Jehuda Amichai
Offen Verschlossen Offen
Gedichte
Ausgewählt und mit einem Nachwort von Ariel Hirschfeld
Aus dem Hebräischen von Anne Birkenhauer und anderen
Mit fünf Gedichten Hebräisch und Deutsch
Als ich Kind war
standen Gräser und Masten an der Küste
und wenn ich dort lag
unterschied ich zwischen ihnen nicht
denn alle fuhren sie hinauf in den Himmel über mir.
Bei mir waren nur die Worte meiner Mutter
wie eine Scheibe Brot in raschelndem Papier
und ich wusste nicht, wann mein Vater zurückkommt
denn jenseits der Lichtung lag noch ein Wald.
Alle Dinge reichten mir die Hand
ein Stier stieß die Sonne mit seinen Hörnern
nachts streichelte das Straßenlicht
meine Wangen und die Wände
und der Mond neigte sich wie ein großer Krug
und tränkte meinen durstigen Schlaf.
Meine Mutter buk mir die ganze Welt
in süße Kuchen.
Meine Geliebte füllte mein Fenster
mit Rosinensternen.
Doch die Sehnsucht ist in mir eingeschlossen wie Luftblasen
in einem Laib Brot.
Von außen bin ich glatt und ruhig und braun.
Die Welt liebt mich.
Doch mein Haar ist traurig wie Papyrus im trocknenden Sumpf –
all die seltenen Vögel und die Schöngefiederten
fliehen vor mir.
Gott erbarmt sich der Kindergartenkinder,
weniger schon der Schulkinder.
Der Großen erbarmt er sich nicht mehr.
Die lässt er allein,
manchmal müssen sie robben
auf dem Weg zur Sammelstelle
durch glühenden Sand,
blutüberströmt.
Der wirklich Liebenden wird er sich vielleicht
erbarmen, barmherzig zeigen, ihnen Schatten schenken
wie der Baum dem Schlafenden auf der Bank,
draußen in der Allee.
Und vielleicht werden auch wir
unsre letzten Münzen der Gnade hervorholen für sie
aus dem Erbe der Mutter,
auf dass der Liebenden Glück uns beschütze,
jetzt und an anderen Tagen.
Im Gedenken an Dicki
Regen fällt auf die Gesichter meiner Gefährten:
auf die Gesichter meiner lebenden Gefährten, die
bedecken ihren Kopf mit einer Decke,
und auf die Gesichter meiner toten Gefährten, die
bedecken nichts mehr.
Der Regen spricht leise,
du kannst jetzt schlafen.
Neben meinem Bett rascheln Flügel einer Zeitung,
es gibt keine anderen Engel.
Ich werde früh aufstehn und den neuen Tag bestechen.
damit er uns gut sei.
Aus dem Hebräischen von Alisa Stadler
Immer liegst du
auf meinen Augen.
An jedem Tag unseres gemeinsamen Lebens
löscht Kohelet eine Zeile aus seinem Buch.
Wir sind der rettende Beweis in dem furchtbaren Prozess.
Wir sprechen sie alle frei.
Aus dem Hebräischen von Alisa Stadler
Wie Geschmack von Blut im Mund
war uns der Frühling – plötzlich.
Die Welt ist wach heute Nacht.
sie liegt auf dem Rücken, ihre Augen sind offen.
Der Mond passt in den Umriss deiner Wangen,
dein Schoß – in den Umriss der meinen.
Aus dem Hebräischen von Alisa Stadler
Dein Herz spielt Blutfangen
in deinen Adern.
Deine Augen sind noch warm wie Betten,
die Zeit schlief in ihnen.
Deine Hüften, zwei süße, vergangene Tage,
ich komme zu dir.
Alle hundertfünfzig Psalmen
brüllen auf einmal.
Aus dem Hebräischen von Alisa Stadler
Die Erinnerung an meinen Vater ist in weißes Papier gewickelt
gleich Vesperbrot morgens zur Arbeit.
Wie ein Zauberer aus seinem Hut Hasen und ganze Türme zieht,
zog er aus seinem kleinen Körper – Liebe.
Aus seinen Händen, Flüssen gleich,
ergossen sich
gute Taten.
Mein Vater zog aus allen seinen Zimmern plötzlich
hinaus in seine wunderlichen Weiten.
Er ging und ging und rief zu seinem Gott,
dass der jetzt komme, uns zu helfen.
Und Gott kam wirklich, höchst beschäftigt, und
hängte den Mantel an die Mondsichel.
Doch unsern Vater, der ihn holen gegangen war,
den behielt er für immer bei sich.
Gott voller Erbarmen,
wär nicht Gott voller Erbarmen,
so gäbe es Erbarmen in der Welt, nicht nur in ihm.
Ich, der ich Blumen pflückte auf dem Berg,
der ich in alle Täler schaute,
ich, der ich die Leichen von den Hügeln trug,
kann euch erzählen: Die Welt ist von Erbarmen leer.
Ich, einst König des Salzes am Meer,
der ich unentschlossen an meinem Fenster stand,
der ich die Schritte der Engel zählte,
ich, dessen Herz Schmerzgewichte
in furchtbaren Wettkämpfen hob.
Ich, der ich nur einen Bruchteil
der Wörter im Wörterbuch verwende.
