Valérie Perrin

Unter den hundertjährigen Linden

Roman

Knaur e-books

Inhaltsübersicht

Über Valérie Perrin

Valérie Perrin ist Fotografin und Drehbuchautorin. Sie lebt und arbeitet mit Regisseur Claude Lelouch. Ihr Debütroman Die Dame mit dem blauen Koffer hat in Frankreich zahlreiche Preise gewonnen. Unter den hundertjährigen Linden ist ihr zweiter Roman.

Impressum

Die französische Originalausgabe erschien 2018 unter dem Titel »Changer l’eau des fleurs« bei Albin Michel, Paris.

 

© 2019 der eBook-Ausgabe Knaur eBook

© 2018 Éditions Albin Michel

© 2019 der deutschsprachigen Ausgabe Knaur Verlag

Ein Imprint der Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.

Redaktion: Frederike Labahn

Covergestaltung: Isabella Materne

Coverabbildung: Masson; Marina Eisymont

ISBN 978-3-426-45504-3

Hinweise des Verlags

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.


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Meinen Eltern, Francine und Yvan Perrin.

 

 

 

Für Patricia Lopez »Paquita« und Sophie Daull.

1

Meine Nachbarn haben eiskalte Nerven. Sie haben keine Sorgen, verlieben sich nicht, kauen nicht an den Nägeln, glauben nicht an den Zufall, machen keine leeren Versprechungen, keinen Lärm, sind nicht sozialversichert, weinen nicht, suchen nicht ihre Schlüssel, ihre Brille, die Fernbedienung, ihre Kinder, das Glück.

Sie lesen nicht, zahlen keine Steuern, sind nicht auf Diät, haben keine Vorlieben, ändern nicht ihre Meinung, machen ihr Bett nicht, rauchen nicht, schreiben keine Listen, legen nicht jedes Wort auf die Goldwaage. Sie lassen sich nicht ersetzen.

Sie sind weder unterwürfig noch ehrgeizig, nicht nachtragend, eitel, schäbig, großzügig, eifersüchtig, ungepflegt, sauber, erhaben, lustig, süchtig, geizig, fröhlich, verschmitzt, brutal, verliebt, motzig, scheinheilig, sanft, hart, weich, böse, verlogen, diebisch, verspielt, mutig, heuchlerisch, gläubig, zudringlich, optimistisch.

Sie sind tot.

Sie unterscheiden sich nur durch das Holz, aus dem ihr Sarg gemacht ist: Eiche, Kiefer oder Mahagoni.

2

Ich heiße Violette Toussaint. Früher war ich Schrankenwärterin, jetzt bin ich Friedhofswärterin.

Ich koste das Leben, ich trinke es in kleinen Schlucken wie Jasmintee mit Honig. Und wenn es Abend wird, das Tor meines Friedhofs geschlossen ist und der Schlüssel in meinem Bad hängt, bin ich im Paradies.

Nicht im Paradies meiner Nachbarn. Nein.

Im Paradies der Lebenden: ein Schluck Portwein – Jahrgang 1983 –, den mir José-Luis Fernandez jeden 1. September vorbeibringt. Ein Rest Ferien in einem kleinen Kristallglas, eine Art Indian Summer, den ich gegen 19 Uhr entkorke, ob es regnet, schneit oder windet.

Zwei Fingerhüte tiefroter Saft. Das Blut der Weinberge von Porto. Ich schließe die Augen. Und ich genieße. Ein einziger Schluck hellt meinen Abend auf. Zwei Fingerhüte, weil ich den Rausch mag, aber nicht den Alkohol.

José-Luis Fernandez bringt jede Woche Blumen auf das Grab von Maria Pinto, verheiratete Fernandez (1956–2007), nur nicht im Juli, da springe ich ein. Daher der Porto, als Dank.

Mein Jetzt ist eine Gegenwart des Himmels. Das sage ich mir jeden Morgen, wenn ich die Augen aufschlage.

Ich war sehr unglücklich, regelrecht am Boden zerstört. Verloschen. Leer. Ich war wie meine Nachbarn, nur schlimmer. Meine lebenserhaltenden Organe funktionierten, aber ohne mich, um sie auszufüllen. Ohne das Gewicht meiner Seele, die angeblich, ob man dick ist oder dünn, groß oder klein, jung oder alt, einundzwanzig Gramm wiegt.

Aber da ich für das Unglück nie etwas übrighatte, beschloss ich irgendwann, dass es so nicht weitergehen konnte. Mit dem Unglück muss doch eines Tages Schluss sein.

 

Ich bin sehr schlecht gestartet. Ich bin anonym geboren, im Norden des Départements Ardennes, in dieser Gegend, die mit Belgien tändelt und einem »kontinental beeinflussten« Klima unterliegt (starke Niederschläge im Herbst und häufiger Frost im Winter), und ich stelle mir vor, dass sich dort Jacques Brels lebloser Kanal durch das platte Land zieht.

Als ich geboren wurde, schrie ich nicht. Da legten sie mich zur Seite, wie ein Paket von 2670 Gramm, ohne Marke, ohne Empfänger, bis die Papiere ausgefüllt waren, die mich für gegangen erklärten, bevor ich gekommen war.

Totgeburt. Ein Kind ohne Leben und ohne Familiennamen.

Die Hebamme brauchte schnell einen Vornamen, um die Felder auszufüllen, sie entschied sich für Violette.

Ich muss wohl von oben bis unten lila gewesen sein.

Als ich dann die Farbe wechselte, als meine Haut rosa wurde und sie doch eine Geburtsanzeige ausfüllen musste, hat sie meinen Namen nicht mehr geändert.

Sie hatten mich auf eine Heizung gelegt. Meine Haut war warm geworden. Der Bauch meiner Mutter, die mich nicht wollte, hatte mich wohl ausgekühlt. Die Wärme hatte mich ins Leben zurückgeholt. Wahrscheinlich liebe ich deshalb den Sommer so sehr, dass ich keine Gelegenheit verpasse, mich dem ersten Sonnenstrahl entgegenzustrecken wie eine Sonnenblume.

Mein Mädchenname ist Trenet, wie der Sänger Charles Trenet. Bestimmt hat dieselbe Hebamme, die schon Violette ausgesucht hatte, mir auch meinen Familiennamen gegeben. Wahrscheinlich mochte sie Charles. Wie auch ich ihn später mochte. Lange betrachtete ich ihn als entfernten Verwandten, eine Art Onkel aus Amerika, dem ich nie begegnet war. Wenn man einen Sänger mag, weil man andauernd seine Lieder singt, ist man doch auch irgendwie verwandt mit ihm.

Toussaint kam erst später. Als ich Philippe Toussaint heiratete. Dabei hätte ich misstrauisch sein sollen bei so einem Namen: Allerheiligen. Aber es gibt Männer, die Frühling heißen und trotzdem ihre Frauen schlagen. Ein hübscher Name hält niemanden davon ab, ein Dreckskerl zu sein.

