Für Mark, Charlie und Nina
Eine Zeit zum Weinen und eine Zeit zum Lachen,
eine Zeit für die Klage und eine Zeit für den Tanz;
eine Zeit zum Steinewerfen und eine Zeit zum Steinesammeln.
Kohelet 3:4–5
Nichts deutete darauf hin, dass meine Eltern mal jemanden umbringen würden. Das würde jeder sagen - bis auf den toten Jungen, der sagt nämlich nichts mehr. Er hat seine Geschichte mitgenommen, über den Rand der Erde hinaus, wie die anderen, die vor und nach ihm gestorben sind.
Diese Geschichte, meine Geschichte, ist irgendwie auch ihre.
Meine Geschichte beginnt wie alle Geschichten mit einer Mutter und einem Vater, nämlich Stanley und Jilly Hope.
Stanley ging immer ein bisschen gebückt, wie um sich für seine Größe zu entschuldigen, und trug gern einen dunklen Wollanzug, dessen Hosenbeine beim Hinsetzen hochrutschten und zwei weiße und komplett haarlose Schienbeine entblößten. Jilly reichte ihm gerade übers Kinn, war knautschig wie ein Marshmallow und Schürzenträgerin. Ihre fahlen Locken, die sie eher erfolglos zu bändigen versuchte, endeten knapp über den Schultern.
Das Haus im Willow Crescent in Hedley Green hatten meine Eltern schon angezahlt, bevor es dort überhaupt Häuser gab. Es war das größte Risiko, das sie je im Leben auf sich nahmen. Alle Ersparnisse gingen drauf für ein schlammiges Stück Erde.
Von da an ging man auf Nummer sicher. Das Leben spielte sich ausschließlich im Willow Crescent ab, unserer halbkreisförmigen Straße mit Rondell in der Mitte, und so lebten sie ihr Leben im Kreis, tagein, tagaus, rundum zufrieden, ohne jemals herauszuwollen.
Ich dagegen wollte, kaum war ich raus aus dem Bauch meiner Mutter, immer nur raus aus allem, wo man mich reinsteckte, und versuchte, mit einigem Erfolg, aus Bettchen, Laufstall und Kinderwagen zu fliehen.
Meine erste Flucht (die aus meiner Mutter) verlief nicht ganz reibungslos. Ich hatte mich verdreht und mir dabei die Nabelschnur um den Hals gewickelt, während Julia am 31. Juli kurz vor Mitternacht seelenruhig auf die Welt rutschte. Ich kam erst ein paar Minuten später zum Vorschein, da war es bereits August, und so wurden wir Zwillinge mit verschiedenen Geburtstagen.
Meine Schwester, im Juli geboren, bekam den Namen Julia, ich, im August geboren, sollte Augusta heißen. Das war stringent und stimmig, wie in den zahllosen Namensratgebern empfohlen, die meine Mutter während der langen Monate unseres Heranreifens auf dem Nachttisch gestapelt hatte. Unser doppelter Exit war also vollbracht. Das Wort Exit mochte ich, schließlich hieß ex auf Latein »aus, heraus«, und in Mathematik stand x für alles Mögliche. Und in der Schule hingen überall diese Exit-Schilder in Grün und Weiß, bloß kam man da nie besonders weit.
Stanley und Jilly Hope tendierten mehr zum Drinnen als zum Draußen, zum Bleiben mehr als zum Gehen. Sie waren als Erste in den Willow Crescent gezogen und brüsteten sich damit vor den Nachbarn wie mit einem Verdienstorden. Wir wohnen in Nummer 1. Als würde sie das zu Gewinnern machen.
Mich dagegen beschlich schon früh der Gedanke, dass sie eigentlich Verlierer waren.
»Geh weg!«, befahl ich dem Gedanken, doch er blieb.
Ich habe nie jemandem davon erzählt, nicht einmal Julia, aber sie sah es mir an, und ich wusste, dass es sie traurig machte – und das tut mir heute leid, ich kann gar nicht sagen, wie leid.
Sie und ich waren Schneeweißchen und Rosenrot: Julia, hell, still und zurückhaltend, selbstgenügsam und häuslich, immer ein Summen auf den Lippen; und ich das genaue Gegenteil, dunkel, geradeheraus, mit dem Drang nach draußen und dem Wind im Rücken, immer einen Fluch auf den Lippen.
Unser fünfter Geburtstag, die Vorschule war überstanden. Meine Beine und Arme waren immer schmaler geworden, und inzwischen war ich drei Zentimeter größer als Julia. Wir bekamen Dreiräder, meins war gelb, Julias rosa. Julia zeichnete Kreidelinien auf die Einfahrt und übte den ganzen Tag rückwärts einparken. Ich radelte auf die Straße, bog nach links, den Halbkreis entlang bis zur Nummer 13, quasi bis auf zwölf Uhr, dann über die Straße zum Rondell, wo ich mein Dreirad geradewegs in den Fischteich steuerte, diesmal mit »We all live in a yellow submarine« auf den Lippen.
Im Jahr 1998, da war ich sieben, führten wir mit der Klasse ein Meeresprojekt durch (leider an Land, wie ich enttäuscht feststellen musste) und lernten von Miss April, dass marinus auf Latein »zum Meer gehörend« bedeutet und sub »unter«, daher submarine. Doch als ich mich meldete und die Lehrerin mit »Entschuldigung, Miss, ihr Stift liegt sub dem Tisch« ansprach, meinte sie nur, ich solle mich »nicht immer so aufspielen«.
Ich habe schon immer Wörter geliebt, wie andere Leute vielleicht Bonbons oder Pudding lieben – Wörter, aus Buchstaben gemacht, auf dass aus Lauten Dinge werden, echte Dinge. Was für ein Wunder, dass wir behalten, welche Laute zu welchen Dingen gehören, uns Abertausende von Lautkombinationen merken – denn genau das ist Sprache. Als Kind war ich fasziniert davon und blieb jedes Mal wie verzaubert stehen, wann immer ich jemanden Spanisch, Französisch oder auch Gujarati sprechen hörte.
Irgendwann ging mir auf, dass ich für Ausländer bestimmt genauso schlau klang, wenn ich die englischen Wörter runterratterte wie ein Vollprofi, und das machte mich ein bisschen stolz. Dabei tun wir das ja alle ständig – na ja, fast alle, außer Graham Cook von nebenan. Der brachte irgendwie gar keine Wörter hervor.
»Die Cooks sind wirklich zu bemitleiden«, sagte mein Vater leichthin und ohne eine Spur von Mitleid im Gesicht. »So was kann jeden treffen …«
Ich ging gern nach nebenan und unterhielt mich mit Jim Cook, wenn der in der Auffahrt sein Auto wusch, weil er immer neue Träume in petto hatte. Der Ausdruck kam, wie ich später lernte, von lateinisch in pectore, »im Herzen«. Nur schafften es Jim Cooks Träume irgendwie nie aus seinem Herzen ins wahre Leben.
An Tagen, wenn Grahams Pfleger kam, nahm Barbara Cook mich und Julia oft mit ins Schwimmbad, da die Arme, wie meine Mutter mir erklärte, gern auch mal ganz normale Dinge auf ganz normale Weise tun wollte. Ich wollte die Schwimmbadbesuche für Barbara Cook immer so schön wie möglich machen, auch wenn die eigentlich nie darüber sprach, wie es ihr ging.
