Lodernde Schwingen

Leigh Bardugo

Lodernde
Schwingen

Roman

Aus dem Englischen
von Henning Ahrens

Knaur eBooks

Inhaltsübersicht

Für meinen Vater, Harve.

Manche unserer Helden schaffen es nicht ganz.

Die Grisha

Soldaten der Zweiten Armee

Meister der Kleinen Künste

 

Korporalki

Orden der Lebenden und der Toten

 

Entherzer

Heiler

 

Ätheralki

Orden der Beschwörer

 

Stürmer

Inferni

Fluter

 

Materialki

Orden der Fabrikatoren

 

Durasten

Alkemi

davor

Das Ungeheuer hieß Izumrud, und manche sagten, es habe die Gänge unterhalb von Ravka geschaffen. Von einem unersättlichen Hunger getrieben, habe dieser gewaltige Wurm Schlick und Gestein verschlungen, sich immer tiefer gebohrt, bis er zu weit vorgedrungen sei und sich am Ende in der Finsternis verirrt habe.

Das war nur eine Legende, aber die Menschen in der Weißen Kathedrale mieden trotzdem alle Gänge, die zu weit von den großen Grotten entfernt waren. Im halbdunklen Gewirr der Gänge hallten sonderbare Geräusche – manchmal ein Stöhnen, manchmal ein rätselhaftes Rumpeln. Die Totenstille wurde von leisem Zischen gestört, das vielleicht nichts weiter zu bedeuten hatte, vielleicht aber auch von einem langen Körper stammte, der sich auf Beutejagd durch nahe Gänge schlängelte. In solchen Augenblicken glaubte man gern, dass Izumrud, der gewaltige Wurm, noch lebte, dass er darauf wartete, von dem Ruf der Helden geweckt zu werden, und davon träumte, ein Kind zu fressen, das arglos in sein Maul spazierte. Denn ein solches Ungeheuer stirbt nicht; es ruht nur.

Als er noch zu dem Mädchen durfte, erzählte der Junge diese Legende und alle anderen Geschichten, die er aufschnappte. Er saß neben ihrem Bett und versuchte, sie zu füttern, lauschte ihrem pfeifenden, gequälten Atem und erzählte ihr die Geschichte eines Flusses, der von einem Fluter gezähmt und darauf abgerichtet wurde, auf der Suche nach einer Zaubermünze durch Gesteinsschichten zu tauchen. Er erzählte ihr im Flüsterton von dem armen, verfluchten Pelyekin, der tausend Jahre die magische Spitzhacke schwang und so unzählige Gänge und Grotten schuf, ein einsames Geschöpf, das auf der Suche nach Zerstreuung Gold und Edelsteine anhäufte, mit denen er nichts anzufangen wusste.

Und dann, eines Morgens, standen bewaffnete Männer vor der Tür des Mädchens. Als der Junge nicht weichen wollte, wurde er in Ketten fortgeschafft. Friede bringe nur der Glaube, ermahnte ihn der Priester, und sein Leben hänge vom Gehorsam ab.

Das einsame Mädchen, in eine Zelle gesperrt, in der es nur seinen Herzschlag und das Geräusch fallender Wassertropfen hörte, war überzeugt, dass die Geschichte von Izumrud der Wahrheit entsprach. Sie war mit Haut und Haaren verschlungen worden, und im hallenden Alabasterbauch der Weißen Kathedrale verblieb nur die Heilige.

 

Die Heilige erwachte täglich vom Klang ihres Namens, den die Gläubigen sangen. Täglich schwollen die Ränge ihres Heeres durch die Hoffnungslosen und Hungrigen weiter an, durch verwundete Soldaten und Kinder, zu jung, um Waffen führen zu können. Der Priester predigte den Gläubigen, dass das Mädchen eines Tages Zarin werde, und sie glaubten ihm. Sie wunderten sich jedoch über ihren sonderbar verwahrlosten Hofstaat: die scharfzüngige Stürmerin mit den pechschwarzen Haaren, die Verstümmelte mit dem schwarzen Gebetstuch und den grausigen Narben, der blasse Gelehrte, der sich mit seinen Büchern und rätselhaften Geräten verkroch. Das war der klägliche Rest der Zweiten Armee – und keine passende Gesellschaft für eine Heilige.

Wenige wussten, wie schlimm es um sie stand. Die Macht, mit der sie gesegnet gewesen war, ob göttlichen Ursprungs oder nicht, war verloren – oder nicht mehr greifbar. Man sorgte dafür, dass ihre Anhänger sie nicht von Nahem sahen, damit ihnen nicht auffiel, dass ihre Augen dunkle Höhlen waren und dass ihr Atem in angsterfüllten Stößen kam. Sie schleppte sich dahin, denn ihre Knochen waren brüchig wie Treibholz, ein kränkliches Mädchen, auf dem alle Hoffnungen ruhten.

Oben regierte der neue Zar mit seinem Schattenheer und forderte die Auslieferung seiner Sonnenkriegerin. Er versuchte es abwechselnd mit Zuckerbrot und Peitsche, aber die Antwort bestand jedes Mal in einer Provokation – ausgeführt von einem Gesetzlosen, den man Prinz der Lüfte nannte. Er schlug an der Nordgrenze zu, bombardierte die Nachschublinien und zwang den Fürsten der Schatten, den Handel anzukurbeln und Fahrten durch die Schattenflur anzuordnen. Diese unternahm man auf gut Glück, mehr oder weniger gut geschützt von Inferni, die die Ungeheuer durch ihre Flammen abwehrten. Manche hielten seinen Gegenspieler für einen Prinzen aus dem Geschlecht der Lantsov. Andere hielten ihn für einen Fjerdan-Rebellen, der sich weigerte, in den Reihen der Hexen zu kämpfen. Aber alle stimmten darin überein, dass er eine mächtige Gabe besitzen musste.

Die Heilige rüttelte an den Stäben ihres unterirdischen Käfigs. Dies war ihr Krieg, und sie wollte ihre Freiheit haben, um ihn führen zu können. Der Priester gab nicht nach.

Doch er hatte vergessen, dass sie in Keramzin, vor ihrer Zeit als Grisha und als Heilige, ein Geist gewesen war. Gemeinsam mit dem Jungen hatte sie Geheimnisse gehortet wie Pelyekin seine Schätze. Beide wussten, wie man sich in Diebe und Phantome verwandelte, wie man seine Stärken verbarg und seine Streiche vertuschte. Wie die Lehrer auf dem Anwesen des Herzogs bildete sich auch der Priester ein, das Mädchen genau zu kennen und beurteilen zu können, wozu sie imstande war.

Er sollte sich irren.

Denn ihm entging die Geheimsprache, mit der die beiden sich verständigten, und er unterschätzte die Entschlossenheit des Jungen. Er merkte nicht, dass das Mädchen nach einer Weile nicht mehr unter ihrer Schwäche litt, sondern diese nur noch vortäuschte.

