Howard Eiland und Michael W. Jennings
Walter Benjamin
Eine Biographie
Aus dem Englischen von Ulrich Fries und Irmgard Müller
Suhrkamp
Für Elizabeth, Dorothea, Matthew und Rudolph
Und für Sarah und Andrew
Der jüdisch-deutsche Literaturkritiker und Philosoph Walter Benjamin (1892-1940) gilt heute allgemein als einer der wichtigsten Zeugen der europäischen Moderne. Trotz seiner kurzen Schaffenszeit – sein Leben fand auf der Flucht vor den Nazis an der spanischen Grenze ein frühes Ende – hinterließ er ein in seiner Tiefe und Vielseitigkeit erstaunliches Werk. In den Jahren seiner »Lehrzeit in deutscher Literatur«, wie er es nannte, legte Benjamin bleibende Studien zur Kunstkritik der Romantik, zu Goethe und zum barocken Trauerspiel vor und erarbeitete sich in den Zwanzigerjahren seinen eigenen Platz als kritisch urteilender Befürworter jener radikalen Kultur, die sich in der Sowjetunion entwickelte, wie auch der Avantgarde, die die literarische Szene in Paris beherrschte. In der zweiten Hälfte der Zwanzigerjahre stand er im Zentrum vielfältiger Entwicklungen, die heute als Kultur der Weimarer Republik zusammengefasst werden. Gemeinsam mit Freunden wie Bertolt Brecht und László Moholy-Nagy trug er dazu bei, eine neue Perspektive des Sehens zu etablieren – einen avantgardistischen Realismus –, die sich von den orthodoxen Normen der Kunst und Literatur im deutschen Kaiserreich zu befreien suchte. In dieser Phase, als Benjamin erste Anerkennung für seine Schriften fand, hegte er die nicht ganz unbegründete Hoffnung, einmal »le premier critique de la littérature allemande«1 zu werden. Er war es auch, der zusammen mit seinem Freund Siegfried Kracauer erstmals die populäre Kultur zum Gegenstand seriöser Untersuchung machte. Benjamin schrieb Essays über Kinderliteratur, Spielzeuge, Wetten, Graphologie, Pornographie, Reisen, Volkskunst, Lebensmittel, die Kunst von Randgruppen wie die der Geisteskranken und über eine Vielzahl von Medien, wie Film, Radio, Fotografie und die Regenbogenpresse. In den letzten zehn Jahren seines Lebens, von denen er die meisten im Exil verbrachte, entstanden viele seiner Schriften als Ableger des Passagen-Werks, einer Kulturgeschichte des aufkommenden städtischen Warenkapitalismus in Frankreich um die Mitte des 19. Jahrhunderts. Obwohl das Passagen-Werk ein monumentaler »Torso« blieb, führten die darin enthaltenen Untersuchungen und Überlegungen zu einer Reihe bahnbrechender Studien, so die bedeutende ›Polemik‹ von 1936, »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit«; so auch die Essays über Charles Baudelaire, denen dieser Dichter seine Stellung als repräsentativer Schriftsteller der Moderne verdankt. Aber Benjamin lässt sich nicht auf seine Rolle als herausragender Kritiker und revolutionärer Theoretiker einschränken: Er hinterließ ein substantielles Œuvre im Grenzbereich von Fiktion, Reportage, Kulturanalyse und Memoiren. Sein »Montage-Buch« von 1928 Einbahnstraße und besonders Berliner Kindheit um Neunzehnhundert – nur Ersteres wurde zu seinen Lebzeiten veröffentlicht – sind moderne Meisterwerke. Im Grunde widersetzen sich viele Werke Benjamins einer eindeutigen Zuordnung in traditionelle Gattungsschemata. Unter seinen längeren oder kürzeren Prosawerken finden sich Monographien, Aufsätze, Kritiken, Sammlungen philosophischer, historiographischer und autobiographischer Vignetten, Hörspiele, von ihm edierte Briefe und andere literarhistorische Dokumente, Kurzgeschichten, Dialoge wie Tagebücher. Darüber hinaus hat er aber auch Gedichte, Übersetzungen französischer Prosa und Poesie und Tausende fragmentarischer Überlegungen von unterschiedlicher Länge und Bedeutung hinterlassen.
