ISBN: 978-3-99074-058-3
1. Auflage 2019, Marchtrenk, Österreich
© 2019 Verlag federfrei
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Umschlagabbildung: Umschlagabbildung: © Dark Illusion - Fotolia.com
Lektorat: S. Bähr
Sowohl die im Buch vorkommenden Personen als auch die Handlungen sind von der Autorin frei erfunden. Namen und Ähnlichkeiten mit Personen oder tatsächlichen Handlungen sind zufällig und nicht gewollt.
Alle Rechte vorbehalten.
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Der alte Richter stand nervös wartend im matten Licht der Straßenlaterne, das sein dichtes weißes Haar silbrig schimmern ließ. Ohne sie wirklich zu registrieren, schaute er den Nachtfaltern zu, die die Lampe umschwirrten. Bis auf ein gedämpftes, undefinierbares Rumpeln in der Ferne war es ungewöhnlich still. Sogar das nahe gelegene Hotel Corvinus lag in tiefem Schlaf. Er hätte einen anderen Ort und vor allem eine andere Zeit für ein Treffen vorgezogen, aber die Entscheidung hatte nicht an ihm gelegen. »Um zwei Uhr früh, beim Eingang zu den Kasematten«, hatte der Befehl gelautet, und es war ihm nichts anderes übrig geblieben, als der Order zu gehorchen, wenn er noch eine Chance haben wollte, irgendwie aus dieser Geschichte herauszukommen. Er war aus allen Wolken gefallen, als er gestern den Brief mit der Geldforderung erhalten hatte. Nie im Leben wäre er auf den Gedanken gekommen, dass er jemals einem Erpresser in die Hände fallen würde, aber so leicht würde er es dem Kerl nicht machen. Immerhin hatte er für diese Begegnung selbst auch einige Vorkehrungen getroffen.
Als er hinter sich ein Geräusch hörte, fuhr er herum. Wie aus dem Nichts war lautlos eine massige Gestalt im schwarzen Kapuzensweater aufgetaucht. Da der Richter die Bahngasse ständig im Blick gehabt hatte, konnte der Mann, der ein Tuch über Mund und Nase gezogen hatte, nur aus dem Stadtpark gekommen sein.
»Haben Sie das Geld?«, fragte der Ankömmling, ohne zu grüßen.
»Wie stellen Sie sich das vor?«, brauste der Richter auf. »Ich kann doch nicht so von jetzt auf gleich fünfzigtausend Euro flüssigmachen! Ich brauche Zeit.«
»Zeit gibt es nicht! Ich kann mit meinem Wissen auch zur Polizei oder, noch besser, zu einer Zeitung gehen. Was glauben Sie, wie viel einem Reporter diese gute Story wert ist?«
»Das wagen Sie nicht!« Blitzschnell riss der Richter mit der linken Hand das Tuch vom Gesicht des Fremden, und während er einen Schritt zurück machte, weiteten sich seine Augen. »Da schau her, der Schneckentöter!«, stieß er triumphierend heraus.
»Du Hund«, zischte der Erpresser und stürzte sich auf ihn, woraufhin beide zu Boden gingen. Der Richter wehrte sich aus Leibeskräften, aber er konnte nicht verhindern, dass die großen Hände, die sich um seinen Hals gelegt hatten, nach und nach alles Leben aus ihm herauspressten.
Als der Richter sich nicht mehr rührte, erhob sich die Gestalt im schwarzen Sweater schwerfällig und schaute verwundert auf den leblos am Boden liegenden Mann.
»Hey, Alter!« Als er den leblosen Körper mit dem Fuß zur Seite rollte und er in das verquollene Gesicht sah, kam ihm zu Bewusstsein, was er getan hatte. Sein Gesichtsausdruck änderte sich von Unverständnis zu Entsetzen.
»Scheiße!«, entfuhr es ihm. Er unterdrückte den Impuls davonzulaufen. Panisch schaute er um sich. Die Bahngasse lag nach wie vor still und menschenleer vor ihm, aber jederzeit konnte ein Nachtschwärmer auftauchen. Wohin also mit der Leiche? Er drehte sich suchend um sich selbst und bemerkte zu seiner Erleichterung, dass das Tor zu den Kasematten nur angelehnt und nicht verschlossen war. Das war die Rettung! In dem alten Gemäuer konnte der Tote wochenlang liegen, ohne von jemandem entdeckt zu werden.
Eilig öffnete er das große Tor ganz, bückte sich, packte den Toten an den Füßen und zog ihn in das dunkle Gewölbe. Er schnaufte schwer. Vielleicht wäre es besser, die Leiche noch ein paar Meter weiter in das Innere zu ziehen, dachte er. Keuchend schleppte er den doch recht schweren Körper über den unebenen Steinboden in ein Nebengewölbe, wo ihn das wenige Licht, das durch die geöffnete Tür fiel, fast nicht mehr erreichte.
Schließlich hielt er erschöpft inne und wischte sich mit dem Ärmel den Schweiß von der Stirn. Dann tastete er mit fahrigen Händen nach dem Handy des Ermordeten, zog es ihm aus der Tasche und steckte es ein. Sekundenlang blieb er überlegend stehen, dann nahm er es wieder heraus, legte es auf den Boden und trat mit aller Kraft darauf. Einige Male stampfte er mit dem Schuhabsatz auf das Gerät, bis es unter seinen Sohlen splitterte und knirschte.