Meine Mutter hat mir nie gefehlt. Nur wenn ich Fieber hatte. Wenn ich gesund war, wuchs ich. Ich wuchs sehr gerade, als hätte mir das Fehlen der Eltern eine Stütze an die Wirbelsäule gebunden. Ich halte mich aufrecht. Das ist eines meiner besonderen Merkmale. Ich habe mich nie gebeugt gehalten. Nicht einmal an den kummerschweren Tagen. Ich werde ziemlich oft gefragt, ob ich früher Ballett getanzt habe. Dann sage ich Nein. Dass der Alltag mich disziplinierte, mich jeden Tag an die Stange und auf die Fußspitzen schickte.

3

Als 1997 unsere Schranke motorisiert wurde, verloren mein Mann und ich unseren Job. Wir standen sogar in der Zeitung. Verkörperten die jüngsten Kollateralschäden des Fortschritts, die Wärter, die die letzte handgesteuerte Schranke Frankreichs bedienten. Zur Illustration hatte der Journalist uns fotografiert. Philippe Toussaint legte mir dafür sogar einen Arm um die Taille. Ich lächle zwar, aber Gott, was sehen meine Augen auf diesem Foto traurig aus.

An dem Tag, als der Artikel in der Zeitung stand, kam Philippe Toussaint wie erschlagen vom Arbeitsamt nach Hause: Er hatte soeben festgestellt, dass er künftig würde arbeiten müssen. Er hatte sich daran gewöhnt, dass ich alles für ihn machte. Was Faulheit anging, hatte ich mit ihm das große Los gezogen. Sechs Richtige und den Jackpot dazu.

Um ihn aufzumuntern, reichte ich ihm einen Zettel: »Friedhofswärter, ein Beruf mit Zukunft«. Er sah mich an, als hätte ich den Verstand verloren. 1997 sah er mich jeden Tag an, als hätte ich den Verstand verloren. Wenn ein Mann die Frau, die er geliebt hat, nicht mehr liebt, sieht er sie dann an, als hätte sie den Verstand verloren?

Ich erklärte ihm, dass ich per Zufall auf diese Anzeige gestoßen war. Dass die Gemeinde Brancion-en-Chalon ein Paar suchte, das sich um den Friedhof kümmerte. Und dass die Toten feste Zeiten hatten und weniger Lärm machen würden als die Züge. Dass ich schon mit dem Bürgermeister gesprochen hatte und er uns baldmöglichst anstellen wollte.

Mein Mann glaubte mir nicht. Er sagte, an den Zufall glaubt er nicht. Lieber würde er verrecken, als »da hinzugehen« und als Leichenfledderer zu arbeiten.

Er schaltete den Fernseher an und spielte Super Mario 64. In diesem Spiel muss man in jeder Welt alle Sterne sammeln. Ich will nur einen einzigen Stern sammeln: den richtigen. Das dachte ich, als ich Mario überall herumrennen sah, um Prinzessin Peach zu retten, die von Bowser entführt worden war.

Also redete ich weiter. Ich sagte ihm, wenn wir Friedhofswärter würden, bekämen wir jeder ein Gehalt, und zwar ein besseres als an der Schranke, denn die Toten sind einträglicher als Züge. Und wir hätten eine hübsche Dienstwohnung und keine Nebenkosten. So entkämen wir dem Haus, das wir seit Jahren bewohnten, eine Bruchbude, die im Winter leck war wie ein Seelenverkäufer und im Sommer so heiß wie der Nordpol. Es wäre ein Neuanfang, und den bräuchten wir, wir würden hübsche Gardinen an die Fenster hängen, um nichts von den Nachbarn zu sehen, von den Kreuzen, den Witwen und alldem. Diese Gardinen wären die Grenze zwischen unserem Leben und der Trauer der anderen. Ich hätte ihm auch die Wahrheit sagen können, nämlich dass diese Gardinen die Grenze wären zwischen meiner Trauer und der der anderen. Aber bloß nicht. Nur ja nichts sagen. Ihm etwas einreden. So tun, als ob. Damit er nachgibt.

Um ihn endgültig zu überzeugen, versprach ich, dass er nichts tun müsste. Dass sich bereits drei Totengräber um die Instandhaltung, die Gruben und die Friedhofsanlage kümmerten. Dass es bei dieser Arbeit nur darum ging, das Tor zu öffnen und zu schließen. Da zu sein. Mit nicht sehr anstrengenden Arbeitszeiten. Mit Ferien und Wochenenden so lang wie der Pont du Gard. Und dass ich das Übrige erledigen würde. Alles Übrige.

Super Mario hörte auf zu rennen. Die Prinzessin stürzte ab.

Bevor Philippe Toussaint ins Bett ging, las er noch einmal die Anzeige: »Friedhofswärter, ein Beruf mit Zukunft«.

Unsere Schranke lag in Malgrange-sur-Nancy. In diesem Lebensabschnitt lebte ich nicht. »In diesem Todesabschnitt« wäre richtiger. Ich stand auf, zog mich an, arbeitete, kaufte ein, schlief. Mit einem Schlafmittel. Oder zwei. Oder mehr. Und ich sah zu, wie mein Mann mich ansah, als hätte ich den Verstand verloren.

Meine Arbeitszeiten waren unglaublich anstrengend. An die fünfzehn Mal pro Tag schloss und öffnete ich an Wochentagen die Schranke. Der erste Zug kam um 4:50 Uhr, der letzte um 23:04 Uhr. Ich hatte die automatische Schrankenklingel im Kopf. Ich hörte sie, noch bevor sie schellte. Diesen teuflischen Rhythmus hätten wir uns teilen sollen, im Schichtbetrieb. Aber das Einzige, womit Philippe Toussaint sich herumtrieb, waren sein Motorrad und die Körper seiner Geliebten.

Oh, wie träumte ich den Fahrgästen nach, die ich vorbeifahren sah. Dabei waren es nur kleine Regionalzüge von Nancy nach Epinal, die auf der Fahrt ein Dutzend Mal in irgendwelchen Käffern hielten, als Dienstleistung für die Eingeborenen. Und doch beneidete ich diese Männer und Frauen. Ich stellte mir vor, dass sie zu Verabredungen unterwegs waren, und solche Verabredungen hätte auch ich haben wollen.

 

Drei Wochen nachdem der Artikel in der Zeitung erschienen war, nahmen wir Kurs auf die Bourgogne. Wir wechselten von Grau zu Grün. Von Asphalt zu Wiesen, vom Geruch nach Teer und Eisenbahn zur frischen Landluft.

Wir erreichten den Friedhof von Brancion-en-Chalon am 15. August 1997. Frankreich war in den Ferien. Alle Einwohner hatten sich aus dem Staub gemacht. Die Vögel, die zuvor von Grab zu Grab flogen, flogen nicht mehr. Die Katzen, die sich zwischen den Blumentöpfen dehnten, waren verschwunden. Sogar für die Ameisen und Eidechsen war es zu heiß, die Grabsteine glühten. Die Totengräber hatten frei, die kürzlich Verstorbenen auch. Ich schlenderte allein über die Wege, las die Namen von Leuten, die ich nie kennenlernen würde. Und doch fühlte ich mich sofort wohl. Am richtigen Ort.

