten mittlerweile an Stellen auf, von denen sie nicht einmal geahnt hatte, dass sie eine Rolle in ihrer Mimik spielten. Schaute sie tatsächlich immer so verkniffen, dass ihre Stirn gefurcht war wie ein ausgetrocknetes Flussdelta?
Würde dem Fortschreiten des Alterns ein Algorithmus zugrunde liegen, hätte sie sich vielleicht dagegen wehren können. Aber so? Älterwerden glich dem Angriff eines Pumas. Man ahnte, dass es sich unaufhaltsam näherte, aber wenn es so weit war, kam es doch plötzlich und unerwartet.
»Cara, beeil dich! Ich muss ins Büro!« Thomas hasste es, morgens das Bad mit Cara zu teilen, und wartete stets, bis sie es verlassen hatte. Jetzt lief er wie ein Tiger vor der Tür auf und ab. Ja, er brauchte Ruhe, um sich zurechtzumachen. Vor allem, seitdem es diese neue Kollegin Mara-Vanessa gab. Gerade mal dreißig Jahre alt, langes blondes Haar, fest sitzende, gut gepuschte Oberweite, die scheinbar nicht den Gesetzen der Schwerkraft zu folgen brauchte. Ein fester, runder, leicht überdimensionierter Hintern, eben so, dass er für Männer nicht zu dick, aber überaus attraktiv wirkte. Natürlich nur knapp bedeckt von einem Rock, den Cara nicht als solchen bezeichnen würde. Dazu diese Strahleaugen mit unglaublich dichten und langen getuschten Wimpern.
Mara-Vanessa fand man selbstverständlich auch mit kleinen, schnuckeligen Bildchen bei Instagram. Hübsch posierend mit Augenaufschlag. Oder mit freiliegenden Oberschenkeln, gern auch Fotos ausschließlich mit Dekolleté-Blick. Thomas hatte arges Mitleid mit dem armen Ding, das ständig von Männern verfolgt wurde, die ihr eindeutige Avancen machten. Angeblich litt sie sehr darunter.
»Sie könnte sich etwas anders kleiden, sich nicht so heftig schminken und diese Instagram-Postings sein lassen, dann würde es sich auf natürliche Weise reduzieren«, hatte Cara mal vorgeschlagen, weil sich ihr Mitleid, was das anging, in Grenzen hielt. Aber Thomas war beratungsresistent. Er schätzte die Neue ein bisschen zu sehr. Angeblich hatte sie auch eine hohe berufliche Kompetenz vorzuweisen.
»Cara, willst du mich ärgern? Mara-Vanessa fängt heute meinetwegen extra etwas früher an! Ich habe es wirklich eilig!«
Cara schnaubte. »Tut mir leid, dass deine Kollegin sich noch ein bisschen gedulden muss. Für euren Termin wird sie sicher mitten in der Nacht aufgestanden sein, bloß damit ihr Make-up sitzt.« Cara griff nach dem Kajal. Ein bisschen konnte Thomas ruhig noch da draußen schmoren, vor allem, wenn das zur Folge hatte, dass er nicht pünktlich bei Mara-Vanessa war. Wenn sie mal nicht etwas mit seiner zunehmenden Gereiztheit zu tun hatte …
Ihrem Gatten würde es gut anstehen, sich etwas mehr auf die Familie zu konzentrieren und nicht bei einer so jungen Frau den Gockel zu spielen. Seine beiden Enkel, die sechs Monate alte Lina und der dreijährige Jonas, würden sich über einen Opa mit mehr Zeit bestimmt riesig freuen.
Cara band ihr halblanges dunkelblondes Haar zu einem Pferdeschwanz und entdeckte dabei weitere graue Strähnen. Oje, es ging wirklich täglich abwärts.
Sie schaute auf die Uhr. Nun musste auch sie sich tatsächlich beeilen, denn sie wollte nicht zu spät zur Arbeit kommen. Cara jobbte halbtags bei Helene in einem kleinen Stofflädchen in Dangast. Um dorthin zu gelangen, brauchte sie von Wilhelmshaven eine knappe halbe Stunde, und sie wollte noch mit Thomas frühstücken. Cara öffnete die Tür.
»Liebes, was machst du denn nur so lange?« Thomas kniff ihr scherzhaft in die Hüftpölsterchen und sah sie mit schräg gelegtem Kopf an. Sein Dackelblick, mit dem er alle Probleme zu lösen glaubte. »Weißt du, wo meine gepunktete Krawatte ist?«
Cara zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. Die hast du als Letzter umgehabt, nicht ich.«
»Sonst muss ich die andere nehmen.« Thomas stürzte ins Badezimmer, das sie vor ihrem Einzug grundlegend renoviert hatten. Große weiße Fliesen zierten die Wand, oben mit grauem Mosaik als Bordüre. Eine Eckbadewanne hatte ein altes zerkratztes Teil ersetzt, und ein Waschtisch mit Unterschrank rundete alles ab.
Thomas stellte sich ans Waschbecken und fiel förmlich aus seinem T-Shirt und den Boxershorts. Gezielt kickte er beides mit dem Fuß in die Ecke. Cara würde nachher alles in den Wäschekorb befördern. So wie jeden Morgen.
