Deborah Moggach
Die Liebe einer
Tochter
Roman
Aus dem Englischen von Katharina Förs
Insel Verlag
Die Liebe einer Tochter
Das Erste, was ihr auffiel, war ihre Haut. Sehr weich für eine Fünfzigjährige. Unheimlich weich sogar, aber Mandy hatte keine Kinder zur Welt gebracht und war, soweit Phoebe wusste, auch nie verheiratet gewesen – es fehlte also die normale Abnutzung, die Frauen verbraucht aussehen lässt.
Schön war sie nicht, ganz und gar nicht. Die übergewichtige Frau mit der Brille im Stil von Rosemary West trug eine Pudelmütze und gestreifte Strumpfhosen, und sie hatte irgendwie etwas Männliches an sich. Einige Zeit später erzählte sie Phoebe: »Ich habe mal probiert, lesbisch zu werden, aber es war einfach nicht mein Ding. Ich stehe auf Männer, sie riechen so gut unter den Achseln.«
Phoebe mochte sie, wirklich. Sie war ihre Rettung gewesen, nachdem ihr Vater gestürzt war. Zwei Pflegerinnen waren gekommen und wieder gegangen. Rejoice aus Simbabwe, die Radio 4 liebte und sich entsprechend ausdrückte. Sie hatte dem Vater eine Art Maisbrei zu essen gegeben, der seine Eingeweide verstopfte. Dann kam Teresa aus der Grafschaft Donegal, die eine Liebesaffäre mit einem Gepäckabfertiger am Flughafen Luton führte und ihm, in eine Wolke von Zigarettenrauch gehüllt, ständig Textnachrichten schrieb. Die Antworten las sie laut vor, während das Wasser im Kessel verdampfte und Phoebes Vater dehydrierte.
So kam schließlich Mandy als rettender Engel, Mandy aus Solihull. Sie kam in ihrem zuverlässigen Fiat Panda und brachte selbstgebackenes Shortbread mit, da ihre Spezialität, Haferkekse, dem Gebiss eines alten Herrn nicht zuzumuten gewesen wären. Diese ersten Anzeichen von Empathie nahmen die gewöhnlich eher argwöhnische Phoebe gleich für sie ein. Mandy summte Musicalmelodien, während das Wasser kochte. »Blood Brothers«, die Geschichte zweier bei der Geburt voneinander getrennter Zwillingsbrüder, mochte sie am liebsten. Sie erzählte, sie habe das Musical dreimal gesehen und sich jedes Mal die Augen ausgeweint.
Später sollte Phoebe verstehen, warum. Aber vorerst war sie einfach nur dankbar, dass diese stämmige, mitteilsame Frau in ihr Leben getreten war und sie selbst ebenso wie ihren Vater wieder zur Vernunft gebracht hatte. Schon nach wenigen Tagen war Mandy unverzichtbar geworden.
Es war ein stürmischer Herbst in dem Dorf, in dem ihr Vater lebte. Äste brachen von den Bäumen, und der Rasen war mit Zweigen übersät. Den kläffenden Hund von nebenan brachte ein Herzstillstand zum Schweigen; er wurde eine Woche später leblos unter einem Haufen gegen eine Mauer gewehter Blätter gefunden. Der Jack Russell war eine ständige Quelle des Ärgers gewesen, doch der Verlust seines alten Feindes trübte den Glanz in den Augen ihres Vaters und ließ ihn noch tiefer in Schwermut verfallen.
Die Zeit des Jahres magst in mir du sehn,
Wenn spärlich letzte gelbe Blätter fallen,
Die Bäume kahl vor Kälte zitternd stehn,
Die Vögel schweigen in den öden Hallen.
Wusste der Himmel, warum ihre Eltern im Rentenalter hier in die Cotswolds gezogen waren. Das Dorf war tot, absolut tot. Nur die Namen erinnerten noch an den Geist der Vergangenheit: The Old Smithy, The Bakehouse … Honigsteinhäuser, deren Bewohner längst verstorben waren. Nur an den Wochenenden, wenn die Londoner anreisten, ihre dicken Geländewagen vollgepackt mit rebellischen Teenagern und Tüten gehobener Supermärkte, erwachte der Ort zum Leben, um nach ihrer Abreise wieder in dumpfe Starre zu verfallen. Was tat ihr Vater bloß den ganzen Tag? Als ihre Mutter noch lebte, hatte er mit ihr streiten können, wie es Männer zu tun pflegen, die von ihren Liebsten abhängig sind. Heute blieb ihm nur noch, sich über die Busfahrer zu ärgern, die draußen parkten, und sie zu beschimpfen, weil sie, auch nachdem die japanischen Touristen längst ausgestiegen waren, um das Dorf zu durchstreifen und Selfies aufzunehmen, ihre verdammten Motoren noch lange weiterlaufen ließen und die Abgase in sein Wohnzimmer zogen.
