Camilla Bruce
Pepper-Man
Roman
Aus dem amerikanischen Englisch
von Carina Schnell
Knaur e-books
Camilla Bruce ist eine norwegische Schriftstellerin, die mehrere Kurzgeschichten und Novellen veröffentlicht hat, einschließlich einer Aufnahme in die Interfictions 2 Anthologie (Small Beer Press/Interstitial Arts Foundation) im Jahr 2009. Sie arbeitet auch als Redakteurin bei Belladonna Publishing (BelladonnaPublishing.com). »Pepper-Man« ist ihr Debütroman.
Die amerikanische Originalausgabe erschien 2020 unter dem Titel »You let me in« bei Tor Books, New York.
© 2020 by Camilla Bruce
© 2020 der deutschsprachigen Ausgabe Knaur Verlag
Ein Imprint der Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.
Redaktion: Katharina Mittmann
Covergestaltung: Nele Schütz Design, München
Coverabbildung: shutterstock / Joe Therasakdhi
ISBN 978-3-426-45532-6
Die vierundsiebzigjährige Liebesromanautorin Cassandra Tipp, bekannt für Titel wie Goldene Sonne und Ein Wunsch für Carrie, gilt seit Ende August als vermisst. Niemand weiß etwas über den Aufenthaltsort der vielfach veröffentlichten Schriftstellerin, oder warum sie ihr Haus verlassen hat. Die Polizei geht nicht davon aus, dass es sich um ein Verbrechen handelt, es kann allerdings nicht ausgeschlossen werden.
Der ortansässige Lieferant Brian Frost war der Letzte, der die zurückgezogen lebende Autorin vor ihrem Verschwinden gesehen hat. Cassandra Tipp schien bei guter Gesundheit und bester Laune zu sein, als sie letzte Woche ihre Einkäufe in ihrem Haus am Wald von ihm entgegennahm. Sie gab Mr. Frost ein großzügiges Trinkgeld und lächelte sogar, bevor sie sich mit ihren Lebensmitteln nach drinnen zurückzog. Seitdem hat niemand mehr mit ihr gesprochen.
»Sie sah überhaupt nicht unglücklich aus«, berichtet der junge Mann und widerlegt somit die Gerüchte, dass die Autorin sich das Leben nahm.
Die Polizei ist sich da nicht so sicher. »Vielleicht hat die Vergangenheit sie schließlich eingeholt«, sagt Officer William Parks Jr. Damit bezieht er sich auf die Gerichtsverhandlung nach dem gewaltsamen Tod ihres Ehemannes vor 38 Jahren. Cassandra Tipp galt damals als Verdächtige. Der Mord sowie der daraufhin erschienene Bestseller ihres Therapeuten Dr. V. Martin Im Feenreich: Studie einer traumainduzierten Psychose trugen zu Tipps Bekanntheit bei.
Mrs. Tipps jüngster Roman, Dornen im November, wurde letzten Juni veröffentlicht und verkaufte sich ebenso gut wie ihre anderen Bücher.
Cassandra Tipps Familie geriet abermals in die Schlagzeilen, als ihr Vater und Bruder vor 27 Jahren unter tragischen Umständen ums Leben kamen. Es wird angenommen, dass es sich um Mord mit anschließendem Suizid handelt. Mrs. Tipp stand zu jenem Zeitpunkt nicht mehr in Kontakt mit ihrer Familie, doch die Auswirkungen der grausamen Tat trugen zu der Aura der Tristesse bei, die sie umgab. Der Roman, den sie im selben Jahr veröffentlichte, Ein Wunsch für Carrie, wurde sofort zum Bestseller.
»Es nicht fair zu sagen, dass sie von der Tragödie profitierte«, sagt Buchkritikerin und Tipp-Fan Miranda Hope. »Doch man kann auch nicht leugnen, dass die Umstände zu dem großen Erfolg des Buches beitrugen. Alle wollten wissen, was in ihrem Kopf vorging, und die Romane gaben einen kleinen Einblick, auch wenn sie hauptsächlich von heißen Affären und der wahren Liebe handeln. Das heißt aber natürlich nicht, dass sie ihr Handwerk nicht verstand. Man veröffentlicht nicht mal eben so 42 erfolgreiche Bücher.«
Nun scheint sich das Pech, das ihre Familie seit Jahrzehnten verfolgt, auch auf Cassandra Tipp selbst ausgeweitet zu haben. Doch nicht alle glauben daran.
»Vielleicht ist sie gar nicht tot«, sagt Olivia Blatten, Schwester der Vermissten. »Sie hatte schon immer ein Faible für Drama. Sie könnte in Frankreich oder Italien sein und mit einem Glas Wein in der Hand die Schlagzeilen über sich lesen. Das würde zu ihr passen. Sie hat unsere Familie zerstört mit ihren schamlosen Lügen.«
Mrs. Blattens Sohn, Janus Blatten, sprach nicht so abfällig über seiner Tante. »Sie ist nicht mehr die Jüngste. Vielleicht wollte sie einfach mit großem Aufsehen in Rente gehen.«
Die Polizei kann diese Theorie nicht bestätigen. »Sie stand seit der letzten Augustwoche mit niemandem mehr in Kontakt«, berichtet Officer Parks. »Es gibt keine Bewegungen auf ihren Bankkonten, und es wurden keine Anrufe von ihrem Telefon getätigt. Wir wissen nicht, wie sie gestorben ist, aber wir sind uns sicher, dass Cassandra Tipp tot ist.«
1. Der Nachlass darf ausschließlich an Cassandra Tipps erklärte Erben, Janus und Penelope Blatten, Sohn und Tochter ihrer Schwester Olivia Blatten, herausgegeben werden.
