Elena Ferrante
Tage des Verlassenwerdens
Roman
Aus dem Italienischen von Anja Nattefort
Suhrkamp
An einem Nachmittag im April verkündete mir mein Mann kurz nach dem Mittagessen, dass er mich verlassen wolle. Wir räumten gerade den Tisch ab, die Kinder zankten wie gewohnt im Zimmer nebenan, der Hund lag vor der Heizung und knurrte im Traum. Er sagte, er sei verwirrt, er fühle sich manchmal furchtbar müde und unzufrieden, vielleicht auch gemein. Er sprach ausführlich über unsere fünfzehn Ehejahre und die Kinder und gab zu, dass er weder ihnen noch mir das Geringste vorzuwerfen hatte. Er wirkte beherrscht wie immer, abgesehen von der übertriebenen Geste seiner rechten Hand, als er mit kindischer Miene erklärte, zarte Stimmen, eine Art Flüstern trieben ihn woandershin. Dann übernahm er die volle Verantwortung für alles, zog behutsam die Wohnungstür hinter sich zu und ließ mich versteinert neben der Spüle zurück.
Die ganze Nacht lag ich verzweifelt in dem breiten Ehebett und grübelte. Doch so gründlich ich die letzten Etappen unserer Beziehung auch überdachte, ich konnte keine richtigen Anzeichen einer Krise finden. Ich kannte ihn gut, ich wusste, dass er ein ruhiger Mensch war, der sein Zuhause und unsere Familienrituale brauchte. Wir konnten über alles reden, wir umarmten und küssten uns immer noch gern, und manchmal war er so witzig, dass ich Tränen lachte. Ich hielt es für ausgeschlossen, dass er wirklich gehen wollte. Als mir dann einfiel, dass er nicht einen der Gegenstände mitgenommen hatte, an denen er hing, und dass er sogar vergessen hatte, sich von den Kindern zu verabschieden, war ich sicher, dass es nichts Ernstes war. Er machte nur eine dieser schwierigen Phasen durch, wie im Roman, wenn eine Figur auf die ganz normale Unzufriedenheit völlig maßlos reagiert.
Im Übrigen war ihm das schon einmal passiert: Die Gelegenheit und die Umstände fielen mir wieder ein, während ich mich im Bett hin und her wälzte. Viele Jahre zuvor, wir waren gerade sechs Monate zusammen, sagte er mir unmittelbar nach einem Kuss, er wolle mich nicht mehr wiedersehen. Ich war in ihn verliebt, mir gefror das Blut in den Adern, ihn so reden zu hören. Er ging fort und ich stand fröstelnd an der steinernen Brüstung unter dem Castel Sant'Elmo und betrachtete die farblose Stadt, das Meer. Fünf Tage später rief er mich verlegen an und rechtfertigte sich, er sagte, plötzlich habe ihn so ein Gefühl der Leere gepackt. Diesen Ausdruck habe ich mir gemerkt, immer wieder wendete ich ihn in meinem Kopf hin und her.
Lange Zeit später gebrauchte er ihn erneut, es war noch keine fünf Jahre her. Damals hatten wir engeren Kontakt zu seiner Kollegin Gina, einer klugen, gebildeten Frau aus sehr wohlhabender Familie, die eine fünfzehnjährige Tochter hatte und seit kurzem Witwe war. Wir wohnten erst seit wenigen Monaten in Turin, sie hatte uns eine schöne Wohnung am Fluss vermittelt. Anfangs mochte ich die Stadt nicht, sie wirkte auf mich wie aus Metall; doch bald stellte ich fest, dass man vom Balkon aus wunderbar den Lauf der Jahreszeiten beobachten konnte: Im Herbst entlaubte der Wind den Parco del Valentino, die grünen Blätter färbten sich gelb oder rot und flogen durch den Nebeldunst, segelten über die graue Folie des Po; im Frühling erhob sich eine frische und funkelnde Brise vom Fluss und brachte Leben in die neuen Triebe, in die Zweige der Bäume.
Ich gewöhnte mich schnell ein, zumal Mutter und Tochter sich von Anfang an sehr bemühten, mir jede Last abzunehmen, sie zeigten mir die Umgebung und begleiteten mich zu den Händlern ihres Vertrauens. Doch ihre Hilfsbereitschaft war nicht ohne Hintergedanken. Meiner Ansicht nach gab es keinen Zweifel, dass Gina sich in Mario verliebt hatte, dieses ganze Getue, manchmal zog ich ihn unverhohlen damit auf und sagte: Deine Verlobte hat angerufen. Er winkte mit einer gewissen Genugtuung ab, wir lachten darüber, dennoch wurde das Verhältnis zu dieser Frau enger, und es verging kein Tag, an dem sie nicht anrief. Mal bat sie ihn, sie irgendwohin zu begleiten, dann schob sie ihre Tochter Carla vor, die Probleme mit den Chemiehausaufgaben hatte, und wieder ein anderes Mal suchte sie nach einem nicht mehr lieferbaren Buch.