4

Wenn die Jugendlichen nicht Kaugummi ins Schlüsselloch stecken, öffne und schließe ich das schwere Friedhofstor.

Die Öffnungszeiten sind nach Jahreszeit gestaffelt.

8 bis 19 Uhr vom 1. März bis zum 31. Oktober.

9 bis 17 Uhr vom 2. November bis zum 28. Februar.

Keine Angabe zum 29. Februar.

7 bis 20 Uhr am 1. November.

Nach seinem Weggang habe ich die Stelle meines Mannes übernommen – oder genauer gesagt, nach seinem Verschwinden. Philippe Toussaint wird im Landesregister der Polizei als Vermisster geführt.

Ich habe noch mehrere Männer in Reichweite. Die drei Totengräber Nono, Gaston und Elvis. Die drei Angestellten des Bestattungsinstituts, die Lucchini-Brüder namens Pierre, Paul und Jacques, und Pater Cédric Duras. All diese Männer schauen mehrmals am Tag bei mir vorbei. Sie kommen ein Gläschen trinken oder eine Kleinigkeit essen. Sie helfen mir auch im Gemüsegarten, wenn Kompostsäcke zu schleppen sind oder ein tropfendes Rohr zu reparieren. Für mich sind sie Freunde, keine Kollegen. Auch wenn ich nicht da bin, können sie jederzeit in meine Küche kommen, sich einen Kaffee kochen, ihre Tasse ausspülen und wieder gehen.

Die Arbeit der Totengräber finden viele abstoßend, ekelhaft. Dabei sind die, die auf meinem Friedhof arbeiten, die sanftesten, nettesten Männer, die ich kenne.

Nono ist der Mensch, dem ich am meisten vertraue. Ein aufrechter Mann, dem die Lebensfreude im Blut liegt. Alles amüsiert ihn, und er sagt niemals Nein. Nur wenn die Beerdigung eines Kindes ansteht. »Das« überlässt er den anderen. »Denen, die das schaffen«, wie er sagt. Nono ähnelt Georges Brassens, das bringt ihn zum Lachen, weil ich die Einzige auf der Welt bin, die behauptet, er würde Georges Brassens ähneln.

Gaston dagegen ist der Erfinder der Unbeholfenheit. Seine Gesten sind unangepasst. Er sieht immer betrunken aus, obwohl er nichts als Wasser trinkt. Bei den Beerdigungen stellt er sich zwischen Nono und Elvis, falls er das Gleichgewicht verliert. Unter Gastons Füßen bebt dauerhaft die Erde. Er lässt Sachen fallen, er fällt, er verschüttet, er zertrampelt. Wenn er zu mir ins Haus kommt, habe ich immer Angst, dass er etwas runterwirft oder sich verletzt. Und da die Angst keine Gefahr bannt, zerbricht er jedes Mal ein Glas oder verletzt sich.

Elvis heißt so wegen Elvis Presley. Er kann nicht lesen und schreiben, aber er kennt alle Lieder seines Idols auswendig. Er hat eine sehr schlechte Aussprache, man weiß nie, ob er englisch singt oder französisch, aber er ist mit Leib und Seele dabei. »Löve mi tendör, löve mi tru …«

Die Lucchini-Brüder haben kaum je ein Jahr Abstand zueinander, achtunddreißig, neununddreißig und vierzig Jahre. Seit Generationen arbeiten sie samtsämtlich im Bestattungswesen. Außerdem sind sie die glücklichen Besitzer der Totenhalle Brancion gleich neben ihrem Institut. Nono hat mir erzählt, dass nur eine Schleusenkammer das Geschäft von der Totenhalle trennt. Pierre, der Älteste, empfängt die Trauerfamilien. Paul ist Thanatopraktiker. Er hat seine Praxis im Untergeschoss. Und Jacques fährt die Leichenwagen. Er organisiert die letzte Reise. Nono nennt die drei die »Apostel«.

Und dann ist da noch unser Pfarrer Cédric Duras. Wenn Gott auch nicht immer gerecht ist, Geschmack hat er. Seit Pater Cédric hier ist, sind angeblich viele Frauen in der Gegend der göttlichen Offenbarung erlegen. Die Kirchenbänke sollen sonntags morgens von immer mehr Kirchgängerinnen besetzt sein.

Ich selbst gehe nie in die Kirche. Das wäre, als würde ich mit einem Kollegen ins Bett gehen. Dabei glaube ich, ich bekomme mehr Vertraulichkeiten zu hören als Pater Cédric in seinem Beichtstuhl. In meinem bescheidenen Haus, auf meinen Wegen schütten die Leute mir ihr Herz aus. Wenn sie kommen, wenn sie gehen, mitunter beide Male. So ähnlich wie bei den Toten. Da erzählen die stillen Momente, die Inschriften, die Besuche, die Blumen, die Fotos, das Verhalten der Besucher vor ihrem Grab von ihrem früheren Leben. Von der Zeit, als sie lebten. Sich regten.

Meine Aufgabe ist es, diskret zu sein, kontaktfreudig, ohne Mitgefühl. Kein Mitgefühl zu haben – für jemanden wie mich ist das, als wäre ich Astronautin, Chirurgin, Vulkanologin oder Genetikerin. Das gibt es nicht auf meinem Planeten, diese Kompetenz besitze ich nicht. Aber ich weine nie vor einem Besucher. Manchmal vor oder nach einer Beerdigung, aber nie während. Mein Friedhof umspannt drei Jahrhunderte. Der erste Tote, den er aufgenommen hat, war eine Tote. Diane de Vigneron (1756–1773), gestorben im Kindsbett im Alter von siebzehn Jahren. Wenn man mit der Fingerspitze über die Spruchtafel auf ihrem Grab streicht, erahnt man noch ihre Identität, wie sie in den hellbeigen Stein graviert wurde. Sie wurde nicht exhumiert, obwohl auf meinem Friedhof der Platz rar ist. Keiner der aufeinanderfolgenden Bürgermeister konnte sich zu der Entscheidung durchringen, die erste Bestattete zu stören. Zumal sich um Diane eine alte Legende rankt. Den Einwohnern von Brancion zufolge soll sie in ihren »Lichtgewändern« mehrfach vor den Schaufenstern der Stadt und auf dem Friedhof erschienen sein. Auf den hiesigen Flohmärkten finde ich manchmal auf alten Stichen aus dem 18. Jahrhundert oder auf Postkarten Darstellungen von Diane als Gespenst. Eine falsche, inszenierte Diane, verkleidet als gewöhnliches Paillettengespenst.

Um die Gräber ranken sich viele Legenden. Es kommt oft vor, dass die Lebenden das Leben der Toten neu erfinden.

Eine zweite Legende kursiert in Brancion, aus viel jüngerer Zeit als die von Diane de Vigneron. Sie betrifft Reine Ducha (1961–1982). Sie ist auf meinem Friedhof beerdigt, Allee 15 im Zedernviertel. Eine hübsche junge Brünette mit freundlichem Lächeln ist auf dem Foto zu sehen, das an ihrem Grabstein hängt. Sie ist bei einem Autounfall am Ortsausgang ums Leben gekommen. Junge Leute wollen sie am Straßenrand gesehen haben, ganz weiß gekleidet am Unfallort.

