David Van Reybrouck
Oden
Aus dem Niederländischen von Waltraud Hüsmert
Mit zahlreichen Abbildungen
Insel Verlag
Ode an die Ex
Ode an die nächtliche Autofahrt
Ode an das geniale Tastentüfteln
Ode an das Offline-Sein
Ode an ein Schlachtfeld von Farbe
Ode an den verliebtesten Popsong aller Zeiten
Ode an die Brüderlichkeit
Ode an die namenlose Stelle
Ode an die Eifersucht
Ode an den Frühling
Ode an die Bahnhofsgaststätte
Ode an Anne Teresa de Keersmaeker
Ode an den schönsten Menschen
Ode an meine Narben
Ode an Sony Labou Tansi
Ode an den Mut
Ode an den ungeborenen Nachwuchs
Ode an den Lämmergeier
Ode an das Trampen
Ode an Joost Zwagerman
Ode an das Scheitern
Ode an Paris
Ode an die Konzentration
Ode an die Putzfrau
Ode an die Eucharistie
Ode an den Trost
Ode an das Stimmengewirr
Ode an das Wiedersehen
Ode an den Teppich von Bayeux
Ode an David Bowie
Ode an die Organspende
Ode an unsere religiösen Autoritäten
Ode an das Risiko
Ode an das Nichtfotografieren
Ode an Leonard Cohen
Ode an den Umkleideraum
Ode an das Zuhören
Ode an eine Transperson
Ode an die Toten in meinem Telefon
Ode an die Wehmut von Wendy Rene
Ode an William Kentridge
Ode an die Bindungsangst
Ode an die niederländische Sprache
Ode an die stille Liebe
Ode an die Nonchalance
Ode an Fatma Aydemir
Ode an Arvo Pärt
Ode an die älteren Freunde
Ode an die Schönheit
Ode an die Reue
Ode an die fluide Sexualität
Ode an Kofi Annan
Ode an den Bierdeckel
Ode an das Leben
Nachwort
Und da saßen wir auf einmal wieder. In einem Lokal in Brüssel, letzte Woche Montag. Es war Abend und wir saßen nebeneinander, so wie früher. Beobachteten die Leute, spürten den Schenkel des anderen, dachten an den Satz von Antoine de Saint-Exupéry: »Aimer, ce n’est pas se regarder l’un l’autre, c’est regarder ensemble dans la même direction.«
Ja, wir haben oft in die gleiche Richtung geschaut. Sechs Jahre lang. Bewegt von so vielem, staunend über noch mehr und manchmal einfach nur glücklich mit dem Apfel-Möhren-Ingwer-Saft, den wir sonntagmorgens füreinander pressten.
Und hier saßen wir nun. Nach drei Monaten Schweigen. Sie bestellte ein Glas Portwein. Wie seltsam, das tat sie früher nie. Alles war anders, und doch schien es wie ehedem.
Wer sind eigentlich die Menschen, die wir einst so geliebt haben? Das Wort »Ex« wird den intensiven, vielschichtigen Beziehungen nicht gerecht, die wir mit unseren früheren Lieben haben. Vielleicht sind die beständigsten Beziehungen in einem Menschenleben ja überhaupt mit ehemaligen Partnern möglich. Die Liebe ist vorbei, die Vergangenheit bleibt, so in etwa. Aber warum muss das so oft unerträglich sein? Und mit so viel Verbitterung einhergehen? Kummer, der sich als Härte tarnt. Verlust, der sich als Neid äußert. Todsünde. Die Freundschaft endet doch nicht, weil eine Beziehung vorbei ist? Wenn eine Form nicht mehr passt, verflüchtigt sich doch nicht der Inhalt?
Manchmal fließen Leben zusammen, manchmal fließen sie wieder auseinander. Rodaan Al Galidi schrieb darüber das schönste Abschiedsgedicht der niederländischen Lyrik:
Morgen
gehe ich zu der Frau, die ich liebe
und gebe ihr ihre Flügel zurück.
