WINTERFEUER NACHT

Anders de la Motte

WINTERFEUER
NACHT

Kriminalroman

Aus dem Schwedischen
von Marie-Sophie Kasten

Knaur eBooks

Inhaltsübersicht

Über Anders de la Motte

Anders de la Motte, geboren 1971, arbeitete mehrere Jahre als Polizist in Stockholm und in der Security-Branche, bevor er Schriftsteller wurde. 2010 debütierte er mit Game und gewann auf Anhieb den Preis der Schwedischen Akademie der Krimiautoren für den besten Erstling. Seine aktuellen vier Kriminalromane, das sogenannte Skåne Quartet, sind internationale Bestseller. Im Droemer Verlag sind davon Sommernachtstod, Spätsommermord und Winterfeuernacht erschienen. Anders de la Motte lebt mit seiner Familie in der Nähe von Malmö.

Für Anette,

für alles, was wir zusammen gemacht haben.

Und alles, was uns noch erwartet.

Vedarp und der See Vintersjö sind beides fiktive Orte. Genau wie Nedanås in Spätsommermord und Reftinge in Sommernachtstod basieren sie auf meiner Heimat in Nordwest-Schonen, insbesondere den Kommunen Bjuv, Åstorp und Ängelholm.

Prolog

Sie hatte den See immer geliebt. Fast ein halbes Jahrhundert lang war dieser Platz ihr Zufluchtsort gewesen. Eine Welt, die zwar nicht frei von Sorgen war, wo das Böse aber nie hatte Fuß fassen können. Zumindest hatte sie sich das eingeredet. Jetzt wusste sie es besser.

Sie fröstelte, wie sie da am Rande des Schwimmstegs saß und die Beine aus dem eiskalten Wasser hob. Faltige Haut, krumme Zehen und Krampfadern, die dünne, blaue Spinnennetze auf ihren Waden bildeten. Wann war es dazu gekommen? Wann hatte sie die Füße einer alten Frau bekommen?

Genau wie mit dem restlichen Älterwerden ließ sich das nicht an einen bestimmten Zeitpunkt knüpfen. Stattdessen handelte es sich um eine schleichende Veränderung, wie wenn das Herbstlaub langsam fiel und man eines Morgens aufwachte und es um den See herum Winter war.

Das Eis bildete bereits einen dicken Kreidekreis am Ufer entlang, und die hohen Bäume, die beinahe bis zum Saunaschuppen neben dem Steg reichten, erstreckten sich kahl in den Abendhimmel. Die Kolonie Krähen, die mittlerweile die einzigen Gäste des Feriendorfes waren, beobachteten sie von dort oben mit wachsamen dunklen Augen.

Es besteht keine Gefahr, dachte sie. Ich werde nicht baden. Ihr braucht euch keine Sorgen zu machen.

Sie zog die Füße ein und wickelte sich das Handtuch fester um den Körper. Die Bewegung brachte den Steg zum Schaukeln, und die rostigen Ketten, mit denen er an Pfeilern befestigt war, rasselten. Die Saunawärme strömte unter dem Handtuch hervor und verwandelte sich in Dampf, als sie auf die kalte Winterluft traf.

Vorsichtig strich sie mit der einen Hand über die grauen, rissigen Planken.

Der Steg hätte schon vor mindestens einem Monat gesäubert, geteert und winterfest gemacht werden müssen, so wie sie es früher getan hatten. Aber genau wie mit so vielen anderen Sachen im Feriendorf hatte sie diesen Kampf schon lange aufgegeben. Oder vielleicht auch einfach nur die Lust verloren.

Nach dem Herzinfarkt Anfang Herbst, ihrem zweiten und vermutlich vorletzten, wie Doktor Olsson säuerlich bemerkt hatte, verbat er ihr das Winterbaden.

»Dein Herz verträgt keine weiteren Belastungen, Hedda. In keinerlei Hinsicht …«

Eigentlich sollte sie operiert werden, in ihrem Poststapel im Haus lagen mehrere Aufforderungen, aber sie verabscheute Krankenhäuser genauso sehr wie Ärzte.

Bis vor einigen Wochen hatte sie daher auf die Aufforderungen und die Ermahnungen des Doktors gepfiffen. Ihr Leben bestand ohnehin nur darin, mit der Katze auf dem Schoß im Fernsehsessel zu sitzen und sich vom Vormittags-, Nachmittags- oder Abendgrog in eine andere, glücklichere Zeit versetzen zu lassen. Sich Gesichter, Stimmen, Gelächter ins Gedächtnis zu rufen. Erinnerungen an Sommer und Winter, die vorüber waren. Erinnerungen an die Kinder. Ihre Kinder, so nannte sie sie. Laura, Jack, Peter, Tomas. Und dann Iben. Die arme, arme kleine Iben.

An manchen Winterabenden meinte sie fast, sie dort draußen hören zu können. Autotüren, die zuschlugen, fröhliche Stimmen, Füße, die vor der Haustür den Schnee abstampften. Manchmal sprang sie sogar vom Sessel auf, um sie zu Hause willkommen zu heißen, ihnen zu sagen, wie sehr sie sich nach ihnen gesehnt und sie vermisst hatte.

Aber wenn sie die Haustür öffnete, war der Platz draußen immer menschenleer. Dreißig Jahre Leere. Sehnsucht, Schuld. Warum sollte sie das noch länger hinauszögern? Warum die wenigen Genüsse opfern, die es noch gab, um ein paar Jahre mehr zu leben? Der Doktor konnte zum Teufel gehen. So dachte sie jedenfalls.

Bis zu diesem Morgen vor wenigen Wochen, als ein Wagen draußen auf dem Hof gestanden hatte. Eines der wenigen Male, dass sie sich bereit erklärt hatte, Besuch zu empfangen. Widerwillig war sie nüchtern geblieben, hatte sogar geduscht und saubere Kleider angezogen. Sie hatte sich eingeredet, dass alles schnell geklärt sein würde.

Aber als sich die Autotür öffnete, schien etwas in ihrem Kopf klick zu machen. Es hatte einen Lichtfunken ausgelöst, der so klar war, dass sie sich die Hand vor die Augen schlagen musste.