Die auf den Seiten seiner Werke so verdichtet evozierten »Bildwelten«2 werfen Licht auf die turbulenten Anfangsjahrzehnte des 20. Jahrhunderts. Aufgewachsen in einer assimilierten, wohlhabenden jüdischen Familie im Berlin der Jahrhundertwende, war Benjamin ein Kind des deutschen Kaiserreichs. Seine Aufzeichnungen sind voller Erinnerungen an die vom Kaiser so geliebte monumentale Architektur. Aber er war auch ein Kind der explosiven urbanen kapitalistischen Moderne; Berlin war um 1900 Europas modernste Stadt, in der man überall auf neue technische Errungenschaften stieß. Als junger Mann opponierte er gegen Deutschlands Beteiligung am Ersten Weltkrieg; er entzog sich dem Wehrdienst und verbrachte in der Folge die meiste Zeit des Krieges in der Schweiz – dennoch durchziehen Visionen von Krieg und »Vernichtungsnächten«3 sein Werk. Im Laufe der knapp anderthalb Dekaden der Weimarer Republik erlebte Benjamin zunächst in den Nachkriegsjahren den blutigen Konflikt zwischen der radikalen Linken und der radikalen Rechten, dann die verheerende Hyperinflation in den frühen Jahren der jungen Demokratie und schließlich die lähmende Fragmentierung der politischen Strukturen in den späten Zwanzigerjahren, die 1933 schließlich zur Machtergreifung Hitlers und der Nationalsozialisten führte. Wie fast alle bedeutenden deutschen Intellektuellen dieser Zeit floh Benjamin im Frühjahr 1933 aus Deutschland – und konnte niemals wiederkehren. Die letzten sieben Jahre seines Lebens verbrachte er in Paris, isoliert und fast mittellos, während die Möglichkeiten, seine Arbeiten zu veröffentlichen, immer dürftiger wurden. Es sollte sich bewahrheiten, dass es »Orte [gibt], an denen ich ein Minimum verdienen und solche, an denen ich von einem Minimum leben kann, aber nicht einen einzigen, auf den diese beiden Bedingungen zusammen zutreffen«.4 In der letzten Periode seines Schaffens musste er erleben, wie der Schatten des kommenden Krieges sich über ganz Europa ausbreitete.
Warum spricht Benjamins Werk mehr als siebzig Jahre nach seinem Tod immer noch so unwiderstehlich sowohl den Laien wie den Gelehrten an? Da ist zuallererst die Kraft seiner Ideen: Sein Werk hat unser Verständnis für viele bedeutende Schriftsteller neu geformt, unser Verständnis von den Möglichkeiten des Schreibens selbst, vom Potential und von den Gefahren der technischen Medien und von der Stellung der europäischen Moderne als historisches Phänomen. Doch verkennt seine volle Bedeutung, wer seine dezidiert gestochene Sprache ignoriert – den mit nichts zu vergleichenden Benjamin'schen Stil. Schon kraft seines sprachlichen Vermögens kann Benjamin neben den subtilsten und scharfsinnigsten Schriftstellern seiner Zeit bestehen. Und er war ein bahnbrechender Erneuerer der Form: Die Werke, die ihn am besten charakterisieren, basieren auf einer Form, die er nach dem Dichter Stefan George »Denkbild« nannte, eine aphoristische Prosa, die philosophische Analyse mit einer konkreten Bildersprache verbindet und so einen unverwechselbar persönlichen und kritischen Darstellungsstil hervorbringt. Selbst seine offensichtlich diskursiven Aufsätze sind oft insgeheim aus Sequenzen dieser treffend scharfen Denkbilder zusammengesetzt und nach den Montage-Prinzipien der Avantgarde arrangiert. Benjamins Genius schuf Formen von solcher Tiefe und Komplexität, dass sie den Vergleich mit Zeitgenossen wie Heidegger und Wittgenstein nicht zu scheuen brauchen, und seine unvergessliche Prosa zieht den Leser vom ersten Wort an in seinen Bann und hallt im Gedächtnis nach. Deshalb ist Benjamin zu lesen ein gleichermaßen sinnliches wie intellektuelles Erlebnis. Wie bei jenem ersten Kosten der in den Tee getunkten Madeleine blühen vage erinnerte Welten in der Vorstellung auf. Und so wie Wörter und Sätze nachklingen, sich neu ordnen und zu verwandeln beginnen, passen sie sich auf subtile Weise einer neu erstehenden rekombinatorischen Logik an und geben allmählich ihr destabilisierendes Potential frei.