Andererseits war Gina immer sehr großzügig, hatte stets eine Kleinigkeit für mich und die Kinder dabei, lieh mir ihren Minivan und gab uns für das Wochenende oft den Schlüssel ihres Hauses in der Nähe von Cherasco. Wir nahmen ihn dankbar an, es war schön dort, obwohl man immer damit rechnen musste, dass plötzlich Mutter und Tochter auftauchten und unser Familienleben durcheinanderbrachten. Außerdem war jede Gefälligkeit selbstverständlich mit einer anderen zu erwidern, inzwischen fühlten wir uns regelrecht gefangen in einer endlosen Kette von Höflichkeiten. Mario hatte allmählich die Rolle des Tutors für die Kleine übernommen, er war schon mit all ihren Lehrern im Gespräch, als vertrete er den verstorbenen Vater, und obwohl er mit seiner Arbeit überlastet war, fühlte er sich irgendwie verpflichtet, ihr Nachhilfestunden in Chemie zu geben. Was tun? Eine Zeit lang versuchte ich die Witwe auf Distanz zu halten, es missfiel mir immer mehr, wie sie sich bei meinem Mann unterhakte oder ihm lachend ins Ohr flüsterte. Eines Tages wurde mir dann alles klar. Durch die Küchentür beobachtete ich, wie die kleine Carla sich nach einer ihrer Nachhilfestunden im Flur von Mario verabschiedete, und statt ihm einen Kuss auf die Wange zu geben, küsste sie ihn auf den Mund. Ich begriff sofort, dass ich keine Angst vor der Mutter haben musste, sondern vor der Tochter. Vielleicht war es dem Mädchen nicht einmal bewusst, dass sie wer weiß wie lange schon an meinem Mann die Wirkung ihrer Rundungen und ihres aufgeregten Blicks erprobte. Und er betrachtete sie, wie man aus dem Schatten heraus eine weiße, von der Sonne beschienene Wand ansieht.
Wir haben darüber geredet, ganz in Ruhe. Ich verabscheute schneidende Stimmen und schroffe Gesten. In meiner Familie war es immer laut und ruppig zugegangen. Wenn der Verkehr auf der Via Salvator Rosa mich zu sehr quälte, damals in unserer Wohnung in Neapel, hatte ich mich manchmal stumm und mit auf die Ohren gepressten Händen in eine Ecke zurückgezogen. Vor allem als Jugendliche verspürte ich innerlich immer wieder diesen Tumult und das Gefühl, alles müsse plötzlich auseinanderreißen wegen einer zu spitzen Bemerkung, einer unbesonnenen Bewegung des Körpers. So lernte ich, möglichst wenig und wenn, sehr überlegt zu reden, es nie eilig zu haben, nicht einmal dem Bus hinterherzurennen und meine Reaktionszeiten möglichst auszudehnen, indem ich sie mit erstaunten Blicken und unsicherem Lächeln füllte. Später erlegte mir mein Beruf noch größere Disziplin auf. Ich hatte der Stadt für immer den Rücken gekehrt und arbeitete zwei Jahre lang im Beschwerdemanagement einer Fluggesellschaft in Rom. Nach unserer Heirat kündigte ich und folgte Mario durch die Welt, egal wohin seine Arbeit als Ingenieur ihn verschlug. Neue Orte, neues Leben. Um trotz der bedrohlichen Veränderungen nicht die Kontrolle zu verlieren, hatte ich es mir endgültig zur Gewohnheit gemacht, geduldig abzuwarten, bis jede Gefühlsregung implodierte und sich in eine ruhige, beherrschte Stimme verwandelte, um ja nicht aufzufallen.
Diese Selbstdisziplin erwies sich während unserer kleinen Ehekrise als entscheidend. Wir hatten drei schlaflose Nächte damit verbracht, uns friedlich und leise auszusprechen. Wir wollten verhindern, dass die Kinder uns hörten oder dass wir einander mit Worten unheilbare Wunden zufügten. Mario blieb vage wie ein Patient, der seine Symptome nicht klar zu benennen vermag, ich konnte ihn nicht dazu bringen, mir zu sagen, was er empfand, was er wollte und worauf ich mich gefasst machen musste. Schließlich kam er eines Nachmittags von der Arbeit nach Hause und wirkte bestürzt, vielleicht war es auch nur der Widerschein des Schreckens, den er in meinem Gesicht gesehen hatte. Jedenfalls öffnete er den Mund, um etwas zu sagen, beschloss aber im Bruchteil einer Sekunde, mir stattdessen etwas anderes zu sagen. Ich bemerkte es, ich konnte förmlich sehen, wie sich die Wörter in seinem Munde verwandelten, doch ich verdrängte meine Neugier, ich wollte gar nicht wissen, welche Bemerkung er sich verkniffen hatte. Ich nahm lediglich zur Kenntnis, dass wir die schwierigen Zeiten überstanden hatten wie einen kurzen Schwindelanfall. Ein Gefühl der Leere, beteuerte er ungewohnt pathetisch und wiederholte damit den Ausdruck, den er schon Jahre zuvor verwendet hatte. Dieses Gefühl sei ihm so zu Kopf gestiegen, dass er nicht mehr wie sonst dachte und empfand; doch damit sei nun Schluss, er verspüre nicht mehr die geringste Unruhe. Nach diesem Tag brach er den Kontakt zu Gina und ihrer Tochter ab, er beendete den Nachhilfeunterricht und war wieder ganz der Alte.