»Liebes, du weißt, ich habe doch gleich ein wichtiges Meeting in Oldenburg! Bitte, kannst du rasch Frühstück machen und nach dieser vermaledeiten Krawatte suchen?« Thomas stellte die Dusche an und wiederholte beim Hineingehen: »Machst du das alles, bitte?«
Cara seufzte. Sie würde es tun. So wie immer.
Sie ging in die Küche, um die Kaffeemaschine anzustellen. Während der Kaffee durchlief, machte sie sich daran, den Frühstückstisch zu decken. Sie wohnten im vierten Stock und konnten deshalb von der Küche aus in Richtung Bontekai blicken. Cara mochte die Wohnung, war sie doch moderner als das Einfamilienhaus, das sie zuvor besessen hatten. Es war zwar schön gewesen, weil ihre beiden Kinder im Garten spielen konnten, aber auf Dauer hätten die Renovierungsarbeiten sie finanziell aufgefressen. Ganz abgesehen davon, dass das Haus für Thomas und sie zu groß geworden war. Thomas hatte schon immer davon geträumt, in die Südstadt von Wilhelmshaven zu ziehen und in der Nähe des Südstrands zu wohnen. Mittlerweile fühlte auch Cara sich hier wohl. Zwischen den Häusern sah man sogar ein Stück vom Wasser des Hafenbeckens. Die Nähe zum Südstrand und zum Fliegerdeich, von wo aus man Radtouren rund um den Jadebusen oder an die Küste unternehmen konnte, war wirklich wunderbar. Im Sommer fuhr Cara manchmal mit dem Fahrrad zur Arbeit nach Dangast, allerdings dauerte das doch einige Zeit, und bei dem ständigen Gegenwind war es auch nicht immer eine Freude. Aber ja, es lebte sich trotzdem prima an der Nordseeküste.
Cara überprüfte den gedeckten Tisch, rückte die Teller ein wenig zurecht und stellte sich dann an die geöffnete Balkontür. Sie sog die frische Morgenluft tief ein, während sie auf Thomas wartete, der im Bad fröhlich ein Lied trällerte. Ihnen stand ein schöner Maitag bevor, die Sonne strahlte vom klarblauen Himmel, und es wurde ständig wärmer. Cara glaubte, den Sommer schon zu riechen. Diese Süße, wenn die Bauern den ersten Heuschnitt machten und der frische Geruch durch die Landschaft sogar bis in die Stadt zog! Die Aromen der viele Blüten von Blumen und Büschen, die sich zu einer einzigartigen Mixtur vereinten. Diese speziellen Düfte konnte man nur im Mai genießen, danach änderte sich der Geruch von Monat zu Monat. Eigentlich hatte jeder sein spezielles Bouquet.
Cara wandte sich ab. Sie sollte schon mal mit dem Frühstück beginnen, schließlich lief auch ihr die Zeit davon. Sie hatten sich für heute im Stoffladen eine Menge vorgenommen. Unter anderem musste der Warenbestand aufgefrischt werden. Das Lüttje Stofflädchen lag rückwärtig in einer Sackgasse auf dem Weg zum Kurhaus.
Weil das Wetter so fantastisch war, würden sie nachher einen Teil der Stoffe und Kunstwerke draußen präsentieren können. Cara fand Helenes Geschäft eigentlich zu düster und zu stickig und war der Ansicht, man müsse auch dort einmal frischen Wind reinbringen, aber es stand ihr als Aushilfe nicht zu, Helene Vorschriften zu machen, auch wenn sie gut befreundet waren. Cara vermutete, dass Helene mit ihren fünfundsiebzig Jahren keine große Lust mehr verspürte, an bestehenden Dingen etwas zu verändern. Sie führte das Lädchen nur noch, um sich in ihrer kleinen Wohnung nicht zu Tode zu langweilen. Denn Langeweile war für ein Energiebündel wie Helene Gift. Obwohl Cara schon so manches Mal vermutet hatte, dass sich Helene hinter ihrem Frohsinn versteckte. Manchmal wirkte er aufgesetzt. Zu oft versteinerte ihr Gesicht, wenn sie sich unbeobachtet glaubte, und manchmal erreichte das Lächeln ihre Augen nicht. War es ihr wirklich so egal, dass sie keine eigene Familie hatte? Oder wo lag der Grund, dass sie sich auch vor Cara derart versteckte?
Das Summen des Handys riss Cara aus ihren Gedanken. Es war eine Nachricht von Wiebke, die oft gern abends mit ihren beiden Kindern Jonas und Lina vorbeischaute.
Ihre Tochter wohnte auch in Wilhelmshaven in einem Reihenhaus, nicht allzu weit von ihren Eltern entfernt. Cara freute sich immer sehr, wenn die drei kamen. Am besten ohne Wolfi, Wiebkes Ehemann. Er war Gynäkologe und ein anstrengender und arroganter Typ. Aber das durfte man als Schwiegermutter ja nicht laut sagen. Heute wollte Wiebke aber nicht kommen, wie Cara der Nachricht entnahm.