Natürlich ist es noch besser, wenn diese Flügel während der Beziehung nie verschwunden sind, doch Flügel sind so leicht, man weiß oft gar nicht, ob man sie überhaupt noch besitzt.
Ich habe keine Schwestern, aber ehemalige Freundinnen sind etwas Ähnliches, glaube ich. Frauen, die mich durch und durch kennen, vor denen ich nichts zu verbergen habe, die ich trotz allem immer noch mag. Ich weiß nicht, ob ich mit einer von ihnen noch mal neu anfangen möchte, aber ich weiß genau, dass ich die Zeit mit ihnen um keinen Preis der Welt missen möchte. Sie alle dürfen auf meiner Todesanzeige stehen.
Sie steht auf, um am Tresen noch etwas zu bestellen. Ich denke daran, wie ich vor langer Zeit einmal auf die Idee kam, eine Frau mit den Worten zu verführen: »komm, lass es uns miteinander versuchen, ich werde ein fantastischer Ex sein«, ein Versprechen, das ich sogar gehalten habe. Ich denke an das Wiedersehen mit einer anderen Frau: Schon gleich am Anfang wusste ich wieder ganz genau, warum ich damals mit ihr zusammen sein wollte, gegen Ende war mir wieder völlig klar, warum ich mich von ihr trennen musste. Die Beziehung im Zeitraffer.
Sie steht am Tresen. Ich sehe sie im Profil. Ich muss mich anstrengen, um ihre Schönheit nicht zu sehen. Es gelingt mir nicht. Dann eben Qual. In meinem Kleiderschrank hängen noch immer Dessous von ihr. Einst für sie gekauft, in Paris natürlich. Berauschend schön natürlich. Viel zu teuer natürlich. Ich weiß nicht, was ich damit machen soll. Zurückgeben? Jemand anderem schenken? Der Kleiderkammer spenden? Aber darf sich jemand anders in unsere alten Sehnsüchte hüllen?
Vielleicht sollte ich es besser nach Zagreb schicken. Dort gibt es das Museum of Broken Relationships, vielleicht das anrührendste Museum in ganz Europa. Ein Künstlerpaar hat es nach seiner Trennung gegründet. Was machen wir mit den Sachen, die uns beiden gehören, fragten sie sich. Komm, statt die CDs und Bücher pingelig aufzuteilen und mitzuschleppen als ständig offene Wunde, stellen wir sie einfach aus, als ein Memento unserer gemeinsamen Zeit. Das fand solche Resonanz, dass auch andere nach einem Beziehungscrash Gegenstände an das Museum schickten. Eine Audiokassette, einen Pullover, einen Boarding Pass, ein paar rosa Handschellen und, tatsächlich, eine Axt. Die noch immer wachsende Sammlung ist von herzzerreißender Schönheit.
Wo ist Europa? Dort ist Europa. Ich kenne keinen europäischeren Ort als dieses Museum in Kroatien. Wir sind der Kontinent der Verflossenen. Ich habe es nicht überprüft, aber ich vermute, dass wir die Statistik anführen. Das ist der Preis für die individuelle Freiheit, der wir uns seit der Renaissance erfreuen, und der romantischen Liebe, der wir seit der Romantik frönen. Aber dieses Museum ist auch ein Ort, an dem wir uns mit unserer Stümperhaftigkeit angenommen fühlen und wo wir Trost finden, weil wir uns in den Unvollkommenheiten und im Verlangen anderer wiedererkennen. Dieses Museum ist eine Kapelle, eine Wallfahrtsstätte für all die hitzigen, tropfenden Herzen, die wir sind.
Sie kommt auf mich zu mit der ihr eigenen arglos sinnlichen Art, sich zu bewegen. Sie hat ihr Portemonnaie unter den Arm geklemmt, während sie die zwei Gläser Bier vor sich her trägt. Der seltsame Portwein war nur eine Anwandlung, denke ich. Ich nehme ein Glas entgegen, sie setzt sich wieder dicht neben mich, wir stoßen an, wir lächeln, wir trinken einen ersten Schluck. Und im Hinterkopf höre ich Grillen und Satie und es rauschen die Turbinen der Erinnerung, während sich meine ganze Haut fragt, ob ich diesen Apfel-Möhren-Ingwer-Saft jemals noch mit jemand anderem werde trinken können.
