ISBN: 978-3-96152-215-6
Überarbeitete Neuauflage 2019, Oldenburg (Deutschland)
© 2019 Schardt Verlag, Metzer Straße 10 A, D-26121 Oldenburg
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Titelbild: marqs / photocase.de
Die Handlung und alle Personen des Textes sind frei erfunden. Alle möglichen Ähnlichkeiten mit tatsächlichen Vorgängen oder Ereignissen bzw. mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.
Alle Rechte vorbehalten.
Der Mond schien hell über dem Campingplatz Zur Sonne, fast zu hell für sein Empfinden. Vollmond. Nicht nur Umrisse von Zelten und Wohnwagen ließen sich deutlich erkennen, sondern Details, wenn auch verfälscht. Die Farben der Stoffe und Wände, selbst das Grün des Rasens, alles hatte einen grauen Schimmer angenommen. Dinge erschienen näher, als sie waren. Sein eigener Körper warf Schatten, und das um kurz vor Mitternacht.
Es war nicht schwer gewesen, sich aus dem Zelt zu stehlen. Die anderen schliefen im Wohnmobil nebenan, und seine Mutter würde kaum vor morgen früh nach ihm verlangen. Die ganze Nacht lag vor ihm, aber die würde er nicht brauchen, im Gegenteil. Es müsste innerhalb der nächsten Stunde geschehen, danach würden die Chancen schlechter. Seine erste Anlaufstelle hatte sich als Fehlschlag herausgestellt, leider, denn die Buchen neben dem Wohnwagen des Mädchens hatten ihm stets perfekte Deckung gegeben. Also war er weitergewandert, ziellos, aber immerhin ohne Geräusche zu verursachen. Der Rasen dämpfte die Schritte, solange man nicht auf die Steine trat. Irgendwo bellte ein Hund. In der Ferne dudelte ein Radio. Zwar ließ sich kein Mensch mehr draußen blicken, doch das leise Geklapper von Geschirr und Ähnlichem verriet, dass längst noch nicht alle schliefen.
In der Liebesgrotte vielleicht, dachte er und machte sich auf den Weg zum Strand. Vorbei an dem Waschhäuschen und dem alten Schuppen, dem verbotenen Trampelpfad folgend, quer durch die Dünen. Das Mondlicht spiegelte sich in der Ostsee, in der er vor wenigen Stunden gebadet hatte, um sich von der Hitze abzukühlen. Zu jenem Zeitpunkt war sein Plan, es wieder zu tun, bereits beschlossene Sache. Sein Verlangen wuchs mit jedem Schritt und erstaunte – ja erschreckte – ihn selbst. Wann hatte das angefangen? Wohin führte es noch?
Die Liebesgrotte war keine richtige Grotte, wurde von den Touristen aber so genannt. Die Felsen machten hier einen Bogen, was zwar kaum Schutz zum Unterstellen bot, dafür war der Boden angenehm weich. Er hatte Glück. Schon beim Näherkommen konnte er es hören, das Pärchen. Der Mann stöhnte laut. Die Frau quiekte. Ihre Stimmen kamen ihm seltsam vertraut vor, obwohl er nichts erkennen konnte. Aber das wollte er auch gar nicht. Es reichte, sie dabei zu belauschen. Alles andere hätte ihn angewidert.
Gleich würden sie so weit sein. Er ebenfalls. Es war für ihn das zweitschönste aller Gefühle.
Selbst beim Frühstück schämte Grit sich dafür, dass sie dem Gedanken an einen toten Menschen etwas Positives abgewinnen konnte. Seit Tagen hatte sie auf den Anruf gewartet, der ihr den Rückeinstieg ermöglichen würde, endlich wieder Geld verdienen für sich und ihre Brut, und als es so weit war, konnte sie vor lauter Aufregung kaum sprechen.
„Äh, guten Morgen, Herr Meier“, stammelte sie pflichtbewusst in den Hörer. Vor ihr auf dem Tisch dampfte eine Tasse Kaffee mit viel Zucker. Mehr brauchte sie morgens nicht – neben einer schönen warmen Dusche – zum Wachwerden.