Schade, dachte sie. Sie vermisste ihre Kinder immer, wenn sie nicht da waren. Ihr jüngerer Sohn Tim, der in Oldenburg Wirtschaftsinformatik studierte, hatte sich in den letzten Monaten rar gemacht. Sein Studium fraß wohl sehr viel Zeit.
Manchmal sehnte Cara sich nach der Zeit zurück, als die Familie sie noch mehr gebraucht hatte. Aber dass Kinder selbstständig wurden und taten, was ihnen gefiel, war nun mal der Lauf der Welt.
Um endlich auch ihren eigenen Weg zu gehen, hatte Cara sich entschieden, die Arbeit im Stofflädchen aufzugeben, nur Aushilfe zu sein reichte ihr auf Dauer nicht. Sie konnte mehr, und das würde sie allen beweisen. Deshalb hatte sie sich schon darum gekümmert, wie eine Wiedereingliederung in ihren alten Beruf als Bürokauffrau klappen könnte.
Thomas kam jetzt in die Küche gehuscht und knöpfte sich noch im Gehen das Hemd zu. »Cara, ist der Kaffee noch nicht durchgelaufen?« Er küsste seine Frau auf den Mund und warf gleich darauf einen Blick zur Küchenuhr. Dabei hampelte er unruhig hin und her. Hätte das Wort Hektik einen Namen, würde es heute Thomas Matern heißen.
Cara schüttelte den Kopf. »Nein, zaubern kann ich nicht. Du hörst ja, der Kaffee gluckst sich noch durch den Filter.« Die Maschine war schon sehr alt, weshalb Cara sie heimlich den Kaffeekotzer nannte, denn das Durchlaufen war wirklich penetrant laut und klang zuweilen unangenehm.
Thomas nahm ihre Bemerkung schulterzuckend zur Kenntnis. »Dann muss ich jetzt los, tut mir leid. Obwohl du dir die Mühe mit dem Frühstück gemacht hast. Ich werde ab morgen wirklich früher aufstehen.« Er fuhr sich durchs Haar und wirkte tatsächlich ein bisschen schuldbewusst. »Meinen Kaffee muss ich wohl im Büro trinken.«
Thomas lächelte Cara flüchtig an und warf dann einen Blick in die Scheibe der Balkontür, in der sich sein Gesicht spiegelte. Ja, er sah klasse aus. Sportliche, schlanke Figur, 1,85 groß und absolut keinen Ansatz einer Glatze wie bei vielen anderen Mittfünfzigern. Auf seinem Kopf wuchs volles hellbraunes Haar, das er stets akkurat geschnitten trug. Vorne ein bisschen länger.
Er trieb kaum Sport, sein Trimmrad und die Hantelbank blieben meist ungenutzt, doch er sah trotzdem aus, als könne er jederzeit den nächsten Marathon gewinnen. Cara korrigierte sich. Seit Mara-Vanessa im Büro neben ihm arbeitete, joggte Thomas durchaus wieder öfter am Südstrand, und er hatte sogar in Erwägung gezogen, sich im Fitnessstudio anzumelden.
Caras Körper hingegen machte ihr das Altern schwerer. Bei ihr half weder ein regelmäßiges Training noch das Stemmen von Hanteln. Sie hatte schon alles versucht, doch außer Kreuzschmerzen und einer Bänderdehnung war keine weitere Reaktion ihres Körpers erfolgt, sodass sie es schlussendlich aufgegeben und still akzeptiert hatte, dass der Zenit überschritten war.
»Hast du denn den Schlips gefunden?«, hakte Thomas nach, während er sein Haar final vor dem Flurspiegel richtete und sich noch einmal im Profil überprüfte.
Cara schüttelte den Kopf. »Wann hätte ich den suchen sollen? Ich musste doch Frühstück machen!«
Und aus dem Fenster sehen und den schönen Tag genießen.
Thomas schnappte sich die nächstbeste, schon geknotete Krawatte und zog sie fest. Dann griff er nach der Jacke, legte sie sich aber nur über den Arm, weil es schon jetzt recht warm draußen war. Er huschte ein letztes Mal kurz in die Küche, hauchte Cara einen Kuss auf die Wange und wandte sich zum Gehen. »Ich mach mich dann mal vom Acker. Kann spät werden heute. Du weißt ja: das Meeting.«
Und weg war er. Spät, ja spät kam er wirklich immer. Und noch später, seit Mara-Vanessa …
Nicht, dass Cara ernsthaft glaubte, Thomas hätte mit seiner Kollegin ein Verhältnis. Aber so lange, wie er sich ihre Instagram-Posts immer betrachtete, hatte er zumindest ein paar Fantasien in die Richtung.
Nicht darüber nachdenken. Es würde ihr nur den Tag versauen. Cara straffte den Rücken.
Sie stellte die Kaffeemaschine aus, goss den Kaffee in den Ausguss und deckte den Frühstückstisch wieder ab. Ihr war der Appetit vergangen. Ein Knäckebrot im Stehen tat es schließlich auch, bevor sie nach Dangast fuhr.