Dies waren die wenigen, belanglosen Zwischenfälle unserer Beziehung, in jener Nacht sezierte ich sie bis ins Detail. Ich ärgerte mich über meine Schlaflosigkeit und stand auf, um mir einen Kamillentee zu machen. So war Mario halt, sagte ich mir: jahrelang die Ruhe in Person, nicht die geringste Unsicherheit, und dann brachte ihn plötzlich eine Nichtigkeit vollkommen durcheinander. Auch jetzt hatte ihn irgendwas aus dem Tritt gebracht, doch das war kein Grund zur Sorge, ich musste ihm nur genügend Zeit lassen, sich wieder zu fangen. Ich stand lange am Fenster, das auf den dunklen Park hinausging, und versuchte meine Kopfschmerzen zu lindern, indem ich die Stirn an das kühle Glas legte. Ich kam erst wieder zu mir, als ich das Geräusch eines einparkenden Autos hörte. Ich sah hinunter, es war nicht mein Mann. Der Musiker aus dem vierten Stock, ein gewisser Carrano, kam mit gesenktem Kopf und einem großen Instrumentenkoffer auf dem Rücken die Straße herauf. Als er auf dem kleinen Platz unter den Bäumen verschwand, schaltete ich das Licht aus und ging ins Bett. Es war nur eine Frage von Tagen, bis sich alles wieder einrenken würde.
Eine Woche verging, und mein Mann blieb nicht nur bei seiner Entscheidung, er unterstrich sie auch noch durch eine Art erbarmungslosen Gleichmut.
Anfangs sah er jeden Tag bei uns vorbei, immer um dieselbe Zeit, gegen vier Uhr nachmittags. Er kümmerte sich um die Kinder, plauderte mit Gianni, spielte mit Ilaria, manchmal gingen alle drei mit Otto spazieren, unserem sanften Schäferhund, um ihn im Park hinter Stöcken und Tennisbällen herrennen zu lassen. Ich tat, als hätte ich in der Küche zu tun, doch in Wirklichkeit wartete ich ungeduldig darauf, dass Mario hereinschaute und mir erklärte, was er zu tun gedachte, ob er das Chaos in seinem Kopf nun entwirrt hatte oder nicht. Früher oder später kam er herein, wenn auch widerstrebend und mit immer deutlicherem Unbehagen, dem ich – diese Strategie hatte ich mir in meinen durchwachten Nächten zurechtgelegt – traute Heimeligkeit entgegensetzte, verständnisvolle Worte und übertriebene Sanftmut, sogar begleitet von dem einen oder anderen fröhlichen Scherz. Mario schüttelte den Kopf, er sagte, ich sei einfach zu gut. Ich war gerührt, umarmte ihn, versuchte ihn zu küssen. Er entzog sich. Er sei nur gekommen, betonte er, um mit mir zu reden; er wolle mir begreiflich machen, mit was für einem Menschen ich fünfzehn Jahre lang zusammengelebt hatte. Deshalb erzählte er mir schlimme Geschichten aus seiner Kindheit, Abscheulichkeiten aus den Teenagerjahren, quälende Störungen seiner frühen Jugend. Er wollte sich nur schlechtmachen, und was immer ich erwiderte, um seinen Selbsterniedrigungswahn zu dämpfen, er ließ es nicht gelten, er wollte um jeden Preis, dass ich ihn als den erkannte, der er zu sein glaubte: ein mittelmäßiger Taugenichts, unfähig zu echten Gefühlen und auch in beruflicher Hinsicht völlig haltlos.