Johannes Meier würde ihr höchster Vorgesetzter sein. „Frau Loch, ich habe Ihnen ein Team organisiert“, sagte er ohne Umschweife. „Sind Sie bereit?“
Bereiter konnte man nicht sein, entschied Grit. Die unbezahlten Rechnungen stapelten sich unter der Brotdose, der Versandhauskatalog, das Nagelstudio, die Reparatur ihres Seat Marbella, und ihr Göttergatte (oder die größte Missgeburt unter der Sonne, wie sie ihn seit der Scheidung nannte) schickte nur sporadisch einen Scheck. Obendrein weigerte sich die Familienkasse neuerdings, Kindergeld für ihren Sohn zu überweisen, weil er seine Ausbildung geschmissen hatte und lieber ominöse Leute traf, um sich selbst zu finden. Wie ein Aasgeier war sie bis zuletzt ums Telefon gekreist, doch das verdammte Klingeln hatte auf sich warten lassen wie der Tod eines alternden Gnus, und so hatte sie sich in den Gedanken hineingesteigert, dass nur ein Unglück, ein schweres Verbrechen sie aus ihrer Misere retten könnte.
„Sie kennen doch sicher Ahlbeck“, fuhr Meier fort. „Auf Usedom. Das mit der bekannten Seebrücke.“
„Ahlbeck? Selbstverständlich kenne ich das.“ Das Foto zwischen der Brotdose und dem Herd, das Grit immer betrachtete, wenn sie für Sven seine heißgeliebten Fischstäbchen briet, zeigte die damals junge Familie Loch beim Ausflug an den nahegelegenen Ostseestrand. So voller Fettspritzer wirkten die Körper darauf wie blutverschmiert.
„In der Nähe der Seebrücke liegt der Campingplatz Zur Sonne“, erklärte Meier weiter. „Dort befindet sich unser Tatort. Sie können direkt dorthin kommen.“
„Sie meinen – jetzt gleich?“ Grit schielte auf die Küchenuhr. Irgendwie hatte der Tag gerade erst angefangen, und sie hatte noch nicht einmal geduscht.
„Von mir aus auch heute Abend, aber ich befürchte, die Leiche des Jungen wird sich dann ganz woanders befinden. Und mit ihr mein Ermittlungsteam.“
Grit fasste sich an den Hals. Meier war bekannt für seinen Sarkasmus, so viel hatte man ihr anvertraut in einem dieser lächerlichen Eingliederungskurse, bei denen das eigentlich Interessante erst während der Zigarette zum Auto gelehrt wurde. Immerhin hatte er durch seine Bemerkung offengelegt, um was für eine Art Fall es sich handelte.
„Also, was ist?“, hörte sie ihren Vorgesetzten sagen. Es klang, als würde er langsam ungeduldig.
„Äh ...“
„Nur keine Panik, Frau Loch, der Kollege Ed Stenzl wird Ihnen alles erklären. Noch Fragen?“
„Nein. Ich meine eigentlich ja. Aber ...“
„Gut. Dann viel Erfolg!“ Meier legte auf.
Unschlüssig starrte Grit in ihre Tasse, die noch zu zwei Drittel voll war. Im nächsten Jahr wurde sie fünfzig, was in ihren Augen nur eine Zahl war, der man keine gesteigerte Bedeutung beimessen sollte, doch allmählich fühlte sie sich zu alt für ständig wechselnde Gelegenheitsjobs. Zudem würden ihre Kenntnisse jedes Jahr, das sie nicht in ihrem Beruf verbrachte, weiter verblassen, genauso wie die restlichen Bilder ihres Strandausflugs in der Kiste unterm Bett. Was wusste sie überhaupt noch von ihrer Ausbildung? Mit Ach und Krach durchgekommen, sowohl im fachlichen als auch sozialen Bereich, Grit schafft es nur mit Mühe, zu Vorgesetzten und Kollegen eine Beziehung aufzubauen, und worüber sie einst geschmunzelt hatte, war im Nachhinein ihr Todesstoß gewesen. Bei Beförderungen ständig übergangen, von einer Abteilung in die nächste versetzt, hatte sie die erstbeste Gelegenheit genutzt, dieser Tretmühle zu entkommen, und die hieß Henry Loch.