1

Ich stand mit ausgebreiteten Armen auf einem Balkon, den man aus dem Gestein gehauen hatte, und versuchte, eine möglichst gute Vorstellung zu geben. Ich zitterte, denn meine Kefta war nur Flickwerk. Sie bestand aus Resten des Gewands, das ich bei meiner Flucht aus dem Palast getragen hatte, und aus dem Stoff eines hässlichen Vorhangs, der angeblich aus einem ehemaligen Theater in der Nähe von Sala stammte. Die Glasperlen, mit denen der Saum meiner Kefta geschmückt war, kamen auch aus jenem Theater und hatten zu den Kronleuchtern gehört. Die Stickereien auf den Ärmelaufschlägen lösten sich bereits langsam auf. David und Genya hatten sich große Mühe gegeben, aber hier, unter der Erde, waren die Mittel begrenzt. Aus der Entfernung funktionierte es trotzdem. Das Gewand funkelte golden und erweckte so den Eindruck, dass ich das Licht aufrufen würde, und ein heller Schein tanzte über die verzückten Gesichter meiner Anhänger, die weit unter mir standen. Aus der Nähe betrachtet, waren es nur lose Fäden und falscher Glanz. Und das passte zu mir, der fadenscheinigen Heiligen.

Die Stimme des Asketen dröhnte in der Weißen Kathedrale. Die Menschen schwankten mit geschlossenen Augen hin und her wie Mohnblumen im Wind, ihre gereckten Arme glichen bleichen Stängeln. Ich vollführte eine einstudierte Abfolge von Gesten und Schritten, damit David und der Inferni, der ihm morgens half, von ihrem Versteck in der Kammer oberhalb des Balkons meinen Bewegungen folgen konnten. Ich verabscheute diesen morgendlichen Mummenschanz, aber der Priester hielt ihn für unverzichtbar.

»Es ist Euer Geschenk an Euer Volk, Sankta Alina«, sagte er. »Ihr schenkt ihm Hoffnung.«

In Wahrheit war es nur eine Illusion, ein schwacher Abglanz meiner früheren Macht. Das goldene Funkeln verdankte ich Inferni-Flammen, reflektiert durch eine Spiegelschüssel, die David aus Glasresten gebaut hatte. Sie ähnelte jenen, mit denen wir den Angriff der Horden des Dunklen während der Schlacht um Os Alta hatten zurückschlagen wollen. Vergeblich, denn wir waren überrumpelt worden, und weder meine Macht noch unsere Pläne, weder Davids Genialität noch Nikolais Erfindungsreichtum hatten dem Gemetzel ein Ende setzen können. Seither hatte ich keinen einzigen Sonnenstrahl mehr aufrufen können. Zum Glück hatten die allermeisten Schäfchen in der Herde des Asketen nie erlebt, welche Macht ihre Heilige in Wahrheit entfalten konnte, und deshalb würde die Täuschung wohl vorerst ausreichen.

Der Asket beendete seine Predigt. Das war das Zeichen. Der Inferni sorgte dafür, dass ich in strahlendes Licht getaucht wurde. Es zuckte und sprang wie wild hin und her und erlosch, sobald ich die Arme senkte. Ich ahnte, wer heute als Inferni Dienst tat, und sah grimmig zur Kammer auf. Harshaw. Er ließ sich jedes Mal hinreißen. Drei Inferni waren der Schlacht um den Kleinen Palast entkommen. Eine war kurz darauf an ihren Verletzungen gestorben, und von den beiden Übrigen war Harshaw der Mächtigere, aber auch der Unberechenbarere.

Ich verließ den Balkon, um dem Asketen so rasch wie möglich zu entfliehen, aber mein Fuß knickte um, und ich stolperte. Der Priester griff nach meinem Arm, um mich zu stützen.

»Seid vorsichtig, Alina Starkov. Ihr müsst Euch in Acht nehmen, damit Euch nichts geschieht.«

»Danke.« Ich hätte mich am liebsten losgerissen, um dem Gestank nach aufgewühlter Erde und Weihrauch zu entkommen, den er überall verströmte.

»Ihr fühlt Euch heute unwohl.«

»Ich bin bloß ungeschickt.« Wir wussten beide, dass ich log. Ich war zwar kräftiger als bei meiner Ankunft in der Weißen Kathedrale – meine Knochenbrüche waren verheilt, und ich behielt das Essen bei mir –, aber ich war immer noch angeschlagen, hatte ständig Schmerzen und fühlte mich schlapp.

»Dann solltet Ihr Euch ausruhen.«

Ich knirschte mit den Zähnen. Noch ein Tag in dem Kerker, der sich meine Kammer nannte. Ich schluckte die Frustration hinunter und lächelte schwach. Ich wusste, was er sehen wollte.

»Mir ist so kalt«, sagte ich. »Ein bisschen Zeit im Kessel würde mir guttun.« Das stimmte sogar. In der Weißen Kathedrale war der Kessel, wie man die Küche nannte, der einzige Ort, an dem es nicht so feucht war. Zu dieser Stunde würde wenigstens ein Feuer brennen, weil man das Frühstück zubereitete. Die große, runde Grotte wäre vom Duft nach frischem Brot und süßem Brei aus Trockenerbsen und Milchpulver erfüllt. Diese Vorräte wurden von Verbündeten auf der Oberfläche geliefert und von den Pilgern eingelagert.

Ich zitterte noch einmal demonstrativ, aber die Antwort des Priesters bestand nur in einem unverbindlichen »Hmm«.

Da bemerkte ich Bewegungen unten in der Grotte: frisch eingetroffene Pilger. Ich kam nicht umhin, sie mit einem strategischen Auge zu mustern. Einige trugen Uniformen, die sie als Fahnenflüchtige der Ersten Armee auswiesen. Sie wirkten jung und kräftig.

»Keine Veteranen?«, fragte ich. »Keine Witwen?«

»Der Weg unter die Erde ist beschwerlich«, antwortete der Asket.

»Viele sind zu alt oder zu schwach und bleiben lieber in ihrem gemütlichen Zuhause.«

Ich hielt das für unwahrscheinlich. Die Pilger kamen auf Krücken und Stöcken, egal wie alt oder wie krank. Sogar Sterbende wollten vor ihrem Tod noch einen Blick auf Sankta Alina werfen. Ich sah mich wachsam um und erblickte die Priestergardisten, die unter dem Torbogen Wache hielten. Diese bärtigen, schwer bewaffneten Männer waren Mönche, gelehrte Priester wie der Asket, und die Einzigen, die unter der Erde Waffen tragen durften. Oben traten sie als Torhüter auf, sortierten Spione und Ungläubige aus und gewährten jenen Schutz, die sie für würdig hielten. In letzter Zeit waren weniger Pilger eingetroffen, und jene, die kamen, wirkten eher forsch als fromm. Der Asket wollte nicht nur hungrige Mäuler stopfen, nein, er brauchte auch Männer, die ihm als Soldaten dienen konnten.