Doch bei aller brillanten Unmittelbarkeit seines Schreibens bleibt der Mensch Benjamin schwer zu fassen. Wie das vielseitige Œuvre selbst machen seine Überzeugungen und Ansichten das »widerspruchsvolle und bewegte Ganze« – so charakterisierte er sich selbst – seiner Persönlichkeit aus. Diese Formulierung, aus der sich ein Appell an die Geduld des Lesers heraushören lässt, bezeugt seinen vielgestaltigen und polyzentrischen Geist. Dass sich die Person Benjamins uns entzieht, liegt aber auch an seiner Eigenart, sich einen möglichst hermetisch abgeschlossenen Freiraum zum ›Experimentieren‹ offenzuhalten, ein Bestreben, das eine grundsätzliche Befangenheit verrät. Theodor W. Adorno bemerkte einmal, dass sein Freund »kaum je mit aufgedeckten Karten spielte«,5 und diese außerordentliche Zurückhaltung unter Zuhilfenahme eines ganzen Arsenals von Masken und anderer Desinformationsstrategien setzte Benjamin dazu ein, sich seine Innerlichkeit an ihrem Ursprung zu bewahren. Auf diese Weise diente ihm seine vollendete, fast übertriebene Höflichkeit, wie sie von vielen Seiten bestätigt wurde, letzten Endes als ein komplexer Mechanismus, Distanz zu wahren. Daher rührte der Anschein einer gewichtigen Gereiftheit zu jeder Phase seines bewussten Lebens, eine Gravität, die selbst beiläufigen Äußerungen etwas Orakelhaftes verlieh. Und auch seine erklärte Strategie, so weit wie möglich direkte Kontakte zwischen seinen Freunden zu verhindern, um jeden Einzelnen und jede Gruppe separat um so besser als Prüfstein für seine Ideen nutzen zu können, steht in diesem Kontext. Innerhalb dieses stets wechselnden Operationsfeldes bewegte sich Benjamin von frühester Jugend an auf eine Weise, die ihm erlaubte, die »vielen in [ihm] angelegten Daseinsformen«6 zur Geltung zu bringen. Definierte Nietzsche das Selbst als ein aus vielen Willen bestehendes Sozialwesen, erklärte Benjamin, das »sogenannte innere Bild vom eigenen Wesen« sei »von Minute zu Minute pure Improvisation«.7 Es tat seiner abgründigen inneren Dialektik keinen Abbruch, dass ein völliger Mangel an persönlichem Dogmatismus friedlich neben einer souveränen und gelegentlich schonungslosen Urteilskraft existierte. Denn die ausgeprägte Vielschichtigkeit des Phänomens Walter Benjamin schließt keineswegs das Vorhandensein einer inneren Systematik oder strukturellen Konsistenz aus, so wie sie Adorno unter Verweis auf die außergewöhnliche Einheit des Bewusstseins seines Freundes postulierte, eines Bewusstseins, das sich gerade dadurch konstituiert, dass es sich »ins Mannigfaltige versenkte«.8
Nur ein Geist von außergewöhnlicher Brillanz konnte zwischen den Disparitäten dieses widerspenstigen komplexen Charakters vermitteln. Was an Berichten über den Menschen Benjamin von Freunden und Bekannten auf uns gekommen ist, beginnt und endet mit der Bestätigung solcher Geistesgröße. Da wird allerdings auch neben seiner steten intellektuellen Präsenz der seltsam unkörperliche Eindruck auf andere immer wieder hervorgehoben. Pierre Missac, der ihn erst in seinen späteren Jahren kennenlernte, behauptete, Benjamin hätte es nicht ertragen, wenn ein Freund ihm nur die Hand auf die Schultern legte. Und seine lettische Geliebte Asja Lacis bemerkte einmal, dass man den Eindruck hatte, als sei er gerade erst von einem anderen Planeten eingetroffen. Benjamin hat immer wieder von sich selbst als Mönch gesprochen; in so gut wie jedem Zimmer, das er allein bewohnte – in seiner »Zelle«, wie er es gern nannte –, hängte er Bilder von Heiligen an die Wand. Auch das verweist auf die zentrale Rolle der Kontemplation in seinem Leben. Gleichzeitig aber gab es den Widerspruch zwischen diesem Anschein ätherischer Brillanz und seiner vitalen und zuzeiten leidenschaftlichen Sensualität, bezeugt von Benjamins erotischen Abenteuern, seinem Interesse an Drogen und seiner Leidenschaft für Hasardspiele.