Ich, der wider Willen Rätsel lösen muss,
ich weiß, wär nicht Gott voller Erbarmen
so gäbe es Erbarmen in der Welt,
nicht nur in ihm.
Gott voller Erbarmen (El Male Rachamim) sind die Anfangsworte des zentralen Gebets, das bei Beerdigungen, Jahrestagen und anderen Anlässen des Totengedenkens gesprochen wird; etwa am Gedenktag für die Opfer der Schoah und am Gedenktag für die in den Kriegen gefallenen israelischen Soldaten. Weiteres dazu siehe Anmerkung zu dem Gedicht »Ich sah ein Foto von Jaffa …« auf S. 116.
Der Mann unter dem Feigenbaum telefonierte mit dem Mann unter dem Weinstock:
»Wenn wir Pech haben, kommen sie wirklich heut Nacht.
Panzere die Blätter, rüste den Baum,
ruf die Toten nach Haus, sei bereit.«
Das weiße Schaf sagte zum Wolf:
»Die Menschen blöken und mein Herz tut mir weh.
Sie treiben es noch auf Speer und Spieß,
bei unserm nächsten Treffen besprechen wir dies.«
Alle Völker strömen vereint nach Jerusalem,
nachsehn, ob Weisung schon ausging, inzwischen aber,
weil doch grad Frühling ist,
pflücken sie Blumen.
Und schmieden ihre Schwerter zu Pflugscharen und Pflugscharen zu Schwertern,
wieder und wieder, hin und her.
Vielleicht wird von dem ganzen Geschmiede und Geschleife
das Zankeisen ja aus der Welt geschafft.
Der Mann unter dem Feigenbaum telefonierte mit dem Mann unter dem Weinstock – das ganze Gedicht bezieht sich auf Micha 4,3-4: »Sie werden ihre Schwerter zu Pflugscharen machen und ihre Spieße zu Sicheln machen. Es wird kein Volk wider das andere das Schwert erheben und sie werden hinfort nicht mehr lernen, Krieg zu führen. // Ein jeder wird unter seinem Weinstock und Feigenbaum wohnen, und niemand wird sie schrecken.«
Das weiße Schaf sagte zum Wolf – bezieht sich auf Jesaja 65,25: »Wolf und Schaf sollen beieinander weiden …«
ob Weisung schon ausging – bezieht sich auf Jesaja 2,3: »Denn von Zion wird Weisung ausgehen, und des Herrn Wort von Jerusalem.«
Von dreien oder vieren im Zimmer
steht einer immer am Fenster.
Muss das Unrecht sehn zwischen den Dornen,
die Brände auf dem Hügel.
Und dass Menschen, die heil auszogen,
abends zurückgebracht werden, wie Wechselgeld nach Haus.
Von dreien oder vieren im Zimmer
steht einer immer am Fenster.
Düsteres Haar über den Gedanken.
Die Wörter längst hinter sich.
Vor sich wandernde Stimmen ohne Gepäck,
Herzen ohne Zehrung, Prophetien ohne Wasser,
große Steine, die zurückgerollt werden
und liegen bleiben, verschlossen wie Briefe
ohne Anschrift und ohne Empfänger.
Nicht wie die Zypresse,
nicht auf einen Schlag und nicht ganz und gar ich,
sondern wie Gras, tausendfach grün hinaustreten,
versteckt sein wie viele Kinder beim Spielen
und einer sucht.
Nicht wie der Eine,
wie Saul ben Kisch, den die Menge erwählte
und sich zum König machte.
Sondern wie Regen an vielen Orten,
aus vielen Wolken, einsickern, getrunken werden
von vielen Mündern, geatmet werden
wie Luft übers Jahr und verstreut werden wie Blüten im Frühling.
Nicht das scharfe, aufschreckende Klingeln
am Tor des diensthabenden Doktors,
sondern Klopfen, an vielen Pforten
und Nebeneingängen, mit pochendem Herzen.
Und danach still hinausziehn wie Rauch,
ohne Fanfaren, ein Minister geht,
ein Stein rollt nach dem steilen Abhang
noch ein bisschen weiter, dann beginnt
die Ebene des großen Verzichts, wo der Staub aufsteigt,
wie Gebete, die erhört werden,
Tausende kleiner Körnchen.
In Jemin Mosche
lag die Linke meiner Liebsten
in meiner rechten Hand.
Wir beide unterm Himmelszelt der Vögel.
Die Blumen deines Kleides, die einzigen
auf dieser verbrannten Erde.
Im Gegensatz zu den Prophezeiungen
hielten wir lange durch,
so besiegt und machtlos,
ganz gegen den Willen der Versicherungen,
die sich weigerten, unser Glück zu versichern.
In Jemin Mosche
zählte man uns und gelangte
zu unendlichen Zahlen,
doch wir waren nur zwei.
Stiller als wir war die Luft im Tal.
Glocken gedachten der späten Stunde.
Wir konnten unsre Liebe vergleichen
mit der Mauer gegenüber
und die große Rechnung aufmachen
unter den kleinen Blättern
der Olivenbäume.
In Jemin Mosche
saßen wir am Gestade unserer Stadt,
die gar keinen Fluss besitzt.
Wir waren anstelle des Flusses.
Über uns Brücken,
und Jerusalems Sterne
spiegeln sich in uns.
Jemin Mosche