Sie erhob sich und schlenderte ins Bad, wo sie den reiflichen Entschluss umsetzte, auf die Dusche zu verzichten und stattdessen eine Katzenwäsche einzulegen.
Es war natürlich gelogen, dass sie keine Fragen mehr gehabt hätte. Dutzende lagen ihr auf der Zunge, angefangen damit, woran sie diesen Ed Stenzl erkennen würde oder in welcher Funktion sie überhaupt tätig wäre, und, verdammt noch mal, was sie anziehen sollte, wo man ihr keine Uniform gegeben hatte. Ihre einzige gute Stoffhose hing nass an der Leine über der Badewanne, eine Jeans wäre mit Sicherheit zu leger und ein Rock womöglich zu gewagt. Dazu kam, dass das Frühstücksfernsehen einen weiteren heißen Tag angekündigt hatte, ausgerechnet jetzt war vom trockensten August seit Beginn der Wetteraufzeichnungen die Rede gewesen.
„Ich scheiß auf deine Schecks, mein Schatz“, sagte sie und ließ den Waschlappen erst unter die Achseln und danach über ihren Nacken gleiten. Wo kein Wasser hinkam, musste eben ein gutes Deodorant aushelfen. „Demnächst schicke ich dir welche, was sagst du dazu? Ich habe nämlich vor, das hinzukriegen mit dem Programm.“
Beim Durchstöbern des Kleiderschranks fiel ihre Wahl auf dunkelblaue Bermudashorts und eine gelbe Bluse, die sie in Windeseile anzog, um sich noch einen ausgiebigen Blick in den Spiegel zu gönnen. Mit zusammengepresstem Mund begutachtete sie sich, recht zufrieden damit, vielleicht ein bisschen matt um die Augen, wie jemand, dem zu viele Weinbrand-Cola die Einsamkeit an langen Abenden vertrieben hatten, aber entschlossen, das Beste daraus zu machen. Mit etwas Rot auf den Lippen wirkte ihr Gesicht gleich frischer.
Ja, sie freute sich auf diesen Einsatz. Er war ihre Chance, und sie würde alles geben, sie würde interessiert sein, engagiert und pünktlich und versuchen, eine persönliche Beziehung zu Vorgesetzten und Kollegen aufzubauen. Ein toter Junge, verdammt, warum musste es unbedingt ein toter Junge sein … Sie atmete tief durch, kontrollierte den Inhalt ihrer Handtasche auf Vollständigkeit und öffnete die Wohnungstür.
Eine Fratze ließ sie zurückschrecken. Sven wollte gerade aufschließen, was ihm offenbar schwerfiel. „Wie siehst du denn aus?“, rief sie und trat einen Schritt zurück. Ihr Sohn roch wie eine Brauerei.
Sven versuchte, aufrecht zu stehen. Als hätte er eine Eingebung, fing er unvermittelt an zu grinsen. „Guck dich mal an. Willst du so raus?“
„Ja, zur Arbeit. Und ich bin schon zu spät.“ Grit überhörte den Spott in seiner Bemerkung. „Sie haben endlich ein Team für mich.“
„Also machst du wirklich ernst?“
Bevor sie darauf antworten konnte, torkelte Sven in ihre Arme. Das darf nicht wahr sein, dachte Grit. Nicht hier. Und nicht jetzt. Der Junge war auf der Stelle eingeschlafen.
„Mein Name ist Stenzl. Ed Stenzl. Und Sie können den Mund ruhig schließen.“
Die junge Frau starrte ihn an. Sie sah dabei aus wie ein Fisch. Ed war solche Reaktionen gewohnt. Zugegeben, er setzte seinen schlanken fünfundzwanzigjährigen Körper ganz bewusst als Waffe ein. Das blonde Haar zur Seite gescheitelt, selbst bei Hitze ein dunkler Anzug, nicht zu vergessen die schmale schwarze Krawatte. Und schließlich sein liebstes Accessoire, die Designer-Sonnenbrille, die er unabhängig von Jahreszeiten trug: Der erste Eindruck war der entscheidende.
