Grave - Verse der Toten

Douglas Preston / Lincoln Child

Grave - Verse der Toten

Ein neuer Fall für Special Agent Pendergast

Thriller

Aus dem amerikanischen Englisch
von Michael Benthack

Knaur eBooks

Inhaltsübersicht

Über Douglas Preston / Lincoln Child

Douglas Preston, geboren 1956, studierte zunächst Naturwissenschaften und später Englische Literatur. Nach dem Examen startete er seine Karriere beim »American Museum of Natural History« in New York. Eines Nachts, als Preston seinen Freund Lincoln Child, geboren 1957, auf eine mitternächtliche Führung durchs Museum einlud, entstand dort die Idee zu ihrem ersten gemeinsamen Thriller, Relic, dem viele weitere internationale Bestseller folgten. Heute zählen Preston & Child weltweit zu den erfolgreichsten Autoren in der spannenden Unterhaltung.

 

 

 

Lincoln Child widmet dieses Buch seiner Tochter Veronica

 

Douglas Preston widmet dieses Buch Gussie und Joe Stanislaw

1

Sittsam spazierte Isabella Guerrero – von ihren Freundinnen und Mitspielerinnen im Bridgeclub Iris genannt – unter den Palmen des Friedhofs Bayside hindurch. Über ihr erstreckte sich ein schier endloser, blassblauer Himmel. Es war halb acht Uhr morgens, die Temperatur betrug um die 25 Grad, und der Tau, der immer noch auf dem breitblättrigen Sankt-Augustin-Gras lag, durchtränkte das Leder ihrer Sandaletten. In der einen Hand trug sie eine Handtasche von Fendi, in der anderen hielt sie die Leine, an der ihr Pekinese Twinkle wirkungslos zerrte. Iris schritt besonders achtsam zwischen den Gräbern und Anpflanzungen mit Buntnessel hindurch – denn erst drei Wochen zuvor hatte Grace Manizetti, beladen mit Einkäufen, auf dem Rückweg vom Publix das Gleichgewicht verloren und sich die Hüfte gebrochen.

Weil der Friedhof erst eine halbe Stunde zuvor seine Tore geöffnet hatte, hatte Iris ihn ganz für sich allein. So gefiel ihr das – Miami Beach wurde mit jedem Jahr voller. Selbst hier in Bal Harbour, am Nordende der Insel, war der Autoverkehr schlimmer, als sie das aus dem übervölkerten New York ihrer Kindheit kannte, als sie am Queens Boulevard aufwuchs. Und dieses scheußliche Einkaufszentrum, das vor einigen Jahren nördlich der Sechsundneunzigsten gebaut worden war, hatte alles nur noch schlimmer gemacht. Und nicht nur das: Von Süden her hatten sich – zusammen mit den Bodegas und casa dies und tienda das – nicht wünschenswerte Elemente ausgebreitet. Gott sei Dank hatte Francis in weiser Voraussicht die Eigentumswohnung im Grande Palms Atlantic gekauft. Das Hochhaus in Surfside grenzte direkt an den Strand, sodass der Blick unverbaubar war.

Francis. Endlich sah sie sein Grab. Die Sonne Floridas hatte den Grabstein ein ganz klein wenig ausgebleicht, aber die Grabstelle wirkte sauber und ordentlich – dafür hatte sie gesorgt. Twinkle, der merkte, dass sie sich ihrem Ziel näherten, hatte aufgehört, an der Leine zu ziehen.

Es gab ja so vieles, wofür sie Francis dankbar sein musste. Drei Jahre zuvor war er von ihr gegangen, und seither war ihr nur noch bewusster geworden, wie dankbar sie ihm war. Denn Francis war so vorausschauend gewesen, das väterliche Fleischerei-Fachgeschäft von New York City an die Küste Floridas zu verlegen, damals, als dieser Abschnitt der Collins Avenue noch verschlafen und preiswert war. Zudem hatte Francis das Geschäft im Laufe der Jahre umsichtig vergrößert und ihr beigebracht, wie man die Waagen und die Registrierkasse bediente, sowie die Bezeichnungen und Eigenschaften der verschiedenen Fleischstücke. Und schließlich hatte Francis für den Verkauf des Ladens genau den richtigen Zeitpunkt getroffen – das Jahr 2007, bevor die Immobilienpreise abstürzten. Der riesige Gewinn, den sie gemacht hatten, hatte ihnen nicht nur erlaubt, die Wohnung im Grande Palms zu kaufen (zu einem Tiefstpreis, im Jahr darauf), sondern auch ermöglicht, dass sie viele Jahre lang einen komfortablen Ruhestand genießen konnten. Wer hätte gedacht, dass Francis so bald an Bauchspeicheldrüsenkrebs sterben würde.

Inzwischen war Iris am Grab angekommen und blieb einen Moment stehen, um über den Friedhof hinauszuschauen und die Aussicht zu bewundern. Trotz des Gedränges der vielen Leute auf der Straße und des starken Autoverkehrs bot sich ihr ein friedliches Bild: der Kane Concourse, der sich über die Harbor Islands in Richtung Festland erstreckte, die weißen Dreiecke der Segelboote, die bis hinauf zur Biscayne Bay kreuzten. Und alles war in freundliche, tropische Pastellfarben getaucht. Der Friedhof war eine Oase der Ruhe, vor allem morgens, wenn Iris sogar im März – dem Höhepunkt der Urlaubssaison – ein wenig Zeit am Grab ihres verstorbenen Ehemanns zubrachte, um zu sinnieren.

Die kleine Vase mit Plastikblumen, die sie neben den Grabstein gestellt hatte, stand irgendwie schief – sicherlich wegen des Tropensturms, der vorgestern über Florida hinweggefegt war. Sie justierte die Vase, zog ein Taschentuch aus der Handtasche, wischte die Blumen ab und begann, sie zu säubern. Plötzlich spürte sie, dass Twinkle wieder an der Leine zog, und das heftiger als zuvor.