Eines Tages fand ich nach dem Schwimmen meinen Rock und meine Unterhose nicht wieder. Als ich nur im roten T-Shirt und unten ohne zu Barbara in die Umkleidekabine ging, rief sie aus: »Ha, Augusta, du siehst ja aus wie Pu der Bär!«
Und sie lachte, bis ihr Tränen über die Wangen liefen, und wickelte mir mein nasses Handtuch um die Hüfte. Mir glühten die Wangen vor Scham, als ich so neben ihr zum Parkplatz stolperte.
Ich wollte Barbara Cook mögen, und ich mochte sie auch, vielleicht hatte ich sie sogar lieb, also wollte ich mir nichts draus machen, dass sie mich auslachte, als ich mich sowieso schon schämte. Ich lernte an diesem Tag eine wichtige Lektion: dass auch die Menschen, die wir mögen, vielleicht sogar lieb haben, uns früher oder später enttäuschen – und umgekehrt tun wir das auch.
»Warum hat Barbara mich ausgelacht?«, fragte ich Julia, als wir wieder zu Hause waren.
Julia zuckte die Schultern und frickelte weiter an der dicken Schnur, die aus dem Kopf einer bunten Strickliesel kam. Ich hasste dieses Ding. Ich hatte selbst auch so eins. Allerdings noch verpackt. Eingesperrt in einem stickigen Karton. Wie wir alle.
Unbegreiflicherweise hängte meine Mutter Julias Strickschnur an die Kordel der Badezimmerlampe, allerdings fiel sie unter dem restlichen Deko-Klimbim auch nicht weiter auf. Mit dabei: Schmetterlinge aus Krepp, Papier-Mobiles an Kleiderbügeln, Häkeldeckchen an Fenstern, Magnetbildchen am Kühlschrank – das ganze Haus ein Schrein für uns, die Zwillinge, ihre Mädchen.
Mehr Kinder kamen nicht.
»Warum das Glück herausfordern«, sagte mein Vater, »wenn man zwei perfekte Kinder hat?«
»Perfekt findest du uns?« Julia lächelte und rekelte sich auf dem Sofa wie eine Katze, mit dieser wunderbaren Aura der Zufriedenheit, die sie umgab wie ein riesiger, menschenförmiger Heiligenschein.
»Ohne Komplikationen, meine ich«, sagte mein Vater und nickte in Richtung von Nummer 2, wobei er Julia seine kleine blasse Hand auf die Schulter legte. »Geistig voll da. Nicht … Na, ihr wisst schon.«
Er beschrieb mit dem Zeigefinger Kreise an der Schläfe.
Meine Mutter klopfte sich die Hände an der Schürze ab und betrachtete uns wie zwei Kuchen aus ihrer Produktion, die wirklich prächtig geraten waren.
»Graham Cook ist voll da«, rief ich und war außer mir. »Was musst du da mit dem Finger rumkreiseln? Und was glaubst du, wie seine Eltern das fänden? Und was zum Teufel soll perfekt überhaupt bedeuten – die Leute, die du so perfekt findest, machen nämlich dann doch die …«
»Kannst du mal langsamer reden, Augusta? Ich komm gar nicht so schnell mit.«
»… allerschlimmsten Sachen.«
Ich redete weiter, denn ich hörte mich wahnsinnig gern reden, obwohl ich gerade erst sieben war, und malte mir immer aus, wie schlau ich erst klingen würde, wenn ein Ausländer zuhören würde. Jemand, der nicht aus unserem langweiligen Land kam, dieser Insel auf einem grauen Ozean, sondern aus einem der vielen anderen Länder der Welt, wo sie bessere Meeresfarben hatten, nämlich Türkis und Aquamarin und Azurblau.
Wie man sieht, war ich nicht von Julias Aura der Zufriedenheit umhüllt. Ich weiß nicht, warum. Ich schätze, wir waren einfach verschieden gestrickt, sie und ich.
Ich war so gestrickt, dass ich unbedingt ein Buch schreiben wollte. Schon seit ich denken konnte.
Erst aber wollte ich mir so viele Wörter wie möglich einprägen, denn ich wollte präzise schreiben und mit ordentlich Wumms – ein Wort übrigens, das das Wörterbuch gar nicht kennt.
Ich schlug das Wörterbuch beim A auf und arbeitete mich bis Zytotoxizität durch alle Buchstaben des Alphabets, sprach die Wörter laut aus, prägte sie mir ein und probierte sie in neuen, ausgefallenen Kombinationen. Dann ging ich zurück zum A.
Im Durchschnitt gebrauchen die Leute beim Sprechen im Alltag nur 5000 Wörter und beim Schreiben doppelt so viele; ein gebildeter Mensch kann es auf 80000 bringen, und das zwanzigbändige Oxford English Dictionary umfasst 171476 Haupteinträge für Wörter im aktiven Gebrauch, 47156 für veraltete Wörter und zusätzlich 9500 Unterpunkte für Ableitungen.
Eines Morgens in der Bücherei von Hedley Green nahm ich mir vor, den schönsten Ländernamen zu finden, wobei ich nur nach dem Klang gehen würde, ohne etwas über das Land zu wissen.
Eigentlich hätte ich bei einer Puppenwerkstatt mitmachen sollen, aber ich verdrückte mich, sodass Julia gleich zwei Schlangen mit Plastikaugen und Filzzungen aus Ringelsocken basteln musste. Nicht so mein Fall.
Ich schlich mich an Jean, der Bibliothekarin, vorbei, die die Angewohnheit hatte, sich die Haare auszurupfen. Mit einem Atlas setzte ich mich zwischen die Regale, las das Register von von A bis Z durch und kam zu dem Schluss: Der beste Name für ein Land war Burundi.
Burundi Burundi Burundi. Ich sagte mir den Namen so oft vor, bis er gar nichts mehr bedeutete. Er schwappte nur noch wie Wellen durch meinen Kopf.
Ich ging in die Ecke der Bibliothek, wo ein großer Globus auf Rädern stand, und ich fand Burundi, ein Binnenland in Afrika, zwischen Tansania, Ruanda und der Demokratischen Republik Kongo. Ich drehte den Globus langsam herum und versuchte dabei, mir Namen und Lage und Grenzen der Länder einzuprägen und welche Formen sie mit dem Meer und miteinander bildeten. Dann drehte ich ihn immer schneller, bis alles zu einem grün-blauen Streifen verschwamm, und stellte mir dabei vor, wie ich mich mitdrehte, als nadelstichkleiner Punkt in der Hedley-Green-Bücherei in Südengland. Und ich dachte, eigentlich müssten wir doch alle von der Erde runterfallen – ich, Julia, die Puppenbastellehrerin und alle Ringelsocken.
Bei meinen Recherchen über Burundi in den Lexika und Sachbüchern fand ich heraus, dass die Hutu, die zuerst da gewesen waren, von den Tutsi verachtet wurden – obwohl sie alle die gleiche Bantusprache Kirundi sprachen, die gleiche Hautfarbe hatten und Christen waren. Irgendwann waren europäische Männer auf Schiffen gekommen und hatten gesagt, die Hutu sollten sich um die Rinder der Tutsi kümmern. Um die sehr lange Geschichte zusammenzufassen: Am Ende wollten sie sich am liebsten alle gegenseitig umbringen. Ich war bestürzt darüber, wie traurig und sinnlos das war – und dann darüber, wie viele andere traurige und sinnlose Dinge Menschen auf der Erde anstellten. Also wandte ich mich dem Himmel zu.