Das müsste reichen, dachte er erleichtert und machte sich auf den Weg nach draußen. Als er in der Dunkelheit unvermutet ein leises Klirren vernahm, erstarrte er. Er hielt den Atem an. Er war nicht alleine hier drinnen! Mit größter Vorsicht schlich er in die Richtung, aus der er das Geräusch gehört hatte. Plötzlich spürte er, dass jemand in der Nähe war, und bevor er noch reagieren konnte, explodierte etwas auf seinem Kopf. Er war schon tot, als er auf dem Boden aufschlug.
Lorenz Emrich vom Bauamt parkte seinen silberfarbenen BMW vor dem uralten Renaissanceportal der Kasematten. Er hatte eine Verabredung mit einem Architekten, der die alten Gewölbe begutachten sollte.
Ein Blick auf die Uhr am Armaturenbrett sagte ihm, dass er ein bisschen zu früh dran war. Es war ein strahlend sonniger Morgen, und Emrich saß um diese Zeit normalerweise in seinem Büro, also stieg er aus dem Wagen, um sich etwas die Beine zu vertreten. Genüsslich zündete er sich eine Zigarette an und spazierte vor dem Tor auf und ab.
Als er fertig geraucht hatte, sah er, dass er noch immer etwas Zeit hatte, bis der Architekt kommen sollte. In der Zwischenzeit konnte er schon einmal aufsperren. Er fischte den Schlüssel vom Beifahrersitz seines Autos, wo er ihn achtlos hingeworfen hatte, öffnete die massive Holztür und machte Licht. Ein Schwall kühler, abgestandener Luft, gemischt mit einem leichten Modergeruch, schlug ihm entgegen.
Höchste Zeit, dass die alten Gemäuer endlich sinnvoll genutzt werden, dachte er.
Das zum großen Teil unterirdische Bauwerk, das schon vor vielen Jahrhunderten als Waffenarsenal erbaut worden war und im Zweiten Weltkrieg als Luftschutzbunker gedient hatte, lag schon lange in einer Art Dornröschenschlaf.
Vor Jahrzehnten hatten hier eine Zeit lang Feste und Tanzveranstaltungen stattgefunden, danach hatte ein Gastronomiebetrieb die Räumlichkeiten noch ein paar Jahre lang genutzt, aber seit damals hatte niemand mehr konkrete Pläne zur Verwendung der alten Gewölbe vorgelegt, obwohl von Zeit zu Zeit immer wieder dahingehende Vorschläge gemacht worden waren. Der hohe finanzielle Aufwand, den eine Revitalisierung mit sich bringen musste, hatte bis jetzt alle angedachten Projekte verhindert. Doch nun sollte im Zuge der Landesausstellung, die in Wiener Neustadt stattfinden würde, das alte Gemäuer endlich einem allgemein nützlichen Zweck zugeführt werden.
Emrich machte ein paar Schritte in die Kasematten und blickte sich um. Hier wartet auf den Baumeister ein schönes Stück Arbeit, dachte er. Da bemerkte er etwas weiter hinten in einer Ecke ein achtlos hingeworfenes Kleiderbündel.
Während er näher trat, fragte er sich, bei welcher Gelegenheit das hier vergessen worden sein konnte. Dann zuckte er zusammen.
Dort in der Ecke lag kein Kleiderbündel, sondern ein Mensch! Hatte da etwa ein Obdachloser sein Lager aufgeschlagen? Mit ein paar großen Schritten war er bei der regungslosen Gestalt, beugte sich über sie und schrie unwillkürlich auf. Er unterdrückte einen aufkommenden Brechreiz, denn auf der rechten Seite des Kopfes klaffte ein großes Loch, und einige Knochensplitter leuchteten milchig weiß aus der blutverkrusteten Wunde. Das Gesicht des Toten war von Blut überströmt und nicht erkennbar.
Der Mann war offensichtlich tot, trotzdem überwand Emrich sein Grauen und berührte zögernd den Leichnam an der Hand. Als er merkte, dass diese schon kalt und steif war, stand er auf, holte mit zitternden Fingern sein Handy aus der Tasche und wählte den Polizeinotruf. Der Beamte am anderen Ende fragte ungläubig noch einmal nach und sagte dann aber doch zu, jemanden vorbeizuschicken.
Emrich rief den Architekten, mit dem er verabredet gewesen war, an und sagte das Treffen ab. Ihm war speiübel, und er hätte sich gerne eine Zigarette angezündet, aber er unterdrückte das Verlangen heldenmütig. Mit weichen Knien lehnte er neben der Tür an der Wand aus grob verputzten Steinen und vermied es, in Richtung des Toten zu sehen.
Es dauerte zum Glück nicht lange, und zwei uniformierte Polizisten fuhren in einem Streifenwagen vor. Sie warfen nur einen Blick auf den leblosen Körper auf dem Steinboden, dann rief einer der beiden Bezirksinspektor Leo Novak von der Kripo an, der ebenfalls umgehend erschien.
Der Bezirksinspektor ließ sich von Emrich genau schildern, wie er die Leiche entdeckt hatte. Danach konnte Emrich den unheimlichen Ort endlich verlassen.