»Twinkle!«, schalt sie. »Nein!« Francis hatte den Namen – kurz für Twinkle Toes – gehasst und den Hund immer Tyler genannt, nach der Straße, in der er aufgewachsen war. Aber Iris fand Twinkle schöner, und wenn Francis nun auch von ihr gegangen war, glaubte sie doch nicht, dass er etwas gegen den Namen einzuwenden hätte.

Sie drückte die Vase in den Boden, damit sie fester stand, presste das Gras ringsum an und lehnte sich ein wenig nach hinten, um ihr Werk zu bewundern. Aus dem Augenwinkel nahm sie eine Bewegung wahr – vielleicht der Friedhofsgärtner oder eine andere Trauernde, die einem Toten die Ehre erwies. Es war jetzt kurz vor acht, und der Friedhof Bayside war schließlich der einzige auf der ganzen Insel. Da durfte man nicht erwarten, ihn ganz für sich allein zu haben. Sie würde ein Gebet sprechen, dasjenige, das sie und Francis vor dem Zubettgehen immer gemeinsam aufgesagt hatten, und dann wieder zurück zum Grande Palms fahren. Um zehn fand dort eine Eigentümerversammlung statt, und sie hatte vor, ein paar überaus deutliche Worte zu sprechen, was den Zustand der Bepflanzung in der Nähe des Eingangsbereichs betraf.

Twinkle zog immer noch stark an der Leine, und jetzt kläffte er auch noch. Sie schalt ihn noch einmal. Ein solches Betragen sah ihm gar nicht ähnlich – normalerweise benahm sich der Pekinese relativ brav. Außer als diese furchtbare Russisch Blaue in 7B ihn einmal gejagt hatte. Während Iris sich aufrichtete und sich gedanklich auf ihr Gebet vorbereitete, nutzte Twinkle die Gelegenheit und rannte los, wodurch ihr die Leine aus der Hand glitt. Wie ein Irrer flitzte er über den feuchten Rasen, die Leine hinter sich herziehend und bellend.

»Twinkle!«, rief sie in barschem Tonfall. »Komm sofort zurück!«

Der Hund blieb an einem Grabstein in der nächsten Reihe stehen. Irgendetwas dort fand er wahnsinnig interessant. Selbst aus dieser Entfernung war zu erkennen, dass der Grabstein älter als der von Francis war, aber nicht viel. Vor dem Grabstein lagen ein paar frische Blumen und etwas, das ein von Hand geschriebener Brief zu sein schien. Aber nicht das zog Iris’ Aufmerksamkeit auf sich; Blumen und Briefe ebenso wie eine Vielzahl von Grabbeigaben liebender Angehöriger sah man auf der Hälfte der Gräber auf dem Bayside. Nein, auf Twinkle selbst wurde sie aufmerksam. Offenbar hatte er etwas gefunden, das unten am Grabstein lag, und veranstaltete deswegen ein Riesenspektakel. Weil Twinkle den Gegenstand verdeckte, konnte Iris nicht erkennen, um was es sich dabei handelte, jedenfalls hatte er sich darübergebeugt und schnüffelte und leckte daran.

»Twinkle!« Das gehörte sich einfach nicht. Das Letzte, was Iris wollte, war, an diesem Ort der Ruhe eine Szene zu machen. Hatte ihr Hündchen ein altes Hundespielzeug gefunden? Eine Süßigkeit vielleicht, die einem vorbeigehenden Kind aus der Hand gefallen war?

Das Gebet würde warten müssen, bis sie Twinkle wieder an der Leine hatte.

Iris steckte das Taschentuch zurück in die Handtasche und näherte sich Twinkle mit langen Schritten. Doch während sie schimpfend näher kam, packte er den gerade eben gefundenen Schatz und lief davon. Entsetzt und zugleich verlegen sah Francis ihn in einer Gruppe Palmettopalmen aus dem Blickfeld verschwinden.

Verärgert seufzte sie auf. Francis hätte das gar nicht gern gesehen; er hatte stets darauf bestanden, dass Hunde artig und folgsam zu sein hätten. »Dieser dumme kleine Köter«, hätte er gesagt. Na ja, heute Abend würde Twinkle erleben, was Zucht und Ordnung bedeuteten: keinen leckeren Keks im Futter.

Leise vor sich hin murmelnd, folgte Iris der Richtung, in die der Hund gelaufen war. Als sie bei der Gruppe Palmen ankam, blieb sie stehen und blickte sich um. Twinkle war nirgends zu sehen. Sie wollte ihr Hündchen schon rufen, besann sich jedoch eines Besseren – sie befand sich ja schließlich auf einem Friedhof. Einem Hund hinterherzurennen, der sich losgerissen hatte, war schon schlimm genug. Und jetzt erkannte sie auch, woher die Bewegungen, die sie vorhin bemerkt hatte, rührten: von einer aus drei Personen bestehenden Gruppe – zwei Mädchen und ein Mann in mittleren Jahren, die links von ihr in einem Halbkreis um ein Grab standen.

Just in diesem Moment fiel Iris’ Blick auf eine blitzschnelle Bewegung: Twinkle. Er stand etwa sieben Meter vor ihr, dort, wo der Friedhof ans Wasser grenzte, und wühlte wie verrückt in einem Amaryllis-Beet. Die Erde spritzte nur so auf.

Das war ja schrecklich. So schnell sie konnte, eilte Iris los, die Handtasche eng am Körper haltend. Der Hund war so vertieft in sein Gebuddel, dass er sie gar nicht bemerkte, als sie von hinten an ihn herantrat, die Leine ergriff und kurz daran zog. Überrascht schlug Twinkle einen halben Purzelbaum. Aber obwohl er am Kragen weggezerrt wurde, weigerte er sich, seine Beute loszulassen.