2. Im Falle von Cassandra Tipps natürlichem Tod oder Unfalltod kann ihr Nachlass sofort beansprucht werden.
3. Sollte Cassandra Tipp verschwinden, muss ab dem Tag, an dem sie das letzte Mal gesehen oder von ihr gehört wurde, ein Jahr vergehen, bis der Nachlass beansprucht werden kann.
4. Sollte einer oder mehrere der oben genannten Fälle eintreten, müssen Cassandra Tipps Erben die folgenden Schritte befolgen, um den Nachlass zu erhalten:
- Zu Cassandra Tipps Haus gehen.
- Das Büro im Erdgeschoss betreten.
- Das Manuskript lesen, das für sie auf dem Schreibtisch bereitliegt.
- In dem Manuskript befindet sich ein Passwort, das dem Verwalter des Nachlasses, Mr. Owen Norris der Kanzlei Norris, Norris und Nesbit, mündlich mitgeteilt werden muss.
5. Erst nach Erfüllung der oben genannten Punkte dürfen beide Parteien den Nachlass beanspruchen.
6. Sollte eine der beiden Parteien sich entscheiden, das Erbe auszuschlagen, muss dies schriftlich festgehalten und von der betreffenden Partei sowie von zwei Zeugen unterschrieben werden. Der Anteil der Partei wird in diesem Fall an den anderen Erben übergehen.
7. Sollte keine der Parteien den Nachlass beanspruchen wollen, wird Mr Norris alle Vermögensgegenstände verkaufen und veranlassen, dass die Gelder an verschiedene gemeinnützige Organisationen ausgezahlt werden (siehe Liste im Anhang).
Unterzeichnet
Cassandra Tipp
Geschrieben von
CASSANDRA TIPP
Ihr fahrt den von alten Eichen gesäumten Waldweg entlang. Es ist Oktober, also regnet es wohl. Vielleicht weht auch der Wind, sodass sich gelbe Blätter auf eurer Windschutzscheibe verfangen. Ihr schaut euch aufmerksam um, seht immer wieder in den Rückspiegel, auf der Suche nach irgendeinem Lebenszeichen. Aber ihr findet keins. Hier gibt es keine Nachbarn, niemand kommt auf seinem sonntäglichen Spaziergang vorbei. Es gibt nur euch beide und die unbefestigte Straße, das Blätterdach des Waldes, uralte Bäume mit breiten Stämmen und knorriger Rinde, verknoteten Wurzeln und Zweigen.
Die Straße endet direkt vor meiner Veranda, also haltet ihr dort an. Ihr parkt euer Auto neben dem leeren Hühnerstall und mustert mein bescheidenes Heim lange und eingehend. Janus, du steigst zuerst aus dem Wagen, vielleicht ziehst du deine Sonnenbrille ab oder fährst dir durchs dünner werdende Haar. Penelope, du schürzt die Lippen und schirmst deine Augen mit der Hand vor der Sonne ab, obwohl der Himmel wolkenverhangen ist. Mit deinen Stöckelschuhen versinkst du im aufgeweichten Boden, bleibst an gelb verkümmerten Grashalmen hängen oder nimmst vielleicht die eine oder andere zerfledderte Hühnerfeder mit.
Ich glaube, keiner von euch sagt etwas, zumindest nicht am Anfang. Ihr steht nur eine ganze Weile dort, seht zu dem dreistöckigen Haus auf, betrachtet die unzähligen Fenster, manche quadratisch, manche rund, und die abblätternde Farbe, die an Flieder erinnert. Es ist ein magisches Haus, aber es ist nicht besonders hübsch. Eher wie eine alte, übertrieben verzierte Geburtstagstorte, deren Glasur am Rand herunterrutscht. Die Apfel- und Kirschbäume, die das Haus zu beiden Seiten umgeben, blühen schon lange nicht mehr und strecken ihre dürren, schwarzen Finger nach den Wänden aus. Zu dieser Jahreszeit dienen sie hauptsächlich den Spinnen als Heim. Hinter den Fensterscheiben erkennt ihr alte Spitzengardinen und schwere Vorhänge aus flaschengrünem Samt.
Janus, du schüttelst den Kopf, wirfst deiner Schwester einen vielsagenden Blick zu und murmelst: »Verrückte Tante Cassie. Ich wusste ja nicht, dass es so schlimm um sie stand …«
Dann kommt ihr beide auf die Veranda, skeptisch, ob die alten Dielen euer Gewicht tragen. Janus, du holst den Schlüssel aus deiner Hosentasche. Mein Notar hat ihn euch erst heute Morgen zusammen mit ein paar handgeschriebenen Seiten voller Anweisungen ausgehändigt. Vielleicht hat er ein wenig gelacht, als er euch alles übergab, sich womöglich sogar entschuldigt und etwas in der Art gesagt: »Die alte Dame hat endgültig den Verstand verloren, bevor sie verschwunden ist.« Er mag mich nicht besonders, dieser Mr Norris. Ich ihn genauso wenig.
Aber ihr seid brave Kinder, also würde es euch trotz allem nie in den Sinn kommen, die Anweisungen, die ich euch hinterlassen habe, nicht zu befolgen. Aus diesem Grund seid ihr hier und überquert nun die Veranda. Der Schlüssel dreht sich klickend im Schloss, und die Eingangstür schwingt quietschend auf. Penelope rümpft die Nase, als euch beim Eintreten ein alter, muffiger Geruch entgegenweht, nur leicht verfeinert mit Lavendel und Thymian.
Im Flur begrüßen euch reihenweise Hüte, Mäntel und Schals, die von Haken an den Wänden hängen. Sie sind längst nicht mehr in Mode – die Kleidung einer alten Frau. Penelope lächelt, als ihr Blick auf Strohhüte mit Blumen und Wachsfrüchten fällt. Ihre weichen Finger mit den dunkelrot lackierten Nägeln berühren flüchtig den Griff meines schwarzen Regenschirms, dann einen vergilbten Spitzenschal. Selbst in jungen Jahren war mein Stil eher altmodisch.