Am Anfang meiner Recherchen über den Himmel erschien mir eine Wolke als etwas Simples – ein schwebender Wasserdampfbausch, mehr nicht. Aber je mehr ich las, desto mehr bedeutete Wolke. Die fünf Buchstaben waren elastisch, und sie dehnten sich in meinem Kopf mit den Jahren immer weiter, bis mir klar wurde, dass wahrscheinlich irgendwo jemand seine Doktorarbeit über Wolken schrieb, oder über einen klitzekleinen Aspekt von Wolken, und dass dieser Aspekt vielleicht ein Leben lang die Hälfte seines Gehirns beanspruchen würde.
Mir wurde schwindlig, als ich erkannte, was alles in dem schlichten Wort Wolke steckte. Und als ich erkannte, dass das für alle Wörter galt. Mir war schwindlig, und ich fühlte mich winzig, wenn ich die Wolken vorbeiziehen sah, und sie kamen mir vor wie Sprechblasen. Mit den Jahren verbrachte ich immer mehr Zeit zwischen den Wörterbuchregalen der Bücherei und platzierte neue Wörter in den Sprechblasen, Wörter, die mir besonders gefielen, in alphabetischer Reihenfolge, von A bis Z. Admiral, Aeronaut, Akanthus, Bergamotte, Bohnenstange (ich), Calypso, Chrysantheme, Clou. Ich dachte über die Größe der Wörter nach – oder sollte ich sagen, ihre Tiefe und den Raum, den sie einnahmen? Es ging dabei nie um die Zahl der Buchstaben, sondern darum, welche Art Ding oder Dinge in ihnen enthalten waren.
Ich dachte an die Tausende und Abertausende von Wörtern mit ihren Tausenden und Abertausenden von Bedeutungen, und ich begriff, was ich am Ende meines Lebens wissen würde: fast nichts. Aber mein Fast-Nichts wäre bestimmt ein anderes als das Fast-Nichts der anderen Menschen, und alle zusammen wüssten wir dann ein bisschen mehr als fast nichts. Und dann käme natürlich der Tod, und alles, was wir rausgefunden hätten, würde mit uns begraben werden. Was für eine sinnlose Verschwendung. Sollte man uns nicht erst auf den Kopf stellen und unser ganzes Wissen rausschütteln – wie die Münzen aus einem Sparschwein?
Noch tagelang trug ich Burundi auf der Zunge, kaute auf dem Wort herum wie auf Kaugummi. Burundi, so fand ich heraus, war ein großes, raumgreifendes Wort, und es dehnte und dehnte sich weiter. Denn Burundi bedeutete Millionen Dinge.
Es umfasste 27816 Quadratkilometer, ein großer Teil davon hügelig und bergig und zehn Prozent Wasser, hauptsächlich im gigantischen Tanganjikasee mit seinen 250 Arten von Buntbarschen in allen Regenbogenfarben.
In Burundi lebten etwa zehneinhalb Millionen Menschen – Hutu (85 Prozent), Tutsi (14 Prozent) und Twa (1 Prozent) – und die meisten von ihnen waren traurig. Es gab kaum noch fruchtbaren Boden im Land, kaum noch Bäume in den Wäldern, und wer nicht von den anderen umgebracht wurde, starb an Aids.
2016 erst landete Burundi bei einer von diesen weltweiten Glücksumfragen wieder auf dem letzten Platz.
Burundi war meine erste ungewöhnliche Wahl und, wie sich herausstellen sollte, bei Weitem nicht die letzte. Ich mochte, was aus der Reihe fiel – und hatte ich es mir einmal in den Kopf gesetzt, konnte ich nicht mehr loslassen. Ich stellte mir immer wieder vor, wie anders mein Leben wäre, wenn ich dort und nicht hier zur Welt gekommen wäre. Und über die Jahre hinweg hielt ich mich, so gut es ging, über Burundi auf dem Laufenden und schrieb sogar Briefe an jeden der amerikanischen Botschafter des Landes.
Von den Botschaftern kam nie eine Antwort, also wandte ich mich wieder den Wörtern zu, die irgendwie leichter zugänglich waren.
Dem Wort Asda zum Beispiel. Das war eigentlich kein Wort, sondern der Name einer Supermarktkette, zu der sich die Fleischereien der Gebrüder Asquith mit der Molkerei Associated Dairies 1965 vereint hatten.
Wollte man etwas Ähnliches mit Julia und Augusta anstellen, dann konnte man uns, so entdeckte ich, Justa nennen – und wir wären eins. Und das waren wir ja auch tatsächlich – damals, 1999, mit neun Jahren und identischen Faltenröcken, Modell Jane aus der Lesefibel Peter and Jane. Unsere Mutter hatte eine ganze Sammlung von gebrauchten Ladybird-Büchern.
Justa war, wie ich später herausfand, auch die feminine Form des lateinischen Adjektivs justus, das recht und gerecht und richtig und triftig und einen Haufen anderer Dinge bedeutete.
Das Wort Asda fasst das Leben, in das ich hineingeboren wurde, ganz gut zusammen, ein Leben nämlich, in dem Asda Nachrichtenwert hatte. Und die Nachricht lautete, dass es bald einen gigantischen neuen Asda in dem gigantischen neuen Shoppingcenter an der Hauptstraße geben würde. Das waren – 1999 – gigantische Neuigkeiten in unserem Haus, im Willow Crescent, auf dem Schulhof und in der Einkaufsstraße von Hedley Green.
Es sollte der größte Asda in Hertfordshire oder in Südengland oder auf der ganzen Welt werden, je nachdem, wem man gerade zuhörte. Er würde immens sein und weiß und aus gebogenem Glas – wie ein riesengroßes Ufo. Alle waren aufgeregt. Außer mir. Für sie war Asda ein großes Wort, aber für mich war es klein. Größe spielte dabei keine Rolle.
»Ich wüsste nichts, was weniger aufregend ist als ein neuer Asda«, sagte ich zu meiner Mutter und Julia. Aus reinem Trotz, wie meine Mutter es nannte. Und aus Opposition, wie ich es nannte, weil ich neue Wörter mochte.
»Sei nicht so ein Muffel, Augusta«, sagte meine Mutter. Wir waren gerade beim Frühstück, aber sie glasierte schon Cupcakes in Pastellfarben für später zum Tee, so wie Modehäuser im Frühling ihre Herbstkollektionen präsentieren. Sie war immer gern mindestens eine Mahlzeit voraus, manchmal auch mehr, und wenn man zu lang darüber nachdachte, kam man selbst aus der Puste. Sie saß praktisch nie still.
Entgegen meiner Aussage fielen mir auf Anhieb doch gut fünfundzwanzig Dinge ein, die tatsächlich weniger aufregend waren als der neue Asda. Schmalz und Spülmittel und abgeschnittene Fingernägel und Spachtel zum Beispiel und dieser Choral, den wir in der Schule singen mussten, der mit »Forty days and forty nights« begann.