»Böser Hund!«, schalt Iris so laut, wie sie sich traute. »Böser, böser Hund!« Sie wollte sich schnappen, was Twinkle da gefunden hatte, in der Absicht, es ihm wegzunehmen, doch er entwischte ihrem Griff. Der Gegenstand hatte die Größe eines Mini-Spielzeugfußballs, war aber derart dick von Schmutz und Hundespeichel überzogen, dass sie nicht erkennen konnte, worum genau es sich handelte.

»Lass das los, hast du verstanden?« Twinkle knurrte, als Iris erneut die Hand danach ausstreckte, aber diesmal gelang es ihr, ein Ende des Gegenstands zu packen. Sie wusste ja, er würde sie nicht beißen – es ging nur darum, dass sie ihm das Ding aus dem Maul zog. Nur war Twinkles Beute ekelerregend schlüpfrig, und er hielt sie hartnäckig fest. Es kam zu einer Art Zweikampf: Iris zog den Hund zu sich heran, Twinkle wehrte sich und grub die Pfoten in den Sand. Ein wenig ängstlich sah Iris nach hinten, aber die Gruppe an der anderen Grabstätte hatte nichts mitbekommen.

Das heftige Tauziehen dauerte fast eine halbe Minute. Am Ende war der Gegenstand schlicht zu groß, als dass Twinkles kleines Maul ihn festhalten konnte, und mit einem entschlossenen Ruck gelang es Iris, ihm ihn zu entreißen. Nachdem sie sich aufgerichtet und überprüft hatte, dass sie Handtasche und Leine fest in Händen hielt, sah sie, dass es sich bei dem Gegenstand um ein Fleischstück handelte. Während des Gerangels war eine klebrige, rötliche Flüssigkeit herausgetropft, auf ihre Hand und Twinkles Schnauze. Gleichzeitig fiel Iris auf, wie ungewöhnlich das Fleischstück war – zäh und ledrig. Ihre erste Regung war, es angewidert loszulassen, aber dann hätte Twinkle doch nur wieder danach geschnappt.

Während der Hund kläffte und sprang und versuchte, seinen Fund wiederzubekommen, griff Iris in die Handtasche, zog das Taschentuch hervor und wischte das Ding ab. Was um alles in der Welt hatte es auf einem Grab zu suchen?

Als sie die eine Seite säuberte, kam plötzlich eine kurze, dicke karmesinrote Röhre – vergleichbar dem Ende eines Kühlerschlauchs – zum Vorschein. Plötzlich verharrte sie, wie starr vor Schreck. Sie war lange genug die Ehefrau eines Fleischers gewesen, um inzwischen genau zu wissen, was da auf ihrer Hand lag. Das hier musste ein Traum sein, ein Albtraum, es konnte unmöglich wirklich sein.

Das Gefühl der Irrealität hielt nur für einen Sekundenbruchteil an. Dann stieß Iris einen Schrei des Abscheus aus und ließ das Ding fallen, als hätte es ihr die Hand verbrannt. Sofort steckte Twinkle es sich ins blutverschmierte Maul und riss sich erneut los, rannte triumphierend davon, die Leine hinter sich herziehend. Doch Iris nahm nichts mehr davon wahr. Sie hatte so ein merkwürdiges Brausen im Ohr, und auf einmal spürte sie, dass ihr ganz heiß wurde. Schwarze Pünktchen tanzten an den Rändern ihres Gesichtsfelds. Das Brausen wurde lauter, dann noch lauter, und das Letzte, was sie sah, bevor sie bewusstlos zu Boden sank, war, dass die Gruppe am anderen Grab auf sie zulief.

2

Lediglich mit einem feuchten, um die Taille geschlungenen Badetuch bekleidet, entspannte sich Assistant Director in Charge Walter Pickett in der mit Zedernholz verkleideten Sauna. Die Sauna war groß, ausgestattet mit zwei Reihen von Bänken und leer bis auf einen anderen Mann – jung und groß gewachsen, mit dem Körperbau eines Schwimmers –, der am anderen Ende nahe der Tür saß. Pickett selbst saß hinter dem Aufgusseimer, der dabei half, die Temperatur und die Luftfeuchtigkeit in dem Raum zu regulieren. Pickett zog es vor, jedwede Lage, in der er sich befand, im Griff zu haben.

Neben ihm auf der Bank lag ein einzelnes Blatt Papier, geschützt von einer Klarsichthülle.

Er sah kurz auf das in die Täfelung eingelassene Thermometer. Zwar war es wegen der Luftfeuchtigkeit ein wenig beschlagen, aber die Temperatur ließ sich trotzdem darauf ablesen: angenehme 75 Grad.

Die Sauna grenzte an den Männerumkleideraum und die Duschen tief in einem Nebengebäude des FBI in der Worth Street. Der Komplex beherbergte nicht nur verschiedene Außenstellen, sondern auch eine Schießanlage und derartige Annehmlichkeiten wie Squashplätze, einen Swimmingpool und natürlich diese Sauna. Zudem lag es nur um die Ecke von seinem Büro im FBI-Hauptgebäude an der Federal Plaza 26. Die Räumlichkeiten dort waren gar nicht zu vergleichen mit seinem spartanischen Büro in Denver, wo er bis vor drei Monaten als Special Agent in Charge tätig gewesen war.

Nachdem Pickett die Academy mit Abschluss verlassen hatte, war er schnell aufgestiegen und hatte sich in den Dezernaten Spionageabwehr und Kriminelle Unternehmungen wie auch in der Abteilung für Interne Ermittlungen (OPR) einen Namen gemacht. Auf seine jetzige Stelle, Einsatzleiter in New York City, hatte er schon lange ein Auge geworfen. Sie stellte einen der echten Top-Posten im Bureau und das natürliche Sprungbrett nach Washington dar. Alles hing nun davon ab, dass er den Laden in den Griff bekam und in aufsehenerregenden Fällen große Siege einfuhr … Und Pickett hegte keinerlei Zweifel daran, dass er zu beidem fähig war.