»Ich könnte die Kranken und Alten besuchen.« Ich ahnte zwar, dass er ablehnen würde, aber diese Geste wurde von mir erwartet.

»Eine Heilige sollte sich nicht wie eine Ratte in ihrem Loch verkriechen, sondern bei ihrem Volk sein.«

Der Asket lächelte – dieses gütige, gnädige Lächeln entzückte die Pilger, ich fand es jedoch widerlich. »Viele Tiere verbergen sich während unruhiger Zeiten unter der Erde. So überleben sie«, sprach er. »Wenn die Narren ihre Kämpfe ausgefochten haben, sind es die Ratten, die Stadt und Land beherrschen.«

Und sich an den Toten mästen, dachte ich erschaudernd. Als könnte er meine Gedanken lesen, legte er mir eine Hand auf die Schulter. Mit ihren langen, bleichen Fingern sah sie aus wie eine wächserne Spinne. Falls diese Geste tröstlich gemeint war, erfüllte sie ihren Zweck nicht.

»Geduld, Alina Starkov. Wir werden uns erheben. Aber erst, wenn die Zeit dafür gekommen ist.«

Geduld. Das war sein gebetsmühlenartig wiederholtes Rezept. Ich widerstand dem Drang, mein Handgelenk zu berühren, die leere Stelle, an der ich die Knochen des Feuervogels hätte tragen sollen. Ich besaß die Schuppen der Meeresgeißel und den Halsreif aus Hirschhorn, aber das letzte Teil von Morozovas Puzzle fehlte. Der dritte Kräftemehrer wäre längst in unserem Besitz, wenn der Asket unsere Suche unterstützt oder uns an die Oberfläche gelassen hätte. Doch er wollte dies nur unter bestimmten Bedingungen erlauben.

»Mir ist kalt«, wiederholte ich, um meine Gereiztheit zu verbergen. »Ich will in die Küche.«

Er runzelte die Stirn. »Es gefällt mir nicht, dass Ihr dort mit diesem Mädchen zusammenhockt …«

Im Hintergrund tuschelten die Priestergardisten, und ein Wort drang an meine Ohren. Razrusha’ya. Ich schlug die Hand des Asketen weg und ging direkt auf die Männer zu. Sie nahmen Haltung an. Sie trugen Braun, wie alle ihre Brüder, dazu das goldene Sonnensymbol, das auch das Gewand des Asketen schmückte. Mein Symbol. Doch sie sahen mir nie ins Gesicht und wechselten auch kein Wort mit mir oder den anderen geflüchteten Grisha. Stattdessen standen sie immer stumm an den Wänden und folgten mir überallhin wie bärtige, Gewehre schwingende Geister.

»Diese Bezeichnung ist tabu«, sagte ich. Sie blickten so starr geradeaus, als wäre ich unsichtbar. »Sie heißt Genya Safin, und ohne sie wäre ich immer noch die Gefangene des Dunklen.« Keine Reaktion. Aber ich merkte, wie sie bei dem bloßen Klang des Namens erstarrten. Bis an die Zähne bewaffnete Männer, die sich vor einem entstellten Mädchen fürchteten. Abergläubische Idioten.

»Friede, Sankta Alina«, sagte der Asket, packte mich am Ellbogen und führte mich durch den Gang in sein Audienzzimmer. Man hatte eine Rose in das silbern geäderte Gestein der Decke gehauen und die Wände mit Heiligen bemalt, ein jeder mit goldenem Heiligenschein. Das konnte nur das Werk von Fabrikatoren sein, denn gewöhnliche Pigmente hielten der Kälte und Feuchtigkeit in der Weißen Kathedrale nicht lange stand. Der Priester setzte sich auf einen niedrigen Holzstuhl und bat mich mit einer Geste, ebenfalls Platz zu nehmen. Ich versuchte, meine Erleichterung zu verbergen, als ich auf den Stuhl sank. Sogar zu langes Stehen ermüdete mich.

Er musterte meine gelbliche Haut und die dunklen Ringe unter meinen Augen. »Kann Genya nicht etwas mehr für Euch tun?«

Der Kampf gegen den Dunklen war jetzt über zwei Monate her, doch ich hatte mich noch nicht vollständig erholt. In meinem eingefallenen Gesicht stachen die Wangenknochen zornig hervor, und meine schlohweißen Haare waren so fein, dass sie wie Spinnweben in der Luft zu schweben schienen. Es hatte mich viel Zeit und Mühe gekostet, dem Asketen die Erlaubnis abzuringen, mich von Genya in der Küche behandeln zu lassen. Er hatte in erster Linie eingewilligt, weil ich ihm versprochen hatte, dass sie mich durch ihre Künste vorzeigbarer machen würde. Das war seit vielen Wochen mein erster Kontakt mit einer anderen Grisha. Ich hatte jeden Moment genossen, jede noch so kleine Neuigkeit.

»Sie gibt ihr Bestes«, sagte ich.

Der Priester seufzte. »Nun, wir müssen uns wohl alle in Geduld fassen. Mit der Zeit werdet Ihr genesen. Wenn Ihr glaubt. Wenn Ihr betet.«

Wut flammte in mir auf. Er wusste verdammt gut, dass ich nur durch eines wieder gesund werden würde, nämlich durch den Gebrauch meiner Macht, aber dazu hätte ich an die Oberfläche zurückkehren müssen.

»Wenn Ihr mir einen kurzen Ausflug an die Oberfläche gestatten würdet …«

»Ihr seid zu wertvoll für uns, Sankta Alina, und das Risiko wäre zu hoch.« Er zuckte entschuldigend mit den Schultern. »Da Ihr nicht auf Euch achtgebt, muss ich es tun.«

Ich schwieg. Wir spielten dieses Spiel, seit man mich hierhergebracht hatte. Der Asket hatte viel für mich getan. Ohne ihn hätte kein Einziger meiner Grisha den Kampf gegen die Ungeheuer des Dunklen überlebt. Er hatte uns eine sichere Zuflucht unter der Erde geboten. Trotzdem empfand ich die Weiße Kathedrale in immer stärkerem Maße als Gefängnis.