Zwar hatte er einmal in dem Aufsatz über moralische Erziehung von 1913 geschrieben, »wir erwarten, daß alle Sittlichkeit und Religiosität aus dem Alleinsein mit Gott entspringe«;9 Benjamin jedoch, wie in manchen englischsprachigen Abhandlungen geschehen, als rein saturnische und in sich gekehrte Persönlichkeit zu charakterisieren, verfehlt ihn. Weder soll verschwiegen werden, dass er immer wieder von langanhaltenden depressiven Phasen geplagt wurde, die ihn bis zur Immobilität einschränkten (ein Zug, in dem Verwandte Parallelen anderswo im Familienstammbaum erkannten), noch sollte übersehen werden, dass Benjamin in seinen Tagebüchern – und in Gesprächen mit guten Freunden – wiederholt auf das Thema Selbstmord zu sprechen kam. Doch ihn als einen hoffnungslosen Melancholiker hinzustellen hieße, ihm nicht gerecht zu werden, ja, ihn zu karikieren. Zum einen besaß er einen feinen, gelegentlich sogar beißenden Sinn für Humor, und er konnte sich auf eine geradezu altväterliche Art still amüsieren. Während die Beziehungen zu seinen intellektuellen Partnern – besonders zu Gershom Scholem, Ernst Bloch, Siegfried Kracauer und Theodor W. Adorno – oft angespannt waren und zeitweise sogar in scharfen Kontroversen geführt wurden, war er jenen, die er seit früher Jugend kannte, ein treuer und großzügiger Freund. Das Wohlergehen der Menschen dieses inneren Zirkels aus seiner Schulzeit – Alfred Cohn und seine Schwester Jula, Fritz Radt und seine Schwester Grete, Ernst Schoen und Egon Wissing – lag ihm am Herzen, und er handelte sofort, wenn er ihnen in schwierigen Situationen beistehen konnte, auch später, als sie alle unter den Entbehrungen des Exils zu leiden hatten. Wenn solche Tugenden am deutlichsten in diesen Freundschaften zutage traten, waren seine Verlässlichkeit, seine ausdauernde Geduld und sein eisernes Durchhaltevermögen im Angesicht von Widrigkeiten für alle, die ihn kannten, unübersehbar. Doch auch hier zeigen sich Widersprüche. Er sehnte sich nach Abgeschiedenheit – und klagte über Einsamkeit; er suchte die Gemeinschaft, setzte sich selbst dafür ein, sie zu begründen – und war doch abgeneigt, sich an eine Gruppierung zu binden. Nachdem er sich in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg als aktiver Organisator der Jugendbewegung engagiert hatte, zog er sich später fast ganz von öffentlichen Auftritten zurück. Die einzige Ausnahme von diesem de facto Rückzug – abgesehen von dem nicht zu übersehenden Einfluss, der von seinen Schriften ausging – war sein Versuch, anlässlich dreier sehr unterschiedlicher Gelegenheiten eine Zeitschrift zu gründen. Keines der geplanten Projekte schaffte es auch nur bis zu einer ersten Ausgabe, wenn sie auch aus jeweils anderen Gründen scheiterten; doch der Impuls, gleichgesinnte Denker und Schriftsteller um sich zu versammeln, war eine besondere Eigenschaft seiner philosophischen Sensibilität, die immer wieder hervortrat.