Janus trödelt nicht herum. Rasch geht er weiter und lässt den Blick schweifen. Er sieht die schwarz gestrichene Treppe, die in den ersten Stock führt, den staubigen Kronleuchter mit drei Dutzend Prismen, die offen stehende Küchentür und den schwarz-weiß gefliesten Küchenboden dahinter. Penelope rümpft schon wieder die Nase, als sie sich vorstellt, dass die Küchenschränke mit vergammeltem Essen vollgestopft sind, aber keine Sorge, Penelope, ich habe mich um alles gekümmert.
Ich glaube, zu diesem Zeitpunkt seid ihr schon viel weniger befangen:
»Es müsste wohl mal Staub gewischt werden«, sagt einer von euch, ich nehme an, es ist Janus, als ihr ins Wohnzimmer eintretet und er eine Hand auf mein champagnerfarbenes Sofa legt. Penelope steuert schnurstracks auf das Bücherregal zu, das vom Boden bis zur Decke reicht. Ihre roten Nägel fahren über die alten Buchrücken. Sie ist schließlich eine Bibliothekarin, und Bücher sind für sie so unwiderstehlich wie Sahne für eine Katze. Ihre Stöckelschuhe hinterlassen Abdrücke auf den staubigen Dielen.
»Wo ist wohl ihr Arbeitszimmer?« Janus sieht sich um, in seiner Hand hält er das leicht zerknüllte Blatt mit den Anweisungen. Sie besagen, dass ihr ins Arbeitszimmer gehen sollt, aber ihr armen Kleinen wisst nicht, wo es ist. Also steht ihr nur da und schaut euch um, in der Hoffnung, auf etwas zu stoßen, das euch auf die richtige Fährte führt.
»Das sind ihre Bücher«, sagt Penelope, als sie die Romane mit pinkem Einband auf dem besonderen Regalbrett entdeckt.
»Wie konnte eine kinderlose Witwe nur so viel über Romantik und Liebe schreiben?« Janus stellt sich hinter sie – vielleicht.
Penelope zuckt mit den Achseln. »Fiktion ist manchmal besser als die Realität, findest du nicht?«
»Vielleicht.« Jetzt zuckt er mit den Schultern. »Trotzdem finde ich es seltsam.«
»Ich finde es noch merkwürdiger, dass sie über romantische Dinge schrieb, wenn man bedenkt, dass …«
»Wenn man was bedenkt?«
»Was man ihr vorgeworfen hat. Wenn man davon ausgeht, dass es stimmt.«
»Das war vor langer Zeit.« Janus will nicht daran denken. Solche Dinge sind unangenehm und schmutzig, und er ist ein sehr ordentlicher, gepflegter Junge.
»Dann komm«, sagt Penelope, »machen wir uns auf die Suche nach dem mysteriösen Büro.« Wahrscheinlich braucht sie jetzt schon dringend eine Zigarette, weshalb sie es schnell hinter sich bringen will. Natürlich weiß sie es als eine moderne Frau in einem alternden Körper besser, aber obwohl sie auf die gefürchtete vierzig zugeht, hält sie das nicht von ihren geliebten Zigaretten ab, ob sie nun Falten davon bekommt oder nicht.
Zurück im Flur bleibt nur noch eine Tür übrig, und, siehe da, das Arbeitszimmer verbirgt sich wirklich dahinter. Darin befinden sich mein riesiger Eichenholzschreibtisch, nicht mehr so poliert, wie er einst war, meine Schreibmaschinen, versteckt unter dicken Plastikplanen, ein klobiger, alter Laptop und Samtvorhänge an den Fenstern. Hinter dem Schreibtisch steht ein breiter Korbstuhl mit grünen Kissen aus Seide, die zu der handbemalten Tapete passen. Darüber ziehen sich ebenso grüne Ranken wie tanzende Schlangen zwischen großen glänzenden Blättern. Penelope ist sofort fasziniert und zeichnet die Ranken mit den Fingerspitzen nach.
Janus’ Blick ist schon weitergewandert. Er mustert die Holzstücke, Wurzeln und Kieselsteine auf den Fensterbrettern, die ausgestopfte Viper an der Wand, deren Schuppen so hart wie Nägel sind und deren schwarze Augen einen zu verfolgen scheinen. Er betrachtet all die Gläser mit getrockneten Blumen, hier und da einer toten Motte oder einem Stein, die ordentlich auf dem Regal hinter dem Schreibtisch angeordnet sind. Und schließlich entdeckt er es: einen Stapel aus pinkem Papier, getippt von mir höchstpersönlich. Er liegt da wie ein Marzipankuchen, der nur darauf wartet, angeschnitten und verspeist zu werden. Nachdem ihr ihn entdeckt habt, interessiert euch der Rest des Zimmers nicht mehr. Eure Blicke kleben an dem pinken Haufen.
»Da ist es«, sagt einer von euch.
»Das muss es sein«, sagt der oder die andere.
Janus streckt zuerst die Hand danach aus, Penelopes rote Nägel folgen. Ihr lest eure Namen auf der Titelseite. Penelope blättert um.
Hier seid ihr nun. Ihr steht in meinem Büro, haltet meine Geschichte in euren Händen – die letzte, die ich je erzählen werde. Das bedeutet, dass ich seit über einem Jahr fort bin und dass man immer noch nicht weiß, wo ich mich aufhalte, denn für diesen Fall habe ich Mr Norris Anweisungen hinterlassen. Auf diesen Seiten befindet sich der Schlüssel, mit dem ihr an meinen Letzten Willen und mein Testament kommt, das geheime Wort, mit dem ihr Mr Norris dazu bringt, den dicken Briefumschlag zu öffnen und euch zu sagen, wie reich ihr geworden seid. Wenn ihr es nicht findet, wird mein Geld anderswohin gehen.