Einen Moment lang hatte sie gedacht, sie hätte einen Schlaganfall. Dass sie auf ihrer eigenen Türschwelle tot umfallen würde, bevor sie auch nur ein Wort mit den Besuchern wechseln konnte. Aber nach einer Sekunde war das vorbei gewesen und die Welt zu ihrer bleichen Novembertrübe zurückgekehrt. Sie war mit Begrüßungsphrasen, Namen, dann einem geschäftlichen Vorschlag und Zahlen gefüllt worden, genau wie geplant.

Trotzdem meinte sie während des gesamten Gesprächs, eine schwache Stimme im Hinterkopf wahrzunehmen, die sie seit Jahren nicht mehr gehört hatte. Als junge Frau hatte sie sich von dieser Stimme leiten lassen, aber nach dem Luciabrand, als ihr klar geworden war, dass ihre Intuition sie betrogen hatte, hatte sie nicht mehr hingehört, sie in Alkohol und Selbstmitleid ertränkt. Bis jetzt.

Denn in den Tagen nach dem Besuch war die schwache Stimme lauter geworden. Sie hatte ihr immer energischer erklärt, dass das Unmögliche möglich geworden war. Dass sie nach all diesen Jahren eine neue Chance bekommen hatte. Die Chance, in die Vergangenheit zurückzukehren. Die Chance, ein paar ihrer Fehler wiedergutzumachen, diejenigen zu schützen, die sie liebte.

Aber sie musste vorsichtig vorgehen – sich vor dem Feuer in Acht nehmen.

Sie schaute auf ihre verkrüppelte linke Hand hinab. Auf das Narbengewebe, das sich über ihren Handrücken zog, und die zwei Stümpfe, die alles waren, was von ihrem kleinen Finger und ihrem Ringfinger übrig geblieben war. Mit der anderen Hand griff sie nach ihrem Abendjoint und dem Feuerzeug, die sie beide neben sich auf den Steg gelegt hatte. Seit Sommer 1975 oder vielleicht 76 pflanzte sie im Treibhaus hinter dem Werkzeugschuppen ihr eigenes Marihuana an. Eigentlich sollte sie auch darauf verzichten, aber das Gras half ihr, ihre Gedanken zu sammeln. Darüber nachzudenken, was sie als Nächstes tun sollte.

Laura anrufen, war ihr erster Impuls gewesen. Aber sie hatte es nicht gemacht. Hatte sie vielleicht Angst? Wahrscheinlich. Angst davor, als verrückte Alte abgetan zu werden, noch bevor sie das Unerhörte erklären konnte, das sie entdeckt hatte. Oder vielleicht fürchtete sie etwas noch Schlimmeres: dass Laura einfach auflegen würde. Das wäre allerdings völlig verständlich.

Sie hatte Laura damals im Stich gelassen, sie hatte alle im Stich gelassen. All ihre Kinder.

Sie behielt den süßen Rauch im Mund, bevor sie ihn in den Abendhimmel steigen ließ. Der Mond, der über dem See hinaufkletterte, verwandelte die Wasseroberfläche allmählich in fließendes Silber. Hedda gegenüber, am langen Nordufer, reckte sich der Bergkamm als steiler Schatten empor. Nur eine einsame Lampe durchbrach die kompakte Dunkelheit dort drüben. Wie immer zog dieses Licht Heddas Blick an.

Natürlich hätte sie das Feriendorf verkaufen sollen. Ihr wurde viel Geld geboten, mehr, als sie jemals brauchen würde.

Ein kluger Mensch hätte prompt unterschrieben. Er hätte die Krähenkolonie, das Haus und den baufälligen Schwimmsteg verlassen, um seine letzten Jahre an einem behaglicheren Ort zu verbringen. Er hätte sich nicht von einer längst eingeschlafenen Intuition stören lassen und darauf verzichtet, an der Vergangenheit zu rütteln.

Ein kluger Mensch.

Ihr Blick wanderte wieder zum nördlichen Ufer. Zu dem einsamen Licht.

Dreißig Jahre, war schon so viel Zeit vergangen? Sie musste Laura anrufen, auch wenn sie Angst davor hatte. Sie musste ihr erklären, was vor sich ging. Ihr sagen, dass sie sich in Acht nehmen sollte. Aber zuerst musste sie sich ihrer Sache ganz sicher sein. Die Intuition durch konkrete Beweise ersetzen. Denn die Wahrheit tat weh. Und außerdem konnte sie gefährlich sein. Immerhin war bereits ein junger Mensch gestorben, und andere waren ihr Leben lang gezeichnet. Und vielleicht wären noch mehr an der Reihe. Das war jedenfalls nicht auszuschließen.

Sie schaute wieder auf ihre verbrannte Hand und streckte die rosa Fingerstümpfe aus.

Ein Windstoß fegte durch die Baumkronen, und gleichzeitig begannen die Krähen sich unruhig zu bewegen, schlugen mit den Flügeln und gaben gellende Warnschreie von sich. Vielleicht ein Fuchs oder eine allzu aufdringliche Eule? Dann würden sich die Vögel schnell wieder beruhigen, sobald sich die Bedrohung entfernt hatte.

Aber die Warnrufe hielten an, nahmen an Stärke zu und schwollen zu einer Kakofonie aus Lauten und Bewegungen an.

Sie wusste, was das bedeutete. Jemand näherte sich dem Feriendorf. Jemand, den die Krähen nicht kannten.

Ein Fremder.

Sie drehte den Kopf zum Waldrand, aber das schwache Licht der Außenlampe ihres Hauses wurde von der Dunkelheit zwischen den Bäumen verschluckt.

Ein paar Sekunden lang hoffte sie, dass sie sich geirrt hatte. Aber die warnenden Krähenschreie gingen weiter, ohne ein Anzeichen, dass sie nachlassen wollten.

Sie hatte kein Motorengeräusch gehört und auch kein Scharren von Schritten auf Kies, also kam der Fremde durch den Wald. Sie erhielt hier draußen fast niemals Besuch, und definitiv keinen, der so durch die Dunkelheit geschlichen kam.

Das konnte eigentlich nur eine Sache bedeuten: Sie war zu eifrig gewesen. Hatte zu tief gegraben. Sich irgendwie verraten.

Es rasselte in ihrer Brust, ein spitzer, brennender Schmerz, den sie leider wiedererkannte.

Was sollte sie jetzt tun?

Das Telefon befand sich drüben im Haus, und auch wenn sie es vor dem Besucher erreichte, wen sollte sie anrufen? Was sollte sie sagen?