Eine Eigenschaft verdient, besonders erwähnt zu werden. Wer ihn kannte, erinnerte sich weniger an das äußerlich unvorteilhafte und etwas unbeholfene Bild, das er häufig abgegeben haben muss, wohl aber an seine Risikobereitschaft. Ja, seine Spielleidenschaft war aus heutiger Sicht eine Sucht; aber es war auch ein vollkommener Ausdruck seines Willens, es mit dem Leben allen Widrigkeiten zum Trotz aufzunehmen und intellektuelle Positionen zu beziehen, deren Spannungen und Paradoxa ans Aporetische grenzten. Walter Benjamin strebte das Leben eines Homme de Lettres unglücklicherweise zu eben der Zeit an, als dieser Typus von der Bühne Europas verschwand. Er verzichtete auf Komfort, finanzielle Sicherheit und öffentliche Anerkennung, um seine intellektuelle Freiheit zu wahren und Zeit und Freiraum zum Lesen, Denken und Schreiben zu haben. Wie sein Freund Kracauer analysierte er die Umstände, die die Existenz genau jenes Kulturmenschen, den er selbst verkörperte, bedrohten. Nicht nur seine Methodologie, sein ganzes Selbst schien einem dialektischen Rhythmus zu gehorchen, der ein unablässiges Hasardspiel forderte. Sein Aussehen und Auftreten, seine expressiven Gesten, sein zögernder, an eine Schildkröte erinnernder Gang, seine melodische Stimme und druckreife Sprache; das Vergnügen, das ihm der physische Schreibvorgang oder auch das Warten bereiteten – oder das zwanghafte Sammeln und das Flanieren; seine idiosynkratischen Vorlieben und Rituale, deren Inszenierungen und sein exzentrischer weltstädtischer Charme: All das zeugte schon damals von einem Habitus aus vergangenen Tagen, als wäre er aus dem späten 19. Jahrhundert übrig geblieben. (Es gibt sehr wenige Fotografien von Walter Benjamin, auf denen er nicht mit bürgerlichem Schlips und Anzug erscheint.) Andererseits hatte er ein waches Interesse an den neuen Medien wie Film und Rundfunk und an den damaligen avantgardistischen Strömungen wie Dadaismus, Konstruktivismus und Surrealismus. Seine radikale Grundeinstellung ließ ihn ins Gespräch mit Vertretern einer Avantgarde kommen, die es auf einen radikalen Neubeginn anlegten. Seine scharfsinnige Intensität, die schwer fassbare Denkweise und die bodenlosen Abgründe in seinem intellektuellen Leben waren durchaus unvereinbar mit der großbürgerlichen Behaglichkeit des späten 19. Jahrhunderts – seine Sache musste das Innovative sein. Wenn er von Charles Baudelaire behauptete, »Baudelaire war ein Geheimagent – ein Agent der geheimen Unzufriedenheit seiner Klasse mit ihrer eigenen Herrschaft«,10 charakterisierte er sich damit auch selbst.
Im Laufe von dreißig schicksalsträchtigen Jahren, vom dynamischen Idealismus seiner Studentenzeit bis zum dynamischen Materialismus der Reife im Exil, entwickelte sich Benjamins Denkweise in Form, Fokus und Ton ganz entschieden, aber seinen Grundtenor behielt er im Wesentlichen bei und erreichte am Ende eine höchst eigene Signatur. An jedem Punkt dieses Denkens verschmelzen literarische, philosophische, politische und theologische Elemente, doch kommt es nicht einfach zu einer Vermischung. 75 Jahre nach seinem Tod beschäftigt sich eine Sekundärliteratur von beachtlichem Umfang mit Benjamins einmaliger Synthese – eine Fachliteratur, die für das Fehlen jeglicher Übereinstimmung mit jedem beliebigen Punkt bekannt ist. Frühere Studien zu diesem Schriftsteller, ob biographisch oder literaturhistorisch, tendierten dazu, mehr oder weniger selektiv zu verfahren, sie erlegten sich ein thematisches Vorgehen auf, das dann ganze Bereiche seines Werks außer Acht ließ. Das resultierte nur zu oft in einem unvollständigen – oder schlimmer – mythologisierenden und verzerrten Porträt. Diese Biographie hat sich eine weiter gespannte Behandlung zum Ziel gesetzt, indem sie streng chronologisch vorgeht und den Fokus auf die tagtägliche Realität legt, aus der Benjamins Schreiben erwächst; zudem will sie einen intellektuell-historischen Kontext für seine wichtigsten Werke liefern. Ein solcher Ansatz ermöglicht es, sich der Historizität in jeder Phase seines Lebens bewusst zu sein und damit auch der Historizität seiner Werke – ihrer Verwurzelung sowohl in ihrem spezifischen historischen Moment und in Benjamins eigenen intellektuellen Anliegen. Auf diese Weise können aber auch die wesentlichen Strömungen seines Denkens in ihrem ganzen Verlauf verfolgt werden. Der von ihm permanent hinterfragte intellektuelle Entwicklungsverlauf ist zugleich getragen von einem durchgängigen, tief verwurzelten, theologisch geprägten Gespür für eine latente Krise in den Institutionen des bürgerlichen Lebens, dem ein allgegenwärtiges ständiges Bewusstsein der ebendiesem Denkprozess eigenen Ambiguität entspricht. Daher das Vorherrschen gewisser subtiler stilistischer Mittel in jeder Phase seiner Arbeit: Er vermeidet im Allgemeinen eine direkte Erzählweise und zeigt aus konzeptuellen Gründen eine Vorliebe für Metaphern und Parabeln und neigt dazu, in Bildern zu denken. Das Ergebnis ist ein Philosophieren, das dem modernen Gebot zum Experiment vollkommen entspricht wie auch der diesem vorhergehenden Erkenntnis, dass die Wahrheit keine zeitlose Universalie ist und die Philosophie immer gleichsam erst an der Schwelle und schon auf der Kippe steht. Benjamins Denkweise ist zu jedem Moment riskant und rigoros zugleich und immer zutiefst essayistisch.