Dass er sich die Hüfte gebrochen hatte, hatte ihn schlagartig in die Hilflosigkeit katapultiert. Er schaffte die Treppen nicht mehr, also hatten sie ein Einzelbett ins Erdgeschoss gestellt. Das Ehebett stand oben. Vierundsechzig Jahre lang hatte er, zu Hause wie im Ausland, behaglich neben seiner in Träumen versunkenen Frau geschlummert. Nun schlief er im Erdgeschoss, allein in seinem keuschen Bett. Das Zimmer ging zur Straße hinaus. Eines Morgens öffnete er die Vorhänge und sah sich einer Touristin gegenüber, die sein Fenster als Spiegel benutzte, um ihren Lippenstift aufzutragen. »Ich wohne in einem verdammten Museum«, grummelte er. »Ich bin eine verdammte Wachsfigur.«
Aber er war nicht mürrisch von Natur aus, sondern vermisste bloß seine Frau und verabscheute das Altern – wer tut das nicht? Seine Freunde waren größtenteils verstorben, und inzwischen gab es niemanden mehr in seinem Umfeld, der sich noch an den Krieg erinnerte. Selbst die ältesten Dorfbewohner waren erst in den Sechzigern. Der mörderische Wind, der über das kahle, schöne Hochland blies, hatte ihre Gesichter vorzeitig altern lassen.
Kein Wunder, dass die Pflegekräfte es nicht lange ausgehalten hatten. Besucher schlurften durch die romanische Kirche und aßen im Café Gebäck, ansonsten gab es hier nichts zu tun, und der Bus in das vergleichsweise pulsierende Städtchen Cirencester fuhr nur einmal am Tag.
Doch Mandy machte das nichts aus. Mandy machte überhaupt nichts etwas aus. Eine erfrischende Gleichgültigkeit umgab sie – wahrscheinlich, so mutmaßte Phoebe, eine Notwendigkeit in ihrem Job. Über die Menschen, die sie bisher gepflegt hatte, sprach sie voller Zuneigung, und sie weihte Phoebe in Details über zehrende Krankheiten, Morphium-Infusionen, Windeln und Demenz ein.
»Die liebe Frau Klein glaubte, in einem Hotel zu sein. Da musste man einfach mitspielen, wissen Sie? Sie sagte, Mir gefällt es nicht in diesem Hotel, also packte ich ihren Koffer und ging mit ihr um den Block. Wieder bei ihr zu Hause angekommen, erklärte ich: Dieses Hotel sieht netter aus, nicht wahr, meine Liebe? O ja, sagte sie dann, hier gefällt es mir besser. Also ging ich hinein und packte ihre Tasche aus. Damit war sie erst einmal vollkommen zufrieden – bis sie wieder unruhig wurde. Dann wiederholten wir das Ganze.« Mandy nahm einen Schluck aus ihrem Thermobecher. »Ich habe ihre Hand gehalten, als sie ihren letzten Atemzug tat, um vier Uhr morgens. Sie werden immer um vier Uhr geholt. Die Katze hat es gespürt, und ich auch.« Ihre Stimme klang seltsam heiter, als sie Phoebe davon erzählte. »Sie wusste, dass ich sie nicht im Stich lassen würde.«
Sie hatte Zeugnisse von dankbaren Familien im Gepäck, die sie mit Lob überschütteten. Mandy sprach allerdings abfällig von ihnen.
»Nie im Leben hätte einer von denen mal einen Hintern abgeputzt! Kam gar nicht in Frage! Dabei hatte man ihnen sehr wohl den Hintern abgeputzt, als sie Babys waren, oder etwa nicht? Daran dachte aber keiner! Alles rächt sich irgendwann; was man sät, wird man ernten. Ich glaube, ich war in einem früheren Leben Hindu.«
Diese Gespräche erfüllten Phoebe mit Unbehagen, aber sie hatte kein Recht, sich zu beklagen. Schließlich hatte Mandy sie gerettet.