Auch wenn alle das neue Center nur Asda nannten, sollten irgendwann (wenn denn alles nach Plan verlief) auch Filialen von Homebase, Next und Mothercare einziehen, ebenso wie vielleicht, so wollte es das Gerücht – denn Gerüchte wollen vieles –, ein Kinopalast und sogar eine Bowlingbahn. Kino und Bowlingbahn wurden nie Wirklichkeit, war ja klar. (Übrigens, was für ein Riesenwort ist bitte Gerücht, eine gigantische Lagerhalle der Fantastereien, voll bis zum Anschlag.)
Wenn ich als Kind Leuten meinen Namen sagte, wiederholten sie nur »Augusta?« mit Fragezeichen in der Stimme, als glaubten sie, ich könnte mich bei meinem eigenen Namen vertan haben.
Ich antwortete: »Ja, Augusta.«
Sie sagten: »Aha, verstehe.«
Manche sagten dann: »Und wie heißt du richtig?«
Ich sagte erneut: »Augusta.«
Sie sagten: »Den Namen hab ich noch nie gehört.«
Aber bald begann ich, meinen Namen zu mögen.
Er fällt aus der Reihe, wie so vieles, was ich mag.
Der Name Augusta, feminine Form von Augustus – majestätisch, erhaben, ehrwürdig –, wurde früher an die weiblichen Angehörigen römischer Kaiser vergeben.
Das nur nebenbei.
»Hummelguste«, nannte mich meine Mutter manchmal.
»Fräulein Hummeln-im-Po, kannst du mal kurz still sitzen und gar nichts sagen?«
Meine Mutter sagte immer wieder, wie sehr sie sich über die Mothercare-Filialen gefreut hätte, als wir noch klein waren. Ich fand die Aussage schon beim ersten Mal sinnlos.
Julia sagte mir einmal, dass Zwillinge zu haben für unsere Mutter die Vorstellung vom Himmel gewesen sei – Pastellstrampler, Faltenkleidchen und Pluderhöschen.
Ich überlegte, woraus mein Himmel wohl bestehen würde. Aber dann fiel mir ein, dass ich wahrscheinlich gar keine Wahl hätte, es war ja eher ein Gemeinschaftsprojekt.
Paradies gefällt mir als Wort sowieso besser als Himmel, doch am liebsten mag ich Elysium, vom griechischen Wort für das Land der Seligen, von dem eins meiner absoluten Lieblingsadjektive stammt: elysisch – ein Wort, das übrigens niemand je benutzt.
Meine Großmutter Nellie (der ich meinen zweiten Vornamen, die glatten, dunklen Haare und dürren Beine verdanke) sagte immer, im Himmel würden wir vor allem rumstehen und warten – ganz in Weiß, mit Kronen auf dem Kopf, wie in diesem Weihnachtslied. Ich wusste schon, dass ich keine Krone tragen wollte, und ich hasste Rumstehen und Warten. Ich hoffte also, dass sie sich irrte. Ich habe immer noch keine Ahnung, wie das Ganze abläuft, aber ich wüsste es zu gern. Wie wir alle wohl.
Laut Julia wiederum war der Himmel voller Rosen und Wasserfälle und Schwärme weißer Tauben, drei der Dinge, die sie am liebsten hatte.
»O, hätte ich doch Flügel wie die Taube, ich wollte hinfliegen und ruhen«, sagte meine Großmutter, die gern in Bibelversen sprach. Auslöser konnte irgendein Wort oder Gedanke sein, oder ein Fluch auf jemanden, den sie nicht mochte. Besonders gern teilte sie die Menschen in Schafe und Böcke ein und wünschte meinen Bockgroßvater bei jeder Gelegenheit in den Schlund der Hölle, weil er kurz nach der Geburt meiner Mutter mit der Sekretärin durchgebrannt war.
Freitagabends und samstagnachmittags saß meine Großmutter in der Wohnzimmerecke und gab wie ein antiker griechischer Chor zu allem ihren Senf dazu. Dabei spielte sie an ihrer Halskette mit dem silbernen Kreuz und dem ewig sterbenden kleinen Jesus dran. Das machte mich immer etwas nervös.
Um Platz für das magische Asda-Bauprojekt zu schaffen, wurden die Reihenhäuser an der Hauptstraße abgerissen und die Bewohner, wie überall zu hören war, großzügig entschädigt. Der Abriss ging scheibenweise vonstatten, im Prinzip wie beim Portionieren von Viennetta-Eis. Ich hielt das für einen meiner besten Vergleiche, aber niemand sonst in der Familie wusste ihn zu würdigen.
Mrs Venditti, die mit dem Eismann verheiratet war, weinte, als Scheibe Nummer 3 abgetragen wurde, und meine Mutter erklärte, dass in diesem Haus ihr Baby am plötzlichen Kindstod gestorben war. Ich hatte irgendwo gehört, dass das passierte, wenn man Babys auf den Bauch legte, und fragte, ob Mrs Venditti das vielleicht aus Versehen getan hatte, aber meine Mutter sagte nur: »Können wir bitte das Thema wechseln?«
»Warum?«, fragte ich.
»Weil ich nicht so gern über tote Babys rede«, sagte sie.
Mein Vater fügte hinzu: »Mrs Venditti ist auch Italienerin.«
Ich sagte: »Was meinst du damit?«
Er sagte: »Stell doch nicht immer so viele Fragen.«
Jemand krachte mit einem alten Renault 5 in einen Minibus voller Schulkinder, weil er zusah, wie Nummer 8 fiel. Immerhin wurde niemand schwer verletzt. Ein Schild mit der Aufschrift »Augen auf die Straße« wurde an die Ampel gehängt. Nur musste man die Augen nach oben richten, um es zu lesen. Manchmal, fand ich, denken Erwachsene die Dinge nicht zu Ende.
Meine Mutter erlaubte mir, unserem Vater abends auf der Hauptstraße entgegenzugehen, wenn er von der Arbeit kam. Es gab ihr das Gefühl, dass alles an unserem Leben vollkommen war. Wie bei den Familien in den alten Ladybird-Büchern, die nach wie vor die Fächer der auf Hochglanz polierten Kiefernkommode füllten.
Als Letztes wurde das Haus der Greens abgerissen, und alle sechs Greens sahen vom Bürgersteig gegenüber zu, während ich auf meinen Vater wartete. Und da kam er schon, pfeifend, auf dem Heimweg von seinem Laden für Schulbekleidung – Stanley Hope Uniforms.
»Das muss ein trauriger Tag für Sie sein«, sagte er fröhlich zu Mr Green, als fühlte er sich dank Mr Greens Traurigkeit sicherer in seinem eigenen Glück.
»Ist nur Stein und Mörtel«, sagte Mr Green mit den Händen in den Hosentaschen.
»Es ist ein Zuhause«, sagte mein Vater.
»Gefühlsduselei, Stanley«, sagte Mr Green.
Darauf schien meinem Vater keine Antwort einzufallen.
»Machst du dir keine Sorgen?«, fragte Mr Green meinen Vater.
»Sorgen, warum?«, entgegnete der.
»Nicht noch mehr Sorgen, Jilly«, war immer die Standardantwort meines Vaters, wenn meine Mutter vorschlug, einen Hund anzuschaffen, ein Flugzeug zu besteigen – oder noch ein Baby zu bekommen, ihr Lieblingsvorschlag schlechthin.
»Schuluniformen!«, rief Mr Green gegen den Lärm an und nickte in Richtung Bauzaun, hinter dem der größte Asda des Universums entstehen sollte.