Während sie aufräumte, hing sie ihren Gedanken nach. Thomas hatte sich verändert. Früher hatten sie sich über ihre Pläne ausgetauscht, debattiert und sich gegenseitig in ihrem Tun unterstützt. Und heute? Nichts. Thomas interessierte sich nicht mehr für das, was ihr wichtig war. Sie mussten jedoch dringend mal miteinander reden. Vor allem über Caras neue berufliche Pläne. Thomas hatte sich ihre Ausführungen bislang nur kurz angehört, genickt und war dann zum Joggen aufgebrochen. Ein bisschen wenig Reaktion, wie Cara fand. Sie musste ihren Entschluss allerdings noch Helene mitteilen, und das machte ihr ein wenig Bauchgrimmen. Sie hoffte, dass ihre Freundin Verständnis dafür hatte, denn vermutlich rechnete sie nicht damit, dass Cara gehen könnte.
Es klingelte. Wer war denn das um diese Zeit? Besuch konnte sie jetzt gar nicht brauchen. Sie musste nun wirklich los.
Als sie öffnete, stand tatsächlich Helene mit hochrotem Kopf in der Eingangstür. Ihre grauen Haare hatte sie wie immer zu einem Dutt frisiert, allerdings wirkte alles ziemlich derangiert. Sie trug ihre dunkle Jerseyhose und dazu einen bunten Pullover mit einem noch bunteren Tuch und helle Leinenschnürschuhe.
Erstaunt sah Cara sie an. »Du? Warum bist du hier? Du siehst ja ziemlich fertig aus! Ich wollte mich gleich auf den Weg nach Dangast machen.«
Helene zuckte mit den Schultern. »Die Haustür war auf, und ich bin der Fitness wegen nicht mit dem Fahrstuhl gefahren. Was für eine blöde Idee, ich bin nämlich gar nicht mehr fit. Jedenfalls nicht für den Treppengang in den vierten Stock. Uff.« Sie wischte sich mit dem Handrücken über die Stirn, ging sofort in die Küche und ließ sich auf einen der Stühle fallen. »Hast du ein Glas Wasser?«
Cara stellte ihr eins hin. »Aber was machst du überhaupt so früh am Morgen in Wilhelmshaven?«
»Ach so, nichts Schlimmes. Nur ein Arzttermin. Vorsorge«, fügte sie hinzu, als sie Caras besorgten Blick bemerkte. Helene trank das Glas in einem Zug leer. »Meine Nachbarin hat mich spontan mitgenommen, und ich dachte, so können wir gemeinsam zum Lädchen fahren. Mein kleiner Hubert hatte auf diese Weise etwas Pause. Du weißt ja, er will nicht mehr so richtig.«
Cara musste grinsen. Der kleine Hubert war ein altersschwacher rostroter VW-Käfer, an dem Helene mit einer wahren Affenliebe hing. Jeder Start war mit heftigem Beten und Bangen verbunden, denn er sprang nur dann an, wenn es ihm beliebte. Also selten bei feuchtem Wetter, bei Kälte schon gar nicht, und bei Hitze nur, wenn es Hubert passte. Von daher war es sicher eine gute Idee gewesen, bei einem frühen Arzttermin auf die Nachbarin und nicht auf das kleine Auto zu vertrauen.
»Du hättest mir aber Bescheid geben sollen«, sagte Cara. »Fast wäre ich schon weg gewesen. Dann hättest du dumm dagestanden.«
»Bist du aber nicht! Und zur Not wäre ich mit Zug und Taxi gefahren. Es gibt immer Wege, das weißt du doch!« Helenes Wangen glühten noch immer. Cara liebte den unerschütterlichen Optimismus, den ihre Freundin stets nach außen hin ausstrahlte. »Geht nicht« kam in ihrem Wortschatz einfach nicht vor. Sonst hätte sie sich vermutlich auch schon lange von Hubert, dem einzigen männlichen Wesen an ihrer Seite, getrennt.
Jetzt sah die alte Dame durch die Balkontür nach draußen.
»Deine Blumenkästen sind wirklich eine Augenweide!«
Cara lächelte versonnen. »Manchmal fehlt mir tatsächlich der alte Garten, wo ich mich austoben konnte. Hier habe ich nur die Balkonkästen. Damit mache ich mir allerdings Arbeit genug.« Caras bepflanzte die Kästen immer mit viel Liebe. Im Sommer wechselten sich feuerrote Geranien mit blauer Männertreu ab, dazwischen setzte sie gern Silberblätter. Im Herbst blühten dort Astern und die erste Heide, im Winter spickte sie dazwischen Alpenveilchen und Tannenzweige.
Helene war derweil aufgesprungen. Sie konnte nie lange ruhig sitzen. »Ich bin froh, dass du dein kreatives Händchen mit dem Hang zur perfekten Dekoration auch bei mir im Lädchen auslebst, meine Liebe. Ich bin schließlich Geschäftsfrau, und mir fehlt oft die Zeit dazu.«
Cara zog amüsiert die Brauen hoch. Helene fehlte nicht die Zeit, sondern die Lust zum hübsch Herrichten und erst recht für die Gartenarbeit. Zum Stofflädchen gehörte ein kleines Rasenstück, um das sie sich kümmern musste. Doch das vergaß sie meist, und so wucherte das Gras oft sehr hoch und wild.