Du bist an dem Punkt angekommen, an dem du kein Auto mehr vor dir siehst und keines mehr hinter dir. Der Rückspiegel? Dunkles Glas. Die Autobahn vor dir? Dunkler Asphalt. Du fährst mit eingeschaltetem Fernlicht und atmest tief durch.
Wie oft bist du diese Strecke gefahren? Die Autobahn von Amsterdam nach Brüssel. Für einen Bahnreisenden fährst du erstaunlich gern Auto. Vor allem nachts. Nur nachts eigentlich. Tagsüber: Gezockel, Gewimmel, schlechte Prosa. Nachts: Poesie. Das Brummen des Motors hörst du nicht mehr. Der Abfolge deiner Gedanken folgst du nicht mehr.
Du schwimmst.
Du schwimmst durch das schlafende Land. Du schwimmst und du denkst an deine Kindheit, als du auf dem Rücksitz eingeschlafen bist neben deinem älteren Bruder und erst aufgewacht bist, wenn du die Stimme deiner Mutter gehört hast. Ihre melodiöse Stimme. »Wir sind zu Hause.« Du denkst an deinen Vater, der die Scheinwerfer ausschaltete und den Motor abstellte. Die Augen geschlossen lassen. Nicht wollen, dass es real ist. Sich weiter verbergen wollen im Beutel der Nacht.
Schwimmen. Denken. Denken an die Lesung, die du gerade gehalten hast. Die Freunde, die du getroffen hast. Den Redakteur, mit dem du dich unterhalten hast. Die frühere Liebste, mit der du essen warst. Ihr schallendes Lachen. Die Umarmung zum Abschied. Eine Liebe geht nie zu Ende, denkst du, sie ändert höchstens die Form.
Im Radio läuft ein langsamer, schwüler Song. Danach hast du keine Lust mehr auf Satie oder Philip Glass. Du stellst Radio und CD-Player aus und dimmst die Lichter des Armaturenbretts runter. Das Navi hast du gar nicht erst an der Scheibe befestigt. Du kennst den Weg. Es ist ein ruhigeres Fahren ohne Display, freier vor allem. Dunkler auch.
Das Hollands Diep. Rechts siehst du das dunkle Wasser. In einiger Entfernung: die Lichter einer Raffinerie. Von hier an ist die Autobahn viel leerer, bis Antwerpen. Die Niederlande und Belgien ähneln nachts dem französischen flachen Land am Tag: endlose Leere mit Ackerland und Feldern.
Oder Deutschland. Straßen, Straßen und Straßen und hin und wieder eine Stadt. Was war zuerst da: die Straßen oder die Städte? Wir fahr’n fahr’n fahr’n auf der Autobahn. Kraftwerk. Du fragst dich, ob es noch die Sendung gibt, die früher nach Mitternacht im deutschen öffentlich-rechtlichen Fernsehen ausgestrahlt wurde: Straßenfeger. Bilder aus einem fahrenden Auto gefilmt. Als säße man mit an Bord von Koblenz nach Hannover und würde durch die Windschutzscheibe blicken. Hin und wieder sah man eine anonyme rechte Hand am Steuer. Man konnte Videos davon kaufen.
Das Schönste aber sind Baustellen. Die Straße wird schmaler. Du drosselst das Tempo. Du fährst zwischen durchgezogenen gelben Linien und matt blinkenden Lichtern. Es gibt keinen Stau, du bist der Einzige. Dann siehst du sie: außerirdisch große Maschinen, die weißes Licht vor sich her schieben. Dampfende Erde. Teerschwaden. Schürfendes Geräusch. Die Schmiede der Götter. Und dazwischen hektische Kobolde mit Schutzhelmen. Nein, das hier ist für mich kein Zeitverlust. Es ist Mythologie.
