Alex Wu
Gebrauchsanweisung
für den
menschlichen Körper
Neue Erkenntnisse,
wie der Körper sich selbst heilt
Aus dem Englischen von Jochen Lehner
Aus dem Russischen von Markus Maneljuk
Knaur e-books
© Alex Wu
Alex Wu beschäftigt sich seit 20 Jahren mit chinesischer Medizin. Der studierte Computer-Ingenieur litt selbst unter mehreren chronischen Beschwerden, die er aber mithilfe von TCM erfolgreich in den Griff bekam. Dies löste sein Interesse an TCM aus. Sein intensives Studium der Konzepte der chinesischen Heilkunst legte den Grundstein für sein erstes Buch »Wie der Körper sich selbst heilt«. Wu landete damit einen Bestseller in China.
Die chinesische Originalausgabe erschien 2019 unter dem Titel »The User’s Manual for Human Body 2« bei Guangzhou Shengya Culture Communication Co. Ltd., China. Die russische Originalausgabe erschien 2017 unter dem Titel »Инструкция по применению человеческого организма« bei Neoglory Publishing House, Russland. Die Kapitel 5 und 6 der deutschen Ausgabe über chronische Krankheiten und Irrwege der modernen Medizin basieren auf der russischen Ausgabe.
© 2017, 2019 by Alex Wu
© 2020 der deutschsprachigen Ausgabe Knaur Verlag
© 2020 der eBook-Ausgabe Knaur eBook
Ein Imprint der Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.
Redaktion: Anke Schenker
Covergestaltung: ZERO Werbeagentur, München
Alle Abbildungen im Innenteil von Alex Wu: Abb. 2, 3, 5, 6 von Peter Palm, Berlin, nach Alex Wu; alle Grafiken von le-tex publishing services GmbH, Leipzig, nach Alex Wu.
ISBN 978-3-426-45716-0
Bei einem meiner männlichen Verwandten wurde Psoriasis diagnostiziert. Als der Arzt ihm eröffnete, diese Krankheit sei nicht vollständig zu heilen, war mein Verwandter am Boden zerstört. Den meisten geht es so, wenn sie sich anhören müssen, sie hätten etwas, wogegen die moderne Medizin nicht viel vermag. Dann bleibt ihnen nur noch die Hoffnung, dass vielleicht irgendein Pharmaunternehmen ein Medikament entwickelt, mit dem sie doch noch gerettet werden können.
Das haben die Pharmaunternehmen zwar schon bei vielen chronischen Krankheiten versucht, aber in den meisten, wenn nicht in allen Fällen, ohne überzeugenden Erfolg. Ich glaube nicht, dass es sich hierbei um die unvermeidlichen Fehlversuche vor dem schließlich doch eintretenden durchschlagenden Erfolg handelt. Eher sind es wohl Zeugnisse einer völlig verfehlten Ausrichtung der modernen Medizin. In der Medizin ging und geht es überwiegend darum, chemische Missverhältnisse im Körper irgendwie zu korrigieren. Aber wenn die Ursachen für eine Erkrankung eher in den alltäglichen Gewohnheiten der Person zu suchen sind, wird man mit dem bloßen Ausgleich des dadurch entstehenden stofflichen Ungleichgewichts keine dauerhafte Heilung bewirken.
Eine chronische Krankheit – der Name sagt es eigentlich schon – entsteht nicht von heute auf morgen und heilt auch nicht über Nacht. Sie entsteht mit der Zeit, durch ungesunde Lebensgewohnheiten, die die gut geölte Maschinerie des Körpers schließlich zermürben. Medikamente mögen wohl auf der stofflichen Ebene ausgleichend wirken, aber das eigentliche Problem bleibt unberührt, und so müssen auch die Ergebnisse unbefriedigend bleiben.
Ein Jahr lang unterstützte ich diesen Verwandten bei der Umstellung seiner Lebensweise und gab ihm zusätzlich auch noch einfache Meridianmassagen. Seine Psoriasis heilte ab.
In diesem Buch wird es hauptsächlich darum gehen, dass chronische Krankheiten in vielen Fällen auf schlechte Angewohnheiten zurückzuführen sind. Wenn wir diesbezüglich dauerhafte Veränderungen vornehmen – wenn wir also unsere Gewohnheiten ändern –, können solche Krankheiten geheilt werden, und zwar ohne Medikamente. Demzufolge hängt die Genesung ganz wesentlich vom Engagement des Kranken selbst ab.