„Hallo? Hier ist die Polizei. The Police. Polizia. Wie auch immer. Ich hätte gerne Ihren Boss gesprochen.“ Mit einer lässigen Geste, die lange einstudiert war, nahm Ed die Sonnenbrille ab, um seinem Opfer, in diesem Fall eine eher fade Blondine, direkt in die Augen schauen zu können. „Wenn es Ihnen nicht zu viele Umstände macht.“
Die junge Frau lachte dümmlich, als hätte sie soeben einen Witz gehört und sogar verstanden. Sie war rein äußerlich betrachtet von undefinierbarer Herkunft und machte keine Anstalten, ein Wort zu sagen.
Ed lehnte sich mit den Ellbogen auf die Theke und ließ zu, dass sein Hemd zwischen zwei Knöpfen eine kleine Falte warf. Er wusste, sein Eau de Cologne würde auf diese Weise voll zur Geltung kommen. „Das Mädchen wird uns sicher eine große Hilfe sein“, sagte er zu seinem Kollegen, der neben ihm fast unsichtbar wirkte.
„Davon bin ich überzeugt“, erwiderte der. „Sag mal, Ed, hast du schon gehört? Wir erwarten heute Damenbesuch.“
Ed lächelte und zeigte eine nahezu vollkommene Reihe weißer Zähne. „Wenn du damit die alte Loch meinst, oh ja, wie ich mich darauf freue. Sie sollte eigentlich längst da sein, oder?“
Sein Plan funktionierte. Die junge Frau stand geräuschvoll auf, als ihr keine Aufmerksamkeit mehr zuteilwurde, und begab sich durch den Fransenvorhang in ein anderes Zimmer.
„Ist sie weg?“, fragte Ed.
Der unsichtbare Kollege nickte. „Ich behalte die Tür im Auge.“
„Dann los.“ Er beugte sich über den Tresen und griff nach dem Gästebuch. In verschiedenen Schriften und Farben waren Einträge zu Namen, An- und Abreisedatum, Stellplatz und etlichen weiteren Angaben gemacht worden. Ed überflog sie, blätterte einige Seiten und legte alles sorgfältig wieder zurück. Dabei entdeckte er ein schwarzes Notizbuch, das im Spalt zwischen Computerbildschirm und Thekenwand steckte, und zog es hervor. Schwarze Notizbücher waren die perfekten Geheimnisträger.
„Sie kommt“, flüsterte der Kollege.
„Der Boss kommt sofort zu Ihnen“, sagte die junge Frau fast im selben Moment. Der Aussprache nach war sie also Skandinavierin. „Was machen Sie da?“
Ed hatte eine Broschüre des Campingplatzes über das schwarze Notizbuch gelegt. „Und wir befinden uns hier?“ Er deutete mit dem Finger auf die Abbildung.
Sie kam lächelnd um die Theke herum. „Nein. Das sind die Waschräume. Wir sind hier.“
„Hier?“
„Ja.“ Sie kicherte wieder. „Da, wo Rezeption steht.“
„Darf ich das mitnehmen?“
„Ja, klar.“
Ed steckte die Broschüre mitsamt Notizbuch in seine Anzugtasche. Bis hierhin lief alles reibungslos, fast schon zu reibungslos für seinen Geschmack.
„Es tut mir leid, dass Sie warten mussten. Ich hoffe, Tessa hat Sie in der Zwischenzeit gut unterhalten.“
Ed und sein Kollege schauten auf.
Ein schwarzhaariger Mann trat durch den Fransenvorhang in den Empfangsraum. Bis auf sein rotes Halstuch war alles an ihm dunkel: die Kleidung, die Augen, selbst die Haut hatte einen gräulichen Schimmer. Obwohl eher schlank von Statur, füllte er den gesamten Raum hinter der Theke aus. Das, was er sagte, war hier Gesetz. Er stellte sich als Roberto Müller vor.
„Ja, ich fand sie äußerst inspirierend“, antwortete Ed, obwohl er fast sicher war, dass der Mann keinen Kommentar zu Tessa erwartet hatte. „Stenzl. Ed Stenzl. Und das ist mein Kollege Brenner. Wir sind von der Kripo Anklam.“
„Ich weiß. Eine ganz furchtbare Geschichte ist das. Wir werden Ihnen selbstverständlich so gut es geht unter die Arme greifen. Wir haben nichts zu verbergen.“
„Das hört man gerne.“
Tessa hustete.
