Gilbert R. Pawel
Ein Platz in der Welt
Jonas & Mike 2

Von Gilbert R. Pawel bisher erschienen:
Der Preis der Freihet, Frühjahr 2018, ISBN 978-3-86361-690-8
Auch als E-book
Himmelstürmer Verlag, part of Production House, Hamburg
www.himmelstuermer.de
E-Mail: info@himmelstuermer.de
Originalausgabe, Frühjahr 2019
© Production House GmbH
Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung des Verlages.
Zuwiderhandeln wird strafrechtlich verfolgt
Rechtschreibung nach Duden, 24. Auflage
Coverfoto: https://fotolia.com
Umschlaggestaltung: Olaf Welling, Grafik-Designer AGD, Hamburg. www.olafwelling.de
E-Book-Konvertierung: Satzweiss.com Print Web Software GmbH
ISBN print 978-3-86361-744-8
ISBN e-pub 978-3-86361-745-5
ISBN pdf 978-3-86361-746-2
Alle hier beschriebenen Personen und alle Begebenheiten sind frei erfunden. Jede Ähnlichkeit mit lebenden Personen ist nicht beabsichtigt.
„Jonas?“
Der Gerufene schloss die Tür hinter sich und betrat die geräumige Wohnung. Er streifte seine Arbeitsschuhe ab und versuchte vergeblich, seine abstehenden Ohren hinter seinen verwuschelten, dunkelblonden Haaren zu verbergen. Am Küchentisch sah er seinen älteren Bruder Alexander und dessen Freundin Lisa sitzen, die bei einer Pizza über den Tag sprachen.
„Hey, Leute“, grüßte er und schnappte sich ein Stück. „Wie war die Arbeit?“
Lisa brummte schmunzelnd. „Wie Arbeit eben so is, oder?“
„Ja, klar“, lachte Jonas und sah sich um. „Is Mike schon da?“
Alex guckte verwundert. „Sicher, wo sollte er sonst sein? Gehört ja schließlich zur Familie.“
„Du kannst ihn inzwischen echt gut leiden, was?“, fragte er glücklich.
„Warum auch nich? Er is ‘n toller Kerl!“
„Hast ‘n guten Fang gemacht!“, zwinkerte Lisa.
„Ich weiß!“, zwinkerte Jonas zurück und machte sich auf in sein Schlafzimmer.
Zwischen den weißen Decken und Kissen eines breiten Bettes fand er seinen Freund, einen hochgewachsenen jungen Mann. „Sein nackter Körper war muskulös, Narben zeichneten sich überall auf seiner Haut ab und sein Gesicht wirkte merkwürdig schief, mit tiefsitzenden Augen und ungleichen Ohren.
„Ach?“, brummte Mike. „Du kommst auch mal nachhause?“
„Ich musste länger arbeiten.“ Jonas strich ihm durch die ascheschwarzen Haare. „Hast du mich vermisst?“
„Klar, Mann“, lächelte er und packte seinen Arm. „Los, komm her!“
Verspielt zog er Jonas auf die Matratze. Er streifte ihm die Kleidung ab und innig fielen sie übereinander her, während seine rauen Lippen die Worte hauchten, die sein Freund schon so lange Zeit von ihm hören wollte.
„Ich liebe dich!“
Jonas spürte grenzenlose Freude in sich aufsteigen. Er streichelte über die stramme Brust und beugte sich vor, um ihn zu küssen. Doch ehe er den Mund erreicht hatte, bemerkte er den schmerzverzerrten Ausdruck in Mikes Gesicht.
Erschrocken richtete er sich auf und sah seine Hände an der Kehle seines Freundes liegen. Außerhalb seiner Kontrolle pressten sie den Hals zusammen und ließen Mike hilflos nach Luft schnappen. Aus den Augenwinkeln machte Jonas eine Gestalt neben sich aus und erkannte sich selbst, mit einer schweren Pistole in der Hand und grenzenloser Angst in der Miene.
„Hörn Sie auf damit!“, schrie der bewaffnete Junge. „Stopp!“
Und mit dem Knall des Schusses schreckte Jonas aus dem Traum.
Er fasste sich an die schweißnasse Stirn und versuchte, sich zu orientieren. Der abgedunkelte Raum um ihn herum schwankte und er riss einen Vorhang vor dem Fenster zur Seite. Jonas drückte sein Gesicht an eine schmale Öffnung der Scheibe und sog die kühle Fahrtluft ein, während er den Rand der Straße, Bäume und Felder an sich vorbeirauschen sah.
Das Sonnenlicht erhellte den Innenraum des rostigen alten Kleinbusses und fiel auf einen nackten jungen Mann unter einer Wolldecke. Mike schnarchte friedlich vor sich hin. Jonas ließ sich von der Gleichmäßigkeit seiner Atmung beruhigen, griff sich einen Rucksack und wühlte sich durch die Kleidungsstücke, bis er ein ganz bestimmtes fand.