Schon lange wird bei der Komplementär- und Alternativmedizin das Fehlen der wissenschaftlichen Stichhaltigkeit bemängelt. Gegen Ende des vorigen Jahrhunderts haben Fachleute auf diesem Gebiet unter Hochdruck Diagnose- und Untersuchungsinstrumente entwickelt, um die Fortschritte ihrer Patienten zu erfassen und so die wissenschaftliche Geltung der alternativen Ansätze zu verbessern. Sie etablierten einen neuen Zweig der Komplementär- und Alternativmedizin, der sich »evidenzbasiert« nennt, also den Anspruch erhebt, wissenschaftlichen Kriterien zu genügen. Damit möchte man sich auf dem Gebiet der Behandlung chronischer Krankheiten einen Platz sichern und stichhaltige Wirksamkeitsnachweise liefern.
Die Traditionelle Chinesische Medizin (TCM) steht vor ähnlichen Problemen. Schon lange beteuert sie ihre Wirksamkeit bei chronischen Krankheiten, leidet aber wie die westliche Alternativmedizin daran, dass sie dem Kriterium der Wiederholbarkeit nicht genügt und keine präzise geführten Krankenakten vorweisen kann, sodass ihre Heilungsberichte als wenig überzeugend angesehen werden. Deshalb muss auch in der chinesischen Medizin jetzt dieses Umdenken in Richtung Evidenzbasierung stattfinden, damit hier ebenfalls ein neuer Zweig entstehen kann. Mir scheint, das sollte das Hauptziel aller Modernisierungsbemühungen sein.
Die zeitgenössische chinesische Medizin unterscheidet sich stark von der Praxis weit zurückliegender Zeiten. Für den größten Teil ihrer Geschichte war sie in China praktisch konkurrenzlos und bei allen Krankheiten das Mittel der Wahl. Heute ist sie auch in ihrem Ursprungsland nicht mehr das einzige oder auch nur wichtigste Heilsystem, zumal die westliche Medizin auf vielen Gebieten – bakterielle Infektionen, Chirurgie, Orthopädie, Zahnheilkunde, Verletzungen und so weiter – überzeugende Fortschritte vorzuweisen hat. Aber auf dem Gebiet der chronischen Krankheiten bleibt diese moderne Medizin weit hinter den Erwartungen zurück. Hier hat die chinesische Medizin noch Entwicklungspotenzial und könnte eine neue Blüte erleben.
Ein ganz wichtiger Faktor bei chronischen Krankheiten ist die Qualität des Schlafs. In der chinesischen Medizin gilt, dass ein Mensch durchaus noch Aussicht auf Genesung hat, solange er einigermaßen gut schlafen kann. Natürlich gilt umgekehrt auch, dass Schlaflosigkeit allen möglichen chronischen Krankheiten Vorschub leistet. Mit der Entdeckung der Dysautonomie, einer angeborenen oder erworbenen Störung des vegetativen oder autonomen Nervensystems, die mit Symptomen unterschiedlichster Art verbunden sein kann, ist die westliche Medizin dem Verständnis der Schlaflosigkeit etwas nähergekommen. Dysautonomie hat manches mit dem gemein, was in der TCM als Meridian-Ungleichgewicht bezeichnet wird. Aber mit der Bezeichnung Dysautonomie wird eigentlich nur die Existenz des Problems konstatiert, und tatsächlich weiß niemand so recht, wie es entstand und was man gezielt dagegen unternehmen kann.
In der Diagnostik der chinesischen Medizin wird zunächst ermittelt, ob zwischen den Meridianen ausgewogene oder unausgewogene Verhältnisse herrschen. Mit dem »Meridian-Monitoring-System« können wir diese Verhältnisse im Detail aufklären, um schließlich den Meridian (oder mehrere) herauszufinden, der oder die als Ursprung des Problems zu sehen sind. Danach kann man einen Behandlungsplan zur Korrektur des Ungleichgewichts aufstellen. In vielen Fällen genügt das bereits, um Schlafstörungen zu überwinden.
Im Jahr 2009 begann meine Zusammenarbeit mit Professor Chien-Te Chen, einem Wissenschaftler am National Synchrotron Radiation Research Center in Taiwan. Herr Chen hat viele Jahre auf dem Gebiet des Qigong geforscht, und mit seiner Hilfe gelang uns die Entwicklung eines Geräts für die Meridianbehandlung, das die Wirkungen des Qigong erzeugt. Mit diesem Gerät können wir Meridianpunkten Qi zuführen und so den Gesamtzustand des Meridians ändern. Nach jahrelangen Versuchen und immer weiteren Verfeinerungen des Verfahrens sind wir auf einen Behandlungsansatz gekommen, der das Meridian-Monitoring-System mit dieser Meridianbehandlung verbindet. Bis zum wissenschaftlichen Beweis der Wirksamkeit unseres Vorgehens liegt sicher noch eine Menge Arbeit vor uns, aber die Rückmeldungen der Patienten sind bisher sehr ermutigend.