»Schuluniformen?«, rief mein Vater zurück.
Das Krachen verstummte für einen Moment.
»Bei Asda gibts auch Schuluniformen«, sagte Mr Green sehr langsam und sehr laut, als wäre mein Vater schwer von Begriff. »In rauen Mengen. Und billig. Das ganze Pipapo.«
Ich sah meinen Vater an. Für den Bruchteil einer Sekunde ging ein haarfeiner Riss durch sein Gesicht, wie der Sprung in einer Porzellankanne. Ich starrte auf den Boden. So wollte ich sein Gesicht nicht sehen. Als ich wieder aufblickte, war der Riss weg. Aber jetzt hatte das Gesicht eine glänzende Schweißschicht, die aussah wie Uhu-Kleber. Ich hoffte, der würde den Riss einfach kitten – aber ich wusste ja, dass Risse nicht kleiner werden und zusammenwachsen, sondern größer werden und bersten. Vor meinem geistigen Auge sah ich das Gesicht meines Vaters entzweibrechen.
»Na, dann machen wir uns mal auf den Weg«, sagte mein Vater zu Mr Green und riss den Arm hoch, um Mrs Green und den vier gelangweilten Kindern zuzuwinken.
»Was ist ein Pipapo?«, fragte ich, gierig auf ein neues Wort für meine P-Liste.
Mein Vater hatte Mr Green keine Antwort gegeben, und mir gab er auch keine. Er rannte förmlich nach Hause. Normalerweise schlenderten wir Seite an Seite zurück und sprachen über meinen Schultag. Jetzt zitterten seine Finger, und ich sah ihm an, wie dringend er zu meiner Mutter wollte.
»Ein Herz und eine Seele«, so nennt sie das – auch heute noch, trotz allem, oder gerade deswegen. »Darum gehts in der Ehe. In guten und in schlechten Tagen. Ob krank oder gesund.«
»Ich muss mit dir reden, Jilly«, sagte mein Vater, sobald er die Tür geöffnet hatte, ganz außer Atem vor Sorge. Ich bezog Position unter der Durchreiche (einem gewölbten Loch in der Wand) auf der Wohnzimmerseite, von wo aus ich alle Küchengespräche mithören konnte.
»Aber Schatz«, sagte meine Mutter lachend. »Asda ist doch keine Konkurrenz für Stanley Hope Uniforms!«
»Meinst du?«, sagte mein Vater. »Wirklich?«
»Was zählt, ist die persönliche Beratung«, sagte meine Mutter. »Wer nimmt denn bei Asda bei den Kindern Maß? Und wer näht ihnen bei Asda die Initialen in die Turnbeutel?«
»Wirklich?«, wiederholte mein Vater. »Also kein Grund zur Sorge?«
Und er ging in den Flur und murmelte nur: »Kein Grund zur Sorge. Kein Grund zur Sorge.«
»Waren die Greens traurig, als ihr Haus eingestürzt ist?«, fragte meine Mutter beim Abendessen.
»Mr Green meinte, es ist bloß Stein und Mörtel«, sagte ich.
»Wie lieblos«, sagte meine Mutter. »Wo sie doch ihre Kinder in dem Haus großgezogen haben.«
»Er hat Dad gefühlsduselig genannt«, sagte ich.
Mein Vater wurde rot.
»Ich mag dich gefühlsduselig«, sagte meine Mutter.
Julia und ich sahen uns an und warteten darauf, dass meine Mutter meinen Vater auf das verschwitzte Haar küsste – was sie auch tat. Ich fand immer, dass sein Haar etwas komisch roch.
»Wir haben dir etwas zu sagen, Daddy«, sagte meine Mutter.
»Ach ja?«, sagte mein Vater, während er sich die fünfte Wurst auf die Gabel spießte.
»Julia ist ›Dichterin der Woche‹ geworden«, sagte meine Mutter. »Das ist eine wichtige Auszeichnung an der Schule.«
»Toll«, sagte mein Vater und fügte hinzu: »Augustas Gedicht war bestimmt auch gut.«
»Julia möchte es dir vorlesen, Stanley«, sagte meine Mutter.
»Der Titel meines Gedichts«, fing Julia an, mit einem leicht beschämten Blick zu mir, denn Gedichte waren eigentlich mein Ding, »lautet ›Der Name meiner Mutter‹.«
»Alle hatten denselben Titel«, ergänzte ich, nur zur Information, doch meine Mutter verstand es als eine Spitze gegen Julia und warf mir einen strengen Blick zu.
»Dann schieß los«, sagte mein Vater.
Julia stand auf und begann zu lesen, allerdings war das Vorlesen nicht ihre große Stärke, sie neigte dazu, sich zu verhaspeln. Ich biss die Zähne zusammen.
»Meine Mutter, die heißt Jill,
ihre Stimme klingt nicht schrill,
sie mag Sommer schon im April
und trägt Rüschen, wann sie will.«
»Bravo«, rief mein Vater lachend. Über die Verhaspler sah er hinweg.
»Sie hat mich gut getroffen, oder?«, sagte meine Mutter. »Passt genau. Ich trag Rüschen, wann ich will, stimmts, Stan?«
Ich freute mich wirklich, dass Julia die Dichterin der Woche-Urkunde bekommen hatte, und fand es toll, wie sie beim Vorlesen ihre kleine Nase gekräuselt hatte wie ein Kaninchen, aber ich wusste, dass das kein gutes Gedicht war. Entweder die Lehrerin hatte keine Ahnung von Lyrik oder sie bezweckte etwas anderes, eine ausgewogene Preisverteilung zum Beispiel.
Meine Mutter und mein Vater lachten nach Julias Vortrag noch eine Weile weiter, was mich auf den Gedanken brachte, dass sie langsam den Verstand verloren. Selbst wenn man die Reime mochte, so witzig war das Gedicht wirklich nicht.
»Sommer im April mag ich, und wie!«, lachte meine Mutter und wischte sich die Augen, »und mit der Stimme geb ich mir Mühe.«
Der Sommer kam näher, und am 30. oder 31. Juli (Julias Geburtstag) würde mein Vater wie jedes Jahr für zwei Wochen den Laden schließen, weil die meisten Leute verreist waren und weil meine Mutter unbedingt vierzehn Tage in die Ferien fahren wollte.
Sie verbrachte jedes Jahr fünfzig Wochen mit der Planung unseres zweiwöchigen Sommerurlaubs, des einzigen Urlaubs, den mein Vater sich gönnte, weil er den Laden niemand anderem überlassen mochte, wie manche Mütter niemand anderen ihre Babys auf den Arm nehmen ließen. Er hatte ein Schild mit einem Jahreskalender im Schaufenster. Darauf stand in dicken, unterstrichenen Großbuchstaben: GEÖFFNET, und die vierzehn Ferientage waren mit einem hauchfeinen Bleistift durchgestrichen.
»Noch sechs Monate, dann gehts los«, sagte meine Mutter jedes Jahr.