Drei Anliegen finden sich in allen Werken Benjamins, was immer sein Thema oder Gegenstand sein mag – und jedes Anliegen hat seinen Ausgangspunkt in der Problematik der traditionellen Philosophie. Von den Anfängen bis zum Ende galt sein Interesse der Erfahrung, dem historischen Erinnern und der Kunst als dem privilegierten Medium dieser beiden. Auf die Theorie der Wahrnehmung zurückgehend, verweisen diese Themen auf Kants kritischen Idealismus, und in ihrer fließenden Durchdringung tragen sie den Stempel von Nietzsches dionysischer Lebensphilosophie; Benjamin hatte sich als Student in beide Systeme vertieft. Es war Nietzsches Kritik an den klassischen Prinzipien der Substanz – die Kritik an der Identität, der Kontinuität, der Kausalität – und sein radikaler historischer »Eventismus«, der der Gegenwart in allen historischen Interpretationen den Vorrang einräumte und der der Generation, die in den künstlerisch explosiven Jahren vor dem Ersten Weltkrieg heranwuchs, die theoretische Grundlage (den grundlosen Grund) lieferte. Benjamin ist danach niemals der Herausforderung ausgewichen, gleichzeitig innerhalb und außerhalb der Antinomien der traditionellen Metaphysik zu denken, und er hat niemals die Interpretation der Wirklichkeit als eines raumzeitlichen Meeres an Kräften preisgegeben – mit all seinen sich ständig verändernden Tiefen und Gezeiten. Auf der Suche nach der Physiognomie der modernen Metropolis jedoch betrat er schließlich Bereiche, die sowohl den idealistischen wie den romantischen Philosophien der Erfahrung fremd waren, und das Bild des Meeres wurde nun ergänzt durch das einer labyrinthischen Architektur oder eines Bilderrätsels, mit dem man sich beschäftigen musste, wenn es sich schon nicht lösen ließ – in jedem Fall war da ein Text zu lesen, in einer Sprache mit vielen Idiolekten.
Einmalig ist wohl, dass der Leser und Denker Benjamin diese sich über mehrere Ebenen erstreckende philosophische Perspektive auf eine – wie Miriam Bratu Hansen es nannte – »Alltagsmodernität« anwendet. Zugegeben, nur ein relativ kleiner Teil seines Werks, und besonders was nach 1924 entstand, ähnelt dem, was wir normalerweise unter Philosophie verstehen. Adorno versuchte schon 1955, diesen Eindruck richtigzustellen, und zeigte, wie Benjamins Kulturkritik gleichzeitig als eine »Philosophie des Objekts« zu betrachten sei. Seit 1924 analysierte Benjamin Kulturobjekte jeglicher Couleur ohne Rücksicht auf die traditionelle Unterscheidung zwischen ›hohem‹ und ›niederem‹ Status, ja, er wählte sich typischerweise den »détritus«,11 den »Abhub«, der Geschichte zum Gegenstand, vornehmlich die vernachlässigten und unauffälligen Überreste eines entschwundenen Milieus oder vergessene Ereignisse. Er konzentrierte sich auf das Marginale, auf die Anekdote und die geheime Geschichte, orientierte sich gleichwohl durchgängig an höchsten Maßstäben. Sein Feld war die gesamte europäische Literatur, doch machte er zuerst mit einem Essay über Goethe von sich reden. In regelmäßigen Abständen kehrte er zu prominenten Zeitgenossen wie Proust, Kafka, Brecht und Valéry zurück, und in seinen vielschichtigen Studien über das Paris des 19. Jahrhunderts richtete er den Fokus auf die epochale Leistung Baudelaires. Es waren solche repräsentativen Künstler, die ihm als Leitsterne seiner mikrologischen Kulturanalysen dienten. Sein Denken wird von einem Grundgefühl für ein Ganzes geleitet, das nur durch ein Versenken ins Kräftefeld von bedeutungsvollen Details erstehen kann, durch eine Wahrnehmung, die so individualisierend wie allegorisch ist.