Dass die Vergangenheit zurückkam. Wer sollte ihr das wohl glauben?

Und wenn sie jetzt zum Haus rannte, würde sie definitiv ihre Angst zeigen.

Denn sie hatte Angst, das ließ sich nicht leugnen. Angst um sich, aber vor allem um Laura. Das Rasseln in der Brust nahm zu, machte ihre Atmung flach.

Flucht war ausgeschlossen, also blieb ihr nichts anderes übrig, als ruhig sitzen zu bleiben und zu Ende zu rauchen. Darauf zu hoffen, dass die Güte trotz allem siegen würde. Vor allem an einem Platz wie diesem.

Sie wandte sich wieder dem See zu und nahm einen tiefen Zug. Dabei versuchte sie, ihre zitternde Hand zur Ruhe zu bringen.

Eine schwache Vibration im Steg ließ die altersschwache Vertäuung wieder ihren Klagesang aufnehmen. Das Geräusch mischte sich mit dem der Krähen und mit ihrem eigenen rasselnden Herzschlag. Sie unterdrückte den Reflex, sich umzudrehen. Stattdessen blieb sie zum Wasser gewandt sitzen.

Die Schritte hörten direkt hinter ihrem Rücken auf. Der Steg wippte immer noch leicht auf dem Wasser, bevor er zur Ruhe kam. Fast gleichzeitig wurden auch die Krähen still. Als wären sie neugierig und wollten hören, was gesagt wurde.

Sie schaute zu dem ersehnten Licht auf der anderen Seite. Dann nahm sie einen letzten Zug und warf die Kippe ins Wasser. Die Glut beschrieb einen Bogen, bevor sie von der Dunkelheit verschluckt wurde. Ein Opfer an den Wassergeist, dachte sie. Plötzlich überkam sie eine seltsame Ruhe. Eine Art Traurigkeit, die ihr rasendes altes Herz dämpfte.

»Ich weiß, warum du da bist«, sagte sie, ohne sich umzudrehen. »Du möchtest herausfinden, wie viel ich weiß.«

Es kam keine Antwort.

Langsam drehte sie den Kopf.

Der Besucher stand nur einen Meter entfernt, türmte sich über ihr auf wie ein Schatten. Die Kapuze war über den Kopf gezogen, das Gesicht lang im Finstern.

»Ich habe mir alles ausgerechnet«, sagte sie langsam. »Das Angebot für Gärdsnäset, das Bauprojekt, wer wohl dahintersteckt.«

Der Besucher stand noch immer still und unbeweglich da.

Sie überlegte, ob sie wirklich weitersprechen sollte. Aber jetzt war es zu spät aufzuhören. Zu spät, um zu bereuen. Die Wahrheit musste ans Licht. Lauras wegen. Der anderen Kinder wegen. Ihretwegen.

Sie füllte die Lungen mit Luft. Schluckte.

»Der Luciabrand …«, sagte sie und merkte gleichzeitig, wie der Besucher leicht den Kopf hob. »Darum geht es bei alldem.«

Sie wandte sich wieder dem See zu, ließ ihren Blick auf dem einsamen Licht dort drüben auf der anderen Seite ruhen.

»Ich weiß, was in jener Nacht wirklich passiert ist«, sagte sie. »Und warum es passiert ist …«

1

Sie hat den Winter immer gehasst, schon seit sie klein war, oder zumindest beinahe. Früher einmal gab es Schlittschuhfahrten und Rodelhänge, Lagerfeuer, heiße Schokolade aus der Thermoskanne und Freunde, mit denen man sie teilte. Aber das ist lange her, das war vor dem Winterfeuer.

Jetzt gibt es nur noch Kälte.

»Also … Laura.«

Ihr Tischherr schaut bestimmt schon zum dritten Mal verstohlen auf das Namensschildchen neben ihrem Weinglas.

Er heißt Niklas, und bisher erweist er sich als ebenso uninteressant wie nervös. Niklas hat es schon geschafft, sich die Krawatte schmutzig zu machen, oder noch schlimmer: bewusst eine Krawatte gewählt, auf der bereits ein Fleck war, als er sich für das Abendessen fein gemacht hat.

»Woher kennst du Stephanie?«

Die Frage ist fast lächerlich vorhersehbar.

»Wir haben uns vor ein paar Jahren bei der Arbeit kennengelernt. Aber jetzt sind wir gute Freundinnen.«

Laura versucht, einigermaßen höflich zu klingen. Sie sagt nicht, dass Steph ihre beste Freundin ist und, so traurig sich das vielleicht anhören mag, an sich auch ihr einziger enger Kontakt. Möglicherweise abgesehen von Andreas.

Er fragt noch irgendetwas, aber der lautstarke Alphamann ihnen gegenüber, der seit seinem großartigen Erscheinen vor einer Dreiviertelstunde Hof hält, sagt etwas Lustiges, und das Gelächter der übrigen Gäste übertönt Niklas’ Stimme.

Sie hätte dieses Abendessen absagen sollen, ganz wahrheitsgemäß erklären sollen, dass sie Kopfschmerzen hat und außerdem einen Haufen Arbeit. Aber sie hatte Stephanie versprochen zu kommen. Versprochen, sich gut zu benehmen und dem nervösen Niklas eine Chance zu geben.

»Es ist wichtig, dass du back in den Sattel steigst, Laura. Find somebody new. Yihaa!«

Letzteres hat Stephanie ehrlicherweise nicht gesagt, das hat Laura für sich hinzugefügt. Sie nimmt einen kräftigen Schluck Wein und denkt sich, dass sie ungerecht ist. Steph ist in den USA aufgewachsen und spricht daher beide Sprachen gleichzeitig. Manchmal hat Laura den Eindruck, dass sie es absichtlich macht, die Mischung übertreibt, um sich von der Menge abzugrenzen, was kaum nötig ist.

Sie schaut zum Kopfende des Tisches. Steph ist wie immer hübsch und trägt ein genau im richtigen Maße ausgeschnittenes Kleid. Das blonde Haar ist perfekt geföhnt, sie hält den Kopf auf eine Art und Weise schief, dass alle Männer in ihrer Nähe ihr sofort zu Füßen liegen. Steph ist zwei Jahre älter als sie, aber die Schönheitsoperationen, die sie hat machen lassen, sind so diskret und professionell, dass niemand sie auch nur auf einen Tag älter als vierzig schätzen würde.