Ich hörte ihm aufmerksam zu, widersprach ganz ruhig; weder stellte ich ihm Fragen noch bedrängte ich ihn mit irgendeinem Ultimatum, ich versuchte ihn nur davon zu überzeugen, dass er immer auf mich zählen konnte. Allerdings muss ich gestehen, dass hinter dieser Fassade bald eine beängstigende Welle von Panik und Wut in mir aufstieg. Eines Nachts kam mir wieder eine düstere Gestalt aus meiner neapolitanischen Kindheit in den Sinn, eine dicke, energische Frau, die mit uns in dem Haus hinter der Piazza Mazzini wohnte. Zum Einkaufen in den belebten Gassen hatte sie stets ihre drei Kinder im Schlepptau, die sie mit vergnügten Worten herumkommandierte. Anschließend war sie beladen mit Gemüse, Obst und Brot, und die drei Kinder klammerten sich an ihr Kleid und die vollen Taschen. Wenn sie mich auf der Treppe im Haus spielen sah, blieb sie stehen, stellte ihre Last auf einer Stufe ab und kramte in den Taschen nach einem Bonbon für mich, meine Spielgefährtinnen und die eigenen Kinder. Ihrem Aussehen und Benehmen nach zu urteilen gab die Frau sich mit ihren Mühen zufrieden, sie roch auch angenehm, wie neuer Stoff. Sie war mit einem Mann aus den Abruzzen verheiratet, der rote Haare und grüne Augen hatte. Er war Vertreter und daher oft mit dem Auto zwischen Neapel und L'Aquila unterwegs. Was ihn anging, erinnerte ich mich nur noch daran, dass er viel schwitzte und sein Gesicht ganz rot war, als hätte er eine Hauterkrankung. Manchmal spielte er mit seinen Kindern auf dem Balkon und bastelte bunte Fähnchen aus Pergamentpapier, bis seine Frau fröhlich rief: »Essen kommen!« Doch dann ging irgendwas zwischen den beiden zu Bruch. Nach allerhand Geschrei, das mich oft mitten in der Nacht aus dem Schlaf riss und die Steine des Hauses und der Gasse wie mit Sägezähnen zu spalten schien – langes Schimpfen und Jammern, das bis auf die Piazza drang, bis zu den Palmen mit ihren langen gebogenen Zweigen und vor Angst zitternden Blättern –, verließ der Mann seine Familie, weil er eine Frau aus Pescara liebte, und niemand sah ihn je wieder. Von diesem Tag an weinte unsere Nachbarin jede Nacht. In meinem Bett hörte ich ihr lautes Klagen, eine Art Röcheln, das wie ein Rammbock die Wände durchbrach und mir Angst einjagte. Meine Mutter redete mit ihren Gesellinnen darüber, sie schnitten, nähten und redeten, sie redeten, nähten und schnitten, während ich unter dem Tisch mit Nadeln und Kreide spielte, und ich wiederholte im Stillen, was ich zu hören bekam, Worte zwischen Trauer und Drohung, wenn du deinen Mann nicht zu halten weißt, verlierst du alles, Frauengespräche über zerstörte Gefühle, darüber, was passiert, wenn man voller Liebe ist, aber nicht mehr geliebt wird, nichts mehr hat. Die Frau verlor alles, auch ihren Namen (vielleicht hieß sie Emilia), sie wurde für alle la poverella, die Ärmste, und auch wir Kinder nannten sie nur noch so, wenn wir über sie redeten. Die poverella weinte, die poverella schrie, die poverella litt, zerfleischt von der Abwesenheit des rothaarigen, schwitzenden Mannes mit den bösen grünen Augen. Sie knetete ein durchnässtes Taschentuch in den Händen, erzählte jedem, ihr Mann habe sie verlassen, sie einfach aus seinem Gedächtnis und Bewusstsein gestrichen, sie zerdrückte das Taschentuch mit weiß hervortretenden Knöcheln und verfluchte den Mann, der ihr entflohen war wie ein gefräßiges Tier auf den Vomerohügel. Sie litt so unübersehbar, dass es mich bald anwiderte. Obwohl ich erst acht Jahre alt war, schämte ich mich für sie, sie ließ sich nicht mehr von den Kindern begleiten und sie roch auch nicht mehr so gut. Nun stieg sie steif, mit vertrocknetem Körper die Treppe hinunter. Der üppige Busen, die Hüften und das Gesäß waren ebenso verschwunden wie ihr breites, freundliches Gesicht und das strahlende Lächeln. Sie bestand nur noch aus Haut und Knochen, die Augen ertranken in violetten Kloaken, die Hände ähnelten einem feuchten Spinnennetz. Einmal sagte meine Mutter: »Die Ärmste, sie ist ausgetrocknet wie eine Sardelle auf Salz.« Seitdem beobachtete ich sie jeden Tag, wenn sie ohne Einkaufstasche, ohne Augen in den dunklen Höhlen aus der Haustür wankte. Ich wollte sehen, wie sie als silbrig schimmernder Fisch lebte, die Salzkörner, die auf ihren Armen und Beinen funkelten.
Es lag auch an dieser Erinnerung, dass ich Mario gegenüber weiter mit liebevoller Zurückhaltung auftrat. Doch irgendwann fiel mir zu den übertriebenen Geschichten über die Neurosen und Qualen seiner Kindheit und Jugend nichts mehr ein. Nach zehn Tagen, als auch seine Besuche bei den Kindern allmählich seltener wurden, wuchs in meinem Innern eine bittere Wut, zu der sich dann der Verdacht gesellte, dass er mich anlog. So wie ich ihm voller Berechnung meine Tugenden als verliebte Frau präsentierte, jederzeit bereit, ihm in seiner tiefen Krise beizustehen, so wollte er voller Berechnung eine Aversion in mir erzeugen, damit ich sagte: Hau ab, du bist widerlich, ich kann dich nicht mehr ertragen.