Gleich darauf öffnet sich die Straße wieder in die Dunkelheit. Deine Scheinwerfer sind ein Schleppnetz für deine Gedanken. Du fährst und lebst in drei Zeitebenen zugleich. Du denkst an morgen. An das, was du tun musst. An heute. An früher. An den Tod natürlich auch, wie so oft. Du fährst und du denkst an Beckett: »I have never been on a road to somewhere. I have just been on a road.«
Es ist ein Sommerabend und 1989. Ich gehe mit Peter durch die Straßen von Brügge. Ich bin siebzehn, er achtzehn, und wir kommen gerade aus der Redaktionssitzung einer Literaturzeitschrift, an der wir mitarbeiten. Es ist noch nicht ganz dunkel. Bei einem breiten, weißen, großbürgerlichen Haus stehen die Fenster im ersten Stock offen. Das Zimmer ist hell erleuchtet. Ein so intensives Licht sahen wir noch nie von einer Zimmerdecke sprühen: Es sind die Anfangstage des Halogen-Deckenfluters.
Aber das Merkwürdigste ist der Klang.
Aus den hohen, offenen Fenstern plätschert die wunderbarste Klaviermusik. Klassische Musik ist es nicht, Pop, Rock und New Wave Gott sei Dank ebenso wenig. Wohlgemerkt: Es ist 1989 in Brügge. Mädchen tragen noch immer große, dreieckige Ohrringe, dreieckige Frisuren, dreieckige schwarze Pullover, die eine Schulter frei lassen. Die Schulter ist natürlich knochig und dreieckig. Wenn sie tanzen, drehen sie sich schauderhaft langsam um die eigene Achse – der Saturn rotiert schneller – und fixieren die Schnürsenkel ihrer Springerstiefel, als glaubten sie, dort eine Lösung ihrer Probleme zu finden. Wer sie anspricht – oft genug probiert –, blickt in zwei leere Augenhöhlen, als schaue er durch ein umgedrehtes Fernglas und versuche, mit einem Karpfen zu kommunizieren.
Und dann das hier. Was ist das?
Peter und ich lehnen an der noch warmen Fassade des Hauses gegenüber. Ein Klang wie helles, ungeschliffenes Kristall. Kullernd, stolpernd. Übt hier vielleicht jemand? Komm, wir klingeln. Ein unrasierter Grieche öffnet ziemlich verärgert. »Haben Sie gerade Klavier gespielt?«, frage ich überflüssigerweise. Hinter ihm im Flur hören wir die Musik weiter spielen. Nein, aber na schön, den Namen will er uns aufschreiben. Ich reiche ihm das Notizbuch, das ich als junger Dichter, wie ich meine, immer bei mir haben muss. Keith Jarrett, schreibt er, The Köln Concert.
Darf man noch das Lob eines Kunstwerks singen, von dem man als Halbwüchsiger berauscht war? Bei dem man an zahllose Zimmerdecken starrte und die Risse im Verputz seiner Seele zählte? Eine Platte, von der inzwischen fast vier Millionen Exemplare verkauft wurden, die erfolgreichste Jazz-Soloplatte überhaupt?
Ja, das ist erlaubt.
Etwas so lala zu finden, weil es bereits genug bejubelt wurde, ist blasiert. Etwas nicht mehr zu schätzen, weil es nicht mehr als Distinktionsmerkmal taugt, ist snobistisch. Es braucht ja gerade Mut, die Frische eines Klassikers wieder ungeniert sehen zu können und sich zu der eigenen bleibenden Rührung zu bekennen, auch wenn sie nicht besonders originell ist.
Also los: Frische.
