Taschenschmöker aus Vergangenheit und Gegenwart
TASCHENSCHMÖKER AUS VERGANGENHEIT
UND GEGENWART
Neu und wieder aufgelegt

Berlin 2017
Taschenschmöker aus Vergangenheit und Gegenwart
Übersetzung aus dem Englischen von Meiko Richert
(Smith and the Pharaohs)
The Strand Magazine, 1912/13
Korrekturen und Lektorat: Dirk Seliger 
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de.
1. Auflage 2017
ISBN 978-3-943275-38-4
© by Edition Dornbrunnen –Verlag Sven-R. Schulz, Berlin,
Sven-R. Schulz, Dornbrunner Straße 16, 12437 Berlin
www.edition-dornbrunnen.de
Titelgestaltung: Sven-R. Schulz unter Verwendung eines Gemäldes
von Frederick Arthur Bridgman (1847–1928)
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PNTS23
Die Wissenschaftler – oder zumindest manche Wissenschaftler, denn gelegentlich unterscheidet sich die eine gelehrte Person von einer anderen – erzählen uns, dass sie alles wissen, was man über den Menschen wissen muss, und diese Feststellung schließt natürlich auch die Frauen mit ein1. Sie spüren seiner fernsten Herkunft nach, sie zeigen uns, wie sich seine Knochen und seine Gestalt veränderten und wie sich seine Intelligenz – anfangs noch sehr bescheiden – unter dem Einfluss seiner Bedürfnisse und Leidenschaften entwickelte. Sie demonstrieren schlüssig, dass es im Menschen nichts gibt, was der Seziertisch nicht erklären wird; dass sein Streben nach einem anderen Leben seinen Ursprung in der Angst vor dem Tod hat oder – sagen manche von ihnen – vor Erdbeben und Donner; dass seine Verbundenheit mit der Vergangenheit nur das Erbe entfernter Vorfahren ist, die vor vielleicht einer Million Jahren in dieser Vergangenheit lebten; und dass alles Edle an ihm nur die Frucht der Zweckmäßigkeit oder eines Schleiers der Zivilisation ist, während alles Niedrige auf die Instinkte seiner immer wieder hervorbrechenden vorzeitlichen Natur zurückgeführt werden muss. Kurz gesagt, der Mensch ist ein Tier, das – wie jedes andere Tier – letztendlich von seiner Umwelt unterworfen wird und die Farbe seiner Umgebung annimmt, wie es mit den Rindern auf dem roten Erdboden von Devon geschieht. Das sind die Fakten, erklären sie (oder einige von ihnen); der ganze Rest ist Unsinn.
Manchmal sind wir geneigt, diesen Weisen zuzustimmen, besonders nachdem wir das Privileg hatten, eine Reihe ihrer Vorlesungen zu besuchen. Vielleicht gelangt dann etwas in den Bereich unserer Erfahrung, das uns innehalten lässt und Zweifel hervorruft, die alten göttlichen Zweifel, die aus den Tiefen unserer Herzen aufsteigen und eine noch göttlichere Hoffnung mit sich bringen. Letztendlich, denken wir uns, ist der Mensch vielleicht doch etwas mehr als ein Tier. Vielleicht hat er die Vergangenheit, die ferne Vergangenheit gekannt und wird die Zukunft, die ferne, ferne Zukunft kennenlernen. Vielleicht ist der Traum wahr und er besitzt in der Tat das, was der Einfachheit halber eine unsterbliche Seele genannt wird, die sich in der einen oder anderen Gestalt offenbaren oder eine Ewigkeit schlafen mag und doch sie selbst bleibt, unzerstörbar wie die Materie des Universums.
Ein Zwischenfall in der Karriere von Mr. James Ebenezer Smith könnte solche Überlegungen wohl hervorgerufen haben, wenn jedermann mit den Einzelheiten vertraut wäre, was jedoch, wie ich betonen möchte, bis dahin nicht der Fall war. Mr. Smith ist jemand, der weiß, wann es zu schweigen gilt. Doch unzweifelhaft gab der Vorfall einer Person Anlass zum Nachdenken – nämlich der, die darin verwickelt war. Tatsächlich, James Ebenezer Smith denkt noch immer und sehr gründlich darüber nach.
J. E. Smith stammte aus gutem Hause und war wohl erzogen. Am College war er ein ansehnlicher und talentierter junger Mann, doch bevor er seinen Abschluss machen konnte, geriet er in Schwierigkeiten – deren Einzelheiten keine Rolle spielen – und wurde mittellos und auch ohne Freunde auf den steinigen Busen der Welt gestoßen. Nein, nicht ganz ohne Freunde, denn er hatte einen Paten, einen mit dem Geschäft verbundenen Herrn mit dem Taufnamen Ebenezer. An ihn als seinen letzten Ausweg wandte sich Smith, denn seiner Meinung nach schuldete ihm Ebenezer etwas für die schreckliche Bezeichnung, mit der er bei der Taufe versehen worden war.