Er lehnte sich mit den nackten Schultern zurück gegen das heiße Holz und spürte, wie sich die Hautporen in der feuchten Hitze öffneten. Ein angenehmes Gefühl. Pickett schloss halb die Augen und dachte nach. Er hatte größtes Vertrauen in seine Fähigkeiten und vermied gewissenhaft alles, was – wie er das bei vielen anderen talentierten Agenten miterlebt hatte – die Karriere gefährden könnte. Dabei war er kein Wichtigtuer, kein offensichtlicher Karrierist oder Leuteschinder. Einen der wertvollsten Posten hatte er in der Abteilung zur Vernehmung hochrangiger Gefangener bekleidet, wo er nach dem Studium an der Academy mehrere prägende Jahre zugebracht hatte. Dies hatte ihm, neben seiner kurzen Zeit in der OPR, ein Maß an psychologischer Einsichtsfähigkeit verschafft, die bei einem FBI-Dienstvorgesetzten selten war. Seither hatte er ausgiebig Gebrauch davon gemacht, was er dort über das menschliche Verhalten und das Wesen der Überredung gelernt hatte.

Als er die Außenstelle in New York City übernahm, hatte er sie in ganz schlechtem Zustand vorgefunden. Moral und Stimmung waren schlecht, die Aufklärungsraten lagen unter dem Durchschnitt. Das Office hatte einen Wasserkopf, es gab zu viele Schreibtischtäter. Letzteres Problem hatte er durch eine Reihe von Versetzungen und Vorruhestandsregelungen gelöst. Er war zwar von Natur aus kein Mikromanager, aber er hatte sich die Zeit genommen, jede Abteilung unter die Lupe zu nehmen, die vielversprechendsten Leute aufzuspüren und ihnen Posten mit größerer Verantwortung anzuvertrauen – selbst wenn das bedeutete, sie jenen Kollegen vor die Nase zu setzen, die schon länger beim FBI waren. Die Umwandlung der Außenstelle in eine echte Leistungsgesellschaft hatte das Problem mit der Arbeitsmoral gelöst. So hatte er trotz seiner Tätigkeit beim OPR – so wie jeder in den Strafverfolgungsbehörden misstrauten auch FBI-Agenten allen, die in der Abteilung Interne Ermittlungen gearbeitet hatten – den Respekt und die Loyalität seiner Untergebenen gewonnen. Jetzt lief es in der New Yorker Außenstelle endlich wieder rund, alle Rädchen griffen ineinander. Selbst die Aufklärungszahlen gingen langsam wieder nach oben. Es war ihm gelungen, eine Wende einzuleiten, und das in einer einzigen Saison. Er hatte seinen Job gut gemacht, aber er achtete sehr darauf, jeden Anflug von Selbstbeglückwünschung zu vermeiden.

Trotz all dieser Erfolge gab es da allerdings immer noch ein Problem, das er angehen musste. Eine heikle Personalangelegenheit, die ihm sein Amtsvorgänger vererbt hatte. Er hatte sich diese ganz besondere Schwierigkeit bis ganz zum Schluss aufgehoben.

Im Laufe der Jahre hatte sich Pickett mit mehr als genug lästigen Agenten herumgeschlagen. Seiner Erfahrung nach waren solche Leute entweder antisoziale Einzelgänger oder komplexbeladene Typen, die mit reichlich viel persönlichen Problemen beim FBI angefangen hatten. Wenn sie nichts brachten, dann zögerte er auch nicht, sie Knall auf Fall zu versetzen – Nebraska benötigte ja schließlich auch Außenagenten. Wenn sie vielversprechend zu sein schienen beziehungsweise beeindruckende Zahlen vorweisen konnten, dann galt es, sie umzuerziehen. Dann stieß er sie unsanft aus ihrer Komfortzone, brachte sie in einem ihnen unbekannten Umfeld unter, übertrug ihnen eine Aufgabe, die ihnen völlig unvertraut war. Und er sorgte dafür, dass sie wussten, dass sie unter Beobachtung standen. Diese Technik hatte bei den Verhören und den internen Ermittlungen über Dienstvergehen funktioniert – und wirkte ebenso gut, wenn es darum ging, einzelgängerische Agenten in die FBI-Familie zurückzuholen.

Falls man der Akte trauen konnte, war dieser Agent so einzelgängerisch, wie man nur sein konnte. Aber Pickett hatte die Personalakte gründlich durchgearbeitet – zumindest ihre nicht klassifizierten Bereiche – und einen Handlungsplan entworfen, mit dem er das Problem angehen wollte.

Er sah zur Wanduhr. Punkt dreizehn Uhr. Wie aufs Stichwort ging die Tür auf, und ein Mann betrat die Sauna. Pickett sah mit geübter Lässigkeit hin und musste sich zusammenreißen, nicht noch einmal hinzuschauen. Der Mann war groß gewachsen und schlank und so blond, dass die sorgfältig gestutzten Haare fast weiß wirkten. Die Augen waren gletscherfarben und so kalt und undurchsichtig wie das Eis, dem sie glichen. Aber anstatt dass er nackt war und ein Saunatuch um die Taille hatte, trug der Mann einen schwarzen Anzug, tadellos geschneidert und zugeknöpft, dazu ein gestärktes weißes Hemd mit perfekt gebundener Krawatte. Die Schuhe waren blank poliert und von der teuren, maßgefertigten Sorte. Pickett war fassungslos. Von allen Gedanken, die sich in seinen Kopf geschlichen hatten, stach einer heraus: Ist er tatsächlich in dieser Kleidung mitten durch die Umkleide, die Duschen und den Poolbereich gegangen? Er mochte sich gar nicht ausmalen, was für einen Wirbel der Agent verursacht haben musste, als er auf seinem Weg in die Sauna sämtliche Regeln gebrochen hatte.

Der andere Mann in der Sauna, der unweit der Tür saß, sah hoch, runzelte kurz überrascht die Stirn und senkte den Blick wieder.