Der Mythos der »weißen Damen« ist um die Welt gereist. Diese Geister von verunglückten Frauen spuken angeblich durch die Welt der Lebenden, schleppen ihre mit Schmerz beladenen Seelen durch Burgen und Friedhöfe.

Und um die Legende um Reine weiter zu befeuern, ist ihr Grab gewandert. Laut Nono und den Lucchini-Brüdern war es eine Bodenverschiebung. Das passiert oft, wenn sich in einem Grab zu viel Wasser aufstaut.

In zwanzig Jahren habe ich auf meinem Friedhof schon einiges erlebt, in manchen Nächten habe ich auch schon Schatten gesehen, die auf oder zwischen den Gräbern miteinander schliefen, aber das waren keine Gespenster.

Meine drei Totengräber und ich tun alles, um nie ein Grab verwahrlosen zu lassen. Wir können es nicht ertragen, wenn von der Stadt das Schild aufgestellt wird: »Dieses Grab unterliegt einer Neuvergabeprozedur. Bitte kontaktieren Sie dringend die zuständige Behörde.« Selbst dann, wenn der Name des Toten, der dort ruht, noch lesbar ist.

Bestimmt gibt es deshalb auf den Friedhöfen all diese Grabsprüche. Um den Fluch der vergehenden Zeit zu beschwören. Sich an die Erinnerungen zu klammern. Mein Lieblingsspruch heißt: »Der Tod fängt an, wenn niemand mehr von einem träumen kann.« Er steht auf dem Grab einer jungen Krankenschwester, Marie Deschamps, verstorben 1917. Angeblich hat 1919 ein Soldat diese Tafel aufgestellt. Jedes Mal, wenn ich daran vorbeigehe, frage ich mich, ob er wohl lange von ihr geträumt hat.

»Was ich auch tue, wo du auch bist, nichts kann dich löschen, ich denk an dich« von Jean-Jacques Goldmann und »Die Sterne reden von nichts als von dir« von Francis Cabrel sind die häufigsten Liedtexte, die auf den Tafeln zu lesen sind.

Mein Friedhof ist sehr schön. An den Wegen stehen hundertjährige Linden. Ziemlich viele Gräber sind mit Blumen bepflanzt.

Vor meinem kleinen Friedhofswächterhaus verkaufe ich ein paar Topfblumen. Und wenn man sie nicht mehr verkaufen kann, schenke ich sie den verlassenen Gräbern.

Auch Kiefern habe ich gepflanzt. Wegen ihres Dufts in den Sommermonaten. Mein Lieblingsduft.

1997 habe ich sie gepflanzt, dem Jahr, als wir hier ankamen. Sie sind schon sehr hoch gewachsen und machen meinen Friedhof zu einer eleganten Erscheinung. Ihn zu pflegen heißt, sich um die Toten zu kümmern, die dort ruhen. Sie zu respektieren. Und wenn sie zu ihren Lebzeiten keinen Respekt erfahren haben, dann bekommen sie ihn wenigstens im Tod.

Ich bin sicher, dass hier auch viele Dreckskerle liegen. Aber der Tod macht keinen Unterschied zwischen Gut und Böse. Und wer kann schon von sich sagen, dass er nicht mindestens einmal im Leben ein Dreckskerl war?

 

Anders als für mich war für Philippe Toussaint dieser Friedhof von Anfang an ein Hassobjekt, genau wie diese kleine Stadt, die Bourgogne, die Gegend, die alten Steine, die weißen Kühe, die Einheimischen.

Ich hatte noch nicht alle Umzugskisten ausgepackt, da fuhr er schon von morgens bis abends Motorrad. Und nach ein paar Monaten war er manchmal wochenlang weg. Bis er einmal gar nicht mehr zurückkam. Die Polizisten verstanden nicht, warum ich sein Verschwinden nicht früher gemeldet hatte. Ich habe ihnen nie gesagt, dass er schon seit Jahren verschwunden war, obwohl er noch an meinem Tisch zu Abend aß. Trotzdem, als ich nach einem Monat begriff, dass er nicht mehr zurückkommen würde, fühlte ich mich so verlassen wie die Gräber, die ich regelmäßig sauber mache. Genauso grau, trüb und klapprig. Fertig zur Auflassung, und meine Reste ab in ein Beinhaus.

5

Philippe Toussaint bin ich 1985 im Tibourin begegnet, einer Disco in Charleville-Mézières.

Philippe Toussaint lehnte an der Bar. Und ich stand dahinter. Ich konnte mehrere Aushilfsjobs machen, weil ich mit meinem Alter trickste. Ein Kumpel aus meinem Heim hatte meine Papiere gefälscht und mich volljährig gemacht.

Eigentlich war ich alterslos. Ich hätte vierzehn sein können oder fünfundzwanzig. Ich trug nur Jeans und T-Shirts, hatte kurze Haare und überall Ohrringe. Sogar in der Nase. Ich war mager und malte mir kohlschwarze Ränder um die Augen, um mir einen Nimbus à la Nina Hagen zu verschaffen. Ich war gerade von der Schule abgegangen. Ich konnte nicht besonders gut lesen und schreiben. Aber zählen konnte ich. Ich hatte schon mehrere Leben gelebt, und mein einziges Ziel war, zu arbeiten, um eine Miete bezahlen zu können, so schnell wie möglich aus dem Heim auszuziehen. Danach würde man sehen.

1985 waren das einzig Gerade an mir meine Zähne. Meine ganze Kindheit über war das meine fixe Idee gewesen: schöne weiße Zähne zu haben wie die Mädchen in den Illustrierten. Wenn jemand vom Jugendamt in meine Pflegefamilien kam und mich fragte, ob ich etwas brauchte, bat ich regelmäßig um einen Zahnarztbesuch, als würden mein Schicksal und mein ganzes Leben von meinem künftigen Lächeln abhängen.

Ich hatte keine Freundinnen, ich war zu sehr wie ein Junge. Die eine oder andere Ersatzschwester hatte ich lieb gewonnen, aber die wiederholten Trennungen, die Wechsel der Pflegefamilien erledigten mich. Nie jemanden lieb gewinnen. Ich sagte mir, kurz geschorene Haare würden mich schützen, dann hätte ich Herz und Schneid eines Jungen. So kam es, dass die Mädchen mich mieden. Ich war schon mit Jungen im Bett gewesen, um wie alle zu sein, aber das war nicht überragend, ich fand es enttäuschend. Ich tat es, um mich durchzumogeln oder um an Klamotten zu kommen, an ein bisschen Hasch, irgendeine Eintrittskarte, eine Hand, die meine hielt. Lieber war mir die Liebe in den Märchen, die mir nie jemand erzählt hatte. »Und wenn sie nicht gestorben sind, dann, dann, dann …«

Von seinem Platz an der Bar beobachtete Philippe Toussaint seine Kumpels auf der Tanzfläche und nippte an einer Whisky-Cola ohne Eis. Er hatte eine Engelsfresse. Eine Art junger Schlagerstar live und in Farbe. Lange blonde Locken, blaue Augen, helle Haut, geschwungene Nase, Erdbeermund … zum Reinbeißen, eine saftige Juli-Erdbeere. Er trug Jeans, ein weißes T-Shirt und eine schwarze Lederjacke. Er war groß, kräftig, perfekt. Kaum hatte ich ihn gesehen, machte mein Herz »Boum« wie im Lied meines imaginären Leihonkels Charles Trenet. Bei mir sollte Philippe Toussaint alles umsonst bekommen, selbst seine nächsten Whisky-Colas.