Das ist eine Gemeinheit, ich weiß. Aber manchmal ist die Welt nun einmal grausam. Und ihr wollt es doch wissen, oder nicht? Ihr wollt wissen, ob die Geschichten, die euch eure Mutter erzählt hat, wahr sind. Ob ich sie wirklich alle getötet habe. Ob ich wirklich so verrückt bin.
Dies ist die Geschichte, so wie ich mich an sie erinnere. Nun ist es auch eure Geschichte, und es steht euch frei, sie zu bewahren oder zu vergessen, ganz wie ihr wollt. Wisst ihr, ich wollte einfach, dass jemand es weiß. Dass jemand meine Wahrheit kennt, nun, da ich fort bin.
Wie alles und nichts davon geschehen ist.
Manchmal wurde ich gefragt, warum ich nach der Gerichtsverhandlung in S– geblieben bin. Nachdem der Mann, den ihr als Tommy Tipp kanntet, gestorben war. Es wäre damals so einfach gewesen, zu verschwinden und irgendwo anders hinzuziehen, in ein Dorf oder eine Stadt, wo niemand mich kannte. Ein Neuanfang, genau das war es, was Dr. Martin mir verordnete.
Eine weiße Weste.
Natürlich gefiel es mir nicht besonders, in S– zu bleiben. All die Augen, die mich anstarrten, wenn ich über die Straße ging oder Hackfleisch und Karotten im Supermarkt kaufte. Mein Name war monatelang in aller Munde gewesen, mein Gesicht hatte die Titelseiten geziert. Wer mich zuvor nicht gekannt hatte, tat es jetzt. Aber ich hatte meine Gründe zu bleiben, wie ihr bald verstehen werdet.
Und die Dinge waren nicht so, wie sie schienen.
Tommy Tipp war nicht, wer ihr dachtet.
Ich weiß, dass ihr ihn gernhattet, er war immer nett zu euch Kindern. Ich erinnere mich, wie er mit Janus angeln ging und Penelope auf der Wiese herumwirbelte. Du hast einmal Blumen für ihn gepflückt, Penelope. Erinnerst du dich an die Gänseblümchen und Wiesenglockenblumen, die du ihm geschenkt hast? Selbst deine Mutter hat sich irgendwann für ihn erwärmt. Sie sagte mir einmal, wie froh sie sei, dass ich endlich »so glücklich war, wie ich unter den Umständen sein konnte«, dass ich »mich niedergelassen hatte« – obwohl es mit Tommy Tipp war.
Ich glaube, Olivia und ihre Freunde, und wohl auch Mutter, konnten nicht verstehen, warum Tommy Tipp sich für mich entschieden hatte. Er sah umwerfend aus, auf eine gefährliche Art, hochgewachsen, mit blondem Haar, sehr blauen Augen und sonnengebräunter Haut. Er war der Mann, von dem alle Frauen in S– träumten, wenn sie in den Armen ihrer Männer lagen. Er war das Objekt ihrer schuldbewussten, süßen Begierde, die sie nicht zügeln konnten, egal, wie seriös, ausgeglichen und erfolgreich sie waren. Tommy Tipp konnte sowohl in Jungfrauen als auch in Witwen ein Feuer entfachen. Verheiratete Frauen waren sein Spezialgebiet; kein großer Aufwand, kein großes Risiko. Bevor er mich traf, hatte er ein Geschäft daraus gemacht. Er schlief mit ihnen im Gegenzug für Geschenke und Gefallen. Er war der König der geheimen Stelldicheins mitten am Tag, und jede Frau glaubte, die Einzige zu sein, mit der er sich traf.
Natürlich wussten wir alle, dass er im Gefängnis gewesen war, dass Diebstahl und Körperverletzung ein Teil seiner Vergangenheit waren. S– ist eine Kleinstadt. Aber wer kann schon einem reuigen Bösewicht widerstehen, einem Engel, der auf verlockendste Art mit Sünde befleckt ist? Ich war nie so blind, wollte ihn nie, weil er gefährlich war. Ich hatte schon einen gefährlichen Liebhaber – hatte die Sünde längst gekostet. Es war aber kein Wunder, dass die Damen verärgert waren, als man seinen wunderschönen Körper im Wald fand.
Aber ich erzähle alles zu schnell. Wir sind noch nicht an dieser Stelle angekommen. Davor passierten noch viele andere Dinge.
Eins müsst ihr wissen: Ich war nie ein gutes Mädchen.
Ich war nie wie eure Mutter, die immer gehorchte, immer lieb und sanft war. Sie suhlte sich in Lob, funkelte wie ein Stern, wenn man ihr sagte, dass sie etwas gut gemacht hatte. Ich war die schwierige, ältere Schwester, unbeholfen und dürr im Gegensatz zu ihren weichen Kurven. Olivias Haar glänzte wie poliertes Kupfer, meins war wellig und braun. Ihre Haut war wie Milch, meine voller Sommersprossen. Aber ein paar aufmüpfige Pigmente machen einen natürlich noch nicht zu einem bösen Mädchen. Die Wurzel des Übels sitzt tiefer, es liegt einem im Blut. Manche von uns werden einfach schon falsch geboren.
Eure Mutter hat euch sicher erzählt, dass wir uns nie nahegestanden haben. Dass sie und ich uns nie ähnlich waren. Besonders nach den Gerüchten und der Gerichtsverhandlung war sie ganz erpicht darauf, sich von mir abzuwenden.