Er legte die Fingerspitzen beider Hände aneinander. »Nach so vielen Monaten vertraut Ihr mir noch immer nicht?«

»Doch«, log ich. »Natürlich vertraue ich Euch.«

»Aber Ihr wollt Euch nicht helfen lassen. Alles wäre anders, wenn der Feuervogel in unseren Händen wäre.«

»David studiert Morozovas Aufzeichnungen. Ich bin überzeugt, dass sie die Antwort enthalten.«

Der Asket betrachtete mich bohrend aus seinen schwarzen Augen. Er argwöhnte, dass ich wusste, wo der Feuervogel zu finden war – Morozovas dritter Kräftemehrer und der Schlüssel zur Entfesselung der einzigen Macht, die imstande wäre, den Dunklen zu besiegen und die Schattenflur zu vernichten. Und er hatte recht. Jedenfalls hoffte ich das. Unser einziger Hinweis verbarg sich in meinen spärlichen Kindheitserinnerungen. Ich klammerte mich an die Hoffnung, dass die staubigen Ruinen von Dva Stolba mehr waren, als sie zu sein schienen. Doch ob ich mich nun irrte oder nicht – der mögliche Aufenthaltsort des Feuervogels war ein Geheimnis, das ich nicht preisgeben wollte. Ich war unter der Erde isoliert und nahezu machtlos und wurde auf Schritt und Tritt von der Priestergarde verfolgt. Wie konnte ich da den letzten Trumpf aus der Hand geben, den ich noch besaß?

»Ich will nur Euer Bestes, Alina Starkov. Und das Eurer Freunde. So wenige bleiben Euch. Wenn ihnen etwas zustoßen sollte …«

Ich vergaß, nett und freundlich zu sein, und fauchte: »Ihr werdet ihnen nichts tun.«

Der Blick des Asketen war etwas zu herausfordernd, wie ich fand.

»Ich meine doch nur, dass hier, unter der Erde, leicht ein Unfall passieren kann. Ich weiß, wie tief Euch jeder Verlust schmerzen würde, und Ihr seid ja noch so schwach.« Bei dem letzten Wort entblößte er sein Zahnfleisch. Es war so schwarz wie das eines Wolfs.

Wieder überkam mich die Wut. Seit meinem allerersten Tag in der Weißen Kathedrale saß mir eine Bedrohung im Nacken, die für eine ständige und erstickende Angst sorgte. Der Asket erinnerte mich bei jeder Gelegenheit daran, wie verwundbar ich war. Ohne nachzudenken, schnippte ich mit meinen in den Ärmeln verborgenen Fingern. Schatten sprangen an den Wänden hinauf.

Der Asket zuckte auf seinem Stuhl zusammen. Ich sah ihn stirnrunzelnd an und spielte die Verwirrte. »Was habt Ihr?«, fragte ich.

Er räusperte sich und ließ den Blick nach rechts und nach links huschen. »Nichts … gar nichts«, stotterte er.

Ich ließ die Schatten nach unten gleiten. Die Benommenheit, die dieser Trick in mir auslöste, wurde durch seine Reaktion mehr als wettgemacht. Aber das war auch schon alles. Ich konnte nur die Schatten springen und tanzen lassen. Es war ein klägliches Echo der Macht des Dunklen, das nach dem Kampf, der uns beide fast das Leben gekostet hätte, immer noch in mir nachhallte. Ich hatte es entdeckt, als ich verzweifelt versucht hatte, das Licht aufzurufen. Vergeblich hatte ich mich bemüht, die Schatten zu etwas auszubauen, das ich als Waffe einsetzen konnte. Nun empfand ich sie nur noch als Strafe, als Abklatsch einer größeren Macht, der mich, die Heilige der Taschenspielertricks, verhöhnte.

Der Asket rang immer noch um Fassung. »Ihr geht ins Archiv«, sagte er entschieden und stand auf. »Dort könnt Ihr Euch in aller Ruhe Eurem Studium widmen und nachdenken. Das wird Euch guttun.«

Ich unterdrückte ein Stöhnen. Das war eine echte Strafe – Stunden mit dem sinnlosen Versuch zu verbringen, in alten religiösen Texten Hinweise auf Morozova zu finden. Ganz zu schweigen davon, dass das Archiv feucht und ungemütlich war und nur so von Priestergardisten wimmelte. »Ich begleite Euch«, fügte er hinzu. Auch das noch.

»Und der Kessel?«, fragte ich und versuchte, die Verzweiflung aus meiner Stimme zu verbannen.

»Später. Razru… Genya wird warten«, sagte er, als ich ihm in den Gang folgte. »Und warum immer die Küche? Ihr könntet Euch auch hier mit Genya treffen. Ganz ungestört.«

Ich warf den beiden Gardisten, die uns dicht auf den Fersen waren, einen Blick zu. Ganz ungestört? Das war lächerlich. Aber die Vorstellung, nicht mehr in den Kessel zu dürfen, war entsetzlich. Vielleicht würde man den großen Rauchfang heute länger als nur wenige Sekunden öffnen. Das war eine schwache Hoffnung, aber die einzige, die ich hatte.

»Ich bin lieber in der Küche«, sagte ich. »Dort ist es warm.« Ich schenkte ihm mein demütigstes Lächeln und fügte mit zitternder Unterlippe hinzu: »Sie erinnert mich an mein Zuhause.«

Diese Vorstellung fand er herrlich: eine vor dem Herd in die Asche gekauerte Magd. Noch eine Illusion, ein weiteres Kapitel für sein Heiligenbuch.

»Nun gut«, sagte er schließlich.

Wir brauchten lange, um vom Balkon nach unten zu gelangen. In der Weißen Kathedrale, der gewaltigen, zentralen Grotte mit den Alabasterwänden, denen sie ihren Namen verdankte, fand morgens und abends der Gottesdienst statt. Aber sie war weit mehr – ein weitverzweigtes Netzwerk von Gängen und Höhlen, eine unterirdische Stadt. Ich hasste jeden Quadratzentimeter. Ich hasste die Nässe, die aus den Wänden rann, von den Decken tropfte und auf meiner Haut Perlen bildete. Die Kälte, die man niemals abschütteln konnte. Die Giftpilze und Nachtschattengewächse, die in Rissen und Spalten gediehen. Ich hasste es, wie man hier die Zeit maß: anhand von Morgenmesse, Nachmittagsgebet und Abendmesse, anhand von Tagen, an denen man bestimmter Heiliger gedachte, ganz fastete oder nur halb. Am schlimmsten fand ich allerdings das Gefühl, eine kleine, bleiche Ratte zu sein, deren kraftlose Krallen gegen die Wände meines Irrgartens nichts ausrichten konnten.

Der Asket führte mich durch die nördlich des Zentrums gelegenen Grotten, in denen die Soldat Sol gedrillt wurden. Menschen wichen an die Felswände zurück oder reckten die Arme nach meinem goldenen Gewand, als wir an ihnen vorbeigingen. Wir schritten langsam und würdevoll – zwangsläufig, denn schnelleres Gehen hätte mich ermüdet. Die Herde des Asketen wusste, dass ich krank war, und betete für meine Gesundheit, aber er befürchtete, dass eine Panik ausbrechen würde, falls man merkte, wie angeschlagen – und zutiefst menschlich – ich tatsächlich war.

