3Michael Esfeld
Wissenschaft und Freiheit
Das naturwissenschaftliche Weltbild und der Status von Personen
Suhrkamp
Das Zeitalter der Aufklärung hat zwei Gesichter. Auf der einen Seite steht die Befreiung des Menschen, ausgedrückt zum Beispiel in Immanuel Kants Definition der Aufklärung als »Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit« (Kant, »Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?« (1784), erster Satz). Auf der anderen Seite steht der Szientismus mit der Idee, dass naturwissenschaftliches Wissen unbegrenzt ist: Es umfasst auch den Menschen und alle Aspekte unserer Existenz. Diese Seite kommt zum Beispiel in Julien Offray de La Mettries L’homme machine (1747) zum Ausdruck. Beide weisen Wissensansprüche traditioneller Autoritäten wie zum Beispiel der Kirche zurück. Die von Kant betonte Seite zielt dann darauf ab, jeder mündigen Person die Freiheit zu geben, ihre eigenen, überlegten Entscheidungen zu treffen. La Mettries Seite bahnt hingegen der Position den Weg, der zufolge naturwissenschaftliches Wissen die angemessenen Entscheidungen sowohl auf der individuellen als auch auf der gesellschaftlichen Ebene vorzeichnen kann.
Diese beiden Seiten kann man bis in die griechische Antike zurückverfolgen. Gemäß Aristoteles’ Politik ist die Organisation von Staat und Gesellschaft eine Frage von Entscheidungen, welche die Bürger in gemeinsamer Beratung zu treffen haben. Für Platon hingegen ist es eine Frage des Wissens, wie man das individuelle und das gesellschaftliche Leben zu gestalten hat. Dementsprechend sollen die Philosophen herrschen, wie er in seinem Hauptwerk Der Staat darlegt. In der Neuzeit nimmt dann das naturwissenschaftliche Wissen die Stelle ein, die Platon dem Wissen zuschreibt, das durch philosophisches Nachdenken erlangt wird.
Dieses Buch hat das wissenschaftliche Weltbild und seine Grenzen zum Thema. Sein zentrales Anliegen ist es aufzuzeigen, wie Wissenschaft uns frei macht und dadurch zur offenen Gesellschaft beiträgt – im Sinne von Karl Poppers berühmtem Buch Die offene Gesellschaft und ihre Feinde (1945) (welches das erste philosophische Buch war, das ich gelesen habe). Ich möchte daher zunächst aufweisen, wieso die Naturwissenschaft mit den Gesetzen, die sie entdeckt, unsere Freiheit bestärkt, statt diese einzuschränken, und 8dann darauf aufbauend zeigen, wieso es verfehlt ist anzunehmen, dass aus der Wissenschaft Normen folgen, die vorgeben, wie wir die Gesellschaft und unsere individuellen Leben zu gestalten haben. Dieser Fehler ist schon in der La Mettrie’schen Vorstellung der Aufklärung angelegt und wird später im Marxismus umgesetzt. Heute erhält er Auftrieb durch eine Fehleinschätzung der Entdeckungen, die in der Physik, der Evolutionsbiologie, der Genetik und den Neuro- und Kognitionswissenschaften gemacht werden. Der Wissenschaft eine solche Macht zuzuschreiben, provoziert die übertriebene Gegenreaktion, die darin besteht, nicht anzuerkennen, dass die Wissenschaft überhaupt Wahrheiten über die Welt entdeckt. Diese leider auch unter postmodernen Intellektuellen verbreitete Ansicht fordert geradezu dazu auf, die Abgrenzung zwischen fact und fake aufzugeben. Dadurch lässt man aber nicht nur den Szientismus fallen, sondern auch die Idee, dass Wissenschaft zur Befreiung der Menschheit beiträgt.