Seit vielen Jahren arbeite ich daran, wissenschaftliche Instrumente und Geräte für die chinesische Medizin zu entwickeln, und im Jahr 2015 konnte ich schließlich bedeutende Fortschritte erzielen. Nachdem meine Mitarbeiter und ich etliche Jahre klinische Daten sammeln konnten, haben wir ein genaues Bild von der Wirksamkeit unserer Erfindungen und wissen, wie sie zur Modernisierung der chinesischen Medizin beitragen können.
Dieses Buch gliedert sich in zwei Hauptteile: Im ersten teilen wir unsere Erfahrungen auf dem Gebiet der Gesundheitsversorgung in den letzten Jahren mit, während es im zweiten um unsere Fortschritte bei der wissenschaftlichen Erforschung der chinesischen Medizin geht.
Nach dem Erscheinen meines ersten Buches wollten viele meiner Freunde wissen, wie ich im Zusammenhang mit Gesundheit auf einen Ausdruck wie »Gebrauchsanweisung« gekommen sei. Das lag daran, dass ich früher als Ingenieur und Produktentwickler in der Computerindustrie gearbeitet habe. Wenn ein Produkt marktreif geworden war, musste eine Bedienungsanleitung formuliert werden. Als ich zum ersten Mal den Kanon des Gelben Kaisers über Innere Medizin las, erstaunte es mich, dass dieser älteste Klassiker der chinesischen Medizin vieles mit dem gemein hatte, was ich unter einer Gebrauchsanleitung verstand.
Ein Computerhandbuch sagt normalerweise etwas über die Umgebung, in der das jeweilige System eingesetzt werden soll, es erklärt seine Grundfunktionen und wie eventuelle Fehlfunktionen behoben werden können. Die klassische Schrift des Gelben Kaisers über innere Medizin legt in den ersten Kapiteln das normale Lebensumfeld des Menschen dar, um dann die einzelnen Systeme des menschlichen Körpers zu erklären und schließlich zu erläutern, wie der Mensch entsprechend seiner Umwelt leben soll und was zu tun ist, wenn Krankheiten entstehen. Wo gegen die Gesetze des Lebens verstoßen wird, ziehen sich die Menschen Krankheiten zu. Ein Großteil des Buches widmet sich der Diagnose und Behandlung von Krankheiten, und das unterscheidet sich für mein Verständnis nicht sehr von einem Computerhandbuch.
Solch ein Handbuch wird, wie gesagt, oft vom Designer des Produkts verfasst, und der Kanon des Gelben Kaisers über Innere Medizin ist nach Aufbau und Inhalt ebenfalls aus der Sicht eines Designers geschrieben. Betrachten wir die moderne Medizin aus dieser Perspektive, so geht sie von der Anatomie aus. Sie versteht Krankheiten unter dem Gesichtspunkt der Symptome. Man könnte sagen, die moderne Medizin betrachtet den menschlichen Körper aus der Sicht des »Anwenders«, während die chinesische Medizin die Perspektive des »Designers« einnimmt.
Da ich, wie gesagt, früher Produktentwickler war, sehe ich bis heute viele Dinge – auch den menschlichen Körper – mit den Augen eines Designers. Immer wenn ich mich frage, wie man bei einer bestimmten Krankheit am besten vorgeht, denke ich zuerst: Wenn ich der Designer dieses Körpers wäre, wie hätte ich ihn gebaut und eingerichtet? Nachdem ich mich viele Jahre mit dem menschlichen Körper beschäftigt habe, bin ich zu der Ansicht gelangt, dass dieser Körper nahezu vollkommen ist und seine Selbstheilungsmechanismen alles in den Schatten stellen, was der Mensch auf dem Gebiet der Wissenschaft und Technik erreicht hat.