Bis zu einem gewissen Grad erkannte Ebenezer die Verpflichtung an. Er tat nichts Heroisches, doch er besorgte seinem Patensohn eine Stelle als Buchhalter in einer Bank, in der er einer der Direktoren war – eine einfache Buchhalterstelle, weiter nichts. Als er ein Jahr später starb, hinterließ er ihm außerdem einhundert Pfund, die er für ein paar Andenken ausgeben konnte.
Anstatt sich mit Erinnerungsstücken zu versehen, für die er als praktischer Geist keine Verwendung hatte, investierte Smith die hundert Pfund in einer äußerst vielversprechenden Spekulation. Es zeigte sich, dass er nicht falsch unterrichtet war, und sein Talent zahlte sich zehnfach aus. Da er in einer Position war, in der er wusste, was er tat, wiederholte er das Experiment – mit beträchtlichem Erfolg. Als er dreißig Lenze zählte, war er bereits im Besitz eines Vermögens von etwas über fünfundzwanzigtausend Pfund. Dann (und hier zeigt sich die weise und praktische Natur des Mannes) beendete er die Spekulation und legte sein Geld so an, dass es ihm volle und sichere vier Prozent einbrachte.
Mittlerweile zeigte sich Smith, als exzellenter Geschäftsmann, mit den Diensten seiner Bank sehr vertraut – bisher war er nur ein Buchhalter, das ist wahr, doch einer, der seine vierhundert Pfund pro Jahr mit Erfolgsaussichten abhob. Kurz, er war in der Lage zu heiraten, wenn er es gewünscht hätte. Wie die Dinge lagen, wünschte er es jedoch nicht – vielleicht, weil keine Dame, die ihn anzog, seinen einsamen Pfad kreuzte, vielleicht aus anderen Gründen.
Von schüchternem und zurückhaltendem Temperament, vertraute er nur auf sich selbst. Niemand, nicht einmal seine Vorgesetzten oder der Vorstand der Bank, wusste, wie vermögend er geworden war. Niemand besuchte ihn in der Wohnung, die er wohl irgendwo in der Nähe von Putney gemietet hatte; er gehörte keinem Club an und besaß keinen einzigen Vertrauten. Der Schlag, den ihm die Welt in seinen früheren Tagen versetzt hatte, die herben Zurückweisungen und die grobe Behandlung, die er dann erfahren hatte, gruben sich so tief in seine empfindsame Seele ein, dass er niemals wieder nahen Umgang mit seinesgleichen suchte. In der Tat, obwohl er noch jung war, verfiel er in einen Zustand alten Junggesellentums der kultivierten Art.
Bald aber – nachdem er die Spekulationen aufgegeben hatte – entdeckte Smith, dass ein Mann etwas braucht, um seinen Geist zu beschäftigen. Er versuchte sich in der Philanthropie2, fand sich aber für ein Vorhaben, das sich so oft auf die grobe Prüfung der Angelegenheiten anderer Leute reduziert, zu sensibel. Nach innerem Kampf schloss er daher mit seinem Gewissen einen Kompromiss, indem er einen großzügigen Anteil seines Einkommens zur anonymen Verteilung an verdienstvolle Personen und Unternehmen beiseitelegte.
Während er sich noch in dieser freien Gemütsverfassung befand, wagte Smith eines Tages, als die Bank geschlossen war, in das Britische Museum zu schlendern – mehr um dem abscheulichen Wetter zu entkommen als aus irgendeinem anderen Grund. Ziellos hier- und dorthin wandernd, fand er sich in der großen Galerie wieder, die den Ägyptischen Steinobjekten und Skulpturen gewidmet war. Der Ort verwirrte ihn etwas, denn er wusste nichts von Ägyptologie; dennoch blieb in seinem Geist ein nicht unbeträchtliches Gefühl der Verwunderung und der Ehrfurcht zurück. Es musste ein bedeutendes Volk gewesen sein, dachte er bei sich, das diese Arbeiten ausgeführt hatte, und mit diesem Gedanken kam der Wunsch, mehr über sie zu erfahren. Schon wollte er gehen, da fiel sein Blick auf die Skulptur eines Frauenkopfes, die an der Wand hing.
Smith sah sie einmal an, zweimal, dreimal – und beim dritten Blick verliebte er sich. Es ist unnötig zu sagen, dass er sich seines Zustands nicht bewusst war. Er spürte nur, dass eine Veränderung über ihn gekommen war, und niemals, niemals wieder konnte er das Gesicht vergessen, das die gemeißelte Maske porträtierte. Vielleicht war es nicht wirklich schön, wenn man von seinem wundersamen und geheimnisvollen Lächeln absah; vielleicht waren die Lippen zu dick und die Nase zu breit. Doch für ihn war dieses Gesicht die Schönheit selbst, eine Schönheit, die ihn wie mit einem Pferdewagen anzog und alle Arten wundervoller Vorstellungen in ihm erweckte, manche von ihnen so fremd und zart, dass sie beinahe die Natur von Erinnerungen annahmen. Er starrte das Bild an, und das Bild lächelte süß zurück, so wie sein Original (denn es war nur ein Gipsabdruck) zweifellos seit über dreißig Jahrhunderten in irgendeinem Grab oder Versteck ins Leere gelächelt hatte und so wie die Frau, dessen Abbild es war, einst die Welt angelächelt haben mochte.