„Mach uns doch mal Kaffee, Tessa-Mäuschen. Aber nimm von dem guten.“ Müller gab ihr einen Klaps auf den Po.
Ed tat, als sähe er ihr nach, in Wirklichkeit verschaffte er sich einen zweiten Überblick über die Rezeption. Ein holzvertäfelter Raum, niedrige Decke, an der Wand eine Pinnwand mit Informationen für Gäste, so viel sah man sofort beim Hereinkommen. Jetzt aber fielen ihm die Spinnweben in den Ecken auf. Ein halbes Dutzend der Plakate wiesen auf Veranstaltungen hin, die längst Vergangenheit waren. In dem Regal über dem Schreibtisch stand eine Reihe verschiedener Wörterbücher. Der kleine Campingplatz hatte demnach internationales Publikum. „Was können Sie uns zu Ihren Gästen sagen?“, fragte er beiläufig.
Der dunkelhaarige Mann schaute von Ed zu Brenner und zurück. „Nichts, gar nichts, was denken Sie denn? Nichts Privates, meine ich. Es sind Leute, die Urlaub machen wollen. Eine gemischte Truppe, vom Anwalt zum Müllmann. Holländer sind immer darunter. Dänen. Manchmal Polen.“
„Keine Stammkunden?“
„Doch, natürlich. Einige kommen schon seit Jahren. Sie lieben die Ruhe und Abgeschiedenheit.“
„Ich verstehe. Also jeder lässt jeden in Ruhe.“
„So ist es.“
„Und keiner weiß etwas vom anderen.“
„Bis auf den Vornamen vielleicht.“
Ed wartete ein paar effektvolle Sekunden, dann feuerte er ab. „Ich hätte gerne eine Aufstellung aller Gäste der letzten – sagen wir – zwei Monate inklusive der Stammgäste. Sie haben sicherlich auch Kopien ihrer Legitimationsdaten?“
„Bitte?“
„Eins muss Ihnen klar sein bei einer polizeilichen Ermittlung, Herr Müller. Privat gibt es nicht. Ich gebe Ihnen einen guten Rat. Sollten Sie vergessen haben, einen Ihrer Mitarbeiter beim Finanzamt anzumelden, oder stellt sich heraus, dass nur ein einziger Zuckerwürfel nicht offiziell über die Bücher geht, teilen Sie uns das lieber sofort mit. Sie ersparen uns eine Menge Arbeit und sich eine Menge Ärger, glauben Sie mir. Apropos Zucker ...“
Müller hob die Augenbrauen.
„Hatten Sie nicht was von Kaffee gesagt? Oh ja, das war clever.“ Ed wies seinen Kollegen an, ihm zu folgen. „Hörst du das? Hier muss irgendwo ein Shredder stehen. Ich nehme an, Tessa-Mäuschen kennt ihre Aufgaben genau.“ Er ging in einen schmalen, schlecht beleuchteten Flur, Brenner hinter ihm, und konnte durch eine offene Zimmertür erkennen, wie die junge Frau eifrig Papiere vernichtete.
„Sie dürfen da nicht ohne Durchsuchungsbefehl rein“, rief Müller ihnen nach.
„Das wollen wir mal schön bleiben lassen, Tessa-Mäuschen.“ Ed nahm ihr die restlichen Unterlagen aus der Hand. Sie wehrte sich nicht, lächelte nur, als wäre es ihr egal. War es vermutlich auch, aber auf die Schnelle ließ sich das nicht beurteilen. Ihr Boss dagegen begann zu gestikulieren und wüste Beschimpfungen von sich zu geben.
Ed wartete einfach ab, bis der Mann sich beruhigt hatte. Hunde, die bellen, beißen nicht, dachte er, das Sprichwort ließ sich auf vermeintliche Steuersünder übertragen. Nicht, dass das seine Baustelle wäre, aber man konnte nie wissen. An den Türrahmen gelehnt, sagte er zu seinem Kollegen: „Ich denke, Herr Müller ist jetzt bereit, unsere Fragen zu beantworten. Immerhin hat er ja nichts zu verbergen, nicht wahr?“
Dessen Schweigen war Ed Antwort genug. Mit zufriedenem Gesicht setzte er seine Sonnenbrille auf. „Ihr kommt dabei bestimmt ohne mich aus.“
„Und was machst du?“, fragte Brenner.