»Noch fünf.«
»Vier.«
»Drei.«
»Zwei.«
»Noch einen Monat.«
Wenn wir in Urlaub fuhren, installierte mein Vater im ganzen Haus Zeitschaltungen an den Lampen, die perfekt unseren Lebensrhythmus nachahmten, und kontrollierte sie vor der Abreise gut fünf Mal und dann noch einmal zur Sicherheit. Als ich einwandte, ich hätte im Willow Crescent noch nie irgendwelche Einbrecher herumlungern sehen, erklärte er, die liefen ja nicht im gestreiften Hemd mit Beutesack auf dem Rücken herum – jeder könne ein Einbrecher sein, sogar Leute, die wir kannten und mochten, sogar Nachbarn aus dem Willow Crescent.
»Sogar Barbara Cook?«, fragte ich.
»Barbara Cook natürlich nicht.«
»Du bist doch bei der Nachbarschaftswache«, sagte ich. »Müsstest du nicht längst wissen, wenn unter unseren Nachbarn Einbrecher sind?«
»Jetzt lass deinen Vater in Ruhe, siehst du nicht, wie beschäftigt er ist?«, sagte meine Mutter mit ihrem Urlaubsleuchten in den Augen. Sie fürchtete wohl, wegen meiner dreisten Art würden ihm gleich wieder die Hände zittern. Das taten sie manchmal, gerade am Tag der Abreise, wenn seine Nerven zum Zerreißen gespannt waren.
Ab September begann meine Mutter mit ihren Besuchen im Reisebüro. Sie achtete auf die Werbeständer vor dem Zeitungsladen. Sie durchforstete die Sonntagszeitungen. Sie las auch die Schulzeitung mit den Angeboten für Ferienhäuser und Wohnwagen.
Julias Gedicht wurde auch in der Schulzeitung veröffentlicht. Meine Mutter schnitt es aus und rahmte es ein, und mein Vater nagelte es an die Wand. Julia legte mir ein Werther’s-Toffeebonbon unters Kopfkissen mit einem Zettel, auf dem stand: »Du bist die wahre Dichterin in der Familie.«
Ich kaute in aller Bescheidenheit darauf herum und nahm es hin, als Julia (nicht zu Unrecht) sagte: »Mein Gedicht ist eigentlich ziemlich mies.«
Ich wollte entgegnen: »Nein, ist es nicht«, doch ich brachte es nicht über die Lippen. Julia hätte sowieso gewusst, dass es komplett geschwindelt war.
So ist das bei Zwillingen, vielleicht bei allen Geschwistern. Man kennt das Äußere der jeweils anderen, kennt den Körper, mit dem man jeden Abend badet, bis man irgendwann zu groß ist, um zu zweit in die Wanne zu passen. Ab da sitzt die eine auf dem Toilettendeckel und plaudert so lange mit der anderen in der Wanne, bis man heißes Wasser nachlässt und die Plätze tauscht.
Du kennst den kleinen Leberfleck auf Julias rechtem Oberarm und die dunkle Sommersprosse auf dem linken Ringfinger, dank der sie ihre Rechte von ihrer Linken unterscheiden kann, und ihr Innerstes kennst du genauso gut. Du spürst ihre Tränen, bevor sie fließen – und du willst sie aufhalten, so dringend willst du sie aufhalten, doch du kannst es nicht, so ist es nun einmal. Du hörst ihr Lachen, bevor es erklingt, und wenn du ihr Lachen hörst, musst du auch lachen. Ihr schönes, helles Lachen.
So gesehen ist dein Zwilling dein Zuhause.
Zumindest war das bei mir so.
Viel mehr als mein sogenanntes Zuhause.
Was für ein Wort: Zuhause – Millionen von Bedeutungen, eingewickelt in ein Riesentuch, das wir wie ein Wanderbündel an einem Stock über der Schulter tragen.
»Hast du nicht auch ein Gedicht geschrieben, Augusta?«, fragte meine Mutter.
Ich nickte.
»Das musst du mir zeigen«, sagte sie.
»Ach, ist nicht so wichtig.«
»Ich finde es sehr wohl wichtig«, sagte meine Mutter, woraus folgte, dass ich mein Heft holen musste. Was ich absolut nicht wollte.
»Hier«, sagte ich. »Miss Rae hat es nicht so gefallen.«
»Natürlich hat es ihr gefallen«, sagte meine Mutter, die das natürlich überhaupt nicht wissen konnte.
Ich gab meiner Mutter das aufgeschlagene Heft und sie las:
»Der Name meiner Mutter« von Augusta Hope
Meine Mutter heißt Jilly,
angeblich ist das die
Kose-Kurzform von Jill
nur eben ein Ypsil-
on länger und wenn man nur will
warum nennt man nicht Dill,
(wenn man ihn mag)
Dilly,
das Lieblingsfossil
Fossily,
(oder wär das Fusilli?)
und den netten Prof
Dr. Phily,
aber jetzt bin ich lieber stilly.
Darunter hatte die Lehrerin geschrieben:
»Das ist ein ziemlich merkwürdiges Gedicht, Augusta, und das Reimschema ist unregelmäßig. Gut!«
Meine Mutter starrte auf den Kommentar der Lehrerin.
Dann auf die graue Linie darunter. Sie versuchte, die Überreste einer Schrift zu entziffern, und fragte sich wohl, was um alles in der Welt sie zu diesem seltsamen Gedicht sagen sollte.
Unter den Kommentar der Lehrerin hatte ich geschrieben:
»Nur z. K. (das stand, wie ich herausgefunden hatte, für zur Kenntnisnahme): Das sollte gar kein regelmäßiges Reimschema sein.« Dann hatte ich es ausradiert. Ich wusste, es war zwar richtig, aber auch ziemlich frech – und altklug.
Meine Mutter schaute immer noch angestrengt auf die ausradierte Zeile.
»Was stand hier?«, fragte sie.
»Ich weiß nicht mehr«, sagte ich.
»Dein Gedicht ist …«, begann meine Mutter und brach dann ab.
»Schon gut«, sagte ich. »Es muss dir nicht gefallen. Es ist wirklich etwas merkwürdig.«
»Manchmal frage ich mich, was da die ganze Zeit in deinem Köpfchen vorgeht«, sagte meine Mutter.
Mein Gedicht hat sie nicht eingerahmt.
Meine Mutter hieß Aurore, was Morgenröte bedeutet.
Und mein Mutterland, das immer noch auf seine Morgenröte wartet, heißt Burundi.
Burundis Poesie lebt in den Kolibris, die aus langen Blüten Nektar saugen, im satten Grün der Blätter nach dem Regen, den schillernden Buntbarschen in den Tiefen des Tanganjikasees, wo die Krokodile reglos und trügerisch dahindösen und die Nilpferde in Reih und Glied flussabwärts paddeln.
Und sein Geist lebt in den würdevollen Gesichtern all derer, die vergeben wollen, im festen Glauben, dass Burundi eines Tages wieder schön sein wird.
Gesichter wie das meines Vaters.
Ich war sein erster Sohn, und er betete, dass endlich Frieden herrschen würde, wenn ich erst groß wäre.
»Du bist schon mit einem Lächeln zur Welt gekommen«, sagte er zu mir. »Und du warst so perfekt. Alles, wovon wir geträumt hatten.«
»Also haben wir dich Parfait getauft«, sagte meine Mutter.
»Parfait Nduwimana«, sagte mein Vater (was Ich bin in Gottes Hand bedeutet).
»Ein wunderschönes Baby warst du«, sagte meine Mutter, »mit den kleinen Grübchen auf den Wangen.«
»Was soll an Grübchen schön sein?«, fragte ich.