Bei der Entwicklung eines Computers muss man von vornherein auch an seine Instandhaltung denken. Deshalb sind hier Verschraubungen vorhanden, die man bei Wartungsarbeiten lösen kann, um an die einzelnen Komponenten heranzukommen. Doch neuerdings werden Computer zunehmend mit automatischen Funktionen zur Selbstdiagnose und Selbstreparatur – beispielsweise der Festplatte – ausgerüstet. Auch der menschliche Körper verfügt über solche Selbstheilungsmechanismen, er kann Probleme selbst diagnostizieren und auch reparieren. Die moderne Medizin hat sich jedoch bisher nur in sehr geringem Maße für dieses Selbstheilungssystem interessiert, was vor allem daran liegt, dass eine auf diesen Selbstheilungskräften aufbauende Medizin finanziell nicht viel abzuwerfen verspricht. Deshalb geht die moderne Medizin bei der Behandlung von Krankheiten erst einmal davon aus, dass der Körper bei irgendeinem seiner Prozesse Fehler macht, also nicht richtig funktioniert. Die daraufhin vorgeschlagenen Behandlungsmöglichkeiten berücksichtigen die Selbstheilungskräfte des Körpers im Allgemeinen nicht.
Für solche Behandlungen können wir wieder den Computer als Vergleich heranziehen und sagen, die Behandlung einer Krankheit habe etwas vom Umgang mit einem Computervirus. In diesem Vergleich sind die Ärzte der modernen westlichen Medizin wie Computerexperten, die keine Virensoftware einsetzen, sondern sich stattdessen mit jeder einzelnen Funktionsstörung des Computers herumschlagen und die infizierten Dateien eine nach der anderen wieder in Ordnung zu bringen versuchen. Das ist eine unglaublich langwierige Vorgehensweise, bei der man die Viren gar nicht so schnell bereinigen kann, wie sie immer weitere Bereiche des befallenen Computers infizieren. Kurz, so wird man des Virenbefalls nicht Herr. Moderne Computer-User besitzen meist gar nicht die Fähigkeit, infizierte Dateien einzeln von Viren zu befreien, sondern sie vertrauen hier Antivirenprogrammen, die das gesamte System zu entseuchen vermögen. Solche Programme arbeiten wie das Selbstheilungssystem unseres Körpers. Solange wir dieses System instandhalten, kann sich unser Körper selbst heilen.
Der Umgang der modernen Medizin mit chronischen Krankheiten erinnert ein wenig an einen Haufen Computerspezialisten, die gegen Viren keine Virensoftware einsetzen. Sie bemühen sich redlich, aber ihr falscher Ansatz führt zu unbefriedigenden Ergebnissen. Vielleicht ist so zu erklären, weshalb chronische Krankheiten in so vielen Fällen nicht geheilt werden können und die Kosten der medizinischen Versorgung immer weiter steigen. Würden wir uns mit der wirklich nützlichen »Software« des Körpers vertraut machen, vielleicht ließen sich dann Lösungen für diese chronischen Krankheiten finden.
Die Fähigkeit unseres Körpers, sich selbst zu reparieren, erstreckt sich auf viele Bereiche. Er kann Ungleichgewichte zwischen den Organen ausgleichen, alle möglichen Schäden selbst reparieren und sogar versagende Anteile des Körpers ersetzen. Für die Funktionsfähigkeit dieses Selbstheilungssystems muss lediglich dafür gesorgt sein, dass der Körper über genügend Energie verfügt oder, in Begriffen der chinesischen Medizin, ausreichend mit Blut und Qi versorgt wird. Und da solche Reparaturen überwiegend im Schlaf stattfinden, ist es sehr wichtig, dass der Mensch ausreichend schläft und sich gesunde Schlafgewohnheiten aneignet.
Um wirklich etwas gegen chronische Krankheiten ausrichten zu können, brauchen wir eine neue Form der Gesundheitsversorgung, die bei den Selbstheilungsmechanismen des Körpers ansetzt. Als ich erkannt hatte, wie viel diese Selbstheilungskräfte vermögen, begann ich mich der Entwicklung einer auf Selbstheilung ausgerichteten Praxis der chinesischen Medizin zu widmen. Wenn es gelingt, laufend den Zustand der verschiedenen Meridiane zu erfassen, vermittelt uns das ein Bild von den aktuellen Selbstheilungsprozessen des Körpers, das heißt, wir können verfolgen, was der Körper jeweils gerade unternimmt. Auf der Basis dieser Kenntnisse können wir verschiedene Behandlungsansätze ausprobieren, um die Selbstheilungsbemühungen des Körpers optimal zu unterstützen. Auch der längerfristige Krankheitsverlauf lässt sich so erfassen und beurteilen. Ich bin zuversichtlich, dass wir unsere Datenbasis in der Zukunft so erweitern können, dass es möglich wird, mit dieser neuen Anwendungsform der chinesischen Medizin auch bei chronischen Krankheiten in immer mehr Fällen entscheidende Verbesserungen zu bewirken.