Nachdem Novak die Leiche kurz in Augenschein genommen hatte, sagte er erleichtert: »Das fällt nicht in mein Ressort, damit soll sich das Landeskriminalamt abplagen«, und griff seinerseits zum Telefon.
Chefinspektor Peter Wannek vom LKA fuhr an der Abfahrt Wiener Neustadt West von der Autobahn ab. Aus hellen, leicht hervorstehenden Augen warf er einen giftigen Seitenblick auf seinen jungen Mitarbeiter, der neben ihm auf dem Beifahrersitz herumlümmelte.
Bezirksinspektor Norbert Meier, der erst seit kurzer Zeit beim LKA war, sollte von jetzt an gemeinsam mit ihm ermitteln. Meier hatte seine sonst so aufmerksam blickenden dunklen Augen geschlossen, die Sonnenbrille hinauf in sein kurz geschnittenes mittelbraunes Haar geschoben und döste vor sich hin.
Wannek wünschte seinen Vorgesetzten alle möglichen Qualen an den Hals. Obwohl er beruflich noch nie in Wiener Neustadt zu tun gehabt hatte, hatte ausgerechnet er den Auftrag erhalten, sich um den dortigen Leichenfund zu kümmern, und das noch dazu mit einem neuen Partner. Abteilungsinspektor Hans Toth, mit dem er früher meistens zusammengearbeitet hatte, war unlängst in Pension gegangen, und Wannek hasste es, seine Gewohnheiten ändern zu müssen. Sein alter Partner und er waren Freunde und ein gut eingespieltes Team gewesen, und sie hatten sich meistens ohne Worte verstanden. Wie sich jedoch die Zusammenarbeit mit dem »Neuen« gestalten würde, stand noch in den Sternen.
Wannek hoffte, dass es keine Probleme geben würde, denn er wusste aus Erfahrung, dass sich beruflicher Stress immer äußerst negativ auf seine chronische Gastritis auswirkte. Bevor er den Gedanken noch fertig gedacht hatte, spürte er schon, wie sich der wohlbekannte nagende Schmerz in seiner Magengrube zu melden begann.
Er holte tief Luft und zog in einem Anflug von Vernunft kurzzeitig in Betracht, seinen Kaffeekonsum aus Rücksicht auf seinen empfindlichen Magen in Zukunft etwas einzuschränken. Aus langjähriger Erfahrung wusste er jedoch, dass dieser Versuch ‒ wie alle anderen davor ‒ kläglich scheitern würde. Also griff er in seine Jackentasche, in der er immer Lutschtabletten vorrätig hatte, nahm eine davon und hoffte, damit den Anfall im Keim ersticken zu können.
Als Wannek seinen zehn Jahre alten VW Passat auf der Puchberger Straße stadteinwärts lenkte, wurde Meier lebendig und gähnte ausgiebig. Er versuchte vergeblich, seine langen Beine, die in Jeans steckten, irgendwie auszustrecken, angelte die Sonnenbrille aus seinen Haaren, setzte sich aufrecht hin und nahm wieder Anteil an seiner Umgebung.
»Na, ausgeschlafen?«, fragte Wannek ironisch.
»Entschuldigung! Ich werde immer schrecklich müde beim Autofahren, wenn ich nicht selbst am Steuer sitze«, antwortete Meier.
»Gut zu wissen! Dann ist es vielleicht in Zukunft besser, wenn Sie fahren.«
»Wie Sie meinen, Chef«, sagte Meier gleichgültig, während Wannek bei der Ampel nach dem Landesgerichtsgebäude links abbog.
Dass sich ermittelnde Beamte in der Regel automatisch duzten, ging Wannek gehörig gegen den Strich.
Er legte Wert darauf, selbst zu bestimmen, wem er das Du-Wort anbieten wollte. Daher gab es einige Kollegen, die mehr oder weniger freiwillig förmlich mit dem Chefinspektor verkehrten.
Als die beiden Beamten am großräumig abgesperrten Tatort ankamen, herrschte in den Kasematten schon reges Treiben. Der Rechtsmediziner war dabei, die Leiche zu begutachten, während unzählige Gestalten in weißen Overalls geschäftig ihrer Arbeit nachgingen.
Wannek stieg ächzend aus seinem Wagen, griff sich mit beiden Händen an den schmerzenden Rücken und öffnete dann den Kofferraum, um ebenfalls zwei Schutzanzüge aus weißem Kunststoff herauszuholen. Während er sich noch murrend in den Overall zwängte, schlüpfte Meier schon in die Überschuhe.
»Schauen Sie sich zuerst drinnen etwas um, und verschaffen Sie sich einen Überblick über den Tatort!«, sagte Wannek immer noch etwas atemlos zu Meier, als sie gemeinsam das uralte Bauwerk betraten.
»Hallo, Erich«, begrüßte er den Leiter des Erkennungsdienstes, der gemeinsam mit seinen Leuten den Tatort nach Spuren absuchte.