Die Soldat Sol hatten bei unserem Eintreffen schon mit dem Drill begonnen. Sie waren die heiligen Krieger des Asketen, Sonnenkämpfer, denen die Strahlensonne auf Arme und Gesicht tätowiert worden war. Viele waren Fahnenflüchtige aus der Ersten Armee, andere dagegen einfach nur jung, draufgängerisch und todesmutig. Sie hatten mir unter schwersten Verlusten geholfen, aus dem Kleinen Palast zu entkommen. Doch ob heilig oder nicht, mit den Nichevo’ya des Dunklen konnten sie es nicht aufnehmen. Aber da dieser auch Soldaten und Grisha zur Verfügung hatte, übten sich die Soldat Sol weiter im Kampf.

Sie übten nicht mit echten Waffen, sondern mit Holzsäbeln und Gewehren, die Kugeln aus Wachs verschossen. Die Soldat Sol, eine ganz eigene Sorte von Pilgern, hatten sich dem Kult der Sonnenheiligen angeschlossen, weil sie sich davon gesellschaftliche Veränderungen versprachen. Viele waren jung und brachten dem Asketen und den althergebrachten Ritualen der Kirche eine tiefe Skepsis entgegen. Seit meiner Ankunft wurden sie von dem Asketen an einer noch kürzeren Leine gehalten. Er brauchte sie, traute ihnen aber nicht ganz. Das Gefühl kannte ich.

Am Rand stehende Priestergardisten wachten mit Argusaugen über alles, was sich tat. Ihre Kugeln waren echt und genauso die Klingen ihrer Säbel.

Eine Gruppe sah Mal und Stigg bei einem Übungskampf zu. Stigg war einer der beiden überlebenden Inferni. Er hatte einen Stiernacken, blonde Haare und keinen Funken Humor – ein waschechter Fjerdan.

Mal wich einer Flammensichel aus. Die nächste versengte sein Hemd, und die Zuschauer keuchten auf. Ich glaubte, er würde zurückweichen, doch stattdessen griff er an. Er tat einen Satz, rollte sich über den Boden, was die Flammen erstickte, und riss Stigg von den Beinen. Im nächsten Moment drückte er den Inferni mit dem Gesicht auf die Erde und packte ihn bei den Handgelenken, um einen erneuten Angriff zu verhindern.

Die zuschauenden Soldaten pfiffen und klatschten beifällig.

Zoya warf ihre glänzenden schwarzen Haare zurück. »Gut gemacht, Stigg. Jetzt bist du verschnürt wie ein Braten und reif für den Ofen.« Mal brachte sie mit einem Blick zum Schweigen. »Ablenken, entwaffnen, unschädlich machen«, sagte er. »Der Trick besteht darin, nicht in Panik zu geraten.« Er stand auf und half Stigg auf die Beine.

»Alles in Ordnung?«

Stigg zog eine verärgerte Grimasse, nickte aber und ging zu einer neuen Übungspartnerin, einer hübschen und jungen Soldatin.

»Na los, Stigg«, sagte das Mädchen mit einem breiten Grinsen.

»Ich springe auch nicht so hart mit dir um.«

Ihr Gesicht kam mir bekannt vor, aber ich brauchte eine Weile, um sie einzuordnen – Ruby. Mal und ich waren mit ihr in Poliznaya ausgebildet worden. Wir waren im gleichen Regiment gewesen. Ich hatte sie als kichernd und fröhlich in Erinnerung, als eines dieser glücklichen, koketten Mädchen, die mir stets das Gefühl gegeben hatten, ein hoffnungsloser Fall zu sein. Sie lächelte immer noch viel und trug auch noch ihren langen blonden Zopf. Aber ich spürte sogar von Weitem, dass sie eine Wachsamkeit ausstrahlte, wie sie nur der Krieg mit sich brachte. Auf ihre rechte Wange war die Strahlensonne tätowiert worden. Sonderbar, dass ich von einem Mädchen, das mir früher in der Kantine gegenübergesessen hatte, nun für eine göttliche Erscheinung gehalten wurde.

Der Asket oder seine Gardisten führten mich selten auf diesem Weg zu den Archiven. Was war heute anders? Hatte er mich hergebracht, damit ich den kläglichen Rest meiner Armee sah und mich an den Preis meines Fehlers erinnerte? Wollte er mir zeigen, wie wenige Verbündete mir geblieben waren?

Ich sah zu, wie Mal Paare aus Sonnenkämpfern und Grisha bildete. Da waren die Stürmer: Zoya, Nadia und ihr Bruder Adrik. Gemeinsam mit Stigg und Harshaw waren sie meine letzten Ätheralki. Harshaw war nicht zu sehen. Er hatte sich vermutlich wieder ins Bett gelegt, nachdem er während der Morgenmesse die Flammen für mich aufgerufen hatte.

Was die Korporalki betraf, so waren Tamar und Tolya, ihr riesiger Zwillingsbruder, die einzigen Entherzer auf dem Übungsplatz. Ich verdankte ihnen mein Leben, trotzdem war ich vor ihnen auf der Hut. Sie standen dem Asketen nahe, der sie mit der Ausbildung der Soldat Sol betraut hatte, und sie hatten mich im Kleinen Palast monatelang belogen. Ich wurde nicht schlau aus ihnen. Vertrauen war ein Luxus, den ich mir eigentlich nicht leisten konnte.

Alle übrigen Soldaten mussten noch auf ihren Kampf warten, denn es gab zu wenige Grisha. Genya und David blieben lieber für sich allein und kämpften ohnehin ungern. Maxim war ein Heiler und zog es vor, seine Künste im Hospital auszuüben, obwohl die meisten Anhänger des Asketen den Grisha nicht genug Vertrauen schenkten, um sich von ihnen helfen zu lassen. Sergei war ein mächtiger Entherzer, galt in seelischer Hinsicht aber immer noch als so labil, dass man darauf verzichtete, ihn als Lehrer einzusetzen. Während des Überraschungsangriffs des Dunklen war er mitten im Kampfgetümmel gewesen und hatte mit ansehen müssen, wie das Mädchen, das er liebte, von Ungeheuern zerrissen worden war. Unseren einzigen anderen Entherzer hatten wir irgendwo zwischen dem Kleinem Palast und der Kapelle an die Nichevo’ya verloren.

Alles deine Schuld, sagte eine Stimme in meinem Kopf. Weil du versagt hast.

Der Asket riss mich aus meinen trübseligen Gedanken. »Der Junge maßt sich zu viel an.«

Ich folgte seinem Blick. Er beobachtete Mal, der zwischen den Soldaten umherlief, mit ihnen sprach oder sie auf Fehler hinwies. »Er unterstützt sie beim Üben«, sagte ich.

»Er gibt ihnen Befehle. Oretsev!«, rief der Priester und winkte ihn zu sich. Ich spannte mich an, als Mal näher kam. Seit er aus meiner Kammer verbannt worden war, hatte ich ihn kaum noch zu Gesicht bekommen. Von meinen selten gestatteten Treffen mit Genya abgesehen, isolierte mich der Asket von jedem, der als mein Verbündeter infrage kam.