Schnell hatte Pickett seine Fassung wiedergewonnen. Der Agent stand, wie er sehr wohl wusste, in dem Ruf, ein ungeheurer Exzentriker zu sein. Darum hatte er sich auch nicht nur dazu entschlossen, seine Dienstanweisungen zu verschärfen, sondern auch den Ort zu ändern, um das zu besprechen. Seiner Erfahrung nach halfen atypische Situationen – wie zum Beispiel, sich nackt in einer Sauna zu treffen –, schwierige Untergebene aus dem Gleichgewicht zu bringen, wodurch er dann die Oberhand gewann.

Mal abwarten, wie sich die Dinge entwickelten.

Bevor er irgendetwas sagte, hob er die hölzerne Schöpfkelle aus dem Aufgusseimer und füllte sie, dann goss er das Wasser auf die Saunasteine. Eine zufriedenstellend dicke Dampfwolke waberte durch den Raum.

»Agent Pendergast«, sagte er mit tonloser Stimme.

Der Mann in Schwarz nickte.

»Es gibt mehrere Reihen mit Spinden hinter den Duschräumen. Würde es Ihnen etwas ausmachen, die Kleidung abzulegen?«

»Das wird nicht nötig sein. Die Hitze bekommt mir sehr gut.«

Pickett musterte den Mann von oben bis unten. »Dann nehmen Sie bitte Platz.«

Agent Pendergast nahm sich ein Saunatuch von einem Stapel in der Nähe der Tür, kam herüber und wischte die Bank neben Pickett trocken; dann faltete er es penibel und setzte sich.

Pickett achtete darauf, sich nicht anmerken zu lassen, wie verblüfft er war. »Zunächst einmal, darf ich Ihnen mein Beileid zum Tod von Howard Longstreet aussprechen? Er war ein herausragender Nachrichtendienstchef und, wie ich höre, so eine Art Mentor für Sie.«

»Er war der Beste, den ich gekannt habe, bis auf einen.«

Das war zwar nicht die Antwort, mit der Pickett gerechnet hatte, aber er nickte trotzdem und hielt an seiner Agenda fest. »Ich wollte schon seit Längerem mit Ihnen sprechen. Sie haben hoffentlich nichts dagegen, wenn ich ganz offen zu Ihnen bin.«

»Im Gegenteil. Anders als hinterhältige Fragen führen unverblümte Gespräche rasch zum Ziel.«

Pickett suchte in Pendergasts Zügen nach irgendwelchen Anzeichen für Insubordination, aber die Miene des Agenten blieb völlig ausdruckslos. Er fuhr fort: »Sie werden gewiss nicht überrascht sein zu erfahren, dass ich in meinen wenigen Monaten als Leiter der New Yorker Außenstelle viel über Sie gehört habe – offiziell wie auch inoffiziell. Um es freiheraus zu sagen: Sie gelten als einsamer Wolf, wenngleich als einer, der einen außergewöhnlich hohen Prozentsatz an erfolgreichen Ermittlungen vorzuweisen hat.«

Pendergast akzeptierte das Kompliment, indem er kurz nickte, so wie man vielleicht seiner Partnerin zunickt, bevor man sie zum Tanz auffordert. Wie seine Sprechweise wirkten auch seine Bewegungen bedächtig und katzenhaft, als wäre er auf der Pirsch nach Beute.

Jetzt zeigte Pickett ihm die Kehrseite seines Lobs. »Ihre Arbeit hat allerdings auch eine der höchsten Quoten an Tatverdächtigen vorzuweisen, die nicht vor Gericht gestellt werden, da sie – im FBI-Jargon ausgedrückt – im Zuge der Ermittlungen verstorben sind

Erneut graziöses Nicken seitens Pendergasts.

»Direktor Longstreet war nicht nur Ihr Mentor, sondern auch Ihr Schutzengel im Bureau. So wie ich das verstehe, scheint er die Aufsichtsorgane von Ihnen ferngehalten zu haben. Er hat Ihre unorthodoxen Methoden verteidigt, Sie vor negativen Konsequenzen bewahrt. Aber jetzt, da er tot ist, steckt die Leitungsebene in einem Dilemma – was den Umgang mit Ihnen angeht, meine ich.«

Inzwischen rechnete Pickett eigentlich damit, eine gewisse Besorgnis im Blick des Agenten aufflackern zu sehen. Aber da war keine. Er griff nach der Schöpfkelle und goss nochmals Wasser auf die Steine. Die Temperatur in der Sauna stieg auf kuschelige 82 Grad.

Pendergast rückte seine Krawatte zurecht und schlug wieder die Beine übereinander. Es hatte nicht einmal den Anschein, als würde er schwitzen.

»Was wir beschlossen haben, ist, kurz gesagt, Ihnen freie Hand zu lassen, weiterhin das zu tun, was Sie am besten können: in psychologischer Hinsicht unorthodoxe Mörder zur Strecke zu bringen, und zwar mittels jener Methoden, mit denen Sie bislang Erfolg hatten. Selbstverständlich gelten gewisse Einschränkungen.«

»Selbstverständlich«, sagte Pendergast.

»Was uns zu Ihrem neuen Auftrag bringt. Just am heutigen Morgen wurde auf einem Grab in Miami Beach ein menschliches Herz gefunden. Bei der in dem Grab Beigesetzten handelt es sich um eine gewisse Elise Baxter, die sich mit einem Bettlaken erdrosselt hat, und zwar vor elf Jahren, in Katahdin, Maine. Auf dem Grab –«

»Warum wurde Ms Baxter in Florida beigesetzt?«, unterbrach Pendergast höflich.