Aus dem Verdacht wurde bald Gewissheit. Er wollte mir helfen zu akzeptieren, dass wir uns trennen mussten; er wollte, dass ich ihm sagte: Du hast Recht, es ist vorbei. Aber nicht einmal darauf reagierte ich unbeherrscht. Ich verhielt mich weiter umsichtig, wie bei allen Schicksalsschlägen des Lebens. Die einzigen äußerlichen Anzeichen meiner Erregung waren ein Hang zur Unordnung und die Schlaffheit meiner Finger: Je größer die Angst, desto weniger waren sie in der Lage, die Dinge fest zu umgreifen.
Es dauerte fast zwei Wochen, bis ich ihm jene Frage stellte, die mir sofort auf der Zunge gelegen hatte. Erst als ich seine Lügen nicht länger ertragen konnte, fasste ich den Entschluss, ihn mit dem Rücken an die Wand zu stellen. Ich kochte eine Pastasauce mit Fleischklößchen, die er sehr mochte, dazu schnitt ich Kartoffeln, die ich mit Rosmarin im Ofen backen wollte. Das Kochen machte keinen Spaß, ich war nicht bei der Sache, ich schnitt mich mit dem Dosenöffner, ließ eine Flasche fallen, die Glasscherben flogen in alle Richtungen und der Wein spritzte auf die weißen Wände. Dann griff ich zu hektisch nach einem Lappen und warf auch noch die Zuckerdose herunter. Für den langen Bruchteil einer Sekunde ergoss sich in meinem Ohr das Rauschen des Zuckerregens, der erst auf die Marmorplatte, dann auf den weinverschmierten Fußboden niederging. Plötzlich überfiel mich eine solche Müdigkeit, dass ich alles stehen und liegen ließ und mich hinlegte, ich vergaß die Kinder und alles andere, dabei war es erst elf Uhr morgens. Als ich aufwachte, fiel mir nach und nach wieder meine neue Situation als verlassene Ehefrau ein und ich beschloss, dass es so nicht weiterging. Ich stand benommen auf, brachte die Küche in Ordnung, rannte zur Schule, um die Kinder abzuholen, und wartete, bis Mario uns um der beiden Kleinen willen besuchen würde.
Er kam am Abend, er schien guter Laune zu sein. Nach der Begrüßung verschwand er sofort im Zimmer von Gianni und Ilaria und blieb bei ihnen, bis sie eingeschlafen waren. Als er wieder erschien, wollte er sich gleich aus dem Staub machen, doch ich nötigte ihn, mit mir zu Abend zu essen, hielt ihm den Topf mit der Sauce unter die Nase, die ich zubereitet hatte, die Fleischklößchen und die Kartoffeln, und schaufelte ihm eine dicke Lage dunkelrote Sauce auf die dampfenden Makkaroni. In diesem Teller Nudeln sollte er all das erblicken, was er nicht mehr würde sehen, schmecken, streicheln, hören oder riechen können, wenn er ging, nie mehr. Doch ich hielt es nicht länger aus. Noch bevor ich einen Bissen probiert hatte, fragte ich ihn:
»Hast du dich in eine andere Frau verliebt?«
Er lächelte, dann verneinte er ohne Scheu und wunderte sich dreist über die deplatzierte Frage. Ich glaubte ihm nicht. Ich kannte ihn gut, so war er nur, wenn er log, normalerweise war ihm jede direkte Frage unangenehm. Ich setzte nach:
»Ich habe Recht, oder? Es gibt eine andere Frau. Wer ist es, kenne ich sie?«
Dann erhob ich zum ersten Mal seit Beginn dieser ganzen Geschichte die Stimme und schrie, es sei mein gutes Recht, das zu erfahren, und ich fügte hinzu:
»Du kannst mich nicht weiter hoffen lassen, wenn du eigentlich schon alles entschieden hast.«
Er senkte den Blick und mahnte mich mit einer nervösen Handbewegung, leiser zu sein. Er war nun sichtlich in Sorge, vielleicht wollte er nicht, dass die Kinder aufwachten. Doch mir schwirrten all die Vorwürfe durch den Kopf, die ich bislang unterdrückt hatte, viele Worte befanden sich bereits auf der Schwelle, hinter der sich nicht mehr unterscheiden lässt, welche man aussprechen sollte und welche nicht.
»Ich will nicht leise sein«, zischte ich. »Es soll ruhig jeder wissen, was du mir angetan hast.«
Er starrte in seinen Teller, dann sah er mir geradewegs ins Gesicht und sagte:
»Ja, es gibt eine andere Frau.«
Mit unangebrachtem Eifer spießte er reichlich Makkaroni auf seine Gabel und führte sie zum Mund, als wolle er sich selbst zum Schweigen bringen, um nicht mehr zu sagen als nötig. Doch das Entscheidende hatte er bereits gesagt, er hatte sich dazu durchgerungen, es zu sagen, und ich verspürte einen anhaltenden Schmerz in der Brust, der mich für alle anderen Gefühle unempfänglich machte. Das merkte ich erst daran, dass ich überhaupt keine Reaktion darauf zeigte, was anschließend mit ihm geschah.