Laura selbst sieht exakt wie fünfundvierzig aus. Sie hat Krähenfüße in den Augenwinkeln und eine Sorgenfalte auf der Stirn, die auf der kreideweißen Haut, wie nur Rothaarige sie haben, besonders gut sichtbar ist. Die Haarfarbe und den Hautton hat sie von ihrem Vater geerbt, den verbissenen Ausdruck um ihren Mund herum hat sie sich dagegen selbst zugelegt.

Laura trägt ein langärmeliges Hemd und darüber eine Kaschmirjacke, und obwohl es im Raum so heiß ist, dass einige Herren schon ihre Krawatten gelöst haben, sind ihre Finger und ihre Nasenspitze eiskalt. Das sind sie immer, das ganze Jahr hindurch, dank des Winterfeuers. Oder besser gesagt: wegen. Dankbarkeit verspürt sie deshalb nicht.

Sie und Steph sind in vielen Dingen das genaue Gegenteil. Steph ist offen und extrovertiert, hat sich ganz allein eine eigene Firma aufgebaut. Sie selbst hat die ihres Vaters übernommen. Sie hat sich an den gedeckten Tisch gesetzt, wie ihre Mutter ihr gegenüber in regelmäßigen Abständen hervorhebt.

Stephanie muss Lauras Blick gespürt haben, denn sie schaut in ihre Richtung und nickt vielsagend. Sie weiß, was das heißt. Reiß dich zusammen, Laura, gib ihm eine Chance.

Sie seufzt innerlich und wendet sich dann Niklas zu. Sie versucht, nicht auf den Fleck auf seiner Krawatte zu schauen.

»Entschuldige, ich habe nicht ganz verstanden, was du gesagt hast.«

Niklas errötet.

»Ach, ich habe nur gefragt, ob du auch in der Investmentbranche tätig bist.«

»Nein, ich arbeite im Risikomanagement. Vor allem im soften Sektor.«

Niklas schaut verständnislos drein, und ihr wird klar, dass sie die Antwort genauer erklären muss.

»Wir schätzen Menschen ein. Ob sie für eine Beförderung oder Anstellung geeignet sind. Vielleicht hast du schon mal den Begriff Screening gehört?«

»Du meinst, dass ihr das Strafregister anschaut und so was …?«

Sie hört an seinem Tonfall, dass er nicht versteht, was nicht weiter verwunderlich ist. Ihr Arbeitsfeld ist gelinde gesagt klein.

»Das Strafregister ist nur ein kleiner Teil. Wir wollen ein vollständigeres Bild von einer Person bekommen. Die ökonomischen Verhältnisse überprüfen, die Familienverhältnisse, mit alten Lehrern sprechen, früheren Arbeitgebern, Kollegen. Zusammengenommen führen wir über hundert verschiedenen Kontrollen durch und laden manchmal auch noch zu intensiven Interviews ein.«

Sie lässt weg, dass Letzteres ihre besondere Spezialität ist, sie will ihn nicht unnötig erschrecken. Tatsächlich hat sie sich das meiste, was Niklas angeht, schon zusammengereimt, oder zumindest das Wichtigste. Sodass sie absolut nicht daran denkt, ihn noch einmal zu treffen, egal, was Steph sagt.

»Wer sind eure Kunden?«

Eine gute Frage, das musste man ihm lassen. Wenn das ein Interview wäre, würde sie jetzt einen kleinen Schnörkel in die eine Ecke ihres Auswertungsformulars kritzeln, um zu markieren, dass er schlauer war, als er aussah.

»Vor allem Personalberater«, antwortet sie. »Aber auch Unternehmen oder Behörden, die intern auf Führungspositionen oder hohe Chefposten befördern. Manchmal sind es auch Investoren, die wissen wollen, mit wem sie es zu tun haben.«

»Wie Stephanie?«

»Genau.«

Gerade als Laura die Höflichkeit erwidern und Niklas nach seinem Job fragen will, mischt sich das Alphamännchen in ihre Unterhaltung ein. Er ist etwa fünfzig Jahre alt, und sie braucht nicht auf sein Namensschildchen zu schauen, um zu wissen, wie er heißt.

»Du arbeitest also im Bereich Personalberatung?«

Das Alphatier hat bereits die Aufmerksamkeit des restlichen Tisches, sodass sich jetzt alle Blicke auf sie richten.

»Nein«, antwortet Laura schroff, weil sie schon weiß, worauf er hinauswill.

Aber so einfach lässt er sich natürlich nicht abwimmeln.

»Ich bin nämlich auf der Suche nach einer neuen Herausforderung.«

Sie schüttelt den Kopf.

»Wie gesagt, ich mache keine Personalberatung.«

Aber das Alphatier hört nicht zu.

»Ich erhöhe in der Regel den Umsatz schon im ersten Jahr um mindestens zehn Prozent«, sagt er. »Diese Woche war ein Artikel über mich in der DI, hast du ihn gesehen?«

Laura wendet sich demonstrativ an Niklas, aber das Alphatier versteht den Wink nicht.

»Mindestens einmal pro Woche rufen mich Headhunter an«, fährt er fort. »Manchmal bieten sie reine Fantasiegehälter. Aber ich suche nach der richtigen Herausforderung. Was hast du gesagt, für welche Firma du arbeitest, Lena?«

Steph greift ein, bevor Laura dazu kommt, ihn abzufertigen.

»Laura ist Geschäftsführerin ihres eigenen Unternehmens, Tobias. Sie schätzt solche Leute wie dich ein, sucht nach euren Schwachstellen. The skeletons in your closets. Du solltest dich lieber vor ihr in Acht nehmen.«

Vereinzelt bricht Gelächter aus, und hätte Tobias auch nur das kleinste bisschen Fingerspitzengefühl, hätte er die Sache auf sich beruhen lassen. Stattdessen beugt er sich über den Tisch.

»So, so. Na, wie würdest du mich denn einschätzen, Laura? Welche Schwächen habe ich?«

Er lächelt breit, zeigt seine frisch gebleichten Zähne und nimmt einige der übrigen Gäste für sich ein.

Laura bemerkt Stephanies Blick, und natürlich sollte sie den Mund halten, aber Alpha-Tobias sieht so selbstgefällig aus, wie es nur eine gewisse Sorte Mann kann. Er hat wirklich darum gebeten.