Mal wirkte verändert. Er trug die bäuerlich grobe Kleidung, die im Kleinen Palast seine Uniform gewesen war, aber durch die lange Zeit unter der Erde war er schmaler und so blass geworden, dass die Narbe auf seinem Kiefer hervorstach.

Er blieb vor uns stehen und verneigte sich. Wir waren einander so nahe wie seit Monaten nicht mehr.

»Du bist hier nicht der Befehlshaber«, sagte der Asket. »Tolya und Tamar stehen im Rang über dir.«

Mal nickte. »Das stimmt.«

»Und warum leitest du die Übungen?«

»Ich leite nichts«, erwiderte er. »Ich kann ihnen etwas beibringen. Und sie können etwas von mir lernen.«

Wie wahr, dachte ich verbittert. Mal war sehr gut im Kampf gegen Grisha geworden. Ich hatte vor Augen, wie er in den Ställen des Kleinen Palasts blutend und mit gebrochenen Rippen über einem Stürmer gestanden und verächtlich und herausfordernd auf ihn geblickt hatte. Noch eine Erinnerung, auf die ich gut verzichten konnte.

»Warum hat man diese Rekruten nicht gezeichnet?«, fragte der Asket und zeigte auf eine Gruppe, die hinten in der Grotte mit Holzsäbeln übte. Keiner von ihnen sah älter aus als zwölf.

»Weil sie noch Kinder sind«, antwortete Mal mit eisiger Stimme.

»Es war ihre freie Entscheidung. Willst du verhindern, dass sie ihre Treue zu unserem Anliegen beweisen?«

»Ich will verhindern, dass sie später etwas bereuen.«

»Das steht in niemandes Macht.«

An Mals Unterkiefer zuckte ein Muskel. »Falls wir unterliegen sollten, wären sie durch die Tätowierungen als Sonnenkämpfer gebrandmarkt. Sie könnten sich ebenso gut freiwillig vor ein Erschießungskommando stellen.«

»Bist du deshalb selbst nicht tätowiert? Weil dein Glaube an unseren Sieg so schwach ist?«

Mal sah zu mir, dann wieder zum Asketen. »Mein Glaube gilt den Heiligen«, antwortete er ruhig. »Und nicht Männern, die Kinder in den Tod schicken.«

Der Priester verengte die Augen.

»Mal hat recht«, warf ich ein. »Lasst sie nicht tätowieren.« Der Asket sah mich aus seinen ausdruckslosen schwarzen Augen an.

»Bitte«, sagte ich leise, »mir zu Gefallen.«

Ich wusste, wie sehr er diesen Tonfall mochte – warmherzig, sanft und einlullend.

»So ein weiches Herz«, sagte er und schnalzte mit der Zunge. Doch er war erfreut, das konnte ich spüren. Ich hatte mich zwar gegen seine Wünsche ausgesprochen, aber der Rolle entsprochen, die er mir zudachte: die mütterliche Heilige und Trösterin der Herzen. Ich bohrte meine Fingernägel in die Handfläche.

»Ist das nicht Ruby?«, fragte ich, um das Thema zu wechseln und den Asketen von Mal abzulenken.

»Sie ist vor einigen Wochen gekommen«, sagte Mal. »Sie ist gut – war bei der Infanterie.« Mir selbst zum Trotz verspürte ich den winzigsten Anflug von Neid.

»Stigg sieht nicht gerade froh aus«, sagte ich und nickte zu dem Inferni, der seine Wut angesichts der Niederlage an Ruby auszulassen schien. Sie gab sich größte Mühe, war ihm aber nicht gewachsen.

»Er verliert nicht gern.«

»Du bist bestimmt nicht einmal ins Schwitzen gekommen.«

»Nein«, sagte er. »Leider nicht.«

»Warum leider?«, fragte der Asket.

Mals Blick glitt ganz kurz zu mir. »Durch Niederlagen lernt man mehr.« Er zuckte mit den Schultern. »Zum Glück gibt es Tolya. Er kann mir noch den Arsch versohlen.«

»Achte auf deine Wortwahl«, fauchte der Asket.

Mal beachtete ihn nicht. Dann pfiff er plötzlich auf zwei Fingern. »Ruby! Deine Deckung ist offen!«

Zu spät. Ihr Zopf fing Feuer. Ein junger Soldat kam angerannt und kippte einen Eimer Wasser über ihr aus.

Ich zuckte zusammen. »Pass auf, dass sie nicht zu knusprig geraten.«

Mal verneigte sich. »Moi Soverenyi.« Dann trabte er zurück zur Truppe.

Diese Anrede. Hier schwang nicht mehr der Groll darin mit, den er in Os Alta hineingelegt hatte, aber ich empfand sie immer noch als Schlag in die Magengrube.

»So darf er Euch nicht anreden«, beschwerte sich der Asket.

»Und warum nicht?«

»Das war die Anrede des Dunklen. Sie ist unpassend für eine Heilige.«

»Wie sollte er mich sonst anreden?«

»Er sollte Euch gar nicht direkt anreden.«

Ich seufzte. »Wenn er wieder ein Anliegen hat, werde ich ihn bitten, mir einen Brief zu schreiben.«

Der Asket spitzte die Lippen. »Ihr seid gereizt. Ich denke, eine zusätzliche Stunde in der Stille des Archivs wird Euch guttun.«

Er schalt mich wie ein überdrehtes Kind, das dringend zu Bett musste. Ich zwang mich, an den versprochenen Aufenthalt in der Küche zu denken, und rang mir ein Lächeln ab. »Ihr habt gewiss recht.« Ablenken, entwaffnen, unschädlich machen.

Als wir in den Gang einbogen, der zum Archiv führte, blickte ich noch einmal über die Schulter. Zoya hatte einen Soldaten auf den Rücken geworfen und ließ ihn mit lässigen Drehungen ihres Handgelenks wie eine Schildkröte auf dem Boden kreisen. Ruby redete mit lebhafter Miene und strahlendem Lächeln auf Mal ein, aber er sah zu mir. Im Zwielicht der Grotte strahlten seine Augen so blau wie das Herz einer Flamme.

Ich wandte mich ab und folgte dem Asketen, beschleunigte meine Schritte und versuchte, weniger pfeifend zu atmen. Ich dachte an Rubys Lächeln und ihren angesengten Zopf. Ein nettes Mädchen. Ein normales Mädchen. Genau, was Mal brauchte. Ich wusste nicht, ob er schon mit einer anderen zusammen war, aber früher oder später würde es passieren. Und irgendwann wäre ich anständig genug, um ihm viel Glück zu wünschen. Nur noch nicht heute.

 

Wir begegneten David, der ebenfalls zum Archiv unterwegs war. Er sah wie üblich aus wie eine Vogelscheuche – zerzauste Haare, mit Tinte bekleckste Ärmel. Er hatte ein Glas mit heißem Tee in der Hand, aus seiner Tasche ragte eine geröstete Brotscheibe.