Und wie schnell sie sich eingewöhnte! Nach einer Woche hatte man das Gefühl, sie sei schon immer da gewesen. Als eines Nachmittags die Tür zu ihrem Zimmer nur angelehnt war, riskierte Phoebe einen Blick und war überrascht über die Veränderung. Eine Häkeldecke mit schlampig aufgenähten Blumen lag unordentlich auf dem Bett. Darauf ein flauschiger Dachshund, aus dessen Bauch durch den offen stehenden Reißverschluss ein Nachthemd lugte. Mandy hatte ein Gemälde von der Wand genommen und durch eine Stecktafel mit Fotos ersetzt, die sie und ein paar Freundinnen an diversen Urlaubsorten zeigten. Ein Mann war auf keinem Bild zu sehen. Auf der Kommode standen eine Sammlung von Nippsachen – Porzellantiere und Ähnliches – sowie eine gerahmte Fotografie ihrer Eltern bei der Hochzeit. Überall lag Kleidung verstreut; das hier war ihr Allerheiligstes, und Phoebe errötete, weil sie so indiskret war.
Unbehaglich fühlte sie sich nicht, zu diesem Zeitpunkt. Vielmehr war sie eher erfreut, dass Mandy offenbar alle Hände voll zu tun hatte. Denn bei Gott, sie brauchte Mandy. Und ihr Bruder Robert auch.
Robert lebte nämlich in Wimbledon und sie selbst in Wales. Das Dorf des Vaters lag auf halbem Weg zwischen ihnen. In den letzten Jahren hatte es angesichts verschiedener Krisen öfter Auseinandersetzungen darüber gegeben, wer die Reise auf sich nehmen sollte. Robert war näher dran, aber der Verkehr aus London heraus war mörderisch. Außerdem erinnerte er Phoebe unterschwellig daran, dass er als Familienvater seine Verpflichtungen hatte. In Wahrheit waren seine Kinder längst aus dem Haus und er saß meist im Gartenhäuschen und versuchte zu schreiben, aber das anzusprechen vermied sie, denn es war alles andere als ratsam, seinen Roman zu erwähnen. Bloß nicht!
Phoebe selbst war eine alleinstehende Frau, nicht mehr jung und kinderlos – eine Situation, die sie (im Sinne von Jane Austen) fast schon verpflichtete, ihr Leben in den Dienst anderer zu stellen. Aber um keinen Preis hätte sie Robert aus der Verantwortung entlassen. Ihre Beziehung war kompliziert. Im Erwachsenenleben hatten sie sich einen höflichen Umgang angewöhnt, doch unter der Oberfläche brodelte es nach wie vor, und speziell wenn Alkohol im Spiel war, kam es leicht zu Streitigkeiten.
Mandy allerdings erleichterte alles. »Machen Sie sich keine Gedanken.« Sie stand in der Tür, ihre Brillengläser blitzten in der Sonne. »Jetzt bin ich hier, und alles ist in bester Ordnung.« Phoebe starrte in das glatte Gesicht, in dem die Vergangenheit keine Spuren hinterlassen hatte. Diese Frau war fünfzig! Hielt es jung, sich um andere zu kümmern?
Sie wusste damals noch wenig über Mandy. Nur, dass ihre Retterin mit ihrer orangefarbenen Teekanne und Putzhandschuhen aus Solihull angereist war, um sich um ihren Vater zu kümmern, damit sie wieder ihr eigenes Leben führen konnte.
Phoebe war nämlich gerade damit beschäftigt, eine Ausstellung ihrer Aquarelle vorzubereiten. Zwar würden die Bilder nur im Wartezimmer der örtlichen Arztpraxis hängen, doch sie erhoffte sich davon sogar einen Vorteil. Schließlich bestand durchaus die Möglichkeit, dass Menschen, denen ein Abstrich bevorstand, sich von einem ihrer Schafe getröstet fühlten. Oder, Gott behüte, sogar eines erwarben. Auch ihre neuesten Glasmalereien stellte sie aus – Trinkgläser, die sie mit Wildblumen verziert hatte. Davon hatte sie tatsächlich erst kürzlich bei der Handwerksmesse der Kriegsveteranen-Organisation zwei verkauft. Auf beiden war Wiesenkerbel abgebildet gewesen, woraufhin sie sich für die kommende Ausstellung ganz auf Doldenblütler konzentriert hatte – Süßdolde, Kerbel, solche Sachen.