Steph schüttelt den Kopf, aber Laura beschließt, nicht in ihre Richtung zu schauen.

»Ich habe schon massenhaft Leute wie dich getroffen«, brüstet sich Tobias. »Hobbypsychologen, die glauben, sie könnten Menschen dadurch einschätzen, dass sie sie einen blöden Test ausfüllen lassen. Kannst du deine drei größten Schwächen aufzählen? Welche Farbe verknüpfst du mit deiner Persönlichkeit? Wenn du ein Auto wärst, welche Marke wärst du dann? Das ist doch alles Bullshit.«

Er lacht laut und erhält wieder Rückendeckung von einigen, hauptsächlich männlichen Gästen. Gestärkt von der Unterstützung beugt er sich noch weiter vor und streckt einen Zeigefinger aus, der eine dünne, klebrige Haut über dem Nagel hat.

»Aber mach ruhig, Laura, give me your best shot!«

»Okay, aber vergiss nicht, dass es deine Idee war.«

Sie trinkt einen Schluck Wasser, stellt das Glas ab und studiert Tobias dabei gründlich. Sie lässt den Blick von der Rötung an seinem Haaransatz über den Oberkörper bis zu den Händen wandern. Am Tisch ist es mucksmäuschenstill geworden.

»Du bist verheiratet«, beginnt sie. »Aber das da ist nicht deine Gattin.«

Sie deutet mit einem Nicken auf die zwanzig Jahre jüngere Frau, die zwei Stühle weiter sitzt und mit Tobias gekommen ist.

»Du bist mit dem Auto hierhergefahren, um die Gelegenheit zu nutzen, ihr deinen teuren Wagen vorzuführen. Theoretisch könnte er von einer italienischen Marke sein, aber um die richtig gut fahren zu können, braucht es Zeit, und du bist nicht der Typ, der Geduld hat, deshalb tippe ich auf einen leichter zu manövrierenden Porsche.«

Tobias’ Blick flackert.

»Eigentlich hast du schon zu viel getrunken, aber du willst trotzdem nach Hause fahren, damit dein teures Gefährt nicht an der Straße parken muss. Was wiederum bedeutet, dass du dich weder um die Risiken und Konsequenzen für dich noch für andere scherst. Da du mit dem Auto gekommen bist, wohnst du nicht in der Stadtmitte, sondern vermutlich auf Lindingö oder in Djursholm. Deinen übertriebenen »I«s nach zu urteilen, tippe ich auf Ersteres, deine Satzmelodie deutet allerdings darauf hin, dass du irgendwo an der Westküste geboren und aufgewachsen bist.«

Sie macht eine Pause, lässt ihn einen Moment lang zappeln und bemüht sich, Stephs Blick nicht zu begegnen. Das hier ist einfach zu leicht. Und es macht Spaß.

»Dein Anzug ist von Brioni, deine Uhr eine Rolex, die Krawatte von Fendi«, fährt sie fort. »Natürlich in Rot, denn in irgendeiner Autobiografie hast du gelesen, dass das die Farbe der Macht ist. Autobiografien sind im Übrigen das Einzige, was du liest. Und du hast erst vor Kurzem eine Haartransplantation machen lassen.«

Sie lehnt sich zurück. Versucht, nicht allzu selbstgefällig auszusehen.

»Fazit: Du bist eine risikofreudige Midlife-Crisis auf zwei Beinen. Wie gefällt dir diese Einschätzung?«

Am Tisch herrscht immer noch Totenstille. Tobias schnappt nach Luft, als wäre er kurz davor zu explodieren.

Ohne Vorwarnung beginnt Steph zu lachen. Sie bricht in ein lautes, ansteckendes Gelächter aus, das die anderen mitreißt und die Stimmung schnell wieder entspannt.

»Sag nicht, dass ich dich nicht gewarnt habe«, ruft sie, als das Gelächter in ein vergnügtes Murmeln übergegangen ist. »Laura ist fucking lebensgefährlich.«

Tobias kippt den Inhalt seines Weinglases hinunter.

»Verdammt, woher weißt du das alles?«

Er klingt gekränkt, aber auch ein wenig beeindruckt.

»Willst du das wirklich wissen?«, fragt Laura.

Das Gemurmel am Tisch hört wieder auf. Sie sieht ihn ruhig an.

»Ich habe den Artikel über dich in der Zeitung gelesen. Da stand, woher du kommst, wo du wohnst und dass du seit vielen Jahren verheiratet bist. Aber deine Begleitung trägt keinen Ehering.« Sie deutet wieder auf die jüngere Frau, deren Hände auf der Tischdecke zu sehen sind. »Auf dem Foto in der Zeitung hattest du außerdem einen höheren Haaransatz.«

Und du hast etwas Klebriges auf den Fingern, das wahrscheinlich Rogaine ist, denn falls die Transplantation nicht glücken sollte, kannst du dir nichts Schlimmeres vorstellen, als eine Glatze zu bekommen. Diese Erkenntnis behält sie allerdings für sich. Es gibt trotz allem Grenzen.

Tobias errötet wieder. Der Schock und die Verwunderung haben sich inzwischen gelegt. Jetzt ist er wütend, fühlt sich gedemütigt und überlegt wahrscheinlich gerade, ob er sie eine Bitch nennen, aufstehen und hinausstürmen soll oder ob er so tun soll, als halte er ihr die andere Wange hin und sei ein guter Verlierer. Sie vermutet Letzteres. Alles andere wäre dämlich.

»Und das Auto?«, fragt ihr Tischherr. »Woher wusstest du, dass er Porsche fährt?«

Sie zuckt mit den Achseln.

»Er ist direkt nach mir gekommen und hat draußen geparkt. Ich habe gesehen, wie sie aus dem Wagen stiegen, als ich zur Tür ging.«

Wieder bricht Gelächter aus. Tobias bleibt sitzen, grinst verlegen und gibt sogar vor, an dem Spaß teilzuhaben. Eine kluge Entscheidung.

Eine der Frauen am Tisch lacht so heftig, dass sie kaum noch Luft bekommt. Sie greift nach ihrem Wasserglas, wirft es um, und als sie sich vorbeugt, gerät eine ihrer Locken zu nahe an eine brennende Kerze.