»Hallo, Peter! Also haben sie doch dich hierhergeschickt. Wir haben schon gewettet, ob du kommen würdest oder der Zvonarich Joe. Ich habe verloren.«
»Das tut mir leid«, grinste Wannek. »Ich hätte dich gerne gewinnen lassen, ich hab mich um den Job da bei Gott nicht gerissen.«
Abteilungsinspektor Erich Steiner grinste ebenfalls und zuckte mit den Schultern. »Vielleicht hast du ja Glück, und der Fall ist schnell aufgeklärt. Ich tu jedenfalls mein Bestes.«
Damit machte er sich wieder ans Werk.
Wannek stellte sich dem immer noch anwesenden Bezirksinspektor der Kripo Wiener Neustadt vor, nickte dem Polizeiarzt grüßend zu und warf einen Blick auf die Leiche.
»Weiß man schon, wer der Tote ist?«, fragte er.
»Ja. Er hat zwar nichts bei sich gehabt außer einem Schlüsselbund, aber ich weiß trotzdem, wie er heißt. Es handelt sich um Siegfried Schneck, einen ehemaligen Kollegen«, gab Novak an. »Ich frage mich nur, wie der hier hereingekommen ist. Das Tor ist immer versperrt, und es ist nicht so, dass jeder einen Schlüssel bekommt. Zuerst habe ihn ja gar nicht erkannt, erst als Doktor Gunther ihm notdürftig das Gesicht gereinigt hat, hab ich gesehen, wer das ist. Was wollte der Siggi denn bloß in den Kasematten?«
»Und ‒ hat der Siggi auch Familie?«, fragte Wannek seufzend.
»Nein, er ist ledig, hat keine Geschwister, und seine Eltern sind schon lange tot. Soviel ich weiß, lebte er allein.«
»Also niemand da, den man verständigen muss. Wer hat die Leiche gefunden?«
»Ein Herr Emrich vom Bauamt. Er hatte beruflich hier zu tun. Ich habe ihn für morgen auf die Polizeistation bestellt, damit wir ein Protokoll machen können«, gab Novak Auskunft.
Plötzlich tönte es aus dem nebenliegenden Gewölbe: »Chef, hier liegt noch eine Leiche!«
Chefinspektor Wanneks Gesicht wandelte sich zu einem einzigen Fragezeichen. Ungläubig lächelnd ging er bedächtig in den nächsten Raum und sah dort seinen Mitarbeiter tatsächlich neben einer lang ausgestreckten Gestalt am Boden knien.
»Noch ein Toter?«, fragte er verständnislos.
»Ja, wahrscheinlich erwürgt worden«, meldete Meier.
Der Chefinspektor warf nur einen kurzen Blick auf die regungslose Gestalt, dann brüllte er über die Schulter zurück: »Ist der Doktor noch da?«, und zuckte leicht zusammen, als seine Stimme von den nackten Steinmauern hallend zurückgeworfen wurde.
Gemächlich kam der Rechtsmediziner in den Raum.
»Wer verlangt nach mir?«, fragte er grinsend. Dann sah er den Toten und wurde ernst. »Was, noch eine Leiche?«, brachte er erstaunt hervor.
Wannek trat beiseite. »Offensichtlich, Doktor! Walten Sie Ihres Amtes!«, sagte er und begleitete seine Worte mit einer theatralischen Handbewegung.
»Moment!«, verbesserte er sich. »Zuerst noch der Fotograf. Wir wollen doch alles ordentlich dokumentieren!«
Dr. Gunther beugte sich über die Leiche. »Der Mann ist tot«, stellte er dann lapidar fest, »das kann sogar eine Laie erkennen. Würden Sie mir meinen Koffer bringen?«, wandte er sich fragend an Meier, der ihn verwundert anschaute und dann schulterzuckend Anstalten machte, der Bitte des Arztes nachzukommen.
»Und dann durchsuchen Sie alle Winkel in diesem Gemäuer, ob hier nicht noch irgendwo Leichen herumliegen«, mischte sich der Chefinspektor ein und fuhr sich mit der Hand nervös durch sein borstiges graues Haar. »So was ist mir auch noch nicht untergekommen! Was ist denn das?«
Er hatte neben der Wand die Überreste eines iPhones entdeckt. Anscheinend hatte jemand viel Energie aufgewandt, um das Ding komplett zu zerstören, und offensichtlich war es diesem »Jemand« auch hervorragend geglückt. In diesem Moment kam Meier mit dem Koffer des Rechtsmediziners.
»Meier, das kommt zur KTU!«, befahl Wannek und deutete auf das kaputte Gerät. »Ich glaube zwar nicht, dass man damit noch etwas anfangen kann, aber versuchen muss man es.«
Danach blieb er eine Weile stehen und sah dem Arzt zu, der die Leiche fachmännisch untersuchte. »Wie lange ist er schon tot, Doktor?«
»Das kann ich noch nicht so genau sagen, mindestens sechs bis höchstens achtzehn Stunden, also etwa genauso lange, wie mein erster ›Kunde‹ da draußen.« Er deutete mit dem Daumen über seine Schulter. »Auf den ersten Blick dürfte er tatsächlich erwürgt worden sein, aber Genaueres steht in meinem schriftlichen Obduktionsbefund«, fügte er dann hinzu.
Als Wannek hinter sich Schritte hörte, drehte er sich um. Bezirksinspektor Meier kam eilig auf ihn zu.
»Kommen Sie bitte mit, Chefinspektor, ich muss Ihnen etwas zeigen!«, sagte er.