In meiner Erinnerung ist es aber anders. Ich erinnere mich an Sommerferien am Meer, mit kleinen goldenen Ankeransteckern an ihrer und meiner Brust. Ich erinnere mich daran, wie wir die vielen klaren Pfützen voller Krabben und Muscheln erkundet haben. Ich erinnere mich an Sand zwischen unseren Zehen, süßes, schmelzendes Eis auf unseren Zungen. Ich erinnere mich an Kuchen auf der Veranda, mit riesigen Obststücken, wie Juwelen in einem Schwamm. Die untergehende Sonne blutete am Himmel. Ihr goldenes Licht verwandelte Olivias Haar in einen kupferfarbenen Fluss und ließ ihre milchig weiße Haut dunkler und weicher erscheinen.
Ich erinnere mich an die Puppen, die wir zu Weihnachten bekamen, mit heller Haut und schwarzem Haar. An das Haus, das wir ihnen unter dem Esstisch bauten; weiße Wände aus der Tischdecke, Eierbecher als Tassen und Seidenkissen als Throne. Beide waren mittelalterliche Prinzessinnen. Wir pflückten Rosen im Garten und schmückten ihr Haar mit dornigen Kronen. Und wir brachten unseren Bruder Ferdinand dazu, ihnen etwas auf seinem Kassettenrekorder vorzuspielen, was er voller Eifer, und vielleicht sogar Freude, tat.
Ich erinnere mich daran, wie wir zusammen lachten, wie Schwestern.
Daran erinnere ich mich und an mehr.
Olivia würde euch sagen, dass all das nie passiert ist.
Vielleicht hat sie es ja vergessen.
Mutter war eine ernste Frau, wahrscheinlich auch nicht besonders glücklich. Als sie jung war, hatte sie blonde Locken, ihre Lippen waren stets rot geschminkt. Ihr Körper war sehr dünn und gelenkig. Sie trug gerne dunkelblaue oder knallrote Bleistiftröcke. Ihre Pullover mit U-Boot-Ausschnitt waren gestreift oder gepunktet. Ihr täglicher Schmuck bestand aus in billige Fassungen eingelassenem Glas, aus klaren Farben und Perlen aus poliertem Metall. Ihre Schuhe hatten hohe, aber vernünftig breite Absätze. Ihre Nylonstrumpfhosen rissen nie.
Vater war ein massiger Mann mit fleischigen Lippen und Wangen, die an einen Basset erinnerten. Seine Hautfarbe lag irgendwo zwischen knallrot und blau. Auf seinen Wangen, wo Blutgefäße geplatzt waren, breiteten sich Sterne wie Feuerwerk aus. Er war früher mal Boxer gewesen, aber nachdem wir, ein ganzer Wurf Welpen, geboren worden waren, wurde er zum Verkäufer mit einer Vorliebe für Wodka.
Manchmal stelle ich mir vor, wie die beiden sich am Boxring kennenlernten, der Boden voller Schweiß und Spucke und Blut. Damals war er durchtrainiert, sein Körper bestand aus harten Muskeln und glatter Haut. Sie war keck und jung, nichts als Lippen und Titten. Manchmal glaube ich, dass ich schon da war, als sie sich zum ersten Mal trafen, versteckt in der heißen, dunklen Höhle des Bauchs meiner Mutter. Als Kind habe ich mir das sehnlichst gewünscht. Als Erwachsene ist es reine Spekulation. Was allerdings der Wahrheit entspricht, ist, dass ich zu bald nach der Hochzeit auf die Welt kam.
Mutter brachte Geld mit in die Ehe. Sie hatte immer Klasse, wenn auch nicht den Verstand, sie clever zu nutzen. Es war ein altes Vermögen, das mit dem Schweiß und der Mühe anderer erarbeitet worden war. Als Einzelkind eines Einzelkindes stand ihr das ganze Geld zu. Deshalb dachte sie, dass sie es verdiente, glaube ich. Es gab ihr das Gefühl, dass sie etwas zu verlieren hatte. Sie hatte ein bestimmtes Bild von sich selbst, eine Vision davon, wie sie glaubte, sein zu müssen – und wie auch alle anderen zu sein hatten. Sich in einen Boxer zu verlieben, war eindeutig nicht Teil ihres Plans gewesen. Mittlerweile glaube ich, dass sie eine rebellische Phase durchmachte, als sie sich kennenlernten, sie lehnte sich gerade gegen die Fesseln der Gesellschaft auf.
Er war anders – ein einfacher Mann, angetrieben von stiller Wut. Ich bin sicher, es war kein Zufall, dass er im Ring kämpfte. Wenn er meine Mutter nicht getroffen hätte, wäre er wahrscheinlich damit zufrieden gewesen, an den Docks zu arbeiten. Stattdessen verkaufte mein Vater Sachen: hauptsächlich teure Landwirtschaftsgeräte wie Rasenmäher.
Wir hatten immer einen hübschen Garten. Unser Haus war sehr weiß. Wir hatten Hilfe, weil Mutter sich durch das viele Herumtragen ihrer Kinder den Rücken verhoben hatte. Wir wuchsen in einer stets makellosen Umgebung auf: frische Blumen in jeder Vase, weiße Böden und Möbel, auf denen nichts herumlag. Ich glaube, dass sie das brauchte, um ruhig zu bleiben, um wenigstens ein klein wenig Kontrolle über etwas zu haben. Sie kam mir immer wie ein zu fest gebundener Faden vor. Eines Tages würde er durchreißen, und dann würde es für uns alle unangenehm werden.
Mein jüngerer Bruder Ferdinand war ein stiller Junge, der sich mit seinen Gefühlen herumschlug. Honigfarbenes Haar und gerötete Wangen. Er war gut im Schachspielen, doch meine Eltern wussten das nicht zu schätzen. Eine Zeit lang ging er zum Fechtunterricht, aber ich glaube, dass die Waffen ihm Angst einjagten. Seine Schweigsamkeit machte mich immer nervös, oder vielleicht sage ich das nur, weil ich jetzt weiß, was später passierte.