Laura sieht, was gleich passieren wird, und öffnet den Mund, um die Frau zu warnen. Aber es ist zu spät. Eine Stichflamme, dann ein Schrei.

Nach einem kurzen Augenblick ist alles vorüber. Die Locke ist verbrannt, die Flamme gelöscht. Alles, was zurückbleibt, sind aufgeregte Stimmen und der beißende Geruch nach verbranntem Haar.

Die gesamte Aufmerksamkeit richtet sich auf die Frau, daher merkt niemand, dass Laura aufsteht und aus dem Zimmer eilt. Ihr Magen zieht sich zusammen, sie spürt kalten Schweiß im Nacken.

Sie schafft es gerade noch, die Toilettentür hinter sich abzuschließen, den Wasserhahn aufzudrehen und ihre Haare beiseitezuschieben, bevor sie ins Waschbecken bricht.

Hinterher spült sie sich den Mund aus, schnäuzt sich mehrmals, um den Geruch nach verbranntem Haar aus der Nase zu bekommen. Doch er scheint sich festgebissen zu haben.

Sie schaut sich im Spiegel an und stellt fest, dass sie womöglich noch blasser als sonst aussieht.

»Beruhige dich«, murmelt sie. »Ganz ruhig.«

Nach einer Weile geht es ihr besser. Sie lauscht Richtung Esszimmer. Die aufgeregten Stimmen haben sich gelegt. Ein leichter Luftzug verkündet, dass jemand ein Fenster geöffnet hat.

So im Nachhinein muss sie sich eingestehen, dass es keine gute Idee war, Tobias so herunterzumachen. Wenn sie nicht ihre Show abgezogen hätte, hätten die Haare der Frau nicht Feuer gefangen, und sie selbst würde nicht hier stehen und Erbrochenes aus Stephs Marmorwaschbecken spülen.

Ihre Kopfschmerzen sind schlimmer geworden, und am liebsten möchte sie einfach nach Hause fahren, sich einigeln und nichts mit Menschen zu tun haben müssen. Aber sie will Steph nicht enttäuschen.

Sie holt ihr Handy aus der Handtasche. Eine SMS und zwei verpasste Anrufe. Der erste stammt von einem Kontakt namens Ex-Mann/Stalker Andreas.

Einer von Stephs kleinen Scherzen, den sie so hat stehen lassen. Sie ist schließlich selbst schuld, weil sie ihr Handy einen Moment lang unbeaufsichtigt ließ. Außerdem ist es nicht ganz falsch.

Ein gutes Jahr nach der Scheidung ruft Andreas immer noch fast täglich an. In den letzten Wochen haben die Telefonate zugenommen. Natürlich sollte sie ihn bitten, damit aufzuhören. Ihm erklären, dass sie beide mit ihrem Leben vorankommen sollten. Doch sie hat es nicht getan.

Der zweite verpasste Anruf ist von einer Nummer, die sie nicht kennt. Eine Festnetznummer mit einer Vorwahl, die ihr vage bekannt vorkommt.

Sie öffnet eine Such-App. Die Telefonnummer gehört zu einer Kanzlei Håkansson in Ängelholm, und sobald sie den Ortsnamen gelesen hat, beginnt eine schwache Alarmglocke in ihrem Hinterkopf zu läuten. Ohne lange darüber nachzudenken, ruft sie an. Aber eigentlich erwartet sie nicht, dass am Freitagabend um acht Uhr jemand ans Telefon geht.

»Håkansson.«

Der Mann am anderen Ende spricht einen knarrigen, schonischen Dialekt.

»Hallo, ich heiße Laura Aulin. Sie haben mich vorhin angerufen?«

»Ach, wie gut, dass Sie zurückrufen …«

Sie hört das Rascheln von Papier.

»Also, es geht um Ihre Tante. Hedda. Hedda Aulin. Haben Sie kürzlich mit ihr gesprochen?«

Die Alarmglocken läuten immer stärker, und Laura spürt die Übelkeit wieder in sich aufsteigen.

»Wir … haben keinen Kontakt.«

»Nicht?«

»Nein, schon seit vielen Jahren nicht mehr. Ist ihr etwas zugestoßen?«

Die kurze Stille beantwortet die Frage. Sie schluckt.

»Mein aufrichtiges Beileid, Ihre Tante ist leider von uns gegangen.«

»Wann?«

»Irgendwann in der Nacht zu Montag, wird vermutet.«

Ohne Vorwarnung beginnt es am Rücken unter ihrer Haut zu kribbeln. Eine schmerzhafte Kombination aus Wärme und Kälte, die sie seit Jahren nicht mehr gespürt hat. Jedenfalls nicht im Wachzustand.

»Tja, wie auch immer …«, fährt Håkansson fort. »Ihre Tante hat mich neulich kontaktiert, um ein Testament aufzusetzen. Sie sind die Alleinerbin.«

Er verstummt, wartet darauf, dass Laura etwas erwidert, aber sie weiß nicht, was sie sagen soll.

»Wie Sie sicher verstehen, gibt es hinsichtlich der Hinterlassenschaften einige praktische Entscheidungen zu fällen«, redet er weiter.

»Ja … ich verstehe«, quetscht sie hervor. »Kann ich Sie morgen wieder anrufen?«

»Montag reicht völlig. Es eilt nicht direkt. Wie gesagt, mein Beileid. Ihre Tante war …« Er zieht den Satz in die Länge, als suche er nach den richtigen Worten. »Eine sehr spezielle Frau.«

Das Gespräch endet, und Laura bleibt mit dem Handy am Ohr stehen. Die Haut an ihrem Rücken brennt wie Feuer, Schweißtropfen bahnen sich ihren Weg zum Hosenbund hinunter. Ihr restlicher Körper ist eiskalt.

2

Wasser ist nichts, wovor man Angst haben muss, Laura. Nicht, solange man Respekt davor hat.

Heddas Worte hallen durch Lauras Kopf, während sie schwimmt.

Der Pool in der Spa- und Fitnessetage des Gebäudes ist zwanzig Meter lang, und Laura durchpflügt eine Bahn in fünfzehn Sekunden. Sie atmet nur unmittelbar nach der Rollwende und macht gleichmäßige Bewegungen, bei denen sie nicht unnötig Sauerstoff verbraucht. Sie schwimmt eine Bahn nach der anderen und hat normalerweise nichts im Kopf als das Geräusch des Wassers und das Pochen des Pulses gegen die Schläfen. Aber heute ist es anders. Die Gedanken kreisen, Stimmen und Erinnerungen werden wach.