Natürlich haben alle Künstler zu kämpfen. Sie war noch nicht so weit, dass sie sich das Ohr abgeschnitten hätte, aber doch zunehmend mutlos. Leider war der Markt in ihrer walisischen Kleinstadt übersättigt. Jeder zweite Einwohner war Künstler, die meisten von ihnen waren Frauen. Hasen und Schafe, Schafe und Hasen – das waren ihrer aller Themen. Die Ergebnisse ihrer Mühen wurden an der Hauptstraße ausgestellt – im Schaufenster des Zeitschriftenladens, an den Wänden des Cafés, sogar auf Staffeleien zwischen den Pantoffeln, Töpfen und der verstaubten Schaufensterpuppe im Nachtgewand, die wie betrunken im Fenster von Audrey's Emporium lehnte – einem Laden, der seit einer Ewigkeit seltsam unverändert geblieben war.
In Knockton blieb vieles unverändert. Allerdings war der Ort im Gegensatz zum Dorf ihres Vaters nicht tot, sondern eine pulsierende Kleinstadt mit vielen selbstständigen Einzelhändlern. Phoebe wohnte in einer Gasse hinter der Metzgerei im ehemaligen Schlachthaus. Ihre Atelierwohnung ging zum Hof hinaus, und beim Arbeiten hörte sie die dumpfen Schläge des Fleischerbeils, das die gleichen Tiere zerstückelte, die sie zu malen versuchte.
Eine Vernissage konnte sie nicht veranstalten, nicht in einer Arztpraxis. Doch da sie neugierig war, wie die Menschen auf ihre Gemälde reagierten, ging sie einfach hin – unter dem Vorwand, ein Rezept für die Östrogenpessare zu benötigen, die den Sex mit Torren weniger schmerzhaft machen sollten. Drei Leute saßen im Wartezimmer, alle mit ihren Handys beschäftigt. Die Vitrine, in die sie ihre Gläser gestellt hatte, war nun mit einem blauen Satintuch bedeckt, auf dem Werbematerial der Firma Nutribite arrangiert war, ergänzt durch ein Smoothie-Kelchglas und eine Schale mit Plastikfrüchten.
Genau in diesem Moment klingelte ihr Handy. Es war Mandy. »Wie geht es Ihnen?«, fragte sie. »Wollte mich nur kurz melden. Wir hatten einen wunderschönen Vormittag, stimmt's, Jimmy?«
Jimmy? Niemand nannte ihren Vater Jimmy. Sein Vorname lautete James. »Ich habe ihm eine Fußmassage verpasst, und er hat geschnurrt wie ein Kätzchen, stimmt's, mein Lieber? Er hat gesagt, dass es für ihn das erste Mal war, aber jedenfalls hat die Massage ein Lächeln auf sein Gesicht gezaubert, und sein Blutdruck ist total runtergegangen. Das wird auch bei seiner Verstopfung helfen. Dann haben wir uns warm eingepackt und sind die Straße entlangspaziert, um die Esel zu begrüßen. Nächstes Mal bringen wir ihnen Zuckerwürfel mit, nicht wahr, mein Lieber? Ich muss schon sagen, es ist das reinste Vergnügen, Ihren Dad zu versorgen. Er ist so ein Gentleman, und so interessant. Er hat mir alles über seine Arbeit an der Universität erzählt. Möchtest du deiner Tochter Hallo sagen?«
Ihr Vater kam ans Telefon. Er machte einen gutgelaunten Eindruck, aber da er meistens sehr höflich war, konnte man schwer beurteilen, was er wirklich dachte.
»Mandy hat mich mit höchst amüsanten Geschichten über ihre früheren alten Wracks unterhalten«, sagte er. »Einer war gläubiger Katholik, und sie fuhr in der Hoffnung auf ein Wunder mit ihm nach Lourdes. Während er beim Segnen war oder so, setzte sich Mandy in einen Rollstuhl und hielt ein Schläfchen.« Er begann zu kichern. »Und als sie aufwachte – als sie aufwachte –«, wiehernd vor Lachen brach er ab. »Erzähl du es ihr, Mandy.«
»Also, ich wachte auf und ging los –«
»– sie stand aus ihrem Rollstuhl auf«, erklärte Dad mit bebender Stimme. »Und als sie das tat, starrten alle sie an und fielen auf die Knie –«
»Und begannen zu beten!« Mandy schnappte sich wieder das Telefon. »Die Leute hielten es für ein Wunder. Kapiert?«
»Ja, ich hab's kapiert«, sagte Phoebe.