Und dann war da noch Olivia; mit ihren Pausbacken, süß wie Marzipan, von ihrem ganz eigenen Leuchten umgeben. Sie verkörperte das Bild, das meine Mutter im Sinn hatte, wenn sie sich vorstellte, Kinder zu haben. Sie brauchte drei Versuche, um so eins zu bekommen. Als sie allerdings sah, was aus eurer Mutter wurde, weinte sie höchstwahrscheinlich. Sie hätte sicher nie geglaubt, dass ihr Goldmädchen so langweilig werden würde. Sie bezahlte schließlich nicht für all die Ballett- und Schauspielstunden, damit aus Olivia später eine gewöhnliche Hausfrau wurde. Sie sollte etwas erreichen, glaube ich.
Das blieb unserer Mutter nämlich verwehrt, weil sie uns bekam. Olivia hätte sich einen Namen machen sollen, eine Schauspielerin oder eine Dame von Welt werden sollen. Dann hätte sie Verabredungen zu teuren Abendessen, würde Spendenaktionen für Waisenkinder organisieren und mit sehr teuren Stöckelschuhen über Marmorböden klackern.
Olivia schiebt mir die Schuld dafür in die Schuhe, dass nichts davon wahr wurde. Wie hätte aus ihr auch etwas werden sollen, wenn ich so berühmt-berüchtigt war?
Ich habe ihr das alles verdorben, nicht wahr? Sie zu einem Leben im Schatten verbannt.
Euch alle.
Ich bereue es nicht.
Es ist ja nicht so, als hätte ich eine Wahl gehabt, wisst ihr, und selbst wenn, hätte ich vielleicht nicht anders gehandelt. Zwischen ihnen und mir gab es immer einen Graben. Sie sahen nicht, was ich sah, wussten nicht, was ich wusste. Und vielleicht spielt da auch etwas Verbitterung mit rein, denn meine Mutter ist auf spektakuläre Art und Weise daran gescheitert, zu erkennen, wie verletzlich mich das alles machte. Dass ich wie ein rohes Ei war, zart und zerbrechlich.
Niemand behält das böse Mädchen im Auge. Die seltsame Tochter wird allein gelassen. Das machte es so einfach, sich wegzustehlen, an die zwielichtigen Orte der Welt vorzudringen. Entführt zu werden. Sich zu verlaufen. Ganz und gar verschlungen zu werden.
Für jene, die böse Absichten haben, riechen gute Mädchen wie Mandarinen – schmackhaft, aber bitter; es schreckt sie ab. Böse Mädchen wie ich riechen nach reifen Äpfeln, die nur darauf warten, gepflückt zu werden, saftig und sauer.
Niemand wird sie vermissen.
Aber ich hätte den Schutz einer Mutter gebrauchen können.
Ich erinnere mich an Folgendes: Das entsetzliche Geräusch, als der Blumentopf auf dem Boden zerschellte. Ich war fünf, stand am Wohnzimmerfenster, das helle Sonnenlicht fiel herein, und die dünnen weißen Vorhänge blähten sich im Wind. Mein Gefährte – mein einziger Freund – lächelte mich an, dabei zeigte er seine spitzen Zähne.
Ich nannte ihn »Pepper-Man«, aufgrund des starken Geruchs, der von ihm ausging und mich immer vorwarnte, bevor er eintraf. Meistens tauchte er am Fußende meines Betts auf, saß dort im Schneidersitz, kämmte sich mit einem Knochenkamm oder flocht Tiere und Kronen aus Zweigen; Geschenke für sein kleines Mädchen.
Seine Haut war grau und knotig, schwarze Warzen sprossen in Scharen aus seinen Gelenken, und sein langes weißes Haar hing ihm fast bis zu den Knien, so zottig und trocken wie altes Heu. Er war sehr groß. Seine Finger waren lang. Gerade hatten sie den frisch aufgefüllten Blumentopf vom weiß gestrichenen Fensterbrett gestoßen. Nun beobachtete er mit seinen dunklen, moosgrünen Augen erwartungsvoll die Tür – neugierig.
Pepper-Man zog die schwarzen Lippen zurück und bleckte die Zähne, als meine Mutter ins Zimmer kam. Die grauen Fetzen, in die er seinen unansehnlichen Körper kleidete, bewegten sich in dem Luftzug, der zur Tür hereinwehte.
»Oh, Cassie«, sagte meine Mutter. Sie trug ihren marineblauen Rock und stemmte die Hände in die Hüften. »Schon wieder? Warum kannst du es nicht sein lassen? Ich habe dir doch gesagt, dass du die Blumen nicht anfassen sollst.« Ihr Blick lag auf der roten Petunie, deren Blütenblätter unter der Blumenerde und den Scherben zerfetzt worden waren.
»Ich war’s nicht.« Ich vergrub die schweißfeuchten Hände im Rock meines gelben Sommerkleides. »Es war Pepper-Man …«
»Ach, hör doch endlich damit auf.« Sie kam zu mir, ihre Absätze klapperten über die Dielen. »Wo ist denn dieser Pepper-Man? Wohl einfach aus dem Fenster geflogen, was?« Sie beugte sich vor und sammelte die scharfen Tonscherben auf. Mein Freund ragte über ihr auf, musterte sie immer noch voller Neugier mit dem Lächeln, das seine schwarzen Lippen umspielte.
»Nein«, hauchte ich und sah zu, wie das steife Haar meiner Mutter Pepper-Mans Körper beinahe streifte, als sie sich wieder aufrichtete.