Sie war nie gut in Sport. Vor allem nicht in Sportarten, in denen man zusammenspielen musste. In den teuren Privatschulen hatte sie genug Gelegenheit, das herauszufinden.

Mit dem Schwimmen war es anders. Da gab es keine Mannschaftskameraden oder Bälle. Nicht einmal wirkliche Gegner. Nur sie und das Wasser.

Es war Hedda, die ihr beigebracht hat, richtig zu schwimmen. Davor hatte sie Schwimmunterricht in Singapur bekommen. Sie schaffte gerade einmal eine panische Bahn Hundekraul mit einem Privatlehrer neben sich, während ihre Mutter auf einem Liegestuhl saß und in der Vogue blätterte.

Hedda hatte ihre Angst bemerkt, und an einem Sommerabend nahm sie sie mit hinaus zu dem kleinen Ruderboot. Laura war damals sieben Jahre alt, aber sie erinnert sich noch an das kleinste Detail. An den Vollmond und den Sternenhimmel über ihnen. Die Stille, als Hedda die Ruder mitten auf dem See hochzog.

»Der See trägt dich«, sagte sie. »Du musst ihm nur vertrauen. Und ich bin direkt hinter dir. Auf dem ganzen Weg zurück nach Hause.«

Sie deutete auf den Strand, wo die Lichter der Ferienhäuser zu sehen waren.

»Bist du bereit?«

Laura atmete ein, nickte. Dann kippte Hedda das Boot um.

 

Laura duscht wie immer in der Kabine ganz links, in der alle Fugen zwischen den Kacheln sauber sind und der Wasserstrahl am gleichmäßigsten herabströmt. Bevor sie hineingeht, spritzt sie sorgfältig die Wände und den Boden ab. Die schwarze Sprühflasche, die sie bei sich hat, beinhaltet zur Hälfte Wasser, zur Hälfte Chlorlauge. Eine Mischung, die garantiert die meisten Mikroorganismen abtötet, die sich auf dem Boden befinden können. Trotzdem behält sie die Badeschlappen an.

Ihr Badeanzug ist langärmelig, er erinnert an einen Neoprenanzug, und sie zieht ihn erst aus, nachdem sie die Duschkabinentür hinter sich geschlossen hat. Hier drin kann niemand sie sehen, und sie braucht nicht den Rücken zur Wand zu drehen, während sie duscht.

Hedda und sie wiederholten diese erste Schwimmtour jeden Sommer. Gemeinsam kippten sie das Boot um, obwohl es eigentlich nicht mehr nötig war. Wenn das Wasser richtig warm war, hatten sie es nicht eilig, zum Strand zu kommen, dann lagen sie stattdessen draußen auf dem See auf dem Rücken und ließen sich treiben, während sie Hedda erklärte, wie die verschiedenen Sternbilder hießen.

Das kleine Ruderboot lag am nächsten Morgen für gewöhnlich am Ufer direkt vor dem Haus.

»Das Boot kennt den See genauso gut wie ich. Es findet allein nach Hause.«

 

Als sie fertig geduscht hat, wickelt sie sich in den Bademantel, zieht die Kapuze über den Kopf und fährt mit dem Fahrstuhl direkt in ihre Wohnung. Während sie geschwommen ist, war die Putzfrau da. Jetzt ist sie wieder verschwunden und hat nichts anderes hinterlassen als einen schwachen Geruch nach Sauberkeit.

Laura kickt die Badeschlappen weg und geht barfuß über den glatten Kalksteinboden. Unterwegs richtet sie die kleine Guan-Di-Statue, die den Eingang vor bösen Geistern bewacht und die von der Putzfrau beim Abstauben der Kommode ein paar Millimeter verschoben wurde.

Die Fußbodenheizung in der Wohnung ist voll aufgedreht, das Thermostat zeigt fünfundzwanzig Grad an. In einer Ecke steht ein Kamin. Das Feuer ist eigentlich eine Gasflamme, die sich steuern und kontrollieren lässt und hinter Panzerglas eingekapselt ist. Laura zündet das Feuer mit einer Fernbedienung an und vermeidet es, die Flammen anzuschauen. Dann zieht sie ihre Fellpantoffeln an.

Es ist kurz nach drei an einem Samstagnachmittag. Über den schneebedeckten Dächern von Stockholm wird es allmählich dunkel. In der Wohnung ist es still, das einzige Geräusch ist das schwache Rauschen des Verkehrs tief unten auf der Straße. Laura macht noch nicht das Licht an, sie nimmt das Handy von der Ladestation. Keine Nachrichten oder verpassten Anrufe. Nicht, dass sie welche erwartet hätte. Sie ist es, die jemanden anrufen müsste. Sie hätte es schon heute Morgen machen sollen, aber sie hat es hinausgezögert.

»Madeleine Aulin.«

Im Hintergrund sind Stimmen zu hören.

»Hallo, Mama. Ich bin’s. Bist du beschäftigt?«

»Pierre und ich haben Gäste.«

»Aus Schweden?«

»Ja. Nur ein paar alte Bekannte.«

Ein schwach veränderter Tonfall, den Laura sofort durchschaut.

»Ist Marcus da?«

Die kurze Pause beantwortet die Frage.

»Sie sind gestern gekommen. Ganz kurzfristig. Er hatte so viel Stress, und das Au-pair kümmert sich um die Kinder, bis die Weihnachtsferien beginnen.«

Laura presst die Zähne zusammen. Rein formell ist sie Marcus’ Chefin, aber natürlich hat ihr kleiner Bruder mit keinem Wort erwähnt, dass er vorhatte, sich freizunehmen. Und schon gar nicht, dass er zu ihrer Mutter und Pierre nach Mallorca reisen wollte.

Ihre Mutter deutet Lauras Schweigen auf ihre Weise.