Es störte aber kaum jemanden, im Gegenteil: Die meisten liebten das Verwunschene, das dem Stofflädchen anhaftete. Es passte nach Dangast, denn viele Dinge muteten hier ursprünglich an. Schickimicki suchte man in dem Künstlerdorf vergeblich, und alle hofften, dass es noch lange so blieb. Das Lüttje Stofflädchen lag zudem sehr versteckt. Im Winter verlief sich kaum ein Fremder dorthin, aber die Einheimischen kamen gern, genau wie die Stammkunden, die das gemütliche Ambiente schätzten. Ein paar Kunden nahmen sogar den Weg aus Oldenburg in Kauf, und das war wirklich ein Stück zu fahren. Der gemütliche Ort Dangast mit seinen lauschigen Ecken, den kleinen Galerien, dem Franz Radziwill Haus und den anderen Manufakturen, gepaart mit der direkten Angrenzung zum Strand und zum Jadebusen, taten ihr Übriges, um Kundschaft anzulocken. Dazu hatten sie ein Onlinegeschäft errichtet, um überallhin liefern zu können.
Im Sommer schoben sich zahlreiche Urlauber durch Dangast und kamen so auch am Lüttje Stofflädchen vorbei. Sie deckten sich gern mit handgefertigter Küstenmode und kleinen Accessoires ein. Cara und Helene waren diesbezüglich sehr kreativ, sie strickten und häkelten, hatten Wolle im Angebot, sogar selbst gesponnene. Cara war eine Meisterin darin, ebenmäßige, feine Fäden zu spinnen. Natürlich fertigte sie daraus auch Socken, Schals oder einzigartige Stolas.
Jetzt sah Helene Cara auffordernd an. »So, nun müssen wir aber los. Sonst stehen die Kunden gleich Schlange und wundern sich, warum das Lädchen nicht aufhat.« Das war natürlich ein Witz, im Mai war der Besucherandrang im Ort noch überschaubar. In ein paar Wochen würde sich das ändern, denn dann war Dangast voll mit Gästen.
Cara schlüpfte in ihre leichte Sommerstrickjacke. Für die Jahreszeit war es ungewöhnlich warm.
Fünf Minuten später stiegen sie aus dem Fahrstuhl und liefen zum rückwärtigen Parkplatz, wo Caras blauer Golf stand. »Mann, ist das heiß«, stöhnte sie und zog die Strickjacke gleich wieder aus.
Die Fahrt verlief zunächst schweigend, weil beide Frauen ihren Gedanken nachhingen. Doch Cara spürte, dass Helene sie betrachtete und gleich etwas sagen würde. »Du siehst heute irgendwie bedröppelt aus«, kam es kurz darauf. »Ist was passiert?«
Cara fuhr auf die A 29 und strich sich durchs Haar. Sie musste Helene heute von ihrer geplanten Umorientierung erzählen, aber hier im Auto wollte sie nicht damit beginnen. Das machte sich später bei einer Tasse Tee besser, denn es war ja eine einschneidende Sache, auch für Helene. Aber für sie selbst war es bestimmt eine Erleichterung, ihre Sorgen wegen Thomas einmal loszuwerden.
»Es gibt tatsächlich ein paar Dinge«, platzte es aus ihr heraus. »Ein Punkt ist Thomas. Seine Gleichgültigkeit. Seine neue Kollegin. Nie hat er Zeit.« Sie stockte. So würde Helene sicher nicht verstehen, was genau sie bewegte. Aber es direkt auszusprechen, war Thomas gegenüber schrecklich illoyal. Helene schien zu spüren, dass es besser war, da nicht weiter nachzubohren.
»Und was noch?«, fragte sie stattdessen.
Cara schlug mit der Hand aufs Lenkrad, was die Hupe auslöste. »Meine Speckrollen! Die immer graueren Haare! Meine Hitzewallungen … Kein Wunder, dass Thomas mich kaum noch ansieht!«
Helene warf Cara einen liebevollen Blick zu. »Wenn er dich nicht sieht, ist er blind«, sagte sie. »Aber ich verstehe dich. Die Arbeit im Lädchen wird dich gleich bestimmt etwas ablenken.«
Dankbar sah Cara zu ihrer Freundin. Sie liebte Helene schon deshalb, weil sie keine großen Worte verlor. Sie versuchte nicht, ihr tausend Ratschläge zu erteilen oder das, was sie bedrückte, kleinzureden. Nein, sie nahm es zunächst einmal als gegeben hin, und man würde sehen, was daraus wurde.
Nach zwanzig Minuten hatten sie Dangast erreicht und fuhren die Edo-Wiemken-Straße entlang. Helene sah ihre Freundin immer wieder verstohlen an. Das, was Cara ihr erzählt hatte, war sicher längst nicht alles. Ihre Freundin war sonst nicht so schweigsam. Obwohl – in den letzten Wochen hatte sie sich sehr verändert. Manchmal, wenn sie sich unbeobachtet glaubte, wirkte sie nachdenklich und in sich gekehrt. Ob sie sich wirklich ernsthafte Sorgen wegen Thomas’ neuer Kollegin machte? Oder waren es die Hormone, die sie ins Taumeln brachten? Helene erinnerte sich nur zu gut an die schlimmste Phase ihrer Wechseljahre, wo sie keinen Tag das Gefühl hatte, normal temperiert zu sein, geschweige denn, eine ausgeglichene Psyche zu haben. Hinzu kam ein unkontrolliertes Herzjagen, natürlich immer dann, wenn man es am wenigsten gebrauchen konnte. In der Nacht war sie von Panikattacken um den Schlaf gebracht worden.