Ihr Vater ließ sich, immer noch schniefend vor Lachen, noch einmal den Hörer geben. »Von jetzt an nenne ich sie Saint Mandy. Die Schutzheilige der verlegten Brillen.«
Natürlich musste auch Phoebe lachen. Ihr Vater klang so fröhlich wie schon lange nicht mehr. November ist der schrecklichste Monat, die Kälte fährt einem aus irgendeinem Grund noch tiefer in die Knochen als im Winter, dabei steht der erst bevor. Für ihn als Witwer in einem Mausoleumsdorf irgendwo im Nirgendwo lohnte es sich jetzt, wo die Dunkelheit so rasch herabsank, ja kaum mehr, morgens die Vorhänge aufzuziehen.
»Dieses Mädchen ist das reinste Tonikum«, sagte er.
»Mädchen?« Sie hörte Mandy vor Lachen schnauben.
»Für jemanden meines Alters seid ihr alle Mädchen«, sagte er. »Es ist eine Schande, dass man die Jugend an Kinder vergeudet.«
Mandy quietschte. »Lustig, was du da sagst.«
»Das hat ein Mr Shaw gesagt.«
»Wer ist das?«, erkundigte sie sich. »Noch so ein intellektueller Freund von dir?« Sie schnappte sich das Telefon. »Ihr Vater hat versucht, mir zu erklären, was er wirklich macht – gemacht hat –, aber ich bin ein einfaches Gemüt.«
»Teilchenphysik«, sagte Phoebe. »Ich versteh das auch nicht.«
Da stand sie nun in der Arztpraxis und verspürte wieder das vertraute Gefühl, zu fallen. Ihr ganzes Leben lang hatte sie sich ungenügend gefühlt. Das war eine der wenigen Gemeinsamkeiten mit ihrem Bruder.
Denn ihr Vater war ein echter Intellektueller – Professuren, Bücher, bahnbrechende Forschungen. Robert hatte sich von Jugend an bemüht, mitzuhalten, während sie selbst einen anderen Weg einschlug. Beide hatten um seine Zuwendung gebuhlt, doch offenbar war er ausgerechnet dazu unfähig.
Selbst in dem Cottage. Selbst in Wales.
Robert saß in seinem Gartenhaus und tat, als schriebe er an seinem Roman. In Wahrheit dachte er über den Tod seiner Mutter nach und darüber, wie seine Schwester ihn in der Trauerzeit fast unmerklich in den Schatten gestellt hatte. Schon immer hatte Phoebe ihm das Gefühl zu vermitteln gewusst, er sei eben ein bisschen weniger sensibel als sie selbst. Er erinnerte sich genau daran, wie sie zu dritt bei Mum gesessen hatten, die leblos in ihrem Krankenhausbett lag. Dieses wächserne Gesicht, so vertraut und doch nicht mehr ihres, eine leere Mutter, deren Mund sich nach einem letzten, urweltlichen Gähnen nicht mehr geschlossen hatte.
Phoebe wandte sich an ihren Vater. »Willst du ein Weilchen mit ihr allein sein?«
Natürlich. Warum war ihm selbst das nicht eingefallen? Ein Punkt für Phoebe.
Und dann, nachdem der Vater sich von der Leiche – anders konnte man es nicht ausdrücken – verabschiedet hatte, kam Phoebe an die Reihe. Sie blieb eine Ewigkeit da drin, viel länger als er selbst, und als sie das Zimmer verließ, war ihr Gesicht tränenüberströmt. Sie umarmte ihren Vater, als könnten nur sie beide die Tiefe ihres Schmerzes wirklich verstehen, und weinte auf dem Weg nach Hause unentwegt weiter. Sie wühlte sogar in Roberts Tasche nach seinem unbenutzten Päckchen Taschentücher. Ein zweiter Punkt für sie.
Er selbst hatte überhaupt nicht geweint. Er spürte bloß eine ungeheure Erleichterung darüber, dass das Leiden ihrer Mutter endlich ein Ende hatte. Später weinte er doch, aber das bekam niemand mit, nicht einmal seine Ehefrau.
Punkt drei: ein Strauß Wildblumen, liebevoll in der von Hecken durchzogenen Umgebung gepflückt. Sein eigenes, üppiges Bukett nahm sich gegen Phoebes welkenden Blumengruß, der so von Herzen kam, vulgär und unpersönlich aus.