Pickett stutzte. Er ließ sich gar nicht gerne unterbrechen. »Sie wohnte in Miami. In Maine war sie im Urlaub. Die Angehörigen haben ihren Leichnam zur Beisetzung mit dem Flugzeug nach Hause zurückgeholt.« Er machte eine Pause, um sicherzustellen, dass Pendergast keine weiteren Zwischenfragen stellte, und griff nach der Klarsichthülle mit dem einen Blatt Papier darin. »Auf dem Grab fand sich ein Brief. Darin heißt es –«, er sah auf das Blatt, »›Liebe Elise, das, was Dir widerfahren ist, tut mir sehr leid. Der Gedanke, wie sehr Du gelitten haben musst, verfolgt mich schon seit Jahren. Ich hoffe, Du nimmst dieses Geschenk und mein aufrichtiges Beileid an. So lass uns also, Du und ich – aber andere warten ebenfalls auf Geschenke.‹ Unterzeichnet ist der Brief mit ›Mister Brokenhearts‹.«

»Sehr zuvorkommend von Mister Brokenhearts«, sagte Pendergast nach einem Moment, »obschon das Geschenk von einem ziemlich schlechten Geschmack zeugt.«

Pickett runzelte die Stirn. Um seine Augen herum hatten sich kleine Schweißperlen gebildet, aber er konnte noch immer nicht den geringsten Anflug von Unbotmäßigkeit bei diesem Pendergast erkennen. Er saß unbewegt da, die Ruhe selbst, trotz der Hitze.

»Das Herz wurde von einer Besucherin des Friedhofs heute Morgen gegen Viertel vor acht gefunden. Um halb elf wurde die Leiche einer Frau unter einem Gebüsch am Boardwalk in Miami Beach entdeckt, rund fünfzehn Kilometer südlich vom Friedhof. Das Herz war ihr herausgeschnitten worden. Die Polizei Miami Beach bearbeitet noch den Tatort, aber eines wissen wir bereits: Das Herz des Opfers ist dasjenige, das auf dem Grab gefunden wurde.«

Zum ersten Mal sah Pickett etwas in Pendergasts Augen aufblitzen – ein Funkeln, wie wenn man einen Brillanten ins Licht hält.

»Wir wissen zwar nicht, ob eine Verbindung zwischen Elise Baxter und der Frau, die heute ermordet wurde, besteht. Aber es liegt auf der Hand, dass es eine geben muss. Und wenn man dieser Erwähnung von ›anderen‹ in dem Brief trauen kann, könnten weitere Morde bevorstehen. Elise Baxter verstarb in Maine. Auch wenn es sich um einen Suizid handelte, schreibt die Amtshilfe zwischen den Bundesstaaten vor, dass wir uns damit befassen müssen.« Er legte das Blatt Papier auf die Bank und schob es Richtung Pendergast. »Sie fliegen gleich morgen früh nach Miami, um in dem Mord zu ermitteln.«

Das Funkeln war noch immer nicht aus Pendergasts Augen verschwunden. »Ausgezeichnet. Ganz ausgezeichnet.«

Als Pendergast die Hand nach dem Blatt Papier ausstreckte, hielt Pickett es fest. »Nur eines noch. Sie werden mit einem Partner zusammenarbeiten.«

Pendergast saß nach wie vor völlig reglos da.

»Ich erwähnte bereits, dass es ein paar Einschränkungen geben wird. Folgende ist die größte: Howard Longstreet weilt nicht mehr unter uns und kann Ihnen, Agent Pendergast, weder den Rücken frei halten noch Sie nach Hause zurückholen, wenn Sie vom Wege des Gesetzes abkommen. Das Bureau kann Ihre bemerkenswerte Erfolgsbilanz zwar nicht einfach ignorieren, doch es kann auch nicht die hohe Sterblichkeitsrate übersehen, die Sie zu deren Erlangung angehäuft haben. Deshalb stellen wir Ihnen einen Partner an die Seite, was im FBI natürlich ein ganz reguläres Verfahren ist. Ich weise Ihnen hiermit einen unserer intelligentesten jungen Agenten zu. Selbstverständlich werden Sie die Ermittlungen leiten, aber er wird Sie dabei unterstützen, und zwar auf Schritt und Tritt. Er wird Ihnen sowohl als Diskutant dienen … als auch, wenn nötig, als Korrektiv. Und wer weiß? Möglicherweise werden Sie am Ende diese Regelung sogar zu schätzen wissen.«

»Ich glaube, meine Bilanz spricht für sich selbst«, sagte Pendergast in dem ihm eigenen, seidenweichen Südstaatler-Tonfall. »Die besten Ergebnisse erziele ich, wenn ich eigenständig bleibe. Ein Partner könnte meine Ermittlungsarbeit behindern.«

»Aber Sie schienen doch ziemlich gut mit diesem New Yorker Cop zusammenzuarbeiten – wie war noch gleich sein Name? D’Agosta.«

»Er ist außergewöhnlich.«

»Der Mann, den ich Ihnen zuweise, ist auch außergewöhnlich. Wichtiger noch, die Zuweisung ist nicht verhandelbar. Entweder Sie akzeptieren einen Partner, oder wir übertragen den Fall jemand anderem.« Und lassen dich am langen Arm verhungern, bis du einlenkst, dachte Pickett im Stillen.

Während dieser kurzen Rede hatte Pendergasts Mimik eine gewisse Wandlung durchlaufen. Es war ein höchst merkwürdiger Gesichtsausdruck, den Pickett bei all seiner großen Erfahrung in psychologischen Dingen allerdings nicht recht deuten konnte. Einen Moment lang war das Zischen der Saunasteine der einzige Laut im Raum.

»Ich interpretiere Ihr Schweigen als Zustimmung. Und jetzt können Sie genauso gut Ihren neuen Partner kennenlernen. Agent Coldmoon, würden Sie sich uns bitte anschließen?«

Daraufhin stand der schweigsame junge Mann in der gegenüberliegenden Ecke auf, schlang sich das Saunalaken um die Taille und kam – am ganzen Körper vor Schweiß glänzend – herüber und stellte sich vor ihnen hin. Er hatte einen olivbraunen Teint und fein geschnittene und in mancher Hinsicht asiatisch wirkende Gesichtszüge. Er warf einen leidenschaftslosen Blick auf die Männer, die dort vor ihm saßen. Durchtrainiert und kerzengerade, sah er fast aus wie ein mustergültiger Agent. Nur das Haar – rabenschwarz, ziemlich lang, in der Mitte gescheitelt – passte nicht ins Bild. Pickett schmunzelte im Stillen. Dass er diese beiden Männer zusammengebracht hatte, war ein Meisterstück. Pendergast würde noch sein blaues Wunder erleben.