»Sagen Sie jetzt nicht: noch eine Leiche«, murrte Wannek drohend und folgte seinem jungen Mitarbeiter durch einen schmalen Gang, der in einem Gewölbebogen endete, in einen weiteren kleinen Raum. In der gegenüberliegenden Wand gähnte ein großes Loch. Ein Ziegel und jede Menge Ziegelsplitter lagen verstreut herum. Anscheinend hatte die Mauer, von der ein Stück offenbar unsachgemäß entfernt worden war, einen dahinter liegenden Hohlraum verborgen. Der Chefinspektor trat näher, stützte sich mit seinen Händen zu beiden Seiten des Lochs an der Wand etwas ab und bemühte sich hineinzusehen, er konnte aber in der dunklen Höhlung auf den ersten Blick nichts erkennen.
»Möglicherweise hat das nichts zu bedeuten«, sagte er wie zu sich selbst. »Aber man weiß ja nie … Meier, machen Sie die Tatortgruppe auf das Loch aufmerksam! Vielleicht hat es doch etwas mit unserem Fall zu tun. Am Ende war da etwas Wertvolles versteckt, und bei dem Versuch, es zu bergen, sind die beiden da draußen in Streit geraten und …«
Er unterbrach sich. »Nein, das geht nicht, beide sind tot, und keiner von ihnen hätte schwerverletzt den anderen umbringen können. Na ja, wir werden das hoffentlich noch klären!«
»Weiter drinnen habe ich noch etwas Beachtenswertes entdeckt«, sagte Meier. »Vielleicht sollten Sie sich das auch noch anschauen.«
»Verschonen Sie mich mit Ihren Überraschungen!«, grantelte Wannek. »Was gibt es? Noch ein paar Leichen oder aufgebrochene Wände?«
»Nein, etwas ganz anderes, aber es könnte möglicherweise wichtig sein.« Mit diesen Worten ging Meier durch mehrere verwinkelte Räume von unterschiedlicher Höhe und verschiedenem Erhaltungszustand seinem Chef voraus, und die Schritte der beiden Beamten klangen dumpf auf dem uralten Steinfußboden. In unregelmäßigen Abständen waren entweder an der Wand oder an der Decke teilweise schon verrostete Lampen montiert, die jedoch das Gewölbe nur unzureichend ausleuchteten und stellenweise unheimliche, verzerrte Schatten an die rauen Wände warfen.
Plötzlich hielt Meier an und sah sich verwirrt um. »Das verflixte Gemäuer«, murmelte er verlegen, »hier fällt die Orientierung schwer. Ich glaube, da geht es weiter«, sagte er schließlich erleichtert und bog scharf links ab. Dann nickte er zufrieden und ging zielsicher weiter, bis er endlich stehen blieb.
»Hier dürften sich öfter irgendwelche Leute getroffen haben.«
Er deutete in einen kleinen, lichtlosen Raum mit dreieckigem Grundriss und sechs Meter hohen schwarzen Mauern, die in einem schmalen Gewölbe endeten. Unmengen von Getränkedosen, zerknülltem Papier und Speiseresten lagen herum. In einem weiten Halbkreis standen mehr oder weniger abgebrannte große Kerzen, und an der Wand lagerte ein Stapel ordentlich zusammengelegter Decken.
»Sieht so aus! Das muss nicht zwangsläufig mit den beiden Toten da vorne zu tun haben, aber die Kollegen müssen sich das trotzdem anschauen. Sagen Sie den Herrschaften Bescheid, die werden bestimmt jubeln, wenn sie das sehen! Bei dieser Menge von Spuren können sie sich richtig austoben.«
Er grinste schadenfroh und ging zurück zu dem Rechtsmediziner, der seine Untersuchung soeben abgeschlossen hatte. »Haben Sie noch etwas gefunden, Doktor?«, fragte er.
»Ja, ich habe in der Hand des Toten einige Haare entdeckt. Wenn wir Glück haben, gehören sie dem Täter. Außerdem dürfte der Mord nicht hier passiert sein.«
Er zeigte auf deutlich erkennbare Schleifspuren am Boden.
»Fotos von den Spuren sind schon gemacht worden?«, fragte Wannek schroff in Richtung der Tatortgruppe.
»Natürlich, Chefinspektor«, kam die Antwort.
»Meier, schauen Sie nach, ob der Tote Ausweispapiere bei sich hat!«
Meier hockte sich nieder und durchsuchte die Hosentaschen der Leiche. Zum Vorschein kamen Autoschlüssel, ein ordentlich gefaltetes Stofftaschentuch mit gesticktem Monogramm, ein Nitro-Spray, wie es Herzkranke benutzen, und eine Brieftasche mit Autopapieren zu einem Mercedes. Das Bild auf dem Führerschein zeigte eindeutig den Toten, obwohl das Gesicht der Leiche wirklich nicht schön anzusehen war. Demnach handelte es sich um einen gewissen Klaus Friedhelm Stankovsky, dreiundsiebzig Jahre alt, wohnhaft in Katzelsdorf, Bergstraße fünfzehn. Des Weiteren steckten in der Brieftasche einige Visitenkarten des Opfers, aus denen hervorging, dass Stankovsky Richter gewesen war.