»Ach, alles!«, antwortete sie, kam auf sehnigen Beinen auf mich zugehüpft und strich mir über die Wange.
Meine Mutter – sie erinnerte mich an einen zarten Vogel.
Bei jeder Gelegenheit beobachtete ich Vögel: den Wiedehopf, den Haubenzwergfischer und das Pfirsichköpfchen, meinen absoluten Liebling – ein kleiner Papagei im Regenbogenkleid, der immer im Flusslauf oberhalb unseres Gehöfts sein Bad nahm.
»Der Vogel da ist so …«, sagte ich.
Und mein Vater ergänzte: »Unnötig, irgendwie.«
Das ist Schönheit wohl immer.
Dass ich ohne sie nicht leben kann, fand ich erst später raus.
Dann sagte mein Vater: »Unnötig extravagant.«
Ich sagte: »Was heißt das?«
»Das hier«, sagte er, drehte sich im Kreis und deutete auf alles in der Umgebung, den Himmel und die Bäume und das klare Wasser über den Kieseln.
Meine Familie wusch sich weiterhin in dem kleinen Flusslauf, wie die Vögel.
Am Anfang waren wir zu neunt.
Die Zwillingsmädchen: Gloria und Douce, die am liebsten in den glitzernden Brautjungfernkleidchen herumtanzten, die die Baptisten in Plastiksäcken mitgebracht hatten.
Die Zwillingsjungen: Wilfred, benannt nach einem englischen Missionar, der mal auf unserer colline lebte (und später dort auch starb), und Claude, benannt nach einem französischen.
Pierre war stark und starrköpfig, und man wusste nie, was in ihm vorging.
Bei Zion, dem Jüngsten, wusste man es genau. Schon von klein auf trug er das Herz auf der Zunge, wie man so sagt.
Auf dem Gesicht meines Vaters lag immer eine Art Leuchten, als hätte er eine Kerze im Innern, die durch seine Augen flackerte. Ich sehe sein freundliches Lächeln vor mir, von einem Ohr zum anderen, und höre sein Lachen, das aus irgendeiner geheimnisvollen inneren Quelle hervorsprudelte. Ich sehe seine Hände, wie sie aus einem Stöckchen eine Pfeife, aus Kokosnuss und Zwirn einen Fußball für uns formen.
Ich spüre die Umarmung meiner Mutter, die Achseln leicht feucht auf meinen Schultern, ihre warme, weiche Brust an meiner Wange, und ein wohliges Kribbeln vom Nacken bis in die Fußsohlen: Geborgenheit.
Ich sehe uns alle zusammen ums Feuer sitzen, die Zwillingsmädchen, singend, Pierre still vor sich hin brütend, die Zwillingsjungen, buchstäblich unzertrennlich, an den Fußgelenken zusammengebunden, und das Baby in den Armen meiner Mutter noch von einem Rest Himmel beseelt.
»Wir nennen ihn Zion«, sagte mein Vater, als meine Mutter das Kind herauspresste, unter dem Lärm von Schüssen aus einem benachbarten Gehöft.
Die Frauen nabelten das Baby ab.
»Zion, ja!«, rief mein Vater. »Und wir träumen weiter von der Stadt, die da kommen wird!«
Am 31. Dezember 1999, dem letzten Tag des zwanzigsten Jahrhunderts und des alten Millenniums, einem Tag mit viel Potenzial für Drama, fand bei Pattons in Nummer 13 eine Silvesterparty statt. Es war das einzige frei stehende Haus im Willow Crescent und stand leer bis auf mehrere Türme identischer Pappkartons, jeder davon mit schwarzem Marker in mysteriösen vokallosen Chiffren wie SZ1/KS oder WZ/BR beschriftet, sodass man denken konnte, Mr Patton wäre beim Geheimdienst.
Wie sich herausstellte, diente die Jahrtausendwende nur als Vorwand, denn der eigentliche Zweck der Party bestand darin, den Patton-Kindern Gelegenheiten für allerlei musikalische Darbietungen zu geben. Und zwar praktisch alle fünf Minuten. Cello, Geige, Klarinette, ein Blockflötenensemble, und das Ganze wieder von vorn, bis wir anderen vor Langeweile fast gestorben waren.
Dann kam der 1. Januar 2000 – Julia und ich waren neuneinhalb, und das Science-Fiction-Zeitalter hatte begonnen.
Es ließ hoffen. Als könnte jeden Moment etwas Gewaltiges passieren. Als würde im nächsten Augenblick ein Bataillon Silberroboter im Crescent einmarschieren. In Wirklichkeit aber rollte am nächsten Tag, dem 2. Januar, ein Flügel über den Bürgersteig. Weil die Pattons (die, wie gesagt, sehr musikalisch waren) aus unserer Straße auszogen. Durchs Fenster sahen wir Tabitha Patton in einem komplett leeren Haus zwischen Umzugskartons Geige üben. Sie war zehn und bereitete sich auf die Musikprüfung in Stufe 8 vor. Sie war auf der Privatschule, wo anscheinend nur Genies rumlaufen.
»Stufe 8, das ist doch grausam«, sagte meine Mutter.
»Oder brillant«, sagte ich (nur aus Opposition, denn ehrlich gesagt konnte ich Tabitha Patton nicht ausstehen).
»Musst du mir immer widersprechen?«, fragte meine Mutter.
Wenige Tage später fuhr ein riesiger, mit ausländischen Wörtern beschrifteter Möbelwagen vor, und Umzugsleute trugen geschnitzte Bänke und strassbesetzte Kissen, antike Vogelkäfige, Hutständer und kanariengelbe Pappkartons ins Haus.
Doch viel besser als all das war das Eintreffen eines dunkelhaarigen Jungen, der scheinbar mühelos vier Kisten auf einmal tragen konnte.
Julia und ich lungerten draußen in unseren Regenmänteln herum, taten, als hätten wir irgendwo im Rondell etwas verloren, und beobachteten den Jungen im Schutz der Trauerweide – übrigens ein lausiger Beobachtungsposten, weil die Zweige viel zu dünn und fransig waren und uns nur bis zur Hüfte verdeckten.
Dann liefen wir rüber und suchten auf dem nassen Bürgersteig vor Nummer 13 weiter, murmelten was von verloren und erfuhren, dass der Junge Diego hieß. Unseren verlorenen Gegenstand vergaßen wir in der Aufregung wieder, und als Diego uns am nächsten Tag fragte, ob wir ihn gefunden hätten, hatten wir keinen Schimmer, wovon er sprach.
Im Rückblick betrachtet war er zwar bloß ein pummeliger Zwölfjähriger, aber er war drei Jahre älter als wir, und für uns war er der Größte mit seiner dunklen spanischen Haut und den schwarzen Augen. Seine Schwester hieß Paloma, was Taube bedeutet, wobei sie nicht gerade ein Täubchen war und dies vielleicht nicht der passendste Name für sie.
»An welches Tier erinnert sie dich denn?«, fragte ich Julia.
»Sag ich nicht«, antwortete sie.
Wir prusteten trotzdem los.
Dann tat es uns leid, und Julia sagte: »Sie hat ein hübsches Gesicht.« Was die Leute eben über dicke Mädchen sagen.