Ein kurzer, beleibter Herr eilte nach oben und wandte sich im Ton der Autorität an einige Arbeiter, die dabei waren, einen Sockel für eine benachbarte Statue herzurichten. Es kam Smith in den Sinn, dass er jemand sein müsse, der sich mit diesen Objekten auskannte. Mühsam überwand er seine natürliche Schüchternheit, zog den Hut und fragte den Herrn, ob er ihm sagen könnte, wer das Original der Maske war.
Der Bedienstete, der in der Tat ein sehr bedeutender Mann im Museum war, blickte Smith gewitzt an und antwortete, als er sah, dass sein Interesse echt schien:
»Ich weiß es nicht. Niemand weiß es. Ihr wurden verschiedene Namen gegeben, doch keiner davon hat sich durchgesetzt. Vielleicht wird eines Tages der Rest der Statue gefunden, und dann werden wir mehr wissen – das heißt, falls sie mit einer Inschrift versehen ist. Viel wahrscheinlicher ist aber, dass sie schon vor langer Zeit zu Staub zerfallen ist.«
»Dann können Sie mir nichts über sie erzählen?«, fragte Smith.
»Doch, aber nur wenig. Zunächst einmal ist das ein Abguss. Das Original steht im Museum von Kairo. Mariette3 hat sie gefunden – ich glaube, bei Karnak – und sie auf seine Art benannt. Wahrscheinlich war sie eine Königin, vermutlich aus der 18. Dynastie. Doch Sie können ihren Rang selbst an dem zerbrochenen Uräus erkennen.« (Smith unterbrach ihn nicht, um zu erklären, dass er nicht die leiseste Ahnung hatte, was ein Uräus sein könnte, da ihm die schlangenköpfige Krone des ägyptischen Königtums völlig fremd war.) »Sie sollten nach Ägypten gehen und den Kopf selbst studieren. Er gehört zu den schönsten Dingen, die jemals gefunden wurden. Nun, ich muss gehen. Guten Tag.«
Und er hastete die lange Galerie hinab.
Smith machte sich auf den Weg nach oben und sah sich Mumien und andere Dinge an. Irgendwie schmerzte ihn der Gedanke, dass die Besitzerin jenes süßen, verführerischen Gesichts lange vor der christlichen Zeitrechnung zur Mumie geworden sein musste. Mumien kamen ihm nicht sonderlich attraktiv vor. Er kehrte zu den Statuen zurück und starrte seinen Gipsabguss an, bis einer der Arbeiter zu seinem Gefährten meinte, falls er der Herr wäre, würde er verschwinden und zur Abwechslung mal »was Lebend'ges« anschauen.
Dann zog sich Smith beschämt zurück.
Auf dem Heimweg rief er bei seinem Buchhändler an und bestellte »die besten Werke über Ägyptologie«. Als sie ein oder zwei Tage später zusammen mit einer Rechnung über achtunddreißig Pfund in einer Versandkiste eintrafen, war er etwas bestürzt. Dennoch, er nahm die Bücher wie ein Mann in Angriff, und mit Intelligenz und Fleiß hatte er innerhalb von drei Monaten genügend praktisches Wissen über dieses Thema und sogar ein paar Kenntnisse über Hieroglyphen erworben.
Im Januar – also am Ende dieser drei Monate – erstaunte Smith sein Direktorium mit der Bitte um zehn Wochen Urlaub. Er, der sich bis dahin mit zwei Wochen pro Jahr zufrieden gegeben hatte! Als man ihn befragte, erklärte er, dass er an Bronchitis gelitten habe und dass ihm zu einem Klimawechsel in Ägypten geraten wurde.
»Eine sehr gute Idee«, sagte der Manager. »Doch ich fürchte, Ägypten wird Ihnen teuer vorkommen. Sie nehmen einen dort aus.«
»Ich weiß«, antwortete Smith, »aber ich habe ein bisschen gespart und muss nur für mich selbst aufkommen.«
Also fuhr Smith nach Ägypten und sah das Original des schönen Kopfes und tausend andere faszinierende Dinge. Er tat sogar noch mehr. Er schloss sich einigen Ausgräbern an, die über seine verständige Unterstützung froh waren, und grub tatsächlich einen Monat lang in der Nähe des antiken Theben, ohne jedoch irgendetwas Besonderes zu finden.
Doch es war erst zwei Jahre später, als er seine große Entdeckung machte, die als Smiths Grabmal bekannt geworden ist. Es mag hier erklärt werden, dass seine Gesundheit einen Zustand erreicht hatte, der einen jährlichen Besuch in Ägypten erforderlich machte – zumindest nahmen seine Vorgesetzten das an.
Da er aber nicht um Sommerurlaub bat und immer bereit war, die Arbeit von Kollegen zu erledigen oder Überstunden zu machen, fand er es leicht, diese Winterausflüge zu organisieren.