Nach jahrlanger Forschungs- und Entwicklungsarbeit gelangten meine Kollegen und ich 2015 schließlich zum Entwurf einer solchen Form der Gesundheitsfürsorge, die die chinesische Medizin mit moderner Naturwissenschaft verbindet und beides leistet: Diagnostik und Behandlung. Dabei ist das Meridian-Monitoring-System das diagnostische Werkzeug, mit dem wir bei einem Patienten den Zustand der Meridiane erfassen können. Das Meridian-Monitoring-System arbeitet ähnlich wie die in der traditionellen Praxis der chinesischen Medizin angewandte Pulsdiagnose, nur ergibt sich daraus am Ende keine abstrakte Diagnose, sondern wir verfügen über konkrete Daten. Wir können beim Patienten diese Messungen vor und nach der Behandlung vornehmen, und der Vergleich gibt uns dann Aufschluss über den erzielten Fortschritt.
Zur Beziehung zwischen Wissenschaft, Theologie und Philosophie hat Bertrand Russell einmal gesagt: »Alles definitive Wissen, behaupte ich, gehört zur Wissenschaft. Alle dogmatischen Aussagen zu dem, was über definitives Wissen hinausgeht, sind Sache der Theologie. Zwischen Theologie und Wissenschaft jedoch liegt ein Niemandsland, das Angriffen beider Seiten ausgesetzt ist, und dieses Niemandsland ist die Philosophie.«
Eine als unwiderlegbar angesehene Theorie wird zur Theologie gezählt; eine Hypothese, deren Beweis noch aussteht, zur Philosophie, und eine bewiesene Hypothese ist Wissenschaft. Nach dieser Definition kann man in der modernen Medizin nur Anatomie, Chirurgie und die Behandlung bakterieller Infektionen als wissenschaftlich bezeichnen, während der Umgang mit chronischen Krankheiten und Vireninfektionen deutlich hinter diesen Kriterien zurückbleibt. Bei solchen Krankheiten strebt die moderne Medizin gar nicht erst eine vollständige Heilung an, sondern sieht nur zu, dass die Symptome einigermaßen handhabbar bleiben. Bei den meisten chronischen Krankheiten sind die Ursachen letztlich unbekannt, und da dem so ist, mangelt es auch an substanziellen Behandlungsvorschlägen. Vielleicht können wir also sagen, dass die Haltung der modernen Medizin in Bezug auf chronische Krankheiten irgendwo zwischen Theologie und Philosophie anzusiedeln ist.
Was chronische Krankheiten angeht, ist die Medizin demnach noch keine echte Wissenschaft, und das liegt daran, dass sie zu wenig über die Ursachen solcher Krankheiten weiß. Dafür gibt es etliche Gründe, aber der wichtigste besteht meiner Meinung nach darin, dass gegenwärtig zu wenig über die Selbstheilungssysteme bekannt ist. Erst mit diesen Kenntnissen wäre es möglich, die Ursachen chronischer Krankheiten zu ergründen, und erst dann lohnt sich die Suche nach Behandlungsansätzen wirklich.
Die chinesische Medizin geht bereits von der Kenntnis der Selbstheilungskräfte unseres Körpers aus. Deshalb geht sie bei schwierigen chronischen Krankheiten auch anders vor als die westliche Medizin. Bei Funktionsstörungen jeder Art unterstellt die westliche Medizin ein Versagen des Körpers. Das sieht die chinesische Medizin ganz anders. Sie erkennt keine Fehlfunktionen des Körpers und kann diese Auffassung mit guten Argumenten untermauern. Jedenfalls führen unterschiedliche Annahmen zu ganz verschiedenen Reaktionen, und natürlich fallen auch die Resultate dann sehr unterschiedlich aus.
Betrachten wir – um uns bewusst zu machen, dass gegensätzliche Auffassungen zu ganz unterschiedlichen Behandlungsansätzen und Ergebnissen führen – als Beispiel die Psoriasis. Nach Meinung der modernen wissenschaftlichen Medizin handelt es sich bei der Psoriasis um eine Autoimmunkrankheit, die eine vermehrte Neubildung von Zellen in der Haut auslöst. Dies führt zu Juckreiz und Entzündungen und schließlich zu der für Psoriasis typischen schuppigen Haut. Da man die Ursachen dieser Erkrankung noch nicht kennt, setzt man für die Behandlung derzeit noch auf steroidhaltige Salben. Die lindern zwar im Moment die Symptome, können aber auf Dauer dafür sorgen, dass die Krankheit auf immer weitere Hautareale übergreift. Demnach glaubt die moderne Medizin offenbar, dass der Körper hier irgendwo versagt hat, dass er Fehler macht, die man ausgleichen muss.