„Ich? Ich gebe Piwi Bescheid. Mal sehen, was die Spurensicherung treibt. Hey, vielleicht ist die Loch schon da. Ein herrlicher Tag. Tessa-Mäuschen: Sie können den Mund wieder zumachen!“
Mit einem beherzten Griff ums Handgelenk hatte Grit ihren Sohn in die Wohnung gezogen. Bestimmt stand die alte Frau Petzokat aus dem Erdgeschoss längst am Treppengeländer, um zu belauschen, was die Ziege aus dem 1. OG mit ihrem missratenen Bengel veranstaltete.
Sven steckte in Schwierigkeiten, das sah man auf den ersten Blick. Und damit war nicht das strähnige Haar oder die zerrissene Jeans gemeint, beides gehörte zu seinem gewöhnlichen Auftreten. Es war eher die Art, wie er die Nase hochzog, wie bei einem Schnupfen. Das Wort Kohle fiel mehrere Male, als er – auf den Küchenstuhl gepresst und wachgerüttelt – einen wirren Bericht ablieferte. Geld, was sonst, Autos und Prag? Sie würden am Abend ausführlich miteinander reden, versprach Grit so sanft es nur ging, bevor sie ihren Sohn in sein Zimmer schob und aufs Bett legte, daneben einen Eimer für alle Fälle. Und eine Flasche Mineralwasser. Und eine Kopfschmerztablette. Dann gab sie ihm einen Kuss auf die Stirn. Er schien von alledem nicht viel mitzubekommen.
Schließlich rannte sie durchs Treppenhaus, nicht ohne Frau Petzokats Wohnungstür mit einem bösen Blick zu belegen, stieg in ihren Seat Marbella, der seit der unbezahlten Reparatur wieder richtig gut zog, machte unterwegs noch kurz Halt für eine Besorgung beim Bäcker und erreichte – einem gnädig gestimmten Verkehrsgott sei Dank – knapp eine Stunde nach Johannes Meiers Anruf den Campingplatz direkt hinter Ahlbeck am Strand von Usedom.
Am liebsten wäre sie einfach die Strandpromenade entlangflaniert und hätte anschließend den Fischimbiss gegenüber vom Minigolfplatz aufgesucht, in dem Svens Vorliebe für Meeresfrüchte entflammt war.
„Pünktlichkeit: ausreichend“, notierte sie dann in Gedanken. Was das Thema Beziehung zu Kollegen und Vorgesetzten aufbauen anging, hatte sie allerdings einen Trumpf im Ärmel: einen weißen Pappkarton. Stolz nahm sie ihn in beide Hände und wollte aussteigen, als ihr neues Handy klingelte. Grit hatte es erst vor wenigen Tagen bekommen, von der Firma, wie sie ihren Arbeitgeber gelegentlich nannte. Es gab Leute, denen man ihre Teilnahme an einem Programm der Polizei zur Wiedereingliederung lieber nicht auf die Nase band. Aus Versehen drückte sie statt der grünen die rote Taste und wies den Gesprächspartner ab. Sekunden später klingelte es erneut.
„Ja, Loch?“
„Mamaaaa?“ Mit einem herzzerreißenden Schrei durch die Telefonleitung beschwerte Sven sich, dass seine Mutter ihn alleine zurückgelassen hatte. Wider Erwarten war es ihm nicht gelungen einzuschlafen, und weil er nichts mit sich und seiner Zeit anzustellen wusste, bat er sie, auf dem Rückweg wenigstens eine Packung Zigaretten mitzubringen.
„Ich muss auflegen“, erklärte Grit. „Ich habe zu tun. Wir reden heute Abend, wie besprochen.“ Sorgfältig drückte sie die rote Taste und verspürte in derselben Millisekunde den Drang, ihren Sohn sofort zurückzurufen. Es war gar nicht lange her, dachte sie, da wollte Sven, dass man ihm Schokolade oder einen Comic mitbrachte. Was machte sie hier überhaupt? War das Programm der richtige Weg? Oder hatte sie den Beruf nicht vielmehr aus freien Stücken aufgegeben, damals, um ganz für ihr Kind da zu sein? Und augenscheinlich wurde sie immer noch gebraucht.