Demgegenüber legt dieses Buch dar, was an den weit verbreiteten Behauptungen falsch ist, gemäß denen unsere Freiheit ausgehebelt wird durch wissenschaftliche Gesetze (wie insbesondere fundamentale und universelle, deterministische Gesetze in der Physik), wissenschaftliche Entdeckungen (wie zum Beispiel in der Genetik oder in den Kognitionswissenschaften) und wissenschaftliche Erklärungen (wie zum Beispiel Erklärungen menschlichen Verhaltens in der Evolutionsbiologie oder den Neurowissenschaften). Kurz gesagt: Erstens ist die Ontologie der Wissenschaften – das, was als existierend angenommen werden muss, um den Wahrheitsanspruch wissenschaftlicher Theorien zu verstehen – gar nicht reich genug, um zu Konsequenzen zu führen, welche die menschliche Freiheit in Frage stellen könnten. Des Weiteren beziehen sich wissenschaftliche Gesetze, Entdeckungen und Erklärungen auf kontingente Tatsachen statt auf Notwendigkeiten (im Sinne von Dingen, die nicht anders hätten sein können). Am wichtigsten aber ist, dass wissenschaftliche Theorien in einem normativen Netz des Gebens von und Fragens nach Gründen formuliert werden, das die Freiheit von Personen im Formulieren, Testen und Beurteilen von Theorien voraussetzt. Deshalb können Personen nicht ihrerseits im wissenschaftlichen Weltbild verortet werden. Folglich gibt uns die Wissenschaft Informationen über die Welt, aber keine Normen – weder für die individuelle Lebensgestaltung noch für die Gesell9schaft. Wissenschaft befreit uns, indem sie zeigt, dass wir die Freiheit haben, die Normen für unser Denken und Handeln – sowohl als Individuen als auch in der Gesellschaft – selbst zu setzen, damit aber auch die Verantwortung für unsere Gedanken und Handlungen tragen.
Was ist Wissenschaft? Die Wissenschaft ist zumindest durch die folgenden drei Merkmale von anderen menschlichen Unternehmungen einschließlich anderer intellektueller Aktivitäten unterschieden:
Objektivität: Was die Wissenschaft über die Welt aussagt, hängt von keinem spezifischen Standpunkt ab. Es ist unabhängig von Geschlecht, Rasse, Religion und geographischer oder zeitlicher Position. Wissenschaftliche Theorien beziehen einen Standpunkt von nirgendwo und nirgendwann. Natürlich haben die Theorien einen bestimmten Ursprung, aber ihr Geltungsanspruch ist davon unabhängig. Jeder kann Teil der wissenschaftlichen Gemeinschaft werden. Es gibt keine chinesische Mathematik, Physik oder Biologie im Unterschied zu einer amerikanischen. Dasselbe gilt für die Philosophie, insofern sie ein argumentatives Unternehmen ist, das nach Wissen über die Welt und uns selbst strebt.
Systematizität: Eine wissenschaftliche Theorie versucht, so viele Phänomene wie möglich mit einem so einfachen Gesetz wie möglich zu erfassen. Bekannte Beispiele sind das Gesetz der natürlichen Auslese in der Evolutionsbiologie und das Gravitationsgesetz in der Physik. Letzteres ist ein ideales Beispiel für ein Naturgesetz, weil es sich auf alles im Universum bezieht.
Bestätigung durch Beobachtung und Experiment: Jede wissenschaftliche Behauptung muss durch Indizien bestätigt werden können, die unabhängig von der betreffenden Behauptung sind. Das heißt: Die betreffende Behauptung muss es ermöglichen, Voraussagen abzuleiten, die bestätigt werden können, ohne auf die betreffende Behauptung angewiesen zu sein. Zum Beispiel sagt Albert Einsteins Theorie der Gravitation voraus, dass Licht von entfernten Sternen durch das Gravitationsfeld der Sonne abgelenkt wird. Diese Ablenkung kann man bei einer Sonnenfinsternis beobachten (erstmals geschehen 1919). Die Beobachtung dieses Phänomens ist unabhängig von den theoretischen Behauptungen der allgemeinen Relativitätstheo10rie über die Struktur von Raum und Zeit und das Verhalten des Gravitationsfeldes. Wie dieses Beispiel zeigt, erfordert Bestätigung nicht immer einen Eingriff in das Naturgeschehen durch Experimente. Entscheidend ist die Beobachtung neuer Phänomene, welche die Theorie voraussagt und erklärt.