Doch wie intensiv er auch in die Materie hinabtauchte, er verstand es emphatisch als ein politisch geprägtes Unterfangen, wenn auch in beträchtlicher Distanz zu jeglicher Parteipolitik. Benjamin hatte schon sehr früh politisches Handeln als die Kunst definiert, das kleinere Übel zu wählen, später stellte er das Konzept eines politischen Ziels überhaupt in Frage. Nichtsdestotrotz wurde die Dimension des Politischen während der letzten zwei Jahrzehnte seines Lebens immer dringlicher für ihn, zu einer Zeit, als die Idee des Glücks untrennbar mit der Vorstellung der Erlösung verbunden schien – in einer Welt, die mit ihrer eigenen Zerstörung schwanger ging. In seinen Briefen sprach er gegenüber Freunden von seinem »Kommunismus« (der sich aus einem früheren »Anarchismus« entwickelt hatte) und trat öffentlich für die Rechte des Proletariats ein, gleichzeitig feierte er die »wahre Humanität« und den heilsamen moralischen Skeptizismus einer langen Reihe bürgerlicher Literati von Goethe bis Gottfried Keller. Nach Trotzkis Verbannung kühlte sein Enthusiasmus für das gigantische Sozialexperiment in Sowjetrussland bis zum Nullpunkt ab, obwohl er weiterhin den revolutionären Imperativ für sein eigenes Werk beschwor und in programmatisch Brecht'scher Weise die politisch erzieherische Verantwortung des Schriftstellers forderte. Dieser Funktion sollten nicht nur seine veröffentlichten Werke dienen, sondern er versuchte auch, Zeitschriften ins Leben zu rufen, für deren eine Brecht sich als Mitherausgeber engagiert hatte. Benjamins Marxismus kann als theoretische Extension des undogmatischen Glaubens an einen seinem studentischen Anti-Kriegs-Aktivismus entstammenden individualistischen Sozialismus verstanden werden und stand unter dem Einfluss einer umfassenden Lektüre der Sozialtheoretiker des 19. und 20. Jahrhunderts, einschließlich vormarxistischer Denker und Agitatoren wie Fourier und Saint-Simon, Proudhon und Blanqui. Zu jeder Zeit war Benjamin eher ein visionärer Aufrührer als ein ideologischer Hardliner. Vielleicht kann man sagen, dass für Benjamin, den ›linken Außenseiter‹, die Frage der Politik sich in einem Bündel persönlich und gesellschaftlich verdinglichter Widersprüche verdichtete. Die kollidierenden Anforderungen von Politik und Theologie, von Nihilismus und Messianismus, konnten nicht in sich selbst versöhnt werden. Und umgehen ließen sie sich ebenfalls nicht. Seine Existenz – zu jeder Zeit am Scheideweg, wie er es einmal formulierte – war ein ständiges Überbrücken dieser unvereinbaren Ansprüche, ein immer wieder aufs Neue einzugehendes Risiko.