»Du bist jetzt ein großes Mädchen, Cassie«, sagte Mutter. »Ich denke, es ist an der Zeit, dass du aufhörst, andere für deine Fehler verantwortlich zu machen. Das ist der fünfte Blumentopf diese Woche. Warum kannst du nicht einfach die Finger davon lassen? Was haben dir die armen Blumen denn getan?«
»Nichts«, murmelte ich mit zu Boden gesenktem Blick. Dort standen Mutters schwarz funkelnde Schuhe neben den verknoteten Zehen meines Freundes. Ich wollte einfach nur, dass sie schnell wieder ging, ich traute Pepper-Man nicht in der Gegenwart anderer Leute. Er war unberechenbar und manchmal grausam, immer viel zu neugierig, was Menschen anging. Er streckte die Hand nach Mutters Kopf aus, seine Finger öffneten und schlossen sich, rieben aneinander, die langen Nägel schoben sich durch die Luft. »Sie sind doof«, sagte ich hastig, um ihre Aufmerksamkeit auf mich zu ziehen und sie vor Pepper-Man zu retten. »Ich hasse die Blumen! Sie sind doof! Sie sind hässlich und rot, und ich hasse sie!« Ich fuhr herum, schnappte mir einen weiteren Blumentopf vom Fensterbrett, der fluffige weiße Blumen enthielt, und schleuderte ihn zu Boden. Erde verteilte sich überall. Der Topf zerbrach nicht, sondern rollte über den Boden und blieb vor Mutters Füßen liegen. Pepper-Man zog die Hand zurück.
»Cassie!«, schrie Mutter und ließ die Scherben fallen, die sie gerade erst aufgesammelt hatte. Sie landeten auf dem Boden, mitten zwischen der Erde und dem Grünzeug. »Sieh nur, deinetwegen habe ich mich verletzt.« Sie hob einen Finger. Dicke Blutstropfen liefen über ihre weiße Haut, flossen auf ihre goldenen Ringe zu.
»Gut so«, sagte ich und stampfte mit dem Fuß auf. Pepper-Man blähte die dünnen Nasenflügel, seine schwarze Zunge zuckte hervor und leckte über seine Lippen. Er mochte Blut sehr. Er wurde dann immer ganz munter wie ein Hund, dem man ein Leckerli gibt. Es versetzte mir einen Stich, zu sehen, wie er sie so interessiert betrachtete, also rannte ich los. Mit tränennassen Wangen raste ich an ihr vorbei, warf die Tür hinter mir zu, jagte die Treppe hinauf, meine Schritte wie Trommelschläge auf den Stufen, in mein Zimmer, wo ich mich aufs Bett warf und meine Tränen die Matratze durchnässen ließ.
Pepper-Man war schon da, wie ich es mir gedacht hatte. Das war der Sinn der Scharade gewesen: ihn von Mutter fortzulocken. Er saß auf meiner gehäkelten Tagesdecke, summte eine sanfte Melodie, seine Finger flochten, drehten, formten die Birkenzweige in seinen Händen. Er sah mich nicht an, das war nicht nötig.
Wir hatten eine innige Beziehung.
Ich kann mich nicht an eine Welt ohne Pepper-Man erinnern. Er ist schon immer da gewesen. Er kam und ging oder war einfach nur da. Manchmal eine Bedrohung, manchmal reine Wonne. Pepper-Man ist sehr alt. Er erzählte mir einmal, er habe mich als Kleinkind gefunden, als ich am Flussufer spielte. Er habe sich über das Wasser treiben lassen, sagte er, als er mein schimmerndes Haar auf der Wiese erspähte. Meine Mutter und mein Vater, damals noch jung und verliebt, picknickten nicht weit entfernt. Er sagte, dass sie Sandwiches und Birnen aßen und Tee aus verzierten Porzellantassen tranken. Er saß auf einem Eichenblatt, als er mich ganz allein dort sah, ganz rund und pausbackig und mollig. Er wollte mich, sagte er, also ist er gesprungen.
Als ich sagte, ich glaubte nicht, dass er mich einfach so wollte, aus keinem ersichtlichen Grund, lachte er nur. Er erklärte mir, dass alle Wesen seiner Art Haar wie meines wollten, um es zu streicheln, zu flechten und damit zu spielen, aber vielleicht hätte ich ja recht.
In Wirklichkeit, sagte er, sei er in Gestalt einer Krähe am Himmel geflogen und habe den Boden nach Beute abgesucht. Er sei sehr hungrig gewesen und habe Lust auf Fleisch gehabt. Da habe er mich gesehen, noch ein Baby, das vor unserem Haus lag. Er sauste herab und setzte sich auf den Rand meines Korbs, hielt sich mit seinen Krallen daran fest. Er fand, dass ich die lieblichsten Augen habe, und fragte sich, wie sie wohl schmeckten. Doch da kam meine Mutter aus dem Haus und verscheuchte ihn. Er sagte, dass er aus diesem Grund bei mir geblieben sei, weil er sich immer noch fragte, wie meine Augen wohl schmeckten, wie es sich anfühlen würde, wenn sie seinen Hals hinunterglitten.
Das glaubte ich ihm auch nicht. Warum sollte er so lange warten, sie zu essen, wenn der Anblick meiner Augen ihm doch so einen Hunger bescherte? Er lachte wieder und sagte, dass ich sicher recht habe, und er erzählte mir, dass ich über einen Feenhügel gestolpert sei. Er sei gerade vorbeigekommen, als ein schrecklicher Schrei ertönte. Das sei ich gewesen, die Knie voller blauer Flecke, die Hände dreckig und das weiße Kleid ruiniert. Er habe Mitleid mit mir gehabt und mir etwas Schönes basteln wollen, einen Blumenkranz oder eine Krone aus Zweigen, doch meine Mutter und mein Vater seien herbeigerannt und hätten mich davongetragen. Sie hätten mich umarmt und geküsst und meine Wunden versorgt. Er sei mir gefolgt und ins Haus geschlüpft und macht mir seitdem Geschenke.