Damals war sie in ein tiefes Loch gefallen, wo sie alles Negative ihres Lebens eingeholt hatte. Ihr Leben war so anders verlaufen, als sie es sich erhofft hatte! Eine Familie hatte sie haben wollen und dann … Helene schluckte. Es half nichts, darüber zu lamentieren. Es war eben, wie es war.
Cara aber hatte ihren Mann, die beiden Kinder und die Enkel. Vielleicht war es an der Zeit, dass sie mal ein bisschen mehr an sich selbst dachte? Auf der anderen Seite liebte Cara es, sich um andere zu kümmern. Sie hatte ein viel zu gutes Herz. Niemals sagte sie Nein, wenn ihr etwas zu viel wurde, sie blieb immer gleichbleibend freundlich und tat, was von ihr verlangt wurde. Allerdings nutzte niemand sie wissentlich aus, weil alle glaubten, Cara springe immer wieder gern ein. Für Thomas war das bequem, weil sie ihm wirklich jedes störende Hügelchen beiseiteräumte.
Jammerte die Nachbarin Frau Wohlgemuth, die alles besaß, aber kein freundliches Gemüt, putzte Cara ihr nach Feierabend noch die Fenster, und gern fuhr sie den älteren Herrn aus dem fünften Stock zwischendurch mal eben zum Arzt. Und alles immer mit einem freundlichen Lächeln im Gesicht. Für ihre Kinder war es natürlich eine Wohltat, eine Mutter zu haben, die stets alles möglich machte.
Helene liebte Cara für ihre Uneigennützigkeit, aber zu viel davon konnte auf Dauer nicht gesund sein, dabei brannte man aus. Sie machte sich deswegen schon länger Sorgen.
Cara setzte jetzt den Blinker, und sie bogen links in Richtung Kurhaus ab.
Kennengelernt hatten sie sich vor vielen Jahren an einem Himmelfahrtstag in der Nordseehalle in Emden auf dem holländischen Stoffmarkt. Beide waren mit übervollen Taschen in der kleinen Cafeteria an einem Tisch gelandet und ins Gespräch gekommen. Helene hatte Cara zu sich ins Lüttje Stofflädchen eingeladen. Cara war tatsächlich gleich am nächsten Tag gekommen und hatte sich alles interessiert angesehen. Weil sie gern wieder arbeiten wollte, jetzt, da die Kinder groß waren, hatte sie begonnen, ein paar Stunden in Helenes Lädchen auszuhelfen.
Ihre Freundschaft war von Monat zu Monat und von Jahr zu Jahr gewachsen. Es war keine simple Beste-Freundinnen-Beziehung. Es war auch kein Ersatz für eine Mutter-Tochter-Beziehung. Es war irgendetwas dazwischen. Aber so fest und unumstößlich, dass beide wussten, wie sehr sie sich auch ohne große Worte aufeinander verlassen konnten.
In der letzten Zeit hatte Helene viel nachgedacht und schließlich einen Entschluss gefasst. Sie wollte Cara gleich mit einem Vorschlag konfrontieren und ihr für das Lüttje Stofflädchen eine Teilhaberschaft anbieten. Cara brauchte dringend eine Aufgabe, die ihr mehr Verantwortung abverlangte.
Helene hatte keine Familie, da lag es doch nahe, Cara die Hälfte des Ladens zu überschreiben. Noch fühlte sich Helene topfit, aber wenn es ihr eines Tages zu viel wurde, würde sie ihrer Freundin das Lädchen ganz überlassen.
Cara bog in die Sackgasse zum Laden ab. Sie parkte wie immer auf dem Hinterhof, der von efeubewachsenen Stellwänden umgeben war. Das Unkraut wuchs wild zwischen den Steinen und zeigte deutlich, dass hier etwas mehr Zuwendung nötig gewesen wäre. Genau wie in dem Minigärtchen, wo das Gras schon wieder knöchelhoch stand.
»Da wären wir«, sagte Cara lächelnd. Sie wirkte nun wieder ganz entspannt. Wenn sie im Stofflädchen stand, war sie stets wie ausgewechselt. Kaum trat sie durch die Eingangstür, schlüpfte sie in eine neue Identität.
Ja, es war ein schönes Geschäft, allerdings hätte es einen neuen Schliff verdient, damit es einerseits zeitgemäß war, aber andererseits den friesischen und ursprünglichen Charme behielt.
Helene warf einen Blick auf die Armbanduhr. Es war schon spät, sie musste sich sputen.