Er hatte das bei Krebs im Endstadium beobachtet. Es entstand eine unterschwellige Rivalität zwischen den Angehörigen – wer besuchte den Patienten am häufigsten, wer brachte ihm besonders sorgfältig ausgewählte Lebensmittel mit, wen hatte man am ausführlichsten über die medikamentöse Behandlung informiert, wer war der begünstigte Besucher, der als letzter vor dem Tod des geliebten Menschen ein langes, vertrauliches und aufschlussreiches Gespräch mit ihm führen konnte, wer trauerte am ausgiebigsten. Und dann waren da noch die Bekannten, die wie aus dem Nichts auftauchten und mitmischten – Leute, die mit dem Tod gut umgehen konnten und plötzlich ganz in ihrem Element waren. Ob es einem passte oder nicht, sie wurden mit ihrer Emsigkeit unentbehrlich, um anschließend wieder im Dunkel zu verschwinden. Natürlich waren das meistens Frauen.
Ganz schön kompliziert, diese Frauen. Seine Mutter, seine Schwester, seine Ehefrau. Er war nun zweiundsechzig und konnte immer noch nicht mit ihnen umgehen. Es war wie mit den Stromkästen in den Straßen. Unscheinbare Kästen, so langweilig, dass man sie kaum bemerkte. So waren die Männer. Wenn dann jemand vom Elektrizitätswerk sie öffnete, war man zutiefst erstaunt über die unzähligen feinen Drähte, die aussahen wie Kabelsalat, aber ihrer eigenen verblüffenden Logik unterlagen. Das waren sie. Die Frauen.
Seine Mutter zum Beispiel. Sie war genauso intelligent gewesen wie sein Vater. Die beiden hatten sich in Oxford kennengelernt, wo sie den Studiengang Politik, Philosophie und Wirtschaft mit einer Eins abschloss. Fotos zeigten eine ernsthafte, hochgesinnte Studentin. Selbst auf diesen vergilbten Schnappschüssen sah sie einschüchternd aus; die zum Bob geschnittenen Haare umrahmten ein markantes Gesicht mit hohen Wangenknochen. Eine Frau, die keine Kompromisse machte.
Doch genau das tat sie. Denn als Phoebe und er zur Welt kamen, fanden ihre Hoffnungen auf eine Karriere im öffentlichen Dienst ein abruptes Ende. Sie hätte das Zeug zur Senkrechtstarterin gehabt, von der Queen zur Dame erhoben zu werden, ja sie wäre sogar eine großartige Premierministerin geworden – prinzipientreu und sachlich und in höchstem Maße gerecht. Stattdessen wurde sie Mutter und saß zu Hause. Darin war sie weniger gut.
Damals kümmerten sich die Frauen ganz selbstverständlich um die Kinder, auch wenn sie vielleicht leisen Unmut gegen diese Rolle verspürten. Und während sie ihren beiden Sprösslingen die Windeln wechselte, wurde deren Vater immer erfolgreicher, schwirrte zu Konferenzen, verkehrte mit den Großen und Schönen, sammelte Ehren und nahm jeden, dem er begegnete, für sich ein. Denn er war ein Charmeur – attraktiv, witzig und selbstironisch. Seine Kollegen liebten ihn, seine Studenten liebten ihn, jeder liebte ihn.
Sogar seine Pflegerin liebte ihn, obwohl sie erst einen Monat bei ihm war. »Er ist wirklich ein Schatz«, sagte Mandy. »Ein richtiger Herr, und dieses Augenzwinkern! Wir haben einen Mordsspaß zusammen!«
Mordsspaß!
Robert blickte auf die Uhr. Schon eins; der Vormittag war wie im Flug vergangen. Auf seinem Laptop lag eine tote Wespe. Offenbar überwinterten sie in dem Gartenhäuschen und brachen dann wegen der Dämpfe, die der Petroleumofen verströmte, erschöpft zusammen. Nach dem Mittagessen brach auch er erschöpft zusammen. An der Wand stand eine durchgesessene Couch für seinen Mittagsschlaf.