Meine Mutter kochte eine große Lasagne für die Neuankömmlinge, wie es bei ihr Brauch war. Mein Vater war schließlich Leiter der Nachbarschaftswache, da war dies ihrer Meinung nach das Mindeste, was sie tun konnte. Sie überreichte sie an der Haustür und spähte in den Flur, in der Hoffnung, hereingebeten zu werden.
»Es sah ganz schön kahl aus«, sagte sie bei ihrer Rückkehr, »soweit ich sehen konnte.«
»Sie sind doch gerade erst eingezogen«, sagte mein Vater. »Und bestimmt haben sie sowieso andere Bräuche.«
»Möbel werden sie sicher haben«, sagte ich.
Ein paar Tage später beging Diegos ausländische Mutter den Fehler, meiner Mutter die Lasagneform nicht zurückzubringen, die sie 1998 im Urlaub gekauft hatte und auf deren Boden die Worte Quimper, Bretagne zu lesen waren.
»Von einer neuen Nachbarin hätte ich was anderes erwartet«, sagte meine Mutter, die nicht genug Fantasie besaß, um sich in Menschen hineinzuversetzen.
Julia ging rüber zu Nummer 13, um die fehlende Form zu holen, und nahm ihr Lächeln mit. Auf dem Rückweg pflückte sie einen Zweig gelber Winterblüte aus unserem Garten und legte ihn in die Auflaufform, sodass die Küche, als meine Mutter später hereinkam, nach Blütenblättern duftete. Sie wusste einfach, wie man sie nehmen musste. Ich hätte hundert Jahre überlegen können und wäre trotzdem nicht auf die Idee gekommen, meiner Mutter einen Blütenzweig in die Lasagneform zu legen.
Wenn ich jetzt hier in La Higuera im Süden Spaniens meine Geschichte aufschreibe, kann ich, obwohl Hedley Green über dreitausend Kilometer weit weg ist, die Winterblüte im Vorgarten von Nummer 1 riechen, hab den Duft von Julias weichem, hellem Haar in der Nase, noch nass, frisch gewaschen mit Timotei-Shampoo, ich sehe es vor mir, wie es ihr über den rosa Morgenmantel fällt und darauf wartet, geföhnt zu werden. Manchmal setzten wir uns mit gespreizten Beinen hintereinander, zu zweit, manchmal auch noch mit Angela Dunnett aus unserer Straße und Julias leicht dusseliger Freundin Amy Atkins, föhnten und flochten einander die Haare und kreppten sie mit dem Crimper und wechselten uns damit ab, wer hinten sitzen musste und so diesmal nicht frisiert wurde.
»Angela Dunnett braucht vielleicht eher einen Quimper zum Kreppen«, sagte ich mit Blick auf die bretonische Lasagneform.
»Für ihren Sprachfehler kann sie doch nichts«, sagte meine Mutter. »Also lass die Schlaumeierei.«
Ich schämte mich zwar, aber fand es auch ein bisschen lustig, dass Angela Dunnett, die sich immer so toll fand, das R nicht richtig aussprechen konnte. Obwohl sie nur zwei Jahre älter war als wir, führte sie sich auf, als wüsste sie schon alles, was es über die Welt zu wissen gab.
Julia erzählte, dass Diegos Mutter Lola Alvárez hieß, wobei sie sich große Mühe gab, den Namen spanisch auszusprechen. Er bestand aus den schönsten Lauten, die ich je gehört hatte. Außerdem, fügte Julia hinzu, würde Lola Alvárez sich bestimmt doch noch als sehr gute Nachbarin entpuppen, sie hatte ein so liebes Lächeln.
Drei Monate später war es mit Julias Prognose nicht mehr weit her, denn inzwischen war der Vorgarten von Nummer 13 mit Unkraut überwuchert, was natürlich das Straßenbild verunstaltete. Meine Mutter meinte, wenn der Leiter der Nachbarschaftswache dieser Lola Alvárez das nicht sagen konnte, wer dann?
Also wurde mein Vater zu ihr hingeschickt. Doch bei seiner Rückkehr äußerte er Zweifel, ob seine Botschaft richtig angekommen war.
»Hast du überhaupt etwas gesagt?«, fragte meine Mutter.
»Ich hab gesagt, den Engländern ist ihr Heim heilig.«
»Das ist immerhin ein Anfang«, sagte meine Mutter.
»Ich frage mich, ob sie vielleicht den Unterschied zwischen Blumen und Unkraut nicht kennen«, sagte mein Vater. »Vielleicht ist es bei denen da anders.«
Er deutete in Richtung Bahnübergang, als läge Spanien hinter den Gleisen.
»Dann werde ich ihnen den Unterschied erklären, Stanley«, sagte meine Mutter.
Ich war dabei, als sie es tat, stand neben ihr und wäre am liebsten im Erdboden versunken, als sie sich vor dem Haus der Nachbarn die Locken zurechtstrich und schließlich klingelte. Ihre Wangen unter dem blassbeigen Make-up waren gerötet.
»Ihre Unkräuter sind meine Blumen«, sagte Diegos Mutter zu meiner Mutter und zwinkerte sie an, die Hände in den Taschen einer weiten Latzjeans, und lächelte wieder auf diese liebe Art, bei der sich kleine Fältchen an den Augenwinkeln bildeten.
Meine Mutter hatte nie gelernt zu zwinkern. Noch hatte sie das Bedürfnis. Noch hatte sie Verständnis für Erwachsene in Latzhosen.
Die sogenannten Unkräuter in Weiß, Blau, Gelb und Rot wuchsen weiter im Garten von Nummer 13, und ich fand sie wunderschön.
Ihre Unkräuter sind meine Blumen – noch so viele Jahre später denke ich an diesen Satz.
Ich wusste sofort, dass ich Diegos Mutter ins Herz schließen würde. Diegos Vater Fermín war hochgewachsen und dunkel und ein namhafter Wissenschaftler, der nach Hedley Green gezogen war, um das riesige Forschungslabor im Industriepark von Tattershall zu leiten. Diegos Mutter hatte eine Stelle als Spanischlehrerin im Oberstufen-College in Hinton gefunden, und sie trug ihre Haare in zwei Zöpfen, mit einer Rose in jedem Haargummi. Manchmal zog Fermín ihr Gesicht an den Zöpfen zu sich heran und küsste sie auf den Mund, mitten in der Küche. Ich war von diesem Anblick völlig hingerissen.
Wenn meine Mutter sich gegen die dunkle Brust meines Vaters lehnte wie gegen eine starke Wand und er die Arme um sie legte, die Hände vorn einhakte wie zwei Enden eines Gurts, dann wusste ich, uns konnte nichts Schlimmes passieren. Er war ja da, würde uns retten, was auch immer geschah.
»Wir brauchen alle einen Erlöser«, sagte er oft und lächelte dabei.
»Brauchen wir nicht«, sagte Pierre dann. Es verletzte meinen Vater, diese Angewohnheit, immer zu allem Nein zu sagen.
Nun aber kam wirklich ein Erlöser.
Nicht von oben aus dem Himmel.
Sondern über die Grenze aus Ruanda.
Mit dem Namen Melchior wie mein Vater, wie einer der drei Weisen.
Er war ein Hutu, wie wir.
Und dieser Hutu sollte Präsident von Burundi werden.
Und das, obwohl Hutu nicht Präsidenten wurden, nicht unter normalen Umständen, jedenfalls bis jetzt.
Hutu-Präsidentencollines