Er hatte mit seiner üblichen methodischen Art zu kauen begonnen, bis plötzlich etwas zwischen den Zähnen knirschte. Er hörte auf zu kauen, ließ seine Gabel auf den Teller fallen und stöhnte auf. Dann spuckte er den gesamten Inhalt des Mundes in seine Hand, Nudeln, Sauce und Blut, da war tatsächlich Blut, rotes Blut.
Ich betrachtete seinen verschmierten Mund so teilnahmslos, wie man sich ein Dia anschaut. Er wischte sich mit aufgerissenen Augen die Hand an der Tischdecke ab und zog sich mit den Fingern einen Glassplitter aus dem Gaumen. Er sah ihn entsetzt an, streckte ihn mir entgegen und brüllte völlig aufgebracht, mit einem Hass, den ich ihm nie zugetraut hätte:
»Ach so? Das tust du mir also an, ja?«
Er sprang hoch, warf seinen Stuhl um, stellte ihn wieder auf, knallte ihn mehrmals auf den Boden, als hoffte er, ihn so für immer an den Fliesen zu befestigen. Er sagte, ich sei eine völlig irrationale Frau und unfähig, seine Motive nachzuvollziehen. Nie, nie hätte ich ihn richtig verstanden, und es sei allein seiner Geduld, vielleicht auch seiner Genügsamkeit zu verdanken, dass wir so lange zusammen gewesen seien. Doch nun sei es genug. Er schrie, ich mache ihm Angst, wie könne ich es nur bringen, ihm Glasscherben unter die Nudeln zu mischen, ich sei wohl verrückt geworden.
Dann ging er und warf die Tür ins Schloss, ohne sich um die schlafenden Kinder Gedanken zu machen.
Ich blieb einen Moment sitzen, wie gelähmt von der Vorstellung, dass es eine andere gab, er war in eine andere Frau verliebt, er hatte es zugegeben. Dann stand ich auf und begann den Tisch abzuräumen. Auf dem Tischtuch lag der Glassplitter inmitten einer blutigen Aureole, ich fischte mit den Fingern in der Sauce und fand noch zwei weitere Scherben von der Flasche, die mir am Morgen heruntergefallen war. Ich konnte mich nicht länger beherrschen und brach in Tränen aus. Als ich mich wieder beruhigt hatte, schüttete ich die Sauce in den Mülleimer, dann kam Otto winselnd an. Ich holte die Leine und ging mit ihm nach draußen.
Der kleine Platz war um diese Zeit menschenleer, das Laternenlicht verfing sich in den Blättern der Bäume, schwarze Schatten ließen Kinderängste in mir aufsteigen. Sonst ging Mario zwischen elf Uhr und Mitternacht mit dem Hund spazieren, und seit er fort war, musste ich auch diese Aufgabe übernehmen. Die Kinder, der Hund, der Einkauf, das Mittag- und Abendessen, die Finanzen. In allem erblickte ich die praktischen Folgen des Verlassenwerdens. Mein Mann hatte seine Gedanken und Sehnsüchte von mir abgezogen, um sie woandershin zu verlegen. Von nun an trug ich allein die Verantwortung für die Dinge, die wir vorher miteinander geteilt hatten.
Ich musste etwas tun, ich musste mich organisieren. Nicht klein beigeben, sagte ich mir, nur nichts überstürzen.
Wenn er eine andere Frau liebt, kannst du machen, was du willst, es wird an ihm abperlen, ohne Spuren zu hinterlassen. Den Schmerz unterdrücken, sich die Reaktion, die schrille Geste, den schrillen Schrei verkneifen. Du musst dich damit abfinden, er hat umgedacht, den Standort gewechselt und sich rasch in jemand anderen zurückgezogen. Mach es nicht wie die poverella, lass dich nicht von deinen Tränen verzehren. Vermeide es, den verzweifelten Frauen aus einem bekannten Buch deiner Kindheit zu ähneln.
Ich sah den Einband des Romans noch ganz genau vor mir. Meine Französischlehrerin hatte ihn mir aufgedrängt, nachdem ich ihr allzu voreilig mit jugendlichem Elan mitgeteilt hatte, dass ich Schriftstellerin werden wolle, das war 1978, vor über zwanzig Jahren. »Lies das mal«, hatte sie zu mir gesagt, und ich las das Buch sehr aufmerksam. Als ich es ihr zurückgab, entschlüpfte mir die überhebliche Bemerkung: »Ganz schön blöd, diese Frauen.« Gebildete Frauen, in wohlhabenden Verhältnissen lebend, die in den Händen ihrer gleichgültigen Männer zerbrachen wie Spielzeug. Meiner Ansicht nach waren sie emotional verblödet, ich wollte anders sein, ich wollte Geschichten über starke Frauen schreiben, Frauen, die rhetorisch unschlagbar waren, kein Handbuch über die verlassene Ehefrau, der vor lauter Grübeln irgendwann die Liebe abhandenkam. Ich war jung und ambitioniert. Ich hatte nichts übrig für Buchseiten, die so undurchdringlich waren wie herabgelassene Rollläden. Ich mochte es, wenn Licht und Wind durch die Lamellen drangen. Ich wollte Geschichten schreiben mit viel Luft darin, mit durchsickernden Sonnenstrahlen, auf denen der Staub tanzte. Ich liebte Texte, die den Leser zwangen, sich jede Zeile genauer anzusehen, bis er die Schwindel erregende Tiefe, die Schwärze der Hölle dahinter spürte. Das sagte ich ihr in einem Atemzug, ganz anders als sonst, und meine Französischlehrerin lächelte ironisch und ein wenig missgünstig. Auch sie musste jemanden oder etwas verloren haben. Und jetzt, zwanzig Jahre später, passierte mir dasselbe. Ich verlor Mario, vielleicht hatte ich ihn bereits verloren. Ich lief nervös hinter dem ungeduldigen Otto her und spürte den klammen Hauch des Flusses, den kalten Asphalt unter meinen Schuhsohlen.