Farida, seine Frau, lachte über sein Gartenhäuschen. »Wir wohnen in einem Haus mit fünf Zimmern in einer der angesagtesten Straßen von Wimbledon«, sagte sie. »Du hast dein eigenes Arbeitszimmer mit Zentralheizung, einem Eames-Stuhl, einer schönen Aussicht und Sensorlicht. Du hast ein ganzes verdammtes Haus, und wir haben drei höllische Jahre gebraucht, um es genau so zu bauen, wie es dir vorschwebte. Und da latschst du jeden Morgen feierlich runter in den Garten, um in einer schäbigen kleinen Hütte zu sitzen, wo du dich zwischen toten Insekten mit Petroleumdämpfen vergiftest.«
Farida verstand nichts vom kreativen Prozess. Dass Robert sich nur in seiner Hütte frei fühlte. Ein Romanautor braucht dieses Gefühl von Abstand, von Freiheit. Wenn er über den Rasen stapfte, spürte er, wie sein Alltagsleben von ihm abfiel und die Romanfiguren Einzug hielten. Sie warteten, um ihn zu begrüßen, sobald er die verzogene Tür schloss und sich in seinem Heiligtum niederließ.
Was sein Mittagsschläfchen anging – wer konnte ihm das schon vorwerfen? Das Problem war, dass er keine Nacht durchschlafen konnte. Farida musste um vier Uhr morgens aufstehen, um zur Arbeit ins Fernsehstudio zu fahren. Zwar legte sie abends schon ihre Kleidung bereit und gab sich Mühe, leise zu sein, aber er wachte trotzdem auf. Durch die Badezimmertür drang das leise Rauschen der Dusche an sein Ohr. Er hörte das Rascheln, wenn sie in ihre Designer-Garderobe schlüpfte, und ihr ärgerliches Schnauben, wenn der Reißverschluss klemmte. Aus Rücksicht ihm gegenüber hatte sie sich gewöhnlich auf Zehenspitzen aus dem Schlafzimmer geschlichen, ihre High Heels in der Hand. In letzter Zeit hatte sie das allerdings wohl vergessen, und wenn er tatsächlich noch schlief, wachte er spätestens dann auf, wenn sie über das Parkett und die Treppe hinunterstöckelte. Hatte diese neue Achtlosigkeit tiefere Gründe? Musste er sich Sorgen machen? Wie ihre Nachbarin Linda sagte: »Dass meine Ehe am Ende war, merkte ich daran, dass ich ihm nicht mehr die letzte Erdbeere überließ.«
Farida las im Frühstücksfernsehen die Nachrichten. Jeden Morgen sah Robert sich an, wie Terrorismus, Folter und Massenerschießungen aus ihrem blutroten Mund strömten. Manchmal, wenn sie Streit gehabt hatten, kam es ihm vor, als machte sie ihn verantwortlich; als sei die Autobombe in Damaskus ganz allein seine Schuld. Das war natürlich paranoid, aber er konnte sich des Gefühls nicht erwehren. Und dann wurde ihr Gesicht plötzlich weicher, wenn sie über den Nachwuchs des Königshauses berichtete, und alles war vergeben und vergessen.
Inzwischen hätte er sich eigentlich daran gewöhnen müssen. Sie machte diesen Job seit Jahren, aber es traf ihn immer noch, wie fremd sie ihm dann war. Er kannte dieses Gesicht so gut – aber Millionen anderer ebenfalls! Jeden Morgen teilte er sie zwei Stunden lang mit der ganzen Nation. Sie war atemberaubend schön – glänzende, bronzefarbene Haut, leuchtendes, blauschwarzes Haar. Klar, dass sie Männerphantasien weckte. Auch seine eigenen, wenn er sie aus diesem Abstand sah, leicht verwandelt durch den Bildschirm. Es verschaffte ihm, das ließ sich nicht leugnen, einen erotischen Kick, dass sie allen gehörte und doch er derjenige war, der sie nachts nackt in den Armen hielt.
Wobei sich zugegebenermaßen in diesem Bereich in letzter Zeit nicht mehr viel abspielte. Was natürlich angesichts einer langen Ehe auch zu erwarten war. In ihrer Beziehung war jedoch eine grundlegende Veränderung eingetreten, als er seinen Job in der City verlor.
Zunächst war Farida mitfühlend gewesen. Damals arbeitete sie noch für Newsroom South-East und berichtete über den traurigen Exodus der Leute, die man vor die Tür gesetzt hatte. Da saß sie in ihrem Designer-Kostüm und sprach in die Kamera, während man dahinter sehen konnte, wie die Männer – unter ihnen auch Robert – mit ihren kläglichen Kartons unterm Arm aus dem Bürogebäudekomplex strömten, hemdsärmeligen Landstreichern gleich.