»Das auch noch«, knurrte Wannek verärgert. »Da werden wir möglicherweise mehr Mordmotive finden, als wir brauchen können.«
Dann wandte er sich an Novak: »Ich nehme an, dass der Richter mit seinem Mercedes gekommen ist. Vielleicht könnten Ihre Leute das Auto ausfindig machen. Wenn der Wagen in der Nähe gefunden wird, geben Sie bitte Abteilungsinspektor Steiner Bescheid, er soll ihn sich ansehen.«
»Mache ich«, sagte Novak kurz. »Fahren Sie denn schon wieder weg?«
»Bezirksinspektor Meier und ich fahren nach Katzelsdorf. Falls der Richter Familie hatte, müssen wir die ja von seinem Tod verständigen. So was mach ich eh so gern«, sagte Wannek seufzend, »aber vielleicht können wir erfahren, warum Richter Stankovsky in der Nacht bei den Kasematten war.«
Mithilfe des Navigationsgerätes fanden die beiden Beamten die gesuchte Adresse ohne Schwierigkeiten.
Bergstraße fünfzehn war ein hochherrschaftliches, schlossähnliches Gebäude am Ortsrand, das sich an einen sanften Hügel schmiegte. Ein großes Tor aus Schmiedeeisen versperrte
den Weg zur Auffahrt, die zum Haus führte. Am massiven Steinpfeiler neben dem Tor fand Wannek eine Klingel mit einer Gegensprechanlage und einer Kamera. Er drückte auf den Knopf, und kurz darauf ertönte eine weibliche Stimme: »Ja bitte?«
»Chefinspektor Wannek vom LKA, mein Kollege Meier«, stellte der Chefinspektor sich und seinen Mitarbeiter vor. »Können wir Sie kurz sprechen?«
»Würden Sie bitte Ihre Ausweise hochhalten?«, meldete sich nochmals die weibliche Stimme.
»Die Frau ist vorsichtig«, murmelte Wannek anerkennend, während er seinen Ausweis vor die Kamera hielt.
»Kommen Sie rein!«, klang es aus dem Lautsprecher, und ein Summen signalisierte, dass das Tor geöffnet werden konnte.
Als die beiden Beamten die Auffahrt zum Haus entlanggingen, kam ihnen eine langbeinige, dunkelhaarige, junge Frau entgegen. »Wahrscheinlich die Tochter«, raunte Wannek seinem Mitarbeiter zu.
»LKA?«, fragte die attraktive, stark geschminkte Frau beunruhigt, die bei genauerem Hinsehen nicht mehr ganz so jung war, wie es von ferne den Anschein gehabt hatte. Sie trug ein luftiges Sommerkleid, das ihre immer noch gute Figur vorteilhaft zur Geltung brachte. »Ist etwas mit meinem Mann?«
»Können wir vielleicht hineingehen?«, wich Wannek aus.
»Natürlich, entschuldigen Sie, aber ich habe mir schon Sorgen gemacht. Und jetzt kommen Leute vom Landeskriminalamt!«
»Sind Sie Frau Stankovsky?«, fragte der Chefinspektor, als sie gemeinsam aufs Haus zugingen. »Es ist sehr klug von Ihnen, nicht jedem die Tür zu öffnen, der klingelt.«
»Ja, mein Name ist Juliane Stankovsky. Ich bin lieber vorsichtig, man hört heutzutage so viel von Überfällen und so. Deshalb mache ich nie auf, wenn ich alleine im Haus bin, und mein Mann ist im Augenblick leider nicht da.«
Sie führte die beiden Beamten in ein lichtdurchflutetes, weitläufiges Wohnzimmer und bot ihnen Platz an. »Möchten Sie vielleicht einen Kaffee?«, fragte sie.
»Nein danke«, lehnte Peter Wannek heldenhaft ab, obwohl er einen Kaffee dringend nötig gehabt hätte. Er wollte seine Mission so schnell wie möglich zu Ende bringen. »Wir haben leider eine schlimme Nachricht für Sie«, fügte er hinzu.
Die Frau wurde blass und ließ sich in einen Fauteuil sinken. »Klaus Friedhelm – ist er tot?«
»Es tut mir leid. Ihr Mann wurde heute Morgen tot in Wiener Neustadt in den Kasematten aufgefunden.«
»Wo? In den Kasematten? Was wollte er denn dort?«
»Ich habe gehofft, dass Sie mir das sagen könnten«, sagte Wannek.
Frau Stankovsky starrte ihn einen Augenblick lang an und strich sich mit einer verzweifelten Geste ihre schwarze Mähne aus dem Gesicht. »Ich habe keine Ahnung. Was ist passiert? War es das Herz?«
Bevor Wannek noch etwas sagen konnte, flüsterte sie: »Nein, dann würde mir die Nachricht bestimmt nicht die Kriminalpolizei bringen.«
»Sie haben recht. Ihr Mann ist offensichtlich erwürgt worden.«
»Erwürgt?«, wiederholte sie verständnislos. »Von wem?«
»Das versuchen wir herauszubekommen. Hatte Ihr Mann Feinde?«
Juliane Stankovsky antwortete nicht. Sie starrte nur vor sich hin, rang sichtlich um Fassung, und ihre Mundwinkel zuckten.