Die ersten vier Töne. Sol, re, do, la. Schüchtern, fragend, verhalten. Du hast immer gelaubt, dieses Live-Konzert hätte irgendwo in einem Fußballstadion stattgefunden, dieser Mann hätte irgendwo bei der Mittellinie an seinem Flügel gesessen. Das Coverfoto auf dem Doppelalbum ließ so viel Raum vermuten hinter dem Gesicht mit dem üppigen Haarschopf. Inzwischen weißt du, dass es ein Innenraum war, die Kölner Oper. Freitag, 24. Januar 1975, kurz vor Mitternacht. Wegen einer Opernaufführung konnte das Konzert nicht früher beginnen.
Sol, re, do, la. Das Publikum schmunzelt. Vierzig Jahre später hört man es noch immer auf der Aufnahme. Manche glauben, dass er die Melodie des Gongs imitiert, der die Opernbesucher zu ihren Plätzen ruft. Der neunundzwanzigjährige Jazzpianist Keith Jarrett ist schließlich für seine Improvisationen bekannt. Doch nein, keine Ironie. Der Pianist greift die Phrase auf, arbeitet sie aus, die Melodie steigt an, zerflattert, die linke Hand steuert eine erste Akkordfolge bei. Er hält die Augen geschlossen.
Es ist der 24. Januar 1975. Die seit sieben Monaten die Erde umkreisende sowjetische Raumstation Saljut 3 wird an diesem Tag gezielt zum Absturz in der Erdatmosphäre gebracht. In den Niederlanden ist der Geher Cor Gubbels, geboren 1898, gestorben. Die Zeugen Jehovas haben das Ende der Welt prophezeit, schon zum vierten Mal. Und allerorts herrscht das Jahr der Frau.
Die vierzehnhundert Menschen im Saal wissen nicht, dass das Konzert wenige Stunden zuvor fast abgesagt worden wäre. Jarrett war nachmittags zusammen mit einem Freund, dem deutschen Kontrabassisten und Mitgründer des Labels ECM, Manfred Eicher, in einem R4 aus der Schweiz nach Köln gefahren. Sechshundert Kilometer in einer Sardinenbüchse. Es ist auffallend warm für die Jahreszeit. Als sie ankommen, ist er wie gerädert. Die Veranstalterin des Konzerts entpuppt sich als ein achtzehnjähriges Mädchen, Vera Brandes. Er hatte sie bei den Vorbesprechungen um einen Bösendorfer Imperial gebeten, doch die Bühnentechniker der Oper haben einen minderwertigen Übungsflügel bereitgestellt. Das Topinstrument stand unauffindbar hinter einer Brandschutztür.
Beim Soundcheck verliert er jeden Mut. Die hohen Töne klingen schrill, die tiefen sind aus Zinn, ein Teil der schwarzen Tasten klemmt, und die Pedale funktionieren auch nicht. Versuche, von irgendwo aus der Stadt einen anständigen Flügel zu holen, scheitern kläglich: Es hat angefangen zu regnen, kein Wetter, um einen Bösendorfer nach draußen zu schicken, keine Versicherung würde für den Schaden aufkommen. Die junge Veranstalterin fleht und droht. Ihre Argumentation sei »nicht jugendfrei« gewesen, räumt sie später ein. Jarrett sagt: »Okay, weil du’s bist.« Ein Stimmer macht sich ans Werk und versucht, das Unding aufzumöbeln. Ein Techniker von ECM schleppt zwei Mikrofone an.
Sol, re, do, la. Weil der Stutzflügel viel zu klein ist für den riesigen Saal, muss das Publikum mit voller Aufmerksamkeit lauschen. Das sorgt für eine ungemein konzentrierte Intimität. Jarrett spielt vor allem auf dem mittleren Teil der Tastatur. Doch diese Beschränkung führt zu einem grandiosen, einmaligen Kunstwerk, einem zufällig entstandenen Epos aus Kristall.