Er brauchte nichts zu tun, um die hübschen Blondinen zu küssen, die ihn umschwirrten. Wie Fliegen ein Stück gammeliges Fleisch. Philippe Toussaint sah aus, als wäre ihm alles egal. Er machte einfach mit. Er brauchte keinen Finger zu rühren, schon bekam er, was er wollte, nur das Glas musste er hin und wieder an die Lippen heben zwischen zwei neongrell schillernden Küssen.

Er wandte mir den Rücken zu. Ich sah nur seine blonden Locken, die im Scheinwerferlicht grün und rot und blau wurden. Seit einer guten Stunde verhedderten sich meine Augen in seinen Haaren. Manchmal beugte er sich zum Mund eines Mädchens, das ihm etwas ins Ohr flüsterte, dann musterte ich sein vollkommenes Profil.

Und dann drehte er sich zur Bar um, und sein Blick legte sich auf mich, um mich nie mehr loszulassen. Von diesem Moment an war ich sein allerliebstes Spielzeug.

Anfangs dachte ich, er interessierte sich für mich, weil ich ihm gratis Alkohol nachschenkte. Beim Bedienen achtete ich darauf, dass er meine abgekauten Nägel nicht sehen konnte, nur meine weißen, super geraden Zähne. Ich fand, er sah aus wie ein Sohn aus gutem Hause. Für mich sahen außer den Mitbewohnern im Heim alle aus wie Kinder aus gutem Hause.

Hinter ihm stauten sich die Mädels. Wie an einer Mautstelle auf der Südautobahn an einem Hauptreisetag. Aber er glotzte mich weiter an, sein Blick sprühte vor Wollust. Ich lehnte mich ihm gegenüber an die Bar, um sicher zu sein, dass er wirklich mich anschaute. Ich steckte einen Strohhalm in sein Glas. Ich blickte wieder auf. Er schaute wirklich mich an.

Ich sagte: »Wollen Sie noch was trinken?« Seine Antwort hörte ich nicht. Ich ging näher heran und schrie: »Wie bitte?« Und er flüsterte mir »Dich« ins Ohr.

Hinter dem Rücken des Chefs schenkte ich mir ein Glas Rotwein ein. Nach einem Schluck wurde ich nicht mehr rot, nach zweien fühlte ich mich gut, nach dreien war ich zu allem bereit. Ich näherte mich wieder seinem Ohr und antwortete: »Nach meiner Schicht können wir zusammen trinken.«

Er lächelte. Seine Zähne waren wie meine, weiß und gerade.

Es war der Anfang eines neuen Lebens, als Philippe Toussaint den Arm über die Bar streckte und meinen streifte. Ich spürte, wie meine Haut hart wurde, als ahnte sie etwas. Er war zehn Jahre älter als ich. Dieser Altersunterschied stellte ihn auf ein Podest. Ich fühlte mich wie der Schmetterling, der den Stern bestaunte.

6

Leise klopft es an meiner Tür. Ich erwarte niemanden, schon lange erwarte ich ja überhaupt niemanden mehr.

Mein Haus hat zwei Eingänge, einen vom Friedhof, den anderen von der Straße her. Éliane fängt an zu kläffen und strebt auf die Straßentür zu. Ihre Herrin, Marianne Ferry (1953–2007), ruht im Pfaffenhütchenviertel. Éliane kam am Tag ihrer Beerdigung und ging nie wieder fort. In den ersten Wochen fütterte ich sie auf dem Grab ihrer Herrin, und ganz allmählich folgte sie mir bis zu mir nach Hause. Nono taufte sie Éliane wie Isabelle Adjani in Ein mörderischer Sommer, weil sie so schöne blaue Augen hat und ihre Herrin im August gestorben ist.

In zwanzig Jahren hatte ich drei Hunde, die gleichzeitig mit ihren Herrchen kamen und umständehalber meine wurden, aber jetzt habe ich nur noch sie.

Wieder klopft es. Ich weiß nicht, ob ich aufmachen soll. Es ist erst sieben Uhr. Ich nippe gerade an meinem Tee und bestreiche meinen Zwieback mit salziger Butter und Erdbeermarmelade von Suzanne Clerc, deren Mann (1933–2007) im Zedernviertel ruht. Ich höre Musik. Außerhalb der Friedhofsöffnungszeiten höre ich immer Musik.

Ich stehe auf und schalte das Radio aus.

»Wer ist da?«

Zögernd antwortet eine Männerstimme: »Entschuldigen Sie, Madame, ich habe Licht gesehen.« Ich höre, wie er mit den Schuhen über den Türvorleger streift. »Ich habe eine Frage zu jemandem, der auf dem Friedhof liegt.«

Ich könnte ihm sagen, er soll um acht wiederkommen, wenn wir öffnen. »Warten Sie kurz, ich komme!«

Ich gehe in mein Zimmer hinauf und öffne den Winterschrank, um in einen Morgenmantel zu schlüpfen. Ich habe zwei Schränke. Einen nenne ich »Winter-«, einen »Sommerschrank«. Mit den Jahreszeiten hat das nichts zu tun, sondern mit den Anlässen. Im Winterschrank sind nur klassische, dunkle Kleider, er ist für die anderen. Im Sommerschrank sind nur helle, farbige Kleider, er ist für mich. Ich trage den Sommer unter dem Winter, und wenn ich alleine bin, lege ich den Winter ab.

Ich ziehe also einen wattierten grauen Morgenmantel über mein rosa Nachthemd. Dann gehe ich wieder nach unten und mache auf. Da steht ein Mann von etwa vierzig Jahren. Zuerst sehe ich nur seine schwarzen Augen, die mich mustern.

»Guten Morgen, entschuldigen Sie, dass ich Sie so früh störe.«

Es ist noch dunkel und kalt. Hinter ihm sehe ich, dass die Nacht eine Reifschicht hinterlassen hat. Aus seinem Mund steigt Dampf auf, als würde er im Dämmerlicht Kringel paffen. Er riecht nach Tabak, Zimt und Vanille.

Ich bin unfähig, ein Wort zu sagen. Als würde ich jemanden wiederfinden, den ich aus den Augen verloren habe. Ich denke, dass er zu spät kommt. Dass, wenn er vor zwanzig Jahren vor meiner Tür gestanden hätte, alles anders gewesen wäre. Warum ich mir das sage? Weil seit Jahren außer besoffenen Kindern niemand an meine Straßentür geklopft hat? Weil all meine Besucher vom Friedhof her kommen?

Ich bitte ihn herein, er dankt mir, wirkt verlegen. Ich schenke ihm einen Kaffee ein.