Es war ein einfaches T-Shirt, besprenkelt mit getrocknetem Blut. Jonas erinnerte sich zurück an den grauenvollen Moment. Er sah Mikes Vater seinen Sohn würgen und sich selbst mit der Waffe in der Hand. Verzweifelt drückte er ab, das Blut spritzte durch den Raum und der Mann stürzte leblos zu Boden. Jonas ließ all das immer und immer wieder an sich vorüberziehen, bis er plötzlich Mikes verschlafene Stimme hinter sich hörte.
„Was machst du da?“
Erschrocken stopfte er das grausige Shirt zurück in den Rucksack. „Nichts! Nichts, ich … hab nur was nachgesehen …“
Sein Freund räkelte sich. „Wie lange habn wir gepennt?“
„Nich lange“, stellte er mit einem Blick auf eine Uhr fest. „Nich mal ‘ne halbe Stunde.“
„Sind immer noch unterwegs, häh?“
„Ja.” Jonas sah auf die vorbeirauschenden Bäume. „Keine Ahnung, wie lange das noch dauert.“
„Na dann komm wieder her!“, forderte Mike ihn auf und zog dabei, wie er es oft tat, Lippen und Augenlider in Richtung seiner Nase.
„Was denn?“, schmunzelte sein Freund. „Schon wieder?“
„Ich dachte, das magst du an mir.“
„Ja schon, nur … Ich weiß nich, wie lange ich da noch mithalten kann …“
Mike schnaubte und verdrehte die Augen. „Du Schlappschwanz …“
„Schlappschwanz!?“
„Wenn du nich mehr ficken kannst, bist du ‘n Schlappschwanz.“
Jonas versetzte ihm einen Schlag. „Hey, ich bin kein Schlappschwanz!“
Mikes Grinsen wurde breiter. Er schlug die Decke zurück, entblößte seinen nackten Körper und reckte sich seinem Freund auffordernd entgegen.
„Na, dann komm her und beweis es mir!“
Jonas kroch zu ihm. Er schlug seine Arme um Mike und näherte sich seinen Lippen. Für einen Moment fürchtete er, sein Freund würde seinen Kuss abwehren, wie er es früher immer getan hatte. Doch als ihre Münder sich berührten, kehrte die Freude über den Beginn ihres neuen Lebens zurück und das Glück vertrieb die grausigen Erinnerungen.
Eng umschlungen liebkosten sie sich, bis der rostige Wagen langsamer wurde und auf einen Parkplatz einbog. Jonas hörte, wie die vorderen Türen geöffnet wurden, und eilig streiften er und Mike sich ein paar Kleidungsstücke über.
„Seid ihr angezogen?“, dröhnte eine Stimme durch das alte Blech.
Die beiden lachten. „Äh … größtenteils …“
„Dann mach ich jez die Tür auf!“
Ein schmerzendes Quietschen später sah Jonas das gestresste Gesicht seines Bruders. An ihm vorbei erkannte er Lisa, die mit vor dem Mund gehaltener Hand zwischen einigen Büschen verschwand.
„Na?“ Alexander zog missmutig die Augenbrauen hoch. „Spaß gehabt?“
„Ja …“, murmelte sein Bruder und errötete.
„Schön für euch. Hier drin riechts wie … Ach, egal.“ Alex kletterte in den Wagen, öffnete eine Kühlbox mit Getränken und suchte nach etwas. „Habt ihr echt das ganze Bier weggesoffen?“
Er kramte sich durch die Getränke, bis er eine Flasche mit einer eigenartig aussehenden Flüssigkeit in den Händen hielt.
„Äh, da hab ich vorhin reingepisst“, warnte Mike ihn.
Alex’ angeekelter Blick wanderte in seine Richtung.
Mike zuckte. „Nach all dem Bier musste ich dringend und du hast ja gesagt, du willst erst mal nich anhalten.“
„Dann stell sie aber nich wieder zu den anderen!“, knurrte Alexander, schleuderte die Flasche aus dem Wagen und wischte sich die Hände ab.
„Werd’s mir merken“, zwinkerte Mike.