Cara schloss den Wagen ab, währenddessen öffnete Helene den Laden und griff nach dem ersten Aufsteller. Darauf befanden sich kleinere Teile wie Babyschuhe mit Muschelmotiven, Handytäschchen und verschiedene Schals. Gestrickt, genäht, gehäkelt. Es war für jeden Geschmack etwas dabei. Der Aufsteller war ein wunderbarer Blickfang und verleitete die Urlauber, den Laden zu betreten und ein bisschen zu stöbern. Hier empfing sie eine vielfältige Mischung aus Röcken, Kleidern, bunten Hosen und Taschen sowie verschiedene Stoffe. Durchaus nicht alles maritim, aber sehr individuell gestaltet.
Schon bald kam die erste Kundin.
Cara bediente sie und schob danach das Arrangement mit der handgesponnenen Wolle an Helene vorbei. Sie hielt an, kurz bevor sie es nach draußen schob. »Können wir gleich mal reden?«
Helene nickte. »Wo drückt der Schuh denn noch? Wenn du so ernst guckst, schließe ich daraus, dass es doch nicht nur deine Wechseljahre und dein Kummer mit Thomas sind, was dich belastet.«
Cara schob den Ständer hinaus und stellte ihn neben die Tür. Helene war ihr gefolgt und sah sie abwartend an.
Ihre Freundin atmete einmal tief ein, bevor sie lossprudelte: »Du hast recht. Mir brennt etwas auf der Seele.«
»Mir auch!«, sagte Helene lächelnd. Es würde Cara bestimmt guttun, wenn sie mehr Verantwortung bekam. Aber ihre Freundin hob die Hand. »Bitte, lass mich erst, sonst trau ich mich nicht mehr.« Sie lächelte schräg. »Vermutlich willst du dich irgendwann zur Ruhe setzen, und da habe ich mir gedacht …«
»Sehe ich so aus?«, unterbrach Helene sie erstaunt.
Cara lachte auf. »Nein, eigentlich nicht. Blöder Anfang!«
»Dann sag doch einfach, was los ist«, forderte Helene sie auf.
Cara schluckte laut. »Gut, es ist so, ich … ich möchte gern wieder in meinen alten Beruf zurück. Ich arbeite wirklich sehr gern bei dir, das weißt du, aber ich war damals auch sehr gern Bürokauffrau und will mir jetzt beweisen, dass ich es noch kann. Deshalb möchte ich mich zu einer Wiedereingliederungsmaßnahme bei der VHS anmelden. Es ist blöd dir gegenüber, ich weiß.« Sie senkte den Kopf.
»Ich hoffe so sehr, du verstehst meine Entscheidung! Es soll wirklich nicht so aussehen wie ›Die Ratten verlassen das sinkende Schiff‹.«
Helene sah Cara ganz ruhig an. Caras Worte trafen sie tiefer, als sie gedacht hätte. Da hatte sie sich gerade eine wunderbare Lösung für die Zukunft überlegt, und Cara wollte gar nicht bleiben! Aber es stand Helene nicht zu, die Entscheidung der Freundin infrage zu stellen. Aber verstehen wollte sie es. Einfach verstehen!
»Warum genau hast du diese Entscheidung getroffen?«
Cara presste die Lippen fest aufeinander, ehe sie antwortete: »Immer war ich für andere da, aber im letzten Jahr ist mir deutlich geworden, dass es so nicht weitergeht. So gern ich nähe und Schmuck entwerfe, Wolle spinne … In der jetzigen Situation hat das immer etwas Hobbymäßiges.«
»Das stimmt doch gar nicht«, widersprach Helene, schwieg dann aber, als sie sah, wie sehr Cara mit sich kämpfte, um das, was sie bewegte, in Worte zu fassen.
»Doch, Helene. Es stimmt alles. Ich lebe gerade das volle Klischee. Der Mann schafft die Kohle ran, und Frauchen jobbt als Hobby und spielt ab und zu die junge Oma. Das reicht mir aber nicht mehr. Ich muss mich neu orientieren. Sonst bin ich über kurz oder lang zu alt dafür.«
Helene atmete einmal tief ein und aus. Das war jetzt saudumm gelaufen und warf ihre Pläne tatsächlich über den Haufen. Nun konnte sie Cara unmöglich erzählen, was sie vorgehabt hatte. Es würde ihre Freundin in einen unglaublichen Konflikt bringen. Cara hatte sich für einen anderen Weg entschieden, und sie, Helene, musste das akzeptieren. Wenigstens verstand sie nun, warum ihre Freundin so schweigsam gewesen war. Dieses Geständnis musste sie große Überwindung gekostet haben.
Sie nahm Cara fest in den Arm. »Komm, mien Deern. Es ist alles gut. Deswegen musst du dir nicht noch mehr graue Haare wachsen lassen. Ich kann mein Lädchen gut allein weiterführen. Und wenn es mal nicht mehr geht: Ich bekomme eine ganz formidable Rente und bin auch sonst mehr als gut abgesichert. Auch wenn es nicht so wirkt, weil ich hier in Dangast in meiner kleinen, winzigen Dachwohnung lebe.«
»Wirklich? Du findest es nicht schlimm?« Cara schaute Helene ungläubig an. »Seitdem ich das für mich beschlossen habe, quält mich ein unglaublich schlechtes Gewissen dir gegenüber!«
Genau das hatte Helene befürchtet.