Sein Blick zuckte vom Asketen zu den Priestergardisten.

»Mehr Salbe?«, fragte er.

Bei diesem Wort verzog der Asket den Mund. David rührte die Salbe für Genya an. Sie unterstützte ihre eigenen Bemühungen, die schlimmsten Narben zu verdecken, aber von den Nichevo’ya geschlagene Wunden verheilten nie ganz.

»Sankta Alina möchte den Vormittag ihren Studien widmen«, verkündete der Asket feierlich.

David deutete ein Schulterzucken an und huschte durch die Tür.

»Aber nachher gehst du in die Küche, oder?«

»In zwei Stunden schicke ich Gardisten, die Euch dorthin eskortieren«, sagte der Asket. »Genya Safin wird Euch erwarten.« Er musterte mein eingefallenes Gesicht. »Sorgt dafür, dass sie sich mehr Mühe gibt.«

Er verneigte sich tief und verschwand durch den Gang. Als ich mich im Raum umsah, seufzte ich niedergeschlagen. Eigentlich hätte ich mich im Archiv pudelwohl fühlen müssen, denn hier roch es nach Tinte und Papier, und man hörte das unablässige Kratzen der Federkiele. Aber es war auch der Rückzugsort der Priestergardisten – ein schwach erhelltes Labyrinth aus Säulen und Bögen, die man aus dem weißen Gestein gehauen hatte. Der stille David wäre fast explodiert, als er die kleinen, überwölbten Nischen voller uralter Manuskripte und Bücher zum ersten Mal gesehen hatte, denn die Seiten waren schwarz von Schimmel, die Rücken aufgequollen. Die Höhlen waren so feucht, dass sich Pfützen auf dem Boden bildeten. »Hier … hier lagert ihr Morozovas Aufzeichnungen?«, hatte er mit fast überschnappender Stimme geschrien. »Das ist ein Sumpf

Inzwischen verbrachte er seine Tage und fast alle Nächte im Archiv, brütete über Morozovas Schriften und trug Notizen und Skizzen in eine eigene Kladde ein. Wie fast alle Grisha hatte auch er geglaubt, dass Morozovas Aufzeichnungen nach der Erschaffung der Schattenflur zerstört worden waren. Doch der Dunkle hätte einen solchen Schatz niemals vernichtet. Er hatte die Aufzeichnungen versteckt, und obwohl ich dem Asketen bisher keine direkte Antwort hatte entlocken können, ging ich davon aus, dass er sie im Kleinen Palast entdeckt und nach der erzwungenen Flucht des Dunklen aus Ravka an sich gebracht hatte.

Ich sackte gegenüber von David auf einen Stuhl. Er hatte Tisch und Stuhl in die trockenste Höhle getragen. In einem der Regale lagerte er zusätzliches Öl für seine Lampen und die Kräuter und Fette für Genyas Salbe. Sonst war er meist mit Formeln oder Tüfteleien beschäftigt und sah stundenlang nicht auf, aber heute schien ihm die nötige Ruhe zu fehlen. Er hantierte nervös mit den Tinten und fummelte an der Taschenuhr herum, die auf dem Tisch lag.

Ich blätterte lustlos in einem der Bücher mit den Aufzeichnungen. Inzwischen hasste ich schon ihren Anblick, denn ihr Inhalt war nutzlos, verwirrend und vor allen Dingen unvollständig. Morozova legte seine Theorien zu den Kräftemehrern dar, schilderte seine Jagd auf den Hirsch und die zwei Jahre, die er auf der Suche nach der Meeresgeißel auf einem Walfänger verbracht hatte, erläuterte seine Hypothesen bezüglich des Feuervogels, und dann … nichts. Entweder fehlten Teile der Aufzeichnungen, oder Morozova hatte sein Werk nicht vollendet.

Der Gedanke, den Feuervogel zu finden und mir seine Macht zunutze zu machen, war einschüchternd. Aber der Gedanke, dass er vielleicht gar nicht existierte und dass ich den Dunklen ein weiteres Mal ohne ihn würde bekämpfen müssen, war unerträglich, und ich verdrängte ihn immer so rasch wie möglich.

Ich zwang mich, die Seiten umzublättern. Ich hatte nur Davids Taschenuhr, um nach der Zeit zu schauen. Ich wusste nicht, wo er sie entdeckt und wie er sie in Gang gebracht hatte und ob die von ihm eingestellte Zeit stimmte, aber ich starrte sie an, als könnte ich den Minutenzeiger durch meinen Blick dazu bringen, sich schneller zu drehen.

Priestergardisten kamen und gingen, beugten sich über ihre Texte oder behielten uns im Auge. Eigentlich sollten sie Manuskripte mit Zeichnungen versehen und heilige Schriften studieren, aber ich argwöhnte, dass andere Aufgaben Vorrang für sie hatten. Der Asket unterhielt ein Spionagenetzwerk, das sich über ganz Ravka erstreckte, und die Priestergardisten glaubten sich dazu berufen, Informationen zu sammeln, Nachrichten zu entziffern und den Kult der neuen Heiligen aufzubauen. Ich verglich sie unwillkürlich mit meinen Soldat Sol, meist jung und vielfach Analphabeten, die von den uralten Geheimnissen, die diese Männer hüteten, ausgeschlossen waren.

Als mir Morozovas Geschwätz unerträglich zu werden begann, rutschte ich auf dem Stuhl hin und her und versuchte, meinen Rücken wieder einzurenken. Danach griff ich nach einem alten Band, der hauptsächlich Debatten über das Gebet beinhaltete, zu meiner Überraschung aber auch eine Version des Martyriums von Sankt Ilya enthielt.

Hier war Ilya ein Steinmetz, und der Nachbarsjunge wurde unter einem Pferd begraben – das war mir neu, denn der Junge wurde sonst immer von einer Pflugschar erfasst. Das Ende war wie üblich erzählt: Ilya rettete das Kind von der Schwelle des Todes, woraufhin er von den Dorfbewohnern in Ketten gelegt und im Fluss ertränkt wurde. Manchmal hieß es, er sei nicht untergegangen, sondern bis zum Meer getrieben worden. Dann wieder, dass man seinen unversehrten und nach Rosen duftenden Leib Tage später auf einer viele Meilen entfernten Sandbank entdeckt habe. Ich kannte alle Versionen, doch in keiner war die Rede von dem Feuervogel, ganz zu schweigen von Dva Stolba als dem Ort, wo man mit der Suche beginnen müsse. Unsere Hoffnungen darauf, den Feuervogel aufzuspüren, ruhten ausschließlich auf einer alten Illustration: Sankt Ilya in Ketten, umringt von Hirsch, Meeresgeißel und Feuervogel. Hinter ihm waren ein Gebirge, eine Straße und ein Felsbogen zu sehen. Dieser war natürlich längst eingestürzt, aber ich bildete mir ein, dass sich seine Ruine in Dva Stolba befand, in der Nähe des Geburtsorts von Mal und mir. Das glaubte ich jedenfalls an guten Tagen. Heute war ich nicht mehr so fest davon überzeugt, dass Ilya Morozova und Sankt Ilya ein und dieselbe Person seien. Ich würdigte die Ausgaben der Istorii Sankt’ya

»Was ist denn heute mit dir los?«, fragte ich.