Jonas erkannte den Ärger im Gesicht seines Bruders und lenkte eilig auf ein anderes Thema. „Sind wir da?“
Alex nahm einen Schluck Limonade und schüttelte den Kopf. „Noch lange nich. Aber da vorne um die Kurve is die Grenzkontrolle.“
„Und?“
„Und das heißt, hier trennen sich unsere Wege.“
„Wie jez?“, fragte Mike verwirrt. „Schmeißt du mich raus?“
„Nein, du bleibst. Jonas und Lisa fliegen raus. Die Sache is auch so schon riskant genug, ich will euch beide nich in Gefahr bringen.“
Jonas verstand nicht. „Wo is denn das Problem?“
„Wo das Problem is? Tja, mal überlegen …“ Alexander kratzte sich theatralisch am Kinn. „Mein Führerschein is gefälscht, die Nummernschilder vom Wagen sind geklaut, genauso wie einige Teile von ihm, er is also nich angemeldet und … ach ja, fast hätt ich’s vergessen!“ Er beugte sich zu Mike. „Wir haben einen entflohenen Mörder an Bord!“
„Ich hab meinen Alten nich umgebracht!“
„Erzähl das den Bullen, wenn die uns an der Grenze festnehmen …“
Brummend sah er sich nach seiner Freundin um, die grade aus den Büschen hervorkam. Sie steckte sich wankend einige Haarsträhnen hinter die Ohren und hielt sich den Bauch.
„Geht’s dir besser?“, fragte er besorgt.
Lisa nickte kraftlos. „Ja, ich … mir war einfach nur schlecht.“
„Ja, mir wird auch übel, wenn ich an diesen Tag denke. Glaubst du, du kommst klar?“
„Wird schon gehen.“
„Okay.“ Alexander küsste ihre bleiche Wange und wandte sich an seinen Bruder. „Also Jonas, du steigst aus und gehst mit Lisa zu Fuß über die Grenze. Ihr beide solltet keine Probleme bekommen. Ich und Mike fahren mit dem Wagen. Wenn wir erwischt werden, dann kann man euch wenigstens nichts anhängen.“
Protestierend stellte Jonas sich vor seinen Freund. „Nein, so läuft das nich!“
„Das war kein Vorschlag, Jonas!“, knurrte sein Bruder.
„Ich hab dir gesagt, wo Mike is, da werd ich auch sein! Wenn die ihn wieder in den Knast stecken, dann geh ich da auch hin!“
Alexander schnaubte fassungslos. „Also ich finde, dass du für heute schon genug Schwachsinn angestellt hast!“
„Alex, ich …“
Ehe Jonas ausreden konnte, griff Mike seine Hand. „Lass mal gut sein!“
„Aber ich …“
„Es is besser so, er hat recht. Ich will dich nich in Gefahr bringen.“
Verzweifelt sah Jonas ihm in die dunklen Augen. „Hey, ich hab dich da nich rausgeholt, um wieder von dir getrennt zu sein!“
„Und ich hab keinen Mord gestanden, um dich dann trotzdem in den Knast zu bringen. Das wird schon klappen! Vertrau mir einfach mal!“
Er legte seine Hände an Jonas’ Schultern und fing an, sie kaum merklich zu streicheln. Dann sah Mike ängstlich zu Alex und Lisa, beugte sich vor und gab seinem Freund einen Kuss.
Jonas stand wie gebannt vor ihm. Er schaute tief in das schiefe, bebende Gesicht und spürte die Glückseligkeit, nach der er sich so viele Jahre gesehnt hatte.
„Na schön“, stimmte er schließlich zu. „Aber hey, sei bitte vorsichtig!“
„Bin ich.“
„Gut“, nickte Alex. „Bei dir alles klar, Schatz?“
Lisa schniefte, während die Farbe langsam auf ihre Haut zurückkehrte. „Ja, mir geht’s schon besser.“
„Okay. Wartet, bis wir hinter der Grenze sind, und kommt erst dann hinterher. Ich liebe dich.“
„Ich dich auch.“
Sie küssten sich. Dann verteilte Alex die Pässe und seine Arme schwenkten zur Beifahrertür.
„Matt Schikowski!“ Er konnte sich ein Lachen nicht verkneifen. „Hoffen wir mal, dass deine neue Identität die Zweitausend wert war!“
Mike folgte der Aufforderung, verwirrt von den grinsenden Mündern. Als er den Türgriff in der Hand hielt, traf ihn die Erkenntnis und er fuhr herum.
„Moment mal … Matt Schikowski? Matschkopf?“ Er fluchte. „Ey, so haben mich doch die Wichser im Viertel immer hinter meinem Rücken genannt!“
„Was für ein eigenartiger Zufall …“, murmelte Alexander, während Jonas und Lisa sich vor Lachen gegen den Wagen lehnen mussten.
„Zufall, heh?“, fauchte Mike.
Jonas machte abwehrende Gesten. „Hey, das war nich meine Idee!“
„Na, is mir jez auch egal …“, brummte er und schwang sich auf den Beifahrersitz. „Haut rein!“
Jonas und Lisa blickten ihren Geliebten hoffnungsvoll nach, während Alex den Wagen vom Parkplatz lenkte. Hinter der Kurve sahen sie die Kontrollstation, in der Beamte die Papiere überprüften. Alexander schielte düster zu Mike hinüber und schluckte.
Dann gab er Gas und brachte den alten Wagen seines Vaters bis an die Grenze.