Ich kam nicht zur Ruhe. Wie war es möglich, dass Mario mich einfach ohne Vorwarnung sitzen ließ? Ich konnte nicht fassen, dass mein Leben ihn auf einmal nicht mehr interessierte, ich fühlte mich wie eine Pflanze, die man jahrelang gießt und dann plötzlich verdorren lässt. Es war mir unbegreiflich, dass er ganz allein für sich beschlossen hatte, mir keine Aufmerksamkeit mehr zu schulden. Erst zwei Jahre zuvor hatte ich ihm gesagt, dass ich wieder etwas Zeit für mich bräuchte und jeden Tag ein paar Stunden außer Haus arbeiten wolle. Ich hatte eine feste Stelle in einem kleinen Verlag gefunden, doch Mario brachte mich bald dazu, sie aufzugeben. Obwohl mir sehr viel daran lag, wieder eigenes Geld zu verdienen, und sei es noch so wenig, riet er mir davon ab: »Warum gerade jetzt, wo wir aus dem Gröbsten raus sind? Wir brauchen das Geld nicht, wenn du wieder schreiben willst, dann tu es doch einfach.« Ich hörte auf ihn, kündigte bereits nach wenigen Monaten und stellte sogar zum ersten Mal eine Haushaltshilfe ein. Doch ich war nicht in der Lage zu schreiben, ich vergeudete meine Zeit mit ebenso großspurigen wie konfusen Projekten. Gedemütigt sah ich der Frau zu, wie sie die Wohnung putzte, eine stolze Russin, die weder Kritik noch Mahnungen akzeptierte. Ich hatte also nicht die geringste Aufgabe, schreiben konnte ich nicht, eigene Freunde hatte ich so gut wie keine und die Ambitionen meiner Jugend zerrissen wie verschlissener Stoff. Ich kündigte der Haushaltshilfe, denn ich konnte nicht ertragen, dass sie sich an meiner Stelle abmühte, während es mir in dieser Zeit nicht gelang, mich meiner Schaffensfreude zu widmen. Ich kümmerte mich wieder um die Wohnung, die Kinder und Mario, als wollte ich mir selbst einschärfen, dass ich nichts anderes verdient hatte. Was ich wirklich verdient hatte, sah ich erst jetzt. Mein Mann hatte sich eine andere Frau gesucht, mir kamen die Tränen, doch ich weinte nicht. Stark wirken, es sein. Ich musste damit fertig werden. Nur wenn ich das durchstand, gab es eine Rettung für mich.
Ich ließ Otto endlich von der Leine und setzte mich, vor Kälte zitternd, auf eine Bank. Das Buch aus meiner Jugend kam mir wieder in den Sinn, ich erinnerte mich an die wenigen Sätze, die ich damals auswendig gelernt hatte: Ich bin sauber ich bin aufrichtig ich kann nicht heucheln. Nein, sagte ich mir, das waren die Vorzeichen der Entgleisung. Nie das Komma weglassen, da fing es schon an, das musste ich mir merken. Wer so spricht, hat die Grenze überschritten, der verherrlicht sich selbst und driftet geradewegs in die Wirrnis. Und weiter: Da kommt's ihnen den guten Frauen und wie stolz sie sind weil sie ihren Tänzer so schön hochgekriegt haben. Als Mädchen mochte ich obszöne Ausdrücke, sie vermittelten mir so ein männliches Gefühl von Freiheit. Mittlerweile wusste ich, dass die Obszönität Funken von Wahnsinn entfachen konnte, wenn sie aus so kontrolliertem Munde wie dem meinen kam. Ich schloss die Augen und bedeckte Gesicht und Lider mit den Händen. Marios Neue. Ich stellte sie mir als reife Frau vor, auf einem Klo, mit hochgeschobenem Rock, und er über ihr, wie er ihre schwitzenden Pobacken knetete und seine Finger in ihrem Arsch vergrub, der Fußboden voller Sperma. Nein, aufhören. Ich richtete mich ruckartig auf, pfiff nach Otto, wie Mario es mir beigebracht hatte. Schluss mit diesen Bildern und dieser Sprache. Schluss mit den gebrochenen Frauen. Während Otto hin und her lief und sich sorgfältig einen Platz zum Pinkeln suchte, spürte ich am ganzen Körper die Narben des sexuellen Verlassenwerdens und die Gefahr, in Selbsthass und Sehnsucht nach Mario zu versinken. Ich stand auf, ging den Weg zurück, pfiff noch einmal und wartete darauf, dass Otto zurückkam.