Meier, der sich eifrig Notizen machte, schaute sie nachdenklich an. Ihr Verhalten wirkte auf ihn irgendwie übertrieben, obwohl er seinen Eindruck nicht konkretisieren konnte.
»Frau Stankovsky«, sagte der Chefinspektor eindringlich, »es tut mir leid, dass wir Sie so quälen müssen, aber ich hätte ein paar wirklich wichtige Fragen an Sie. Glauben Sie, dass Sie das schaffen werden?«
Sie hielt sich kurz beide Hände vor die Augen, atmete tief durch und blickte dann auf. »Ich glaube, schon. Fragen Sie!«
»Also, hatte Ihr Mann Feinde?«
»Feinde? Was heißt schon, Feinde? Er war Richter, da kann es durchaus sein, dass sich jemand ungerecht behandelt fühlt und sich rächen möchte. Aber persönliche Feinde hatte mein Mann bestimmt nicht.«
Sie schluchzte leise auf. »Es ist schrecklich, von Klaus Friedhelm in der Vergangenheit sprechen zu müssen. Wir sind … waren … erst seit drei Jahren verheiratet, und obwohl mein Mann zwanzig Jahre älter ist, äh … war … als ich und Herzprobleme hatte, habe ich doch noch mit vielen gemeinsamen Jahren gerechnet.«
»Wann haben Sie Ihren Mann zuletzt gesehen?«
»Gestern Nachmittag, bevor ich fortgefahren bin. Ich war in Wien bei einer Vernissage und bin erst spät nach Hause gekommen, ich dachte, mein Mann schläft schon, und habe erst heute beim Frühstück gemerkt, dass er die ganze Nacht nicht zu Hause war. Sein Bett war unberührt.«
»Haben Sie getrennte Schlafzimmer?«
»Ja, ich lese gerne im Bett, und mein Mann kann nicht einschlafen, wenn das Licht brennt … er konnte nicht einschlafen«, berichtigte sie mit tränenerstickter Stimme nach einer winzigen Pause.
»Wer wohnt außer Ihnen noch hier?«, fragte der Chefinspektor, der sich daran erinnerte, wie pompös das Haus von außen gewirkt hatte.
»Nur mein Mann und ich«, sagte Frau Stankovsky spontan. Dann zuckte sie zusammen. »Jetzt wohl nur ich«, sagte sie leise.
»Haben Sie Hilfe im Haushalt? So ein großes Haus kann man doch nicht alleine in Schuss halten.«
»Ja, natürlich! Frau Gebhard wohnt aber nicht hier. Sie kommt zwei bis drei Mal in der Woche, je nach Bedarf.«
»Wie heißt diese Frau Gebhard noch, und wo wohnt sie?«
»Ihr Name ist Andrea Gebhard, und sie wohnt Birkenweg Nummer zwölf.«
Wannek warf einen fragenden Blick zu Meier, der nur bestätigend nickte. »Alles notiert«, murmelte er.
»Sagt Ihnen eigentlich der Name Siegfried Schneck etwas?«, wechselte Wannek das Thema.
Frau Stankovsky schien ihn nicht zu hören, sie saß regungslos und mit gesenkten Augen auf ihrem Fauteuil.
Als Wannek seine Frage etwas lauter wiederholte, zuckte sie zusammen und blickte wie erwachend auf.
»Nein! Den Namen hätte ich mir bestimmt gemerkt, wenn ich ihn irgendwo gehört hätte.«
»War Ihr Mann in der letzten Zeit irgendwie verändert? Hatte er Sorgen, oder haben Sie bemerkt, dass er vor irgendetwas Angst hatte?«
»Na ja«, meinte Frau Stankovsky nachdenklich. »Gestern war er tatsächlich sehr nervös und unruhig. Aber ich habe es auf das Wetter geschoben. Es hat auch nichts darauf hingedeutet, dass er Probleme irgendwelcher Art gehabt hätte. Vielleicht hat er Thomas etwas erzählt, die beiden hatten gestern eine lange Unterredung. Allerdings habe ich den Eindruck gehabt, dass es sich dabei um etwas Berufliches gehandelt hat.«
»Wer ist Thomas?«
»Thomas ist Klaus Friedhelms Sohn, er ist Anwalt und wohnt in Neunkirchen. Dort hat er auch seine Kanzlei.«
»Dann hätte ich gerne die Adresse und die Telefonnummer von diesem Sohn«, bat Wannek.
»Bitte, gerne«, murmelte Frau Stankovsky und schrieb etwas auf einen Zettel, den sie dem Chefinspektor reichte. Der gab ihn an Bezirksinspektor Meier weiter.
»Geh, Meier, schauen Sie, dass Sie den Stankovsky junior erreichen, und machen Sie einen Termin mit ihm aus! Er soll aufs Kommissariat kommen, ich habe ein paar Fragen an ihn.«
Wannek stand auf. »Danke, Frau Stankovsky, das wäre es für den Augenblick. Allerdings möchte ich Sie bitten, morgen Vormittag ebenfalls auf die Polizeiinspektion am Burgplatz zu kommen, es gibt eine Menge Formalitäten zu erledigen. Fragen Sie nach Chefinspektor Wannek, die Kollegen werden Ihnen erklären, wo Sie mich finden. Es tut mir leid, dass ich Ihnen diese schlimme Nachricht bringen musste, und ich möchte Ihnen noch mein Beileid aussprechen.«
Mit diesen Worten verabschiedete er sich von der tief betroffenen Frau.