»Jeder muss doch seinen Weg gehen, wer wüsste das nicht besser als ich. Ich musste auch einmal eine Entscheidung treffen …« Helene brach ab. Das gehörte nicht hierher, und sie wollte weder jetzt noch zukünftig darüber nachdenken, ob die Entscheidung damals richtig gewesen war oder nicht. Es war eben nicht mehr zu ändern. Zum Glück war Cara so mit sich beschäftigt, dass sie Helenes Zögern nicht bemerkt hatte.
»Und du verstehst mich wirklich?«, wiederholte Cara.
»Ja, das tue ich.« Sie gingen zurück in den Laden. »Deine Entscheidung ist definitiv für dich richtig, Cara.«
»Aber ich lasse dich im Stich! Gerade dich, die du immer für mich da warst.«
Wieder nahm Helene Cara in den Arm. »Du lässt mich doch nicht im Stich! Ich war für dich da, und du warst für mich da, denn wir verstehen uns einfach gut. Das wird sich ja auch unter den neuen Umständen nicht grundsätzlich ändern. Unsere gemeinsame Zeit im Stofflädchen war wichtig für uns beide. Aber das Lebensrad dreht sich weiter. Jetzt sollten wir uns gegenseitig keine Rechenschaft ablegen müssen, mien Deern. Alles hat seine Zeit, und deine im Lüttje Stofflädchen hat nun eben ein Ende.«
Cara traten Tränen in die Augen. »Das meinst du tatsächlich ernst«, stellte sie erstaunt fest.
»Natürlich meine ich das ernst. Wann soll deine Weiterbildung losgehen?« Helene rückte einen Stoffballen zurecht. So entspannt, wie sie tat, war sie nicht. Sie würde ihre Freundin schrecklich vermissen.
Cara stieß sie an. »Meine Fortbildung beginnt schon im nächsten Monat. So lange mache ich hier aber, was ich kann. Bestimmt findest du für die Sommermonate eine Aushilfskraft, im Winter ist ja sowieso weniger los und …«
Helene hob abwehrend die Hand. »Nun lass mal gut sein. Mir werden deine Modelle und Ideen fehlen, aber den Rest bekomme ich schon hin. Und wenn du Lust und Zeit hast, kannst du ja immer gern mal was für mich nähen.«
Ein Signalton von Caras Handy unterbrach ihr Gespräch. »Es ist Tim«, erklärte sie, nachdem sie einen Blick auf die WhatsApp geworfen hatte. »Er hat sich ewig nicht gemeldet, und wenn, dann war er kurz angebunden. Aber heute will er gegen Abend noch vorbeikommen.«
Helene mochte Tim. Er war ein liebevoller Chaot, der sich stets verspätete und immer eine berechtigte Ausrede dafür hatte. Man konnte ihm allerdings nicht böse sein, denn wenn Helene mal Hilfe brauchte, um zum Beispiel ein neues Regal anzubringen oder Ähnliches, dann war er zur Stelle. Nicht pünktlich, aber er kam.
»Ob ich etwas eher gehen sollte? Dann kann ich Tim Spaghetti kochen, die liebt er so«, überlegte Cara. »Wenn er schon extra aus Oldenburg kommt!«
Von Oldenburg nach Wilhelmshaven war mit den sechzig Kilometern Entfernung keine Weltreise, aber das war wieder typisch Cara. Helene stieß sie liebevoll an. »Wolltest du nicht eben noch mehr an dich selbst denken?«
Cara biss sich auf die Unterlippe. »Okay, dann arbeiten wir jetzt, und falls es passt, geh ich eher.«
»Das klingt doch schon besser.« Helene trat an den Computer. »Dann lass uns mal mit dem starten, was am wichtigsten ist.«
Es galt, Stoffe zu bestellen und die Kollektion zu besprechen. Vor allem jetzt, da Cara gekündigt hatte.
Die nickte abwesend. »Ja, lass uns loslegen. Ich weiß nicht, aber ich habe wegen seines Besuchs ein ungutes Gefühl. Er war so lange nicht da, hat sich kaum gemeldet, und nun will er kommen. Das ist doch komisch, oder?«
Helene schüttelte lächelnd den Kopf. »Jetzt hörst du schon Flöhe husten. Vielleicht hat er einfach ein schlechtes Gewissen?«
Cara zuckte mit den Schultern.
»Vielleicht wird er ja Vater«, zog Helene sie jetzt auf, und ihr Witzchen zeigte sofort die gewünschte Wirkung.
»Tim?« Cara lachte laut auf. »Er hat ja nicht einmal eine Freundin.«
»Oder du weißt nur von keiner.« Helene fuhr den Rechner hoch und rief die Seite des Stoffhändlers auf.
»Mach mich nicht schwach!« Cara schüttelte noch immer den Kopf. »Bevor mein Herr Sohn Vater wird und für ein Kind die Verantwortung übernimmt …« Sie brach den Satz ab. »Da würde sich wohl eher der Mount Everest drei Meter seitwärts bewegen.«
»Da hast du wohl recht. Wollen wir?«
Cara nickte und setzte sich neben Helene.