Ich blinzelte ihn an. »Deine Lippe blutet.«

»David …«

»Hier«, sagte David und gab mir eine kleine Blechdose. Bevor ich sie ergreifen konnte, hatte sie einer der Gardisten an sich gerissen.

Der Priestergardist beachtete mich nicht. Er strich über Deckel und Boden der Dose, öffnete sie, beschnupperte den Inhalt, schloss sie wieder und reichte sie mir wortlos zurück. Ich schnappte sie mir von seiner Handfläche.

Er beugte sich schon wieder über seine Kladde, scheinbar versunken in was auch immer er gerade las. Doch er hielt seinen Stift so fest gepackt, dass ich glaubte, er müsste zerbrechen.

Genya erwartete mich im sogenannten Kessel, der riesigen, fast kreisrunden Grotte, in der für alle gekocht wurde, die sich in der Weißen Kathedrale aufhielten. Vor den gewölbten Wänden stand ein Steinherd neben dem anderen, Relikte aus Ravkas Vorgeschichte, die, wie das Küchenpersonal klagte, nicht halb so viel taugten wie die Herde und Kachelöfen auf der Oberfläche. Die großen Drehspieße waren für riesige Braten gedacht, aber frisches Fleisch war hier unten eine Seltenheit. Stattdessen gab es Pökelfleisch, Eintöpfe mit Wurzelgemüse und ein Brot aus grobem, grauem Mehl, das leicht nach Kirschen schmeckte.

»War das zu viel des Guten?«

Nach unserer Ankunft in der Weißen Kathedrale hatte sich Genya wochenlang geweigert, ihre Kammer zu verlassen. Sie hatte im Dunkeln gelegen und sich nicht rühren wollen. Ich hatte unter Aufsicht der Wachen mit ihr gesprochen, ihr gut zugeredet und versucht, sie zum Lachen zu bringen. Alles vergeblich. Am Ende war es Tamar gewesen, die sie durch die Forderung, sie müsse wenigstens lernen, sich zu verteidigen, aus ihrer Höhle gelockt hatte.

»Es könnte mir egal sein. Aber wenn du nicht kämpfen kannst, gefährdest du auch uns.«

»Mir aber nicht«, erwiderte ich energisch.

»Habe ich sie je darum gebeten?«

»Die mache ich platt«, hatte sie gebrummelt. Meine Skepsis war mir offenbar anzusehen, denn sie pustete sich eine rote Locke aus der vernarbten Stirn und sagte: »Schön, dann warte ich eben, bis sie einschläft, und verpasse ihr einen Schweinerüssel.«

Genya bedeckte weiter ihr Gesicht und verbrachte die meiste Zeit in ihrer Kammer, aber sie ging nicht mehr gebückt und wich in den Gängen auch nicht mehr den Menschen aus. Sie hatte sich aus schwarzer Seide, dem Innenfutter eines alten Mantels, eine Augenklappe genäht, und ihr Haar wirkte eindeutig roter. Wenn Genya ihre Macht nutzte, um ihre Haarfarbe zu verändern, dann war möglicherweise etwas von ihrer Eitelkeit zurückgekehrt, was wiederum ein Fortschritt wäre.

Genya kehrte dem Raum den Rücken zu. Dann zog sie ihr Tuch über den Kopf, wobei sie die fransigen Enden ausbreitete, sodass wir vor neugierigen Blicken geschützt waren. Beim ersten Mal waren die Gardisten sofort zur Stelle gewesen, aber als sie sahen, dass ich die Paste auf ihre Narben strich, waren sie wieder zurückgewichen. Sie hielten die Wunden, die Genya von den Nichevo’ya des Dunklen zugefügt worden waren, für eine Art Strafe Gottes. Ich wusste allerdings nicht, wofür man sie hätte bestrafen sollen. Sie hatte sich zwar auf die Seite des Dunklen geschlagen, aber diesen Fehler hatte jeder von uns schon einmal begangen. Was die Gardisten wohl zu den Bissspuren auf meinen Schultern sagen würden? Oder dazu, wie ich die Schatten tanzen lassen konnte?

»Mir war nie klar, wie mühsam es ist, so lange still zu sitzen«, klagte sie.

»Es juckt.«

»Sag mir einfach Bescheid, wenn du fertig bist, du Schreckschraube.« Sie betrachtete meine Hände. »Heute kein Glück gehabt?«, flüsterte sie.

»Dann bist du jetzt an der Reihe«, sagte sie. »Du siehst …«

»Das ist ein relativer Begriff.« Die Traurigkeit in ihrer Stimme war nicht zu überhören. Ich hätte mich am liebsten selbst in den Hintern getreten.

Sie hob einen Mundwinkel zu dem Ansatz eines verzerrten Lächelns. »Ja, manchmal«, sagte sie. »Aber ich habe das Thema angeschnitten. Und nun sei still und lass mich arbeiten.«

Genya seufzte theatralisch. »Das widerspricht meinen tiefsten Überzeugungen, und du wirst mich später dafür entschädigen.«

Sie legte den Kopf schief. »Ich finde, du solltest mir erlauben, dich in einen Rotschopf zu verwandeln.«

Während sie langsam mein Gesicht bearbeitete, spielte ich mit der Blechdose. Als ich den Deckel daraufzusetzen versuchte, stellte ich fest, dass sich auf dessen Innenseite etwas abgelöst hatte. Ich hob es mit den Fingernägeln an – es war eine dünne, wachsartige Papierscheibe. Genya sah sie im gleichen Moment wie ich.

Heute

Da hörten wir draußen vor der Tür ein Gerangel und das Stampfen schwerer Stiefel. Ein Topf fiel mit lautem Knall auf den Fußboden, und einer der Köche schrie auf, als plötzlich Priestergardisten mit dem Gewehr im Anschlag in die Küche stürmten. In ihren Augen schien das Feuer ihres Glaubens zu lodern.

Genya und ich sprangen auf. Die Priestergardisten drängten die verwirrt und verängstigt protestierenden Köche aus dem Raum.

»Alina Starkov«, sagte der Asket, »Ihr schwebt in Gefahr.«

»Es gibt eine Verschwörung«, erklärte er und zeigte auf Genya. »All jene, die sich als Eure Freunde ausgeben, sind darauf aus, Euch zu vernichten.«

Genya rang um Atem, und ich legte ihr eine Hand auf den Arm, damit sie nicht losstürmte.

»Verriegelt die Türen«, befahl der Asket. »Wir werden uns ganz privat um diese leidige Angelegenheit kümmern.«