In Brancion-en-Chalon kenne ich jeden. Auch die Einwohner, die noch keine Toten bei mir haben. Alle sind mindestens einmal über meine Wege gegangen, bei der Beerdigung eines Freundes, eines Nachbarn, der Mutter eines Kollegen.

Ihn aber habe ich noch nie gesehen. Er hat einen winzigen Akzent, einen Hauch Mittelmeer in der Art, wie er die Sätze betont. Er hat sehr dunkle Haare, so dunkel, dass seine wenigen grauen Haare aus dem Gewirr der übrigen herausleuchten. Er hat eine große Nase, volle Lippen, Tränensäcke unter den Augen. Er ähnelt ein bisschen Serge Gainsbourg. Man merkt, dass er es nicht so mit dem Rasieren hat, aber sehr mit der Anmut. Er hat schöne Hände, lange Finger. Seinen heißen Kaffee trinkt er in kleinen Schlucken, pustet darauf und wärmt sich am Porzellan die Hände.

Ich weiß immer noch nicht, warum er hier ist. Ich habe ihn hereingelassen, weil es nicht wirklich mein Zuhause ist. Dieser Raum gehört allen. Er ist wie ein öffentlicher Wartesaal, den ich zur Wohnküche umgebaut habe. Er gehört allen Durchreisenden, und den Stammgästen.

Er mustert offenbar die Wände. Dieser fünfundzwanzig Quadratmeter große Raum kommt daher wie mein Winterschrank. Nichts an den Wänden. Keine farbige Tischdecke, kein blaues Sofa. Überall nur Sperrholz und Stühle zum Hinsetzen. Nichts Auffälliges. Eine immer laufende Kaffeemaschine, weiße Tassen und starke Schnäpse für die hoffnungslosen Fälle. Hier empfange ich die Tränen, die Vertraulichkeiten, die Wut, das Seufzen, die Verzweiflung und das Lachen der Totengräber.

Mein Zimmer liegt im ersten Stock. Das ist mein geheimer Hinterhof, mein Zuhause. Mein Zimmer und mein Bad sind zwei pastellfarbene Bonbonschachteln. Altrosa, mandelgrün, himmelblau, als hätte ich selbst die Farben des Frühlings nachgezeichnet. Sobald sich ein Sonnenstrahl zeigt, reiße ich die Fenster weit auf, und wenn nicht gerade jemand eine Leiter dabeihat, bin ich von außen unsichtbar.

So wie mein Zimmer heute ist, hat niemand es je betreten. Gleich nach dem Verschwinden von Philippe Toussaint habe ich es ganz neu gestrichen, habe Vorhänge angeschafft, Spitzendecken, weiße Möbel und ein großes Bett mit Schweizer Matratze, die sich dem Körper anpasst. Meinem Körper, damit ich nicht mehr im Abdruck von Philippe Toussaint schlafen muss.

Der Unbekannte pustet immer noch in seine Tasse. Endlich sagt er mir: »Ich komme aus Marseille. Kennen Sie Marseille?«

»Ich fahre jedes Jahr nach Sormiou.«

»An die Felsenküste?«

»Ja.«

»Was für ein lustiger Zufall.«

»Ich glaube nicht an den Zufall.«

Er scheint etwas in seiner Jeanstasche zu suchen. Meine Männer tragen nie Jeans. Nono, Elvis und Gaston sind ständig im Blaumann, die Lucchini-Brüder und Pater Cédric in Stoffhosen. Er zieht seinen Schal aus, knöpft den Kragen auf, stellt seine leere Tasse auf den Tisch.

»Ich bin, wie Sie, ziemlich rational … Außerdem bin ich Kommissar.«

»Wie Columbo?«

Er lächelt zum ersten Mal:

»Nein. Der war Inspektor.«

Er legt den Zeigefinger auf ein paar Zuckerkörnchen, die auf dem Tisch verstreut sind.

»Meine Mutter möchte auf diesem Friedhof bestattet werden, und ich weiß nicht, warum.«

»Wohnt sie in der Gegend?«

»Nein, in Marseille. Sie ist vor zwei Monaten gestorben. Hier bestattet zu werden, ist einer ihrer letzten Wünsche.«

»Das tut mir leid. Möchten Sie ein Schlückchen Schnaps in Ihrem Kaffee?«

»Füllen Sie immer frühmorgens die Leute ab?«

»Das kommt vor. Wie heißt Ihre Mutter?«

»Irène Fayolle. Sie wollte eingeäschert werden … und ihre Asche soll auf das Grab eines gewissen Gabriel Prudent gestellt werden.«

»Gabriel Prudent? Gabriel Prudent, 1931–2009. Er liegt im Zedernviertel, Allee 19.«

»Kennen Sie alle Toten auswendig?«

»Fast.«

»Todestag, Grabstelle und alles?«

»Fast.«

»Wer war dieser Gabriel Prudent?«

»Hin und wieder kommt eine Frau vorbei … seine Tochter, glaube ich. Er war Anwalt. Sein Grab ist aus schwarzem Marmor, es steht kein Grabspruch darauf, kein Foto. Ich erinnere mich nicht mehr an die Beerdigung. Aber ich kann in meiner Akte nachsehen, wenn Sie möchten.«

»In Ihrer Akte?«

»Ich halte alle Bestattungen und alle Exhumierungen fest.«

»Ich wusste nicht, dass das zu Ihren Aufgaben gehört.«

»Gehört es auch nicht. Aber wenn jeder nur machen dürfte, was zu seinen Aufgaben gehört, wäre das Leben ziemlich traurig.«

»Das hört sich komisch an aus dem Mund einer … wie nennt man Ihren Beruf? ›Friedhofswärterin‹?«

»Warum? Dachten Sie, ich würde von morgens bis abends weinen? Ich wäre aus Tränen und Kummer geschnitzt?«

Ich schenke ihm Kaffee nach, während er mich zweimal fragt: »Leben Sie allein?«

Schließlich antworte ich mit Ja.

Ich öffne meine Aktenschublade und schlage das Heft von 2009 auf. Ich suche unter dem Familiennamen und habe Prudent, Gabriel sofort gefunden. Ich beginne vorzulesen:

18. Februar 2009, Beerdigung von Gabriel Prudent, strömender Regen.

An der Beisetzung nahmen 128 Leute teil. Seine Ex-Frau und seine beiden Töchter Marthe Dubreuil und Cloé Prudent waren da.

Auf Wunsch des Verstorbenen weder Blumen noch Kränze.

Die Familie hat auf eine Tafel gravieren lassen: »Zu Ehren von Gabriel Prudent, dem mutigen Anwalt.« Kein Pfarrer. Kein Kreuz. Die Trauergesellschaft blieb nur eine halbe Stunde. Als die beiden Angestellten vom Bestattungsinstitut den Sarg in die Grube gelassen hatten, sind alle gegangen. Immer noch starker Regen.

Ich schließe die Akte. Der Kommissar wirkt wie erschlagen, verloren in seinen Gedanken. Er fährt sich mit der Hand durch die Haare.

