RATGEBER
für Angehörige, Betroffene und Fachleute
Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.
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1. Auflage 2019
ISBN 978-3-8248-1249-3
eISBN 978-3-8248-9950-0
Alle Rechte vorbehalten
© Schulz-Kirchner Verlag GmbH, 2019
Mollweg 2, D-65510 Idstein
Vertretungsberechtigte Geschäftsführer:
Dr. Ullrich Schulz-Kirchner, Nicole Eitel, Martina Schulz-Kirchner
Titelfoto: © Viktor Pravdica – fotolia.com
Lektorat: Susanne Koch
Umschlagentwurf und Layout: Petra Jeck
Druck und Bindung:
TZ-Verlag & Print GmbH, Bruchwiesenweg 19, 64380 Roßdorf
Printed in Germany
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| Vorwort
Warum dieser Ratgeber?
Die Botschaft, dass werdende Mütter in der Schwangerschaft auf Alkohol und Drogen im Interesse eines gesunden Kindes verzichten sollten, ist inzwischen weitgehend in der öffentlichen Wahrnehmung angekommen. Dennoch ist zumeist wenig Wissen und Verständnis für die tatsächlichen Auswirkungen im Alltag eines Menschen mit Fetalen Alkoholspektrumstörungen (FASD) vorhanden. FASD ist eine lebenslange Behinderung, die Körper, Geist und Seele betrifft und sich nicht „auswächst“. Besonders im Erwachsenenalter, wenn die jungen Menschen mit FASD den schützenden Rahmen der Familie verlassen oder Maßnahmen der Jugendhilfe nicht mehr verfügbar sind, geraten sie oft an ihre Grenzen im Alltag. Ein lückenloser Übergang von einer kindzentrierten zu einer erwachsenenorientierten Gesundheitsversorgung von Menschen mit FASD fehlt bislang.
Eine nicht zu unterschätzende Anzahl von erwachsenen Menschen mit fehlender Alltagskompetenz, die nie diagnostiziert wurden, braucht statt Vorwürfen und Schuldzuweisungen Unterstützung in Form von Verständnis, Geduld, Begleitung bis hin zu einer rechtlichen Betreuung im Bedarfsfall.
Entgegen einem oft defizitorientierten Denken möchten wir mit diesem Ratgeber Menschen mit FASD und ähnlichen Einschränkungen sowie ihre Bezugs- und Begleitpersonen auch ermutigen, vorhandene Talente und Begabungen stärker in den Vordergrund zu rücken und nicht aufzugeben, sich für die Menschen mit FASD einzusetzen – trotz nicht ausbleibender Rückschläge und Enttäuschungen.
Dieser Ratgeber soll dazu beitragen, dass Beschäftigte von Ämtern und Behörden, medizinischen Einrichtungen, Arbeitgeber und Leitungspersonal in Werkstätten für behinderte Menschen (WfbM) sowie Entscheidungsträger ihre Sichtweisen überdenken. Menschen mit FASD und ähnlichen Einschränkungen benötigen meist ganz pragmatische Hilfen, die sie annehmen und umsetzen können. Sie brauchen letztendlich aber auch Akzeptanz in ihren Lebensentwürfen, auch wenn diese nicht immer unseren Wertvorstellungen entsprechen. Nur so ist es möglich, Kommunikation aufrechtzuerhalten und Betroffene adäquat zu begleiten und zu unterstützen.
| Diagnostik im Erwachsenenalter
„Endlich weiß ich, warum ich anders bin!“
Infolge einer stärkeren Öffentlichkeitsarbeit entdecken erwachsene Menschen manchmal aufgrund von Berichterstattungen in den Printmedien oder im Fernsehen Parallelen zu ihrem eigenen Leben. Sie betreiben Biografiearbeit und stellen fest, dass Alkohol im Leben ihrer Mütter eine Rolle gespielt hat. Dadurch stellt sich ihnen zwangsläufig die Frage: „Hat meine Mutter während der Schwangerschaft mit mir auch getrunken?“
Im Erwachsenenalter gestaltet sich die Diagnostik häufig schwierig, da z. B. Unterlagen abhandengekommen sind, die Gesichtsmerkmale sich verwachsen und die Erwachsenen sich gut artikulieren können. Daher ist es wichtig, falls vorhanden, das gelbe Untersuchungsheft und Kinderfotos zur Untersuchung mitzubringen. Zurzeit (2019) gibt es bundesweit nur wenige Fachleute, die eine Beeinträchtigung, die unter den Oberbegriff FASD fällt, diagnostizieren können. Es fehlt an einer entsprechenden Leitlinie für die Diagnostik der Fetalen Alkoholspektrumstörungen im Erwachsenenalter. Bisher nutzt man die auch im Kinderbereich eingesetzte S3-Leitlinie FASD, den 4-Digit Diagnostic Code von Susan Astley (2004) oder die kanadischen Leitlinien für Erwachsene (Chudley et al. 2005).
Für die Diagnosestellung der Fetalen Alkoholspektrumstörung (FASD) werden die folgenden Kriterien bestimmt (vgl. Landgraf 2015).
Kriterien für das Fetale Alkoholsyndrom (FAS), das sogenannte Vollbild:
a. mindestens eine Wachstumsauffälligkeit (vor- und nachgeburtlich zu klein oder zu leicht, Body-Mass-Index unter der 10. Perzentile1),
b. drei definierte Auffälligkeiten des Gesichtes (verkürzte Lidspalte, fehlendes oder verstrichenes Philtrum [Rinne zwischen Nase und Mund], eine schmale Oberlippe, siehe Lip-Philtrum Guide [Astley 2004]),
c. eine funktionelle oder strukturelle Auffälligkeit des zentralen Nervensystems (ZNS) (wie z. B. eine Intelligenzminderung, verminderte Lern- und Merkfähigkeit, Störungen der Exekutivfunktionen, Verhaltensauffälligkeit, kleiner Kopf),
d. bestätigter oder nicht bestätigter Alkoholkonsum in der Schwangerschaft.
Kriterien für das Partielle Fetale Alkoholsyndrom (pFAS):
a. zwei Auffälligkeiten des Gesichtes,