Diese Merkmale als Kennzeichen von Wissenschaft herauszustellen, wird gewöhnlich mit dem Standpunkt verbunden, der als wissenschaftlicher Realismus bekannt ist: Die Wissenschaft deckt den Aufbau der natürlichen Welt auf. Wenn überhaupt ein menschliches Unternehmen dieses leisten kann, dann sicher nur die Wissenschaft. Insofern steht dieses Buch zum wissenschaftlichen Realismus. Entscheidend in unserem Zusammenhang ist aber dies: Diese Merkmale von Wissenschaft anzuerkennen, verhindert nicht, uns der Grenzen von Wissenschaft bewusst zu werden und insbesondere zu realisieren, wie Wissenschaft Freiheit ermöglicht, statt sie zu verhindern.
In einem größeren Zusammenhang gesehen ist dieses Buch ein Essay über das Zusammenspiel dessen, was Wilfrid Sellars (1962) das wissenschaftliche Weltbild und das manifeste Weltbild nennt. Das manifeste Weltbild ist dabei allerdings nicht der Alltagsverstand. Die Frage nach dem Verhältnis dieser beiden Weltbilder ist dementsprechend nicht dadurch beantwortet, dass man zeigt, wie man vom wissenschaftlichen Weltbild aus die uns vertrauten makroskopischen Gegenstände und deren Verhalten verstehen kann. Sellars zufolge ist das manifeste Weltbild vielmehr die philosophisch reflektierte Sicht der Welt, die Personen in den Mittelpunkt stellt, ja als unhintergehbar und damit als ontologisch primitiv anerkennt. Das ist deshalb für das wissenschaftliche Weltbild wichtig, weil dieses nur formuliert, akzeptiert und gerechtfertigt werden kann, indem man auf die Ressourcen des manifesten Weltbildes zurückgreift.
Das Verhältnis zwischen dem wissenschaftlichen und dem manifesten Weltbild kann man auf drei verschiedene Weisen denken:
(i) Das wissenschaftliche Weltbild ist vollständig: Personen können ebenso wie alles andere, das nicht explizit in den Naturwissenschaften vorkommt, durch funktionale Definitionen auf die Ontologie der Naturwissenschaften reduziert werden. Letztlich ist dies die Ontologie der Physik. Das heißt: Die Personen, die es in der Welt gibt, sind mit bestimmten Materiekonfigu11rationen und deren Verhalten unter bestimmten Umweltbedingungen identisch. Aus einer vollständigen physikalischen Beschreibung der Welt könnten im Prinzip auch alle wahren Aussagen über Personen abgeleitet werden, einschließlich der Aussagen über deren Denken und Handeln.
(ii) Das manifeste Weltbild ist vollständig: Alles was es in der Welt gibt, wird dadurch korrekt erfasst, dass man es in gewisser Weise in Analogie zu Personen denkt. Wissenschaftliche Theorien, welche von diesen personenanalogen Zügen absehen, haben dementsprechend nur einen instrumentellen Wert: Sie ermöglichen effiziente Voraussagen, decken aber nicht die Essenz dessen auf, was es in der Welt gibt.
(iii) Dualismus von wissenschaftlichem und manifestem Weltbild: Das wissenschaftliche Bild ist wahr in Bezug auf die Welt ohne die Merkmale, die Personen charakterisieren. Diese Merkmale sind ontologisch ebenso primitiv wie Materie in Bewegung.
Dieses Buch folgt Kants Aufklärungsphilosophie und Sellars’ Plädoyer für eine synoptische Sicht der beiden Weltbilder, indem es für eine bestimmte Version von Position (iii) argumentiert: Das wissenschaftliche Weltbild – ebenso wie jede wissenschaftliche Theorie – setzt die Freiheit von Personen voraus, Begriffe zu bilden und Theorien zu entwickeln. Eine Person zu sein, ist jedoch kein zur Materie hinzukommendes Ding, keine zusätzliche Tatsache oder Eigenschaft. Es ist eine Einstellung, die man in Bezug auf sich selbst und andere einnimmt. Indem man diese Einstellung entwickelt, bringt man sich selbst hervor als ein Wesen, welches Bedeutung schafft und damit Regeln für das Denken und Handeln setzt und welches infolgedessen das, was es denkt und tut, rechtfertigen muss.