»Bevor wir zurückfahren, schauen wir, ob wir Frau Gebhard zu Hause antreffen«, sagte Wannek, als er ins Auto stieg. »Wo wohnt denn diese Parkettkosmetikerin? Ich glaube zwar nicht, dass sie uns etwas Wichtiges erzählen kann, aber man weiß ja nie …«
Norbert Meier warf einen Blick auf seine Notizen. »Birkenweg Nummer zwölf«, gab er Auskunft, und Wannek gab die Adresse in sein Navi ein. Es stellte sich heraus, dass der Birkenweg gleich die nächste Quergasse war. Als das Auto mit den Beamten vor dem Haus anhielt, war Frau Gebhard eben dabei, den ohnehin makellosen Gehsteig zu kehren.
Sie war eine mollige Frau von ungefähr sechzig Jahren. Zu ihrem größten Bedauern konnte sie dem Chefinspektor nicht weiterhelfen. Sie war nur als Haushaltshilfe angestellt, hatte keine private Beziehung zu den Stankovskys, die Frau des Hauses war zwar sehr pingelig, aber der Lohn war überdurchschnittlich, den Richter selbst hatte sie nur gelegentlich zu Gesicht bekommen, das Verhältnis zwischen den Eheleuten war liebevoll-zärtlich, es gab keinen Streit und keine besonderen Vorkommnisse. Die Stimmung war stets gelöst, wenn der Sohn des Hauses zu Besuch kam, andere Gäste hatte das Ehepaar nur selten, den Namen Siegfried Schneck hatte sie noch nie gehört, und überhaupt konnte sie sich nicht vorstellen, was die Kriminalpolizei bei so einer feinen Familie zu untersuchen hatte.
Wannek befriedigte ihre begreifliche Neugier bewusst nicht, aber er hatte alle Mühe, ihren Redefluss zu bremsen.
»Diesen Besuch hätten wir uns sparen können«, stellte er unzufrieden fest, als er wieder in sein Auto stieg und den Motor startete. »Welchen Eindruck haben Sie von Stankovskys Witwe, Meier?«
»Ich weiß nicht so recht, Chef«, meinte Norbert Meier zögernd. »Obwohl sie uns einreden will, dass für sie eine Welt zusammengebrochen ist, glaube ich fast, dass sie uns was vorspielt. Es würde mich nicht wundern, wenn sich herausstellen sollte, dass sie mit dem Tod ihres Mannes etwas zu tun gehabt hat.«
»Ist es Ihnen also auch aufgefallen? Das muss zwar nichts bedeuten, denn nicht jeder, der nach dem Tod eines Angehörigen offensichtlich nicht trauert, muss auch zwangsläufig etwas mit dessen Ableben zu tun haben. Zum Glück. Aber wir werden die Dame dennoch im Auge behalten.«
Wannek unterbrach sich, als sein Handy klingelte. Er warf nur einen kurzen Blick darauf und reichte es an Meier weiter. Der meldete sich und hörte einige Zeit wortlos zu.
»Tatsächlich?«, fragte er dann ungläubig, und nach einer Weile erneuten Lauschens meinte er: »Danke, wir werden uns darum kümmern.«
»Was gibt’s?«, fragte Wannek.
»Das war der Steiner Erich. Sie werden es nicht glauben, Chef, aber die Burschen von der Tatortgruppe haben hinter dem Loch in der Mauer eine mumifizierte Leiche entdeckt.«
»Also doch noch eine Leiche, noch dazu eine mumifizierte! Haben die Neustädter jetzt ihren eigenen Ötzi? Nein, der müsste ja ›Neuzi‹ heißen.«
Wannek lächelte belustigt über seine eigene Wortkreation.
»Nein, kein Ötzi! Man nimmt an, dass die Mumie höchstens fünfzig Jahre alt ist. Sie trägt nämlich Jeans und Turnschuhe. Das genaue Alter und die Todesursache stehen aber noch nicht fest.«
»Na ja, selbst eingemauert wird sie sich ja nicht haben. Dann müssen wir uns am Ende um diese Leiche auch noch kümmern«, murrte Wannek. »Das nimmt ja schon beinahe inflationäre Züge an. Jahrelang gibt es in dieser Stadt keinen einzigen ungeklärten Todesfall, und sobald ich meine Nase da hineinstecken muss, haben wir drei Leichen auf einmal. So was kann auch nur mir passieren, ich kann mich doch nicht zerfransen! Soll ich jetzt drei Fälle zugleich bearbeiten? Ich werde Verstärkung anfordern.«
»Das wird schwierig werden, Chef«, gab Meier zu bedenken. »Sie wissen, dass Gruppeninspektor Fischer auf Schulung und der Kollege Haslauer im Urlaub auf Sardinien ist, Frau Knittel hat Mutterschutz, und Major Friedemann ist nach seinem Unfall noch immer im Krankenstand.«
»Sie haben recht«, gab Wannek zu. »Dann werde ich sehen, ob ich von der hiesigen Kripo einen oder zwei Kollegen für unsere Ermittlungen bekommen kann.«