Der erste Teil des Köln Concert dauert sechsundzwanzig Minuten. Jarrett hat weder eine Partitur noch einen Plan. In den ersten fünf Minuten lässt er so ziemlich alle Emotionen Revue passieren: Melancholie, Freude, Ungeduld, Vitalität – ein stream of consciousness in Klängen. Dann, ab der sechsten Minute, kommt Struktur hinein. Jarrett stampft mit dem Fuß auf dem Boden mit, nein, sein ganzes Bein ist es jetzt, das stampft. Wohin führt das? Nirgendwohin, wie sich zeigt: eine Minute später wieder Stille. Doch halt, ab der siebten Minute wird plötzlich ein pulsierendes Motiv geboren, vorwärtsdrängend, heftig. Jarrett wechselt zwischen zwei Akkorden, die sich gegenseitig aufputschen. Es wird pure Erotik. Spielt er diese Akkorde oder spielen die Akkorde ihn? Er steht auf, er muss stöhnen. Es ist kein Gimmick. Es ist sein Körper, der schuftet und genießt. Eineinhalb Minuten dauert diese orgiastische Sequenz. Dann ist es vorbei. Es sind noch keine neun Minuten vergangen.
Die folgende Viertelstunde ist ein einziges langes Nachspiel. Die Musik verschnauft, steht auf, geht pinkeln, kehrt zurück, streichelt einen Rücken, leckt über die Schulter und lacht. Später, bei Minute achtzehn, wird auch noch kurz gezankt, aber es ist nur ein kleines Geplänkel. Der Rhythmus kehrt zurück, sanfter als vorher, die Liebe lodert wieder auf, erst in allerletzter Minute versteckt sich die Musik wieder in einer Ecke, und Keith Jarrett lässt den Raum wieder schrumpfen.
Dass es heute Musiker gibt, die diese Improvisation so exakt wie möglich nachzuspielen versuchen, ist ziemlich lächerlich. Wie kann man so wenig begreifen? Dass Keith Jarrett irgendwann all die Millionen LPs am liebsten hätte schreddern lassen, ist sehr begreiflich: Als Underground-Künstler war er gegen seinen Willen zum Weltstar geworden, es machte ihn im buchstäblichen Sinne krank. Doch dass Generation auf Generation die Schönheit eines magischen Augenblicks weiterhin für sich entdecken kann, ist wunderbar: nicht aus nostalgischer Sehnsucht nach den Siebzigern, sondern aus dem Bedürfnis nach Frische, nach Freiheit, nach Wahrheit.
Vorigen Sommer wollte ich den Cambrian Way gehen, eine dreiwöchige Wandertour durch Wales. Doch eine Woche nach meinem Aufbruch stand ich schon wieder auf dem Bahnhof Brussel-Zuid. Es hatte mir nicht gefallen. Vom Regen vertrieben? Nein, es wütete sogar eine Hitzewelle in Wales. Essen ungenießbar? Bei dreißig Grad konnte ich durchaus von Tiefkühlerbsen leben. Landschaft monoton? Im Gegenteil. Herrlich. Aber was dann?
Zum ersten Mal hatte ich auf einer Reise ein Smartphone dabei.
Ich hatte das Ding ein halbes Jahr zuvor gekauft und es erschien mir als recht praktisch, unterwegs B&Bs, Busfahrpläne und Unwetterwarnungen checken zu können. Außerdem brauchte ich dann keinen Fotoapparat mitzunehmen – schon wieder 300 Gramm eingespart.
Tja, eben nicht. Ich war nicht mit leichterem Gepäck unterwegs, sondern trug schwerer. Wenn ich abends im Zelt lag, las ich, was meine Freunde alles auf Facebook geteilt hatten. Statt des bewährten und von mir heiß geliebten Studiums der Wanderkarten ließ ich mich auf ausführliche Chats mit entfernten Bekannten ein und brillierte mit geistreichen Sprüchen und witzigen Kommentaren.
Aber wenn ich anschließend in meinen Schlafsack kroch, spürte ich nicht die wohlige Müdigkeit nach einem anstrengenden Tag in der Natur, sondern eine seltsame Art von Aufregung, als würde hinter meinem Brustbein, dicht beim Magen, ununterbrochen ein Teelicht flackern, so eins mit Batterie.