Doch selbst wenn man zugibt, dass Benjamins tiefste Überzeugungen unergründet bleiben müssen, steht außer Zweifel, dass es ihm nach 1924 gelang, seine philosophische Parteinahme mit neuen Gedanken zum marxistischen Diskurs über die Funktion der Ware in der kapitalistischen Kultur zu versöhnen. Während er an dem Buch über das Trauerspiel arbeitete, beteiligte er sich an der Debatte über Geschichte und Klassenbewußtsein des ungarischen Theoretikers Georg Lukács, das er 1924 gelesen hatte. Auf der Basis des Fetischkapitels im 1. Band des Kapitals entwickelte Lukács eine globale Sicht der Gesellschaft als »zweiter Natur« und zeigte dabei einen erst durch den Prozess des Warentauschs geschaffenen Sozialapparat auf, zu dem die Menschen sich aber verhalten, als sei er naturgegeben. Schon vor seiner Adaptation der marxistischen Rhetorik – eine wirklich tiefgehende Auseinandersetzung mit dem Marx'schen Werk lässt sich bei Benjamin schwerlich nachweisen –, konstatiert er, das Buch sei »nicht materialistisch, wenn auch bereits dialektisch«.12 Den letzten Schritt in der Entwicklung der Theorie vollzog Benjamin – und Adorno folgte ihm hierbei –, als er die Vorstellung der zweiten Natur ausweitete, indem er sie als Phantasmagorie definierte, nach dem Begriff für eine optische Apparatur aus dem 18. Jahrhundert. Diese Sichtweise nimmt das Gesellschaftsganze als eine Maschine in den Blick, die Bilder von sich erzeugt, in denen das Sozialgefüge als grundsätzlich vernünftig und in sich schlüssig erscheint. Die philosophischen Belange, die Benjamin schon in seinen frühen Schriften beschäftigt hatten, finden in dieser Betrachtungsweise ihren Abschluss, denn im Kontext des modernen Warenkapitalismus schließt die Idee der Phantasmagorien das Zugeständnis der grundsätzlichen Ambiguität und Nicht-Entscheidbarkeit ein, wodurch das, was wir unter menschlicher Natur verstehen, zunehmend denaturiert wird. Sollten unter solchen Umständen noch genuine Erfahrung und historisches Erinnern möglich sein, dann, so Benjamin, würde den Kunstwerken eine Schlüsselrolle zufallen. In seiner eigenen radikalen Diktion hieß dies, das Erstehen eines neuen »Leibraums« in Wechselbeziehung zum Aufkommen eines neuen »Bildraums«13 zu setzen. Nur mittels einer solchen Transformation der Erfahrung von Raum und Zeit könnten neue Formen menschlichen Zusammenlebens erstehen.
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Zum Zeitpunkt seines Todes war Benjamins enormes schriftstellerisches Opus weit verstreut und so unzugänglich, dass das meiste davon als verschollen galt. Obwohl der veröffentlichte Teil des Werkes bedeutend war, hatte ein mindestens genauso großer Teil davon nie im Druck erscheinen können und existierte nur als Entwurf, Kopie oder Fragment im Besitz von Freunden in Deutschland, Frankreich, Palästina und den Vereinigten Staaten. In den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg wurden viele dieser Schriften wiederentdeckt – manche erst in den Achtzigerjahren und an den unwahrscheinlichsten Orten: in sowjetischen Archiven in Moskau und in versteckten Winkeln der Bibliothèque nationale in Paris. Mit der Veröffentlichung umfassender Editionen seiner gesammelten Werke und Briefe sind jetzt fast alle seine Schriften einem interessierten Publikum zugänglich gemacht worden. Aus diesen nun veröffentlichten Aufzeichnungen leiten wir das hier vorgelegte Bild seines Charakters und seiner Lebensgeschichte ab.
Es kommt hinzu, dass inzwischen die verschiedensten Rückblicke auf den Menschen und seine Denkweise von Freunden und Kollegen publiziert wurden – am ausführlichsten von jenen, die an den Vorbereitungen zur Herausgabe seiner gesammelten Schriften maßgeblich beteiligt waren, Gershom Scholem und Theodor W. Adorno, und nicht zu vergessen die Erinnerungen von Hannah Arendt, Ernst Bloch, Pierre Missac und Jean Selz. Nachdem sein Name nach 1933 so gut wie in Vergessenheit geraten war, kam es vor allem im Kielwasser seines um 1955 einsetzenden Ruhms zu einem veritablen Anstieg der Beschäftigung mit Walter Benjamin. Unsere Arbeit ruht auf den Schultern der Vielen, die in den letzten 60 Jahren Benjamins Leben und seine Ideen studiert haben – und sich davon inspirieren ließen.