»Das ist Special Agent Coldmoon«, sagte Pickett. »Er arbeitet bereits seit acht Jahren bei uns und hat sich in der Abteilung Cyberkriminalität wie auch in der Abteilung Strafrechtliche Ermittlungen ausgezeichnet. Die Berichte über seinen Fitnesszustand, die seine Vorgesetzten eingereicht haben, waren stets vorbildlich. Vor achtzehn Monaten hat man ihm die Tapferkeitsmedaille des FBI für seinen verdienstvollen Einsatz während einer verdeckten Ermittlung in Philadelphia verliehen. Es würde mich nicht wundern, wenn er eines Tages ebenso viele Auszeichnungen erhielte wie Sie. Ich glaube, Sie werden feststellen, dass er ein Schnelllerner ist.«

Agent Coldmoon hatte diese Lobeshymne über sich ergehen lassen, ohne die Miene zu verziehen. Unterdessen hatte sich Pendergasts seltsamer Gesichtsausdruck verflüchtigt, wie Pickett auffiel, und war einem aufrichtigen Lächeln gewichen.

»Agent Coldmoon«, sagte Pendergast und streckte die Hand aus. »Es freut mich, Ihre Bekanntschaft zu machen.«

»Ebenso.« Coldmoon schüttelte die ausgestreckte Hand.

»Wenn Ihre Befähigungen auch nur entfernt dem entsprechen, was ADC Pickett hier eben geschildert hat«, fuhr Pendergast fort, »werden Sie sich bestimmt als große Bereicherung für das erweisen, was ein höchst interessanter Fall zu werden verspricht.«

»Ich werde alles in meiner Macht Stehende tun, um Sie zu unterstützen.«

»Dann werden wir fabelhaft miteinander auskommen«, sagte Pendergast. Er sah wieder zu Pickett. Bis auf eine einzelne Schweißperle auf der Stirn schien ihm die Hitze nicht das Geringste auszumachen. Sein Hemd und der Anzug sahen nach wie vor frisch und sauber aus. »Wir fliegen gleich morgen früh nach Miami, sagten Sie?«

Pickett nickte. »Das Flugticket und eine Kurzfassung Ihrer Anweisungen liegen bereits auf Ihrem Schreibtisch.«

»In dem Fall sollte ich mich wohl schon einmal vorbereiten. Vielen Dank, Sir, dass Sie mir den Fall übertragen. Agent Coldmoon, wir sehen uns morgen früh.« Er nickte den beiden Männern nacheinander zu, stand auf und verließ die Sauna ebenso lässig, wie er den Raum betreten hatte.

Pickett und Coldmoon schauten zu, wie sich die Tür hinter Pendergast schloss. Pickett wartete eine ganze Minute, ehe er sich wieder zu Wort meldete. Dann, als er sich sicher war, dass Pendergast nicht zurückkommen würde, räusperte er sich und sagte zu Coldmoon: »Okay. Sie haben ja eben gehört, wie ich Ihre Legende skizziert habe. Sie werden in diesen Ermittlungen die zweite Geige spielen.«

Coldmoon nickte.

»Haben Sie irgendwelche Fragen zu Ihrem wahren Auftrag, was Pendergast betrifft?«

»Keine.«

»Sehr schön. Ich erwarte regelmäßig Bericht.«

»Ja, Sir.«

»Das wäre alles.«

Wortlos drehte sich Special Agent Coldmoon um und verließ die Sauna. Pickett griff nochmals zur Schöpfkelle und goss Wasser auf die kirschfarbenen Steine, dann lehnte er sich wieder zurück und seufzte zufrieden, während ein weiterer Dampfstoß den mit Zedernholz getäfelten Raum erfüllte.

3

Behutsam schob Mrs Trask den Teewagen über den dunklen Flur, der aus den Küchenräumen der Villa am Riverside Drive 891, New York City, hinausführte. Es war ungewöhnlich, zu dieser nachmittäglichen Stunde Tee zu servieren, es war noch nicht einmal fünfzehn Uhr – denn normalerweise zog es Pendergast vor, seinen Tee später am Tag zu nehmen. Doch er hatte sie darum gebeten, und die Bestellung war ungewöhnlich ausgefallen. Anstelle des üblichen asketischen Grüntees mit Ingwerkeksen gab es heute Hefeteigbrötchen mit Zitronenaufstrich, Scones, Clotted Cream, Madeleines, ja sogar kleine Battenbergkuchen. Und deshalb musste sie zum ersten Mal seit Ewigkeiten den Afternoon Tea auf einem Teewagen servieren statt auf einem schlichten Silbertablett. Dies alles bedeutete, da war sich Mrs Trask recht sicher, dass Pendergast seinem Mündel Constance eine Freude machen wollte – trotz des Umstands, dass sie aß wie ein Spatz und vermutlich kaum etwas von den Speisen anrühren würde.

Und in der Tat, seit seiner reichlich plötzlichen Rückkehr erst eine Woche zuvor schien es, als widmete Pendergast ihr besonders viel Aufmerksamkeit. Selbst Proctor, Pendergasts stoischer Chauffeur und Bodyguard, hatte das gegenüber Mrs Trask zur Sprache gebracht. Pendergast war gesprächiger als sonst gewesen und hatte sich bis spät in die Nacht mit Constance über ihre Lieblingsthemen unterhalten. Er hatte ihr bei der langfristig angelegten Aufgabe, den Nachforschungen über den komplizierten und oftmals geheimnisvollen Familienstammbaum der Familie Pendergast, geholfen. Dabei hatte er sogar Interesse an Constances neuestem Projekt gezeigt: die Anlage eines Terrariums zur Vermehrung gefährdeter fleischfressender Pflanzen.