Es gibt noch eine andere Geschichte. Darin gleichen Pepper-Man und ich uns wie ein Ei dem anderen. Wir sind Geschwister im Geist, ewig verbunden durch ein unzerstörbares Band. Wir sind eins, er und ich, auch wenn wir nicht dieselbe DNA haben. Wir waren schon immer zusammen und werden es auch immer sein.
Von dieser Möglichkeit, die sich so schamlos während der Gerichtsverhandlung verbreitete, dass alle davon hörten, werde ich jetzt nicht sprechen. Dafür ist später noch Zeit. Diese letzte Geschichte wurde mir als Kind nie als Gutenachtgeschichte erzählt wie die anderen. Wenn ich in seinen harten Armen lag, dicht an seiner regungslosen Brust atmete, sein trockenes Haar mich wie eine Decke umgab, sein Pfeffergeruch mich tröstete und ich das papierdünne Leder seiner spitzen Ohren an meinen Fingerspitzen fühlte, während ich sie nachfuhr. Seine Stimme ertönte immer nur in meinem Kopf, ein sanftes Wispern wie Blätter im Wind. Ich schloss dann gewöhnlich die Augen und ließ mich treiben, verlor mich in den Höhen und Tiefen seiner Stimme. Es war, als wäre ich unter Wasser, als würde ich in ihn hineinfallen. Ein Zittern begann dann immer in meiner Wirbelsäule und fuhr durch meinen ganzen Körper, drückte und schob, bebte und klapperte, bis mein Körper aufriss und ich aus meiner Haut fuhr. Wie ein Blitz schoss ich durch das Dach in den Himmel, während Bilder und Geräusche an mir vorbeizischten. Ich sah Leute und Straßen, die ich noch nie zuvor gesehen hatte.
Einmal sah ich eine Frau in einem schwarzen Mantel, die etwas in ihrer Brieftasche suchte. Sie stand auf Pflastersteinen, die Gebäude um sie herum waren aus Backstein gebaut. Ein anderes Mal sah ich einen Mann mit einer senfgelben Krawatte, der hinter einem blauen Bus herrannte. Der Busfahrer warf einen Blick in den Spiegel, erblickte ihn und fuhr weiter, während der Mann mit dem Fuß stampfte und seinen Hut zu Boden warf. Ich sah Kinder mit brauner Haut auf einem Spielplatz, sie trugen graue Uniformen und kauten auf weichen Bonbons herum. Und ich sah auch andere Dinge, die sich durch die Wurzeln uralter Bäume wanden: blasse Schlangen und alte Frauen, die schwarzen Saft von den Baumstämmen leckten, Männer mit Ziegenköpfen, die durch den Wald rannten, und Mädchen mit zuschnappenden Kiefern, die in heißen, dunklen Höhlen unter der Erde Kleider aus Spinnenseide woben. Manchmal war ich auf dem Meer, bewegte mich mit den Wellen, schmeckte Salz auf den Lippen und spürte Seegras im Haar, während ich mit den Schatten unter mir schwamm.
Wenn ich von diesen Reisen erwachte, war Pepper-Man immer da, seine Zähne tief in meiner Kehle vergraben. Er hob dann den Kopf, um mir ins Ohr zu flüstern: »Ich liebe dich, Cassie. Du schmeckst wie die feinsten Butterblumen und der beste Wein.«
Sonntagabends war es immer Mutter, die den Wein einschenkte, sodass er über den Rand schwappte und auf den Tisch tropfte. Ihre Lippen waren rot verkrustet. Es gab Hühnchen und Kartoffelbrei. Zum Nachtisch Karamellpudding. In dieser Erinnerung bin ich acht Jahre alt.
»Iss«, wies sie mich mit keuchender Stimme an. Ihre Augen waren blau und glänzten merkwürdig. Sie erinnerten mich an die Buntglasfenster in der Kirche. Die mit Maria und dem Baby, der Hintergrund hat dieselbe Farbe. Die Perlen um ihren Hals schwangen zwischen ihren Brüsten vor und zurück, kühle, weiße Kugeln, schimmernd und hart.
Vater fragte: »Was hat Cassandra nun schon wieder angestellt?«
Erschöpft hob Mutter die Hände. »Schau sie dir doch an! Diese Haare. Warum hat sie nicht wenigstens versucht, sie vor dem Gottesdienst zu kämmen?« Ich hatte mein Haar längst aufgegeben. Pepper-Man spielte jede Nacht damit, flocht es, drehte es um seine Finger, leckte sogar mit seiner langen, schwarzen Zunge daran.
»Das ist doch egal.« Vaters Augen waren blutunterlaufen, seine Krawatte saß schief.
»Die Leute werden denken, dass ich hier einen Zoo halte«, sagte Mutter. »Dass ich meine Kinder nicht im Griff habe.« Ihre Hände zitterten, als sie nach dem Salz griff.
»Cassandras Haare sind doch in Ordnung«, sagte Vater.
»In Ordnung? Sie stehen wild in alle Richtungen ab. Und es ist nicht nur das Haar. Ihre Kleider sind voller Flecken und ihre Knie immer blau. Warum kannst du nicht einmal sauber und ordentlich sein, Cassie? Warum musst du immer alles kaputt machen?«
»Cassie ist böse«, sagte Olivia, die gerade erst fünf war. Ihr Fuß trat unter dem Tisch gegen eins der besagten blauen Knie.
»Du hast recht, Olivia.« Mutters Stimme nahm einen süßlichen, wenn auch nicht wirklich warmen Tonfall an. Sie knetete unaufhörlich eine Leinenserviette in ihrem Schoß, bis der Stoff beinahe durchriss. »Versprich mir, dass du nie wie deine Schwester sein wirst.«