Ich war nicht in Wales, ich war in meinem Display. Ich war überall und nirgends. Vielleicht ist das ja die Crux des permanenten Online-Seins: Man ist nie mehr wirklich irgendwo. Alles wird zum Hier. Man wird auseinandergezogen, zerfasert, bis eine dünne Schicht von einem über große Teile Europas und noch weiter gespannt ist.
Und das Seltsame war: Ich konnte nichts dagegen tun. Obwohl ich für gewöhnlich recht stabil bis sehr diszipliniert im Leben stehe, schaffte ich es diesmal nicht, diesen idiotischen Umgang mit dem Smartphone zu zügeln. Ich hatte Urlaub, ich war allein und ich war online: eine tödliche Kombination. Es fühlte sich zu schön an, dieser endlose Strom von herzlichen Nachrichten. Es war schlimmer als ein Fernsehbildschirm in einem Wartesaal: Ich konnte nicht nicht hinsehen.
Was für ein Unterschied zur Situation zwei Jahre zuvor, als ich die ganzen Pyrenäen durchwanderte. Ich hatte den Zug von Brüssel nach Hendaye genommen, dem letzten französischen Städtchen an der Atlantikküste. Dort nahm ich die SIM-Karte aus meinem altmodischen Handy und schickte sie per Post nach Hause. Im Hochgebirge gab es ohnehin kein Netz. Ich hatte die beste Zeit meines Lebens.
Warum können wir uns so schwer allem entziehen, was uns ablenkt, zur Eile antreibt und auf lange Sicht sogar weniger glücklich macht? Die Antwort ist einfach: Weil es uns kurzfristig glücklich macht oder zumindest: uns ein Glücksgefühl beschert.
Wie jeder Mensch denke ich nicht, dass ich eine schwächere Willenskraft habe als andere, doch mein Primatengehirn, das Resultat von einigen Millionen Jahren natürlicher Selektion, ist offenkundig noch nicht an dieses 21. Jahrhundert angepasst. Es schnellt hoch bei jeder kleinen Nachricht, es freut sich über jede kleine App, es giert nach jedem neuen Benachrichtigungston – dem modernen Äquivalent von Pawlows Glocke. Ich vermute, dass sich sogar mein Herzschlag und meine Atmung jedes Mal für einen Moment beschleunigen, wenn etwas Neues ankommt. Vielleicht ist das ja gerade das Problem: Mein prähistorisches Gehirn findet dieses ganze Internet eigentlich ausgesprochen gesellig und unterhaltsam.
Liegt das an mir? An meinem Beruf? An meiner Generation? Wenn man dem belgischen Neuropsychiater und Publizisten Theo Compernolle glauben darf, betrifft es jeden, auch die Allerjüngsten. In seinem wichtigen Buch Ontketen je brein [Entfessle dein Gehirn] demontiert er den Mythos, dass Kinder besonders gut seien im Multitasking. Man lasse die eine Hälfte der Klasse während des Unterrichts SMS austauschen und die andere Hälfte nicht. Dann höre man den Lehrstoff ab: Die SMS-Kinder erzielen bedeutend schlechtere Leistungen.
Er zitiert eine spektakuläre Studie mit 3500 Mädchen von acht bis zwölf Jahren in den USA. Die Kinder fühlten sich signifikant unglücklicher und unsicherer, je häufiger sie die sozialen Medien nutzten. »Der Gedanke, dass Online-Kommunikation einen reichhaltigen sozialen Raum schafft, der die soziale und emotionale Entwicklung junger Mädchen unterstützt, wird durch unsere Ergebnisse widerlegt«, lautete das Fazit der Forscher.