»Ich frage mich, warum meine Mutter bei diesem Mann bestattet werden möchte.« Eine Zeit lang mustert er wieder meine weißen Wände, auf denen es absolut gar nichts zu mustern gibt. Dann wendet er sich wieder an mich, als würde er mir nicht glauben. Er weist mit den Augen auf die Akte 2009. »Darf ich reinschauen?«

Normalerweise überlasse ich meine Notizen nur den Hinterbliebenen. Ich zögere ein paar Sekunden, dann reiche ich sie ihm. Er beginnt, sie durchzublättern. Nach jeder Seite starrt er mich an, als stünden die Worte des Jahres 2009 auf meiner Stirn geschrieben. Als wäre das Heft, das er in Händen hält, ein Vorwand, um den Blick auf mich zu legen.

»Und das machen Sie für jede Beerdigung?«

»Nicht für jede, aber fast. Und wenn die, die nicht dabei sein konnten, zu mir kommen, schaue ich in meine Notizen und erzähle ihnen davon … Haben Sie schon mal jemanden getötet? Ich meine, bei Ihrem Beruf …«

»Nein.«

»Haben Sie eine Waffe?«

»Das kommt vor, manchmal. Aber heute nicht.«

»Haben Sie die Asche Ihrer Mutter dabei?«

»Nein. Die ist noch im Krematorium … Ich stelle sie doch nicht auf das Grab eines Unbekannten.«

»Für Sie ist er ein Unbekannter, für Ihre Mutter nicht.«

Er steht auf.

»Kann ich das Grab dieses Mannes sehen?«

»Ja. Können Sie in ungefähr einer halben Stunde wiederkommen? Auf meinen Friedhof gehe ich nie im Morgenmantel.«

Er lächelt zum zweiten Mal und verlässt die Wohnküche. Automatisch schalte ich das Licht an. Ich mache nie Licht, wenn jemand zu mir kommt, sondern wenn jemand geht. Um seine Gegenwart mit Licht zu ersetzen. Alte Gewohnheit eines anonym geborenen Kindes.

 

Eine halbe Stunde später erwartete er mich in seinem Auto vor dem Tor. Ich sah das Nummernschild, 13, Bouches-du-Rhône. Er musste auf seinem Schal eingedöst sein, auf seiner Wange war ein Abdruck, als wäre sie zerknittert.

Ich hatte einen dunkelblauen Mantel über ein karminrotes Kleid gezogen. Den Mantel hatte ich bis zum Hals zugeknöpft. Ich sah aus wie die Nacht, aber darunter trug ich den Tag. Ich hätte nur meinen Mantel öffnen müssen, dann hätte er sich wieder die Augen gerieben.

Wir gingen über die Wege. Ich nannte ihm die vier Bezirke meines Friedhofs: Lorbeer-, Pfaffenhütchen-, Zedern- und Eibenviertel. Zudem zwei Urnenwände und zwei Erinnerungsgärten. Er fragte, ob ich »das« schon lange machte, und ich erwiderte: »Zwanzig Jahre. Und vorher war ich Schrankenwärterin.« Er fragte, wie das war, von den Zügen zu den Leichenwagen zu wechseln. Ich wusste keine Antwort darauf. Zwischen diesen beiden Leben war zu viel passiert. Ich dachte nur, dass er komische Fragen stellte für einen rationalen Kommissar.

Als wir am Grab von Gabriel Prudent ankamen, wurde er bleich. Als träte er ans Grab eines Mannes, von dem er noch nie gehört hatte, der aber durchaus ein Vater sein könnte, ein Onkel, ein Bruder. Lange Zeit blieben wir reglos stehen. Irgendwann blies ich mir in die Hände, so kalt war es.

Normalerweise bleibe ich nie bei den Besuchern. Ich begleite sie und ziehe mich zurück. Aber diesmal, wer weiß, warum, hätte ich ihn unmöglich alleine lassen können. Nach einer Zeit, die mir vorkam wie eine Ewigkeit, meinte er, er bräche jetzt auf. Zurück nach Marseille. Ich fragte ihn, wann er wiederkommen wollte, um die Asche seiner Mutter auf den Grabstein von Monsieur Prudent zu stellen. Er gab keine Antwort.

7

Morgen um vier ist eine Beerdigung. Ein neuer Bewohner auf meinem Friedhof. Ein Mann von fünfundfünfzig Jahren, Rauchertod. Das haben zumindest die Ärzte gesagt. Sie sagen nie, dass ein Fünfundfünfzigjähriger daran sterben kann, dass er nicht genug geliebt wurde, nicht angehört wurde, zu viele Rechnungen bekam, zu viele Verbraucherkredite aufgenommen hatte, zugesehen hatte, wie seine Kinder groß wurden und weggingen, ohne sich richtig zu verabschieden. Ein Leben voller Vorwürfe, voller Grimassen. Seine kleine Kippe aber und sein Gläschen Rotwein, um den Knoten im Bauch zu ertränken, das wenigstens mochte er.

Nie sagt einer, dass man sterben kann, weil man es zu oft zu satthatte.

Ein Stück weiter machen zwei kleine Damen, Madame Pinto und Madame Degrange, die Gräber ihrer Männer sauber. Und da sie jeden Tag kommen, erfinden sie etwas zum Putzen. Um ihre Gräber herum ist es so sauber wie in einem Baumarkt in der Abteilung für Bodenbeläge.

Diese Leute, die jeden Tag zu den Gräbern gehen, sind die eigentlichen Gespenster. Die zwischen Leben und Tod.

Madame Pinto und Madame Degrange wiegen so wenig wie ein Spatz am Ende des Winters. Als hätten ihre Männer sie gefüttert, als sie noch lebten. Ich kenne sie, seit ich hier arbeite. Seit über zwanzig Jahren machen sie auf dem Weg zum Einkaufen jeden Morgen einen Umweg, der wie unausweichlich ist. Ich weiß nicht, ob das Liebe ist oder Unterwerfung. Oder beides. Für den schönen Schein oder aus Anhänglichkeit.

Madame Pinto ist Portugiesin. Und wie die meisten Portugiesen in Brancion fährt sie im Sommer nach Portugal. Dann hat sie im September Arbeit. Wenn sie wiederkommt, ist sie noch genauso mager, aber braun gebrannt, und ihre Knie sind aufgeschürft vom Saubermachen der Gräber derer, die in der Heimat gestorben sind. Solange sie weg war, habe ich die französischen Blumen gegossen. Zum Dank schenkt sie mir eine Trachtenpuppe in einer Plastikschachtel. Jedes Jahr bekomme ich meine Puppe. Und jedes Jahr sage ich: »Danke, Madame Pinto, das war doch nicht nötig, die Blumen sind für mich ein Vergnügen, keine Arbeit.«

Trachten gibt es in Portugal zu Hunderten. Wenn also Madame Pinto noch dreißig Jahre lebt und ich auch, bekomme ich noch dreißig grässliche Puppen, die die Augen zumachen, wenn man beim Abstauben ihre Plastiksärge hinlegt.