Mrs Trask trat vom Flur in die Empfangshalle; leise quietschten die kleinen Räder des Teewagens auf dem Marmorboden. Sie hörte, wie sich Pendergast und Constance in der Bibliothek leise unterhielten. Allein schon dies erfreute ihr Herz. Allerdings wusste sie nicht, warum Constance im vorigen September so plötzlich nach Indien abgereist war, und auch nicht, was Anlass dazu gegeben hatte, dass Pendergast vor Kurzem dorthin gefahren war, um sein Mündel nach Hause zu holen. Diese Angelegenheit ging nur Pendergast und Constance etwas an. Mrs Trask freute sich einfach, dass alle Mitglieder des Haushalts beisammen waren. Und obwohl dies schon bald wieder vorbei sein würde – wegen Pendergasts plötzlicher Ankündigung, er müsse nach Florida aufbrechen –, tröstete sich Mrs Trask damit, dass es sich um eine rein geschäftliche Reise handelte.

Es stimmte, dass sie Pendergasts »Geschäften« recht ablehnend gegenüberstand, aber das war etwas, was sie für sich behielt.

Jetzt schob sie den Teewagen in die Bibliothek mit ihrer Holzvertäfelung aus dunklem Mahagoni, den Schränken voller seltener Fossilien, Mineralien und Exponate und den Wänden mit Leder-Folianten bis unter die Kassettendecke. Im Kamin prasselte ein großes Feuer, zwei Ohrensessel waren nahe daran herangezogen worden. In ihnen saß aber niemand, worauf Mrs Trask suchend den Blick umherschweifen ließ. Als sich ihre Augen an den Flackerschein gewöhnt hatten, sah sie die beiden. Sie standen in einer der hinteren Ecken, hatten die Köpfe zusammengesteckt und beugten sich über etwas, das sie ersichtlich interessierte. Natürlich – das musste das neue Terrarium sein. Mrs Trask hörte bereits, wie Constance davon sprach, wobei ihre Altstimme so eben über dem Knistern der Flammen hörbar war. »Ich finde es paradox, dass Nepenthes campanulata, die fünfzehn Jahre lang als ausgestorben galt, heute lediglich als bedrohte Art gilt, wohingegen Nepenthes aristolochioides, die damals kaum als Spezies anerkannt wurde, aktuell als höchst gefährdet gilt.«

»Paradox, in der Tat«, sagte Pendergast halblaut.

»Man beachte die sonderbare Morphologie der aristolochioides. Das Peristom ist fast senkrecht – selten bei Karnivoren. Ihr Ernährungsmechanismus ist höchst interessant. Ich erwarte noch immer eine Schiffsladung mit Insekten aus Sumatra, aber die hiesigen Riesenkäfer dürften wohl auch eine zufriedenstellende Kost darstellen. Möchtest du sie einmal füttern?« Dabei hielt Constance ihm eine fast dreißig Zentimeter lange Pinzette hin, die im Schein des Kaminfeuers funkelte und an deren Ende sich ein Käfer wand.

Ganz kurz zögerte Pendergast. »Es wäre mir sehr viel lieber, ich könnte dir bei der Arbeit zuschauen. Du hast viel mehr Übung in derlei Dingen.«

Mrs Trask nutzte den Augenblick, räusperte sich und schob den Teewagen weiter vor sich her in den Raum. Beide, Constance und Pendergast, wandten sich zu ihr um.

»Ah, Mrs Trask!«, sagte Pendergast, drehte sich vom gläsernen Terrarium weg und schritt auf sie zu. »Pünktlich wie immer.«

»Geradezu überpünktlich«, sagte Constance, näherte sich von hinten Pendergast und ließ den Blick aus ihren veilchenblauen Augen über den Teewagen schweifen. »Es ist erst kurz nach drei. Aloysius, hast du um dieses wahre Füllhorn von Speisen gebeten?«

»Das habe ich, in der Tat.«

»Haben wir die trojanische Armee zum Tee eingeladen?«

»Ich gebe mir selbst ein kleines Fest vor meiner Abreise.«

Constance runzelte die Stirn.

»Außerdem«, fuhr Pendergast fort, während er sich in den Ohrensessel niederließ und sich eine Madeleine nahm, »wirkst du dünner, seit du dich von dieser mönchischen Kost ernährst.«

»Ich esse sehr gut, vielen Dank.« Constance nahm im gegenüberstehenden Ohrensessel Platz, wobei ihre als Bob geschnittenen Haare hin- und herschwangen. »Weißt du, ich wünschte wirklich, du würdest mich nach Florida mitnehmen. Dieser Fall, der dir da plötzlich in den Schoß gefallen ist – er klingt faszinierend.«

»Und ich wünschte wirklich, man hätte mir nicht einen Partner aufgezwungen. Aber so ist es nun mal. Constance, ich verspreche, dass du mein ›Sparringspartner‹ wie auch mein Orakel sein wirst, wenn auch à la distance.«

Schmunzelnd schenkte Mrs Trask zwei Tassen Tee ein. »Man stelle sich das einmal vor, unser Mr Pendergast mit einem Partner, der ihm auf Schritt und Tritt folgt. Das klappt doch nie. Was die Zusammenarbeit mit anderen betrifft, ist unser Hausherr ein hoffnungsloser Fall – wenn Sie entschuldigen, dass ich das so sage.«

»Ich entschuldige, dass Sie das so sagen«, erwiderte Pendergast. »Wenn Sie bitte so gut wären, ein paar von diesen Madeleines zu meinem Fluggepäck zu legen. Wie ich höre, können gewisse Speisen an Bord gesundheitsgefährdend sein – wenn nicht Schlimmeres.«

»Ist er tatsächlich ein hoffnungsloser Fall?«, sagte Constance und drehte sich zu Mrs Trask. »Aber es besteht doch immer Hoffnung.«

Doch Mrs Trask hatte sich bereits zum Gehen gewandt, und so entging ihr der ganz flüchtige Blick, den Pendergast und die Frau, die ihm gegenübersaß, tauschten.