O ja, anfangs hatte sie gut reagiert. Mit der Zeit aber hatte sich zwischen ihnen etwas verändert. Farida war alles andere als zur Krankenschwester geboren, und Robert war ein gebrochener Mann. Gebrochen, gedemütigt, haltlos, bedürftig … alles Eigenschaften, die sie ungeduldig stimmten. Sie brauchte einen Sparringspartner. Unter anderem das hatte sie für ihn attraktiv gemacht – ihre mit Intelligenz gepaarte Härte, ihr Mangel an Sentimentalität. Bei ihrer zweiten Verabredung hatte sie, als er bei Kerzenschein über den Tisch hinweg ihre Hand nahm, gesagt: »Ich neige nicht zu Affenliebe.«
Nein, sie neigte nicht zu Affenliebe, und für Misserfolg hatte sie genauso wenig übrig. In gewisser Weise respektierte er das, während er sich andererseits in Selbstmitleid und Verbitterung suhlte. Kein schöner Anblick, zumal er den ganzen Tag im Trainingsanzug herumschlurfte und den Geschirrspüler falsch einräumte.
In jener Zeit dachte Robert viel über seine Karriere und die damit verbundenen Machenschaften nach. Eigentlich taugte er dafür ganz und gar nicht. Er hatte sich darauf eingelassen, um seine Frau zu beeindrucken und zu zeigen, dass er ein ganzer Kerl war. Ebenso wollte er seinem Vater damit imponieren. Schau, auch ich kann erfolgreich sein! Was all seinen Unternehmungen letztlich zugrunde lag, war der Wunsch nach väterlicher Aufmerksamkeit.
Sein Lebensthema.
Nach seinem Nickerchen brütete er über Mandys Worten. Dass er und sein Vater zusammen herzhaft gelacht hatten, war lange her. Mit seinen Besuchen erfüllte er seine Sohnespflicht und hatte dabei ständig im Hinterkopf, dass er rechtzeitig losmusste, um nicht in der Hauptverkehrszeit auf der A40 unterwegs zu sein. Sein Vater war inzwischen ein entkräfteter alter Mann, der die meiste Zeit über im Lehnstuhl saß. Roberts Bedürfnis, sich zu beweisen, war so gut wie verschwunden. Ihre Beziehung hatte sich grundlegend gewandelt.
Robert erhob sich von seiner Couch und räumte die Decke weg. Obwohl inzwischen so viele Monate vergangen waren, roch sie immer noch nach Hund. Auch die Haare des geliebten Tiers hingen noch daran. Im Gegensatz zu seiner Frau waren Hunde sehr wohl zu »Affenliebe« fähig. Darum hielt man sie sich ja. Himmel, wie er ihn vermisste!
Nachdem er seine Hütte verlassen hatte, trottete Robert auf der Suche nach einem Keks zum Nachtisch in die Küche. Während er in der Speisekammer herumstöberte, dachte er an seinen Vater und daran, wie sich ihr Verhältnis seit dem Tod seiner Mutter verändert hatte. Bis dahin waren seine Eltern ihm unverwüstlich erschienen. Ihre solide Ehe hatte sie zusammengeschweißt, und aus dieser Bindung war er hervorgegangen; sie war Ausgangspunkt seines Lebens gewesen.
Inzwischen war das Universum seines Vaters geschrumpft. Überraschend kam das nicht: Sein Gesundheitszustand hatte sich verschlechtert, und er war plötzlich allein. Und nun streckte er vorsichtig wie eine Schnecke die Fühler aus, um Kontakt zu finden. Kein Zweifel, eigentlich suchte er seine Frau und die beruhigende Stabilität des erfüllten Lebens, das sie einst unermüdlich ermöglicht hatte. Doch all das gab es nicht mehr, es blieb nur die Erinnerung, und im Handumdrehen war er hilflos geworden. Roberts komplizierte Gefühle dem Vater gegenüber hatten sich auf etwas ganz Primitives reduziert: Mitleid. Das fand er trostlos. Kein Wunder, dass ihm das Scherzen vergangen war.
Doch Mandy hatte dem alten Mann wieder Leben eingehaucht. Ein Geschenk des Himmels! Sie rief fast jeden Tag an, um Robert über das Neueste zu informieren. Ihre Stimme heiterte ihn auf; der Birminghamer Akzent hatte sich noch nicht abgeschliffen. Diese mitteilsame Frau in ihrer groben, unglaubwürdigen Kluft war ihre Rettung.