»Wir sind nicht davon ausgegangen, dass du kommen kannst. Marcus sagte, du hättest viel zu tun. Aber natürlich bist du jederzeit willkommen. Das weißt du.«

Laura bewegt die Kiefer, um die Spannung zu lösen. Natürlich kann sie die Einladung nicht annehmen, teils weil die nicht von Herzen kommt, teils weil sie sich kaum etwas Grässlicheres vorstellen kann, als in der protzigen spanischen Villa von ihrer Mutter und Pierre zusammen mit Marcus’ lauter Familie Weihnachten zu feiern. Aber wenn sie ablehnt und es wie immer, wenn eine Familienzusammenkunft ansteht, auf die Arbeit schiebt, würde sie ihnen recht geben. Sie würde damit gutheißen, dass die Familie sie ausgeschlossen hat.

»Hast du eigentlich mit Andreas gesprochen?«, fragt ihre Mutter, bevor sie einen Entschluss fassen kann.

»Wieso?«

Die Frage überrascht sie und gleichzeitig auch wieder nicht.

»Marcus hat ihn neulich zufällig am Stureplan gesehen, zusammen mit einer Frau. Es schien ihm etwas peinlich?«

Ihre Mutter lässt das Letzte wie eine Frage klingen. Als würde sie irgendeine Erklärung erwarten.

»Wir sind seit einem Jahr geschieden. Andreas darf treffen, wen er will.«

Ein kurzes Geräusch im Hörer. Vielleicht ein Schnauben.

»Tja, nicht einmal seine Geduld ist endlos.«

Sie hat auf diesen Kommentar gewartet, seit der Name Andreas fiel. Die säuerliche kleine Bemerkung, die Laura daran erinnert, dass sie sich lächerlich benimmt. Dass sie so schnell wie möglich aufhören sollte, Ärger zu machen, und Andreas bitten sollte, sie zurückzunehmen, bevor es zu spät ist.

»Hast du gewusst, dass Tante Hedda tot ist?«

Ein Feuerzeug klickt. Ihre Mutter raucht immer noch, obwohl ihr Vater an Lungenkrebs gestorben ist. Ein langes Ausatmen, ein Seufzer voller Tabakrauch, während Lauras Gehirn automatisch das Krankheitsrisiko nach fünfundfünfzig Jahren Nikotinkonsum bewertet.

»Ja, ich habe davon gehört«, sagt ihre Mutter. »Traurig.«

»Warum hast du mich nicht angerufen und es mir erzählt?«

Stille, noch ein Rauchseufzer.

»Ich habe einfach nicht daran gedacht. Pierre und ich waren ziemlich mit dem Haus beschäftigt. Und du hast doch wohl auch genug zu tun? Wie hast du überhaupt davon erfahren?«

»Gestern Abend hat mich ein Anwalt angerufen. Hedda hat mir Gärdsnäset vererbt.«

»Aha.«

Laura erahnt die Unruhe hinter dem neutralen Wort.

»Warum hat sie das wohl gemacht, glaubst du?«

»Keine Ahnung. Hedda war immer etwas eigen. Wie du sicher weißt, war sie nicht einmal so höflich, sich zu melden, als dein Vater starb. Ihr eigener Bruder. Nach allem, was wir für sie getan hatten. Was willst du überhaupt mit einem alten Feriendorf?«

Wieder lag Schärfe in der Stimme. Wie eine Andeutung, dass Laura etwas falsch machte oder gemacht hatte. Sie zog es vor, das zu ignorieren.

»Die Beerdigung ist am Samstag. Ich habe vor, hinzufahren.«

Wieder ein Zigarettenzug.

»Denkst du, dass das so klug ist?«

»Ich bin Heddas nächste Angehörige.«

»Du fährst also nur deshalb hin? Weil du so gutmütig bist?«

Laura presst wieder die Kiefer aufeinander.

»Es ist wohl eher wegen ihm?«, fährt ihre Mutter fort. »Dem Findelkind?«

Das Gefühl, durchschaut worden zu sein, treibt ihr die Hitze ins Gesicht.

»Er heißt Jack.«

Ihre Mutter schnaubt.

»Er ist abgehauen, weißt du das nicht mehr? Er hat dich im Stich gelassen, als du es besonders schwer hattest.«

»Ja, ich erinnere mich.«

Die Worte schneiden ihr ins Herz, vor allem, weil sie wahr sind.

»Du warst noch keine sechzehn, es war eine lächerliche Teenagerliebe. Und trotzdem kannst du nicht aufhören, an ihn zu denken. Du hoffst bestimmt, dass er bei der Beerdigung auftaucht.«

Laura zwingt sich, nicht darauf zu antworten.

»Wenn ich du wäre, würde ich mich fernhalten. Gärdsnäset ist ein schrecklicher Ort, und nach allem, was passiert ist, begreife ich nicht, dass du überhaupt …«

Ihre Mutter unterbricht sich, zieht zweimal kurz an der Zigarette.

»Was ich versuche zu sagen, Laura …« Ihre Stimme ist weicher geworden, fast ein bisschen besorgt. »Man sollte nicht an der Vergangenheit rühren. Das führt selten zu etwas Gutem, glaub mir.«

 

Laura steht im Schlafzimmer vor dem großen Wandspiegel. Sie zögert einen Augenblick, bevor sie den Bademantel öffnet und ihn zu Boden fallen lässt. Die letzte verbliebene Wärme vom Duschen entschwindet, sie schaudert.

Der Raum ist dunkel, nur ein kleiner Lichtstrahl findet seinen Weg hinein und lässt ihre Haut noch blasser aussehen als sonst. Laura löst den Knoten im Nacken und schüttelt ihr rotes Haar aus, sodass es über ihre Schultern fällt. Dann verschränkt sie die Arme vor der Brust. Ohne den Blick vom Spiegel zu wenden, dreht sie langsam den Oberkörper. Der Fleck beginnt auf der unteren Hälfte des linken Schulterblatts. Je weiter sie sich dem Spiegel zudreht, desto mehr wächst er, wird zu einem großen Feld rauen Narbengewebes, das sich von der Schulter schräg den Rücken hinunter ausbreitet. Sie zittert wieder.

Einige kurze Augenblicke lang kann sie sich an alles erinnern. An das Prasseln der Flammen, den Geruch nach Ruß, verbranntem Haar und Fleisch, der so intensiv ist, dass sie ihn im Mund schmecken kann.

Den Schmerz am Rücken, der zugleich heiß und kalt ist.

Dann das schwebende Gefühl, als jemand sie über das Eis trägt, immer näher an das schwarze, kalte Wasser dort draußen. Und zum Schluss die Schreie. Ihr eigener und der von jemand anderem.