Sie können heute Abend hinfahren, aber ich befürchte, die Leiche des Jungen wird sich dann woanders befinden, hallte die Stimme ihres Vorgesetzten in ihren Ohren wider. Die meisten Frauen aus den Eingliederungskursen hatten den ersten Praxiseinsatz bereits hinter sich gebracht. Die meisten waren enttäuscht worden, weil sie nur zusehen, maximal den unbeliebten Schreibkram im Anschluss erledigen durften. Grit fuhr mit der Hand über den Karton auf ihrem Schoß, dann packte sie ihn kurzentschlossen und stieg aus dem Auto.
Rezeption stand auf dem Schild über dem Eingang der Hütte, doch drinnen gab es niemanden, der nach Polizei oder nach Campingplatzpersonal aussah. Drei dicke Kinder spielten Kicker und veranstalteten einen Heidenlärm. Das Rentnergrüppchen, das daneben saß und in Zeitschriften blätterte, schien sich daran nicht zu stören. Grit stellte den Karton auf die Theke und betätigte einen Klingelknopf.
Einer der Rentner nickte ihr zu, was sie erwiderte. Kurz darauf erschien in dem Durchgang, der weiter in das Gebäude führte, ein Mädchen mit extrem langer Nase. Es kaute Kaugummi und schmatzte laut. „Ja bitte?“
„Äh, mein Name ist Grit Loch.“
Das Mädchen kaute ein paarmal, dann sagte es: „Sie wollen einen Stellplatz?“
„Nein, ich will zu den anderen.“
„Welche anderen?“
Grit hatte befürchtet, dass das passierte. Wäre sie bei dem Telefonat mit Johannes Meier nur nicht so feige gewesen, mehr Informationen von ihm einzufordern.
„Ist Ed Stenzl da?“
„Wer zum Kuckuck ist Ed Stenzl?“
In ihr keimte ein Verdacht. „Der tote Junge“, begann sie und ärgerte sich sogleich, die Worte laut ausgesprochen zu haben. „Sie, äh, haben nicht die Polizei gerufen?“
Das Mädchen hatte seinen Kaugummi zu einer gigantischen Blase aufgepustet und ließ sie augenblicklich platzen. Fetzen blieben ihm an der Nase hängen. „Papa, kommst du mal? Die Frau hier faselt was von einem toten Jungen.“
Der Mann, der durch den Durchgang zu ihnen an die Theke eilte, hatte offenbar nur auf sein Stichwort gewartet. „Ein toter Junge?“, rief er aufgeregt. „Auf unserem Campingplatz?“ Die Ähnlichkeit mit seiner Tochter war frappant, mit den Riechkolben hätten sie im Zirkus auftreten sollen.
„Äh ...“
„Sie wollten bestimmt zu Roberto Müller. Zur Sonne, eine Ausfahrt später. Wieso, was ist passiert? Wurde der Junge abgemurkst?“
Grit versuchte die Situation zu entschärfen, aber dafür war es wohl zu spät. Niemand wäre abgemurkst worden, erklärte sie. Es gäbe lediglich einen Todesfall, der näher untersucht werden müsse.
„Ach, kommen Sie“, sagte der Mann, „jeder weiß, dass Roberto Müller Dreck am Stecken hat. Es war nur eine Frage der Zeit, bis die Polizei das mitkriegt.“
„Aber dass er gleich einen Jungen tötet“, erwiderte die Tochter. „Hättest du das gedacht?“ Sie und ihr Vater hatten wahrscheinlich nur deshalb so große Nasen, damit sie sie besser in alles hineinstecken konnten.
Grit klemmte ihren Karton unter den Arm, entschuldigte sich vielmals und rannte aus der Hütte, bevor das Duo weitere Mutmaßungen anstellen konnte.
Sie hörte gerade noch, wie der Mann ihr hinterherrief: „Wann wollen Sie ihn denn verhaften?“