Da Madame Pinto hin und wieder bei mir vorbeischaut, kann ich die Puppen, die sie mir schenkt, nicht wegräumen. Aber ich will sie weder in meinem Zimmer haben, noch kann ich sie dahin stellen, wohin die Leute kommen, weil sie Trost suchen. Sie sind zu hässlich. Also mache ich eine »Ausstellung« auf der Treppe zu meinem Zimmer. Die Treppe liegt hinter einer Glastür. Von der Küche aus sieht man sie. Wenn Madame Pinto auf einen Kaffee zu mir kommt, sieht sie nach, ob sie alle noch da sind. Im Winter, wenn es schon um fünf Uhr dunkel wird und ich sie mit ihren glänzenden schwarzen Augen und ihren Rüschenkleidern dastehen sehe, stelle ich mir vor, dass sie gleich ihren Grabdeckel anheben und mir ein Bein stellen wird, sodass ich die Treppe hinunterfalle.

Ich habe festgestellt, dass Madame Pinto und Madame Degrange im Gegensatz zu manch anderen nie mit ihren Männern reden. Sie machen schweigend sauber. Als hätten sie aufgehört, mit ihnen zu reden, schon lange bevor sie tot waren. Dieses Schweigen war wie eine Beständigkeit. Tränen vergießen sie auch nie. Ihre Augen sind seit Ewigkeiten trocken. Manchmal treffen sie aufeinander, dann reden sie vom Wetter, von den Kindern, den Enkeln und bald schon, stellen Sie sich das mal vor, von ihren Urenkeln.

Einmal habe ich sie lachen sehen. Ein einziges kleines Mal. Als Madame Pinto erzählt hat, dass ihre Enkelin gefragt hat: »Oma, was ist Allerheiligen? Sind das Ferien?«

8

Auf meinem Friedhof gibt es über tausend Fotos. Schwarz-weiß, sepia, kräftig bunt oder verblichen.

Als all diese Fotos gemacht wurden, konnte keiner der Männer, Kinder, Frauen, die dafür unschuldig vor dem Objektiv posierten, ahnen, dass dieser Moment sie für die Ewigkeit darstellen würde. Es war ein Geburtstag oder ein Familienfest. Ein Sonntagsspaziergang im Park, ein Hochzeitsfoto, ein Abschlussball, ein Silvesterabend. Ein Tag, an dem sie ein bisschen schöner waren, ein Tag, an dem sie alle beisammen waren, ein besonderer Tag, an dem sie eleganter waren. Oder in ihrer Kleidung als Soldat, als Täufling oder Kommunionkind. Nichts als Unschuld im Blick all dieser Menschen, die auf ihren Gräbern lächeln.

Häufig steht am Tag vor einer Beerdigung ein Artikel in der Zeitung. Er fasst in ein paar Sätzen das Leben des Verstorbenen zusammen. Knapp. In der Lokalzeitung braucht ein Leben nicht viel Platz. Etwas mehr, wenn es ein Ladenbesitzer war, ein Arzt oder ein Fußballtrainer.

Es ist wichtig, Fotos auf Gräber zu stellen. Sonst ist man nur noch ein Name. Der Tod nimmt auch die Gesichter mit.

Das schönste Paar auf meinem Friedhof sind Anna Lave, verheiratete Dahan (1914–1987), und Benjamin Dahan (1912–1992). Man sieht sie auf einem nachkolorierten Foto von ihrem Hochzeitstag in den Dreißigerjahren. Zwei wunderbare Gesichter, die dem Fotografen zulächeln. Sie: blond wie die Sonne, durchsichtige Haut, er: ein feines, fast ziseliertes Gesicht, und ihre Blicke blinken wie zu Sternen geschliffene Saphire. Zweimal Lächeln für die Ewigkeit.

Im Januar wische ich die Fotos auf meinem Friedhof ab. Nur auf den Gräbern, die verwahrlost sind oder sehr wenig besucht. Den Lappen tränke ich in Wasser, vermischt mit einem Tropfen Spiritus. Dasselbe mache ich mit den Spruchtafeln, aber mit einem in weißem Essig getränkten Lappen.

Das Putzen dauert ungefähr fünf bis sechs Wochen. Wenn Nono, Gaston und Elvis mir helfen wollen, sage ich Nein. Sie haben schon genug Arbeit mit der allgemeinen Instandhaltung.

 

Ich habe ihn nicht kommen hören. Das ist selten. Die Schritte der Leute auf dem Kies der Alleen bemerke ich sofort. Ich weiß sogar, ob es ein Mann ist, eine Frau oder ein Kind. Ein Spaziergänger oder ein Stammgast. Er geht, ohne ein Geräusch zu machen.

Ich säubere gerade die neun Gesichter der Familie Hesme – Etienne (1876–1915), Lorraine (1887–1928), Françoise (1949–2000), Gilles (1947–2002), Nathalie (1959–1970), Théo (1961–1993), Isabelle (1969–2001), Fabrice (1972–2003), Sébastien (1974–2011) –, als ich seinen Blick in meinem Rücken spüre. Ich drehe mich um. Er steht im Gegenlicht, ich erkenne ihn nicht gleich.

An seinem »Bonjour«, an seiner Stimme merke ich, dass er es ist. Und gleich nach seiner Stimme, zwei oder drei Sekunden später, an seinem Geruch nach Zimt und Vanille. Ich hätte nicht gedacht, dass er wiederkommen würde. Über zwei Monate ist es her, dass er an meiner zur Straße gewandten Tür geklopft hat. Mein Herz beginnt, ein bisschen zu pochen. Ich spüre, wie es mir zuhaucht: Vorsicht.

Seit dem Verschwinden von Philippe Toussaint hat kein Mann mein Herz schneller schlagen lassen. Seit Philippe Toussaint kommt es nicht mehr aus dem Rhythmus, genau wie eine alte Wanduhr, die unbekümmert vor sich hin tickt.

Nur an Allerheiligen beschleunigt sich der Takt: Da kann ich bis zu hundert Töpfe Chrysanthemen verkaufen, und ich muss die vielen Gelegenheitsbesucher führen, die sich auf den Wegen verlaufen. Aber an diesem Morgen beginnt, obwohl kein Totengedenken ist, mein Herz zu pochen. Und zwar wegen ihm. Ich glaube, ich spüre eine Angst: meine eigene.

Ich habe noch den Lappen in der Hand. Der Kommissar mustert die Gesichter, die ich gerade poliere. Er lächelt mir schüchtern zu.

»Sind das Verwandte von Ihnen?«

»Nein. Ich pflege nur die Gräber.«

Ich weiß nicht, was ich mit den Wörtern machen soll, die mir durch den Kopf schwirren, und sage: »In der Familie Hesme stirbt man früh. Als wären sie allergisch auf das Leben, oder als wollte es von ihnen nichts wissen.«

Er nickt, hält sich den Mantelkragen zu und sagt lächelnd: »Ziemlich kühl hier bei Ihnen.«

»Ja, bestimmt kälter als in Marseille.«

»Fahren Sie diesen Sommer wieder hin?«

»Ja, wie jeden Sommer. Ich fahre zu meiner Tochter.«

»Lebt sie in Marseille?«

»Nein, sie ist überall unterwegs.«

»Was macht sie?«

»Sie ist Zauberin. Profi.«