Auf dieser Grundlage argumentiert das Buch für eine zweigliedrige Konzeption der Freiheit: Da ist zunächst Freiheit in dem Sinne, dass naturwissenschaftliche Gesetze, selbst wenn sie deterministisch sind, weder unser Verhalten noch die Bewegungen irgendwelcher anderen Objekte vorherbestimmen. Erst kommt nämlich die Bewegung der Objekte, dann kommen die Theorien und Gesetze, die kontingente Muster und Regularitäten in dieser Bewegung aufdecken. Falls das wissenschaftliche Weltbild vollständig wäre, gäbe es nur diese Art von Freiheit. Wenn man sich jedoch vor Augen führt, dass das wissenschaftliche Weltbild von Personen in normativen 12Einstellungen des Gebens und Fragens nach Gründen formuliert, akzeptiert und gerechtfertigt wird, dann sieht man, dass es auch noch eine Freiheit gibt, die charakteristisch für Personen ist. Diese Freiheit besteht darin, selbst Normen für das Denken und Handeln zu setzen (bzw. setzen zu müssen). Von Seiten der Wissenschaften gibt es nichts, was uns daran hindert, aus dieser Freiheit heraus unser Handeln zu gestalten.
Das Buch ist in drei Teile oder Kapitel gegliedert. Das erste Kapitel ist eine philosophische Darstellung dessen, was die Naturwissenschaft in Bezug auf den Aufbau der Welt herausgefunden hat. Der Schwerpunkt liegt auf den fundamentalen und universellen Theorien der Physik von der Newton’schen Mechanik bis zur heutigen Quantenphysik. Das Kapitel beantwortet folgende Frage: Welches sind die minimalen ontologischen Festlegungen, die man akzeptieren muss, um zu verstehen, was die Naturwissenschaften über die Welt aussagen? Das Ziel dieses Kapitel ist allerdings keine allgemeinverständliche Darstellung der Physik, obwohl einige physikalische Details zur Sprache kommen werden. Das Ziel ist es, die philosophischen (Stand-)Punkte herauszuarbeiten, die unerlässlich sind, um zu verstehen, wieso die naturwissenschaftlichen Theorien nicht in Konflikt mit der menschlichen Freiheit kommen. Kapitel 2 beschreibt auf dieser Grundlage die Leistungen ebenso wie die Grenzen naturwissenschaftlicher Erklärungen und Gesetze. Es führt zu einem Argument dafür, dass diese Erklärungen und Gesetze die menschliche Freiheit unterstützen, statt sie auszuhebeln. Am Ende von Kapitel 2 werden wir ein Argument dafür gewonnen haben, dass es keine grundlegenden Konflikte zwischen dem wissenschaftlichen und dem manifesten Weltbild in Bezug auf Zeit und Willensfreiheit gibt (die beide zusammenhängen: ohne Veränderungen und Zeit als deren Maß gibt es keine Freiheit). Solche Konflikte sind, mit Rudolf Carnap (1928) gesprochen, Scheinprobleme: Sie ergeben sich aus einem fehlgeleiteten Verständnis der ontologischen Festlegungen wissenschaftlicher Theorien. Auf dieser Grundlage wendet sich Kapitel 3 dem zentralen Punkt des Konfliktes zwischen dem wissenschaftlichen und dem manifesten Weltbild zu, nämlich der Normativität, die nicht erst das Handeln, sondern bereits das Denken durchdringt. Dieses Kapitel arbeitet heraus, wie beide Weltbilder zu menschlicher Freiheit führen, entwickelt die erwähnte zweigleisige Konzeption von Freiheit und er13örtert ihre Konsequenz: Es gibt kein Wissen – weder wissenschaftliches noch Wissen anderen Ursprungs –, welches diese Freiheit aushebeln könnte. Am Schluss steht eine Zusammenfassung der wesentlichen Thesen des Buches.
Für hilfreiche Kommentare und Diskussionen danke ich meinen Mitarbeiter*innen und den Teilnehmer*innen meines Forschungsseminars in Lausanne im akademischen Jahr 2018/19 – insbesondere Guillaume Köstner und Christian Sachse –, den Mitarbeiter*innen des Forschungskollegs »Imaginarien der Kraft« an der Universität Hamburg – insbesondere Frank Fehrenbach und Cornelia Zumbusch für die Einladung im Sommersemester 2019 – sowie Andreas Hüttemann, Ingvar Johansson, Barry Loewer, Anna Marmodoro, Daniel von Wachter und Gerhard Wagner. Vor allem gilt mein Dank Jan-Erik Strasser vom Suhrkamp Verlag für zahlreiche Vorschläge zur Verbesserung des Textes.