Theo Compernolle fasste die Resultate von mehr als sechshundert solcher wissenschaftlichen Publikationen zusammen, in etwa so, wie Al Gore es mit den Ergebnissen der Klimaforschung gemacht hat. Sein Fazit ist eine ebenso unbequeme Wahrheit: Sie tut uns nicht gut, diese permanente Vernetzung. Ja, wir können in Windeseile Informationen aufspüren und auf mehreren Kanälen gleichzeitig unterwegs sein, doch unsere Konzentration, unser Wohlbefinden und unsere Kreativität lassen dabei nach. »Wenn Steve Jobs ständig mit seinem iPhone herumhantiert hätte, hätte er nie das iPhone erfunden.«
Nein, Steve Jobs schwor auf lange Spaziergänge.
Einst, als dieses unablässige Bombardement psychosozialer Reize noch nicht losgebrochen war, wird der kleine Schuss Glücksgefühl zweifellos nützlich gewesen sein, doch in Zeiten des Überangebots dreht bei vielen die Mechanik durch. Es ist ein bisschen so wie mit dem Zucker: Da er in der Natur nur selten vorkommt und der Körper ihn in begrenztem Maße benötigt, erleben wir ein Glücksgefühl, wenn wir ihn gelegentlich verzehren. Aber da heute ein totales Überangebot herrscht, können wir es nicht lassen und kämpfen mit Krankheiten wie Adipositas und Diabetes.
Eigentlich bewirken Facebook, Twitter und WhatsApp nichts anderes als Coca-Cola und Pepsi: Sucht. Durch knallrote Punkte, die die Aufmerksamkeit auf sich lenken, durch die Bereitstellung deines Fotos, noch ehe du weißt, ob du auf eine Nachricht antworten willst, durch Begriffe wie »Freunde«, »Follower« und »Likes«, durch »Aktivitätenprotokolle«, »Benachrichtigungen« und persönliche Statistiken begehen sie Missbrauch mit unserem in die Irre geleiteten Gehirn, um eine möglichst große Abhängigkeit von etwas zu erzeugen, das wir nicht ständig benötigen und das uns sogar schaden kann.
Und vielleicht sind wir in einer individualisierten Welt auch einfach einsamer. Und suchen deshalb unser Heil in einem Simulacrum zwischenmenschlichen Kontakts.
Schon seit neun Jahren habe ich ein Büro in einem alten Fabrikgebäude in Brüssel gemietet, einzig und allein, um dort offline sein zu können. Ich habe dort alle meine Bücher und Theaterstücke der vergangenen Jahre geschrieben. Ich finde dort etwas, was zu einer Seltenheit geworden ist: entschleunigte Aufmerksamkeit. Die Tage fühlen sich länger an, ich bin fokussierter und entspannter. Wenn ich abends mit dem Rad nach Hause fahre, weiß ich, was ich an dem Tag getan habe.
Ich habe gezögert, diesen Essay zu schreiben, aber ich vermute, dass es nicht nur mir so ergeht. Dass es eher eine Sache des kollektiven Herumtrödelns als der individuellen Schwäche ist. Trotzdem scheint eine Kultur der Scham zu gedeihen. »Es wird wohl an mir liegen«, hört man dann. Und ich denke: Jedes gesellschaftliche Scheitern wird anfangs als individuelles Scheitern erlebt.
Wir sollten nicht gegen das Internet sein, wohl aber gegen die kritiklose Akzeptanz des Dogmas, dass überall online zu sein stets besser ist. Vielleicht brauchen wir internetfreie Zonen. Vielleicht brauchen wir internetfreie Tage, als Äquivalent zum autofreien Sonntag. Aber was wir vor allem brauchen, ist Mut, um uns mit ein paar unangenehmen Fragen auseinanderzusetzen.
Finden wir es normal, dass das Internet ungebeten unser Leben und unseren Geist derart mit Beschlag belegt? Finden wir es normal, dass die von uns selbst entwickelte Technologie einen so großen Einfluss auf unser Verhalten hat? Sollten wir uns nicht öfter fragen, was die Technologie mit uns macht, statt zu überlegen, was wir mit Technologie machen?
Übrigens: Das Smartphone besitze ich immer noch, aber das permanente Online-Sein habe ich runtergeschmissen. Ich beschränke mich auf WLAN. Und diesen Sommer will ich nach Grönland.