Ich weiß nicht, wie viel Zeit verging, ich vergaß den Hund, ich vergaß, wo ich war. Ohne es zu merken, glitt ich ab in gemeinsame Liebeserinnerungen mit Mario, beglückt, leicht erregt und verärgert. Der Klang meiner eigenen Stimme ließ mich wieder zu mir kommen, wie in einem Wiegenlied wiederholte ich: »Ich bin schön, ich bin schön.« Dann sah ich Carrano die Straße überqueren, den Musiker, der bei uns im Haus wohnte, er ging über den kleinen Platz auf den Hauseingang zu.
Etwa hundert Meter entfernt schlich seine schwarze Gestalt vorbei, lange Beine, gebeugte Schultern, mit dem Instrument bepackt, und ich hoffte, dass er mich nicht sehen würde. Er war einer dieser schüchternen Menschen, die sich anderen gegenüber unvorhersehbar verhalten. Wenn sie die Ruhe verlieren, dann ohne jede Kontrolle; wenn sie nett sind, werden sie gleich klebrig wie Honig. Mario und er waren des Öfteren aneinandergeraten, mal weil unser Bad undicht war und er Wasserflecken an der Decke hatte, mal weil ihn Ottos Gebell störte. Auch mein Verhältnis zu ihm war nicht das beste, allerdings aus belangloseren Gründen. Die paar Male, die ich ihm über den Weg gelaufen war, hatte ich in seinem Blick ein Interesse an mir gesehen, das mich in Verlegenheit brachte. Nicht dass er anzüglich geworden wäre, dazu war er gar nicht fähig. Ich glaube, dass Frauen ihn verunsicherten, wahrscheinlich alle Frauen, worauf er mit den falschen Blicken, Gesten und Worten reagierte und ungewollt sein Verlangen offenbarte. Er wusste das und es war ihm sehr unangenehm, doch wenn es passierte, übertrug sich seine Scham auch auf mich, obwohl er das vielleicht gar nicht beabsichtigte. Deshalb versuchte ich, möglichst wenig mit ihm zu tun zu haben, es war mir schon unangenehm, ihm »Guten Morgen« oder »Guten Abend« zu sagen.
Ich beobachtete ihn, als er über den kleinen Platz ging. Er war groß, durch die Umrisse des Koffers noch größer als sonst, sein Haar war angegraut und trotz seiner dünnen Statur hatte er einen schwerfälligen Gang. Plötzlich geriet sein gemächliches Schreiten ins Stocken, der Körper bäumte sich auf, um nicht auszurutschen. Er blieb stehen, schaute unter die Sohle seines rechten Schuhs und fluchte. Dann bemerkte er mich und jammerte:
»Mein Schuh ist hin, sehen Sie das?«
Nichts wies darauf hin, dass ich dafür verantwortlich war, dennoch entschuldigte ich mich unverzüglich kleinlaut und begann wütend »Otto, Otto!« zu rufen, als müsste der Hund sich auf der Stelle bei unserem Nachbarn rechtfertigen und mich von jeder Schuld befreien. Doch Ottos gelber Schatten jagte durch die Lichtkegel der Laternen und verschwand dann in der Dunkelheit.
Der Musiker streifte nervös seine Sohle im Gras am Straßenrand ab, dann untersuchte er sie peinlich genau.
»Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen, gehen Sie lieber mit Ihrem Hund woanders Gassi. Es hat schon einige Beschwerden gegeben …«
»Tut mir leid, mein Mann passt normalerweise sehr auf …«
»Ihr Mann, verzeihen Sie meine Offenheit, hat wirklich keinerlei Manieren.«
»Jetzt sind Sie es aber, der keine Manieren hat«, erwiderte ich vehement, »außerdem sind wir nicht die einzigen Hundebesitzer hier.«
Er schüttelte den Kopf, deutete mit einer wegwerfenden Geste an, dass er nicht auf Streit aus war, und brummte:
»Sagen Sie Ihrem Mann, dass er es nicht auf die Spitze treiben soll. Es gibt gewisse Leute, die nicht zögern würden, hier vergiftetes Fleisch auszulegen.«
»Ich sage meinem Mann gar nichts«, rief ich wütend. Und um mich selbst daran zu erinnern, fügte ich unpassenderweise hinzu: »Ich habe keinen Mann mehr.«
Damit ließ ich ihn auf dem Weg stehen, rannte über die Wiese auf das dunkle Gebüsch zu und schrie aus vollem Leib nach Otto, als würde der Mann mich verfolgen und ich den Hund zum Schutz brauchen. Als ich mich völlig außer Atem umdrehte, sah ich, wie der Musiker ein letztes Mal seine Schuhsohle prüfte und dann mit müdem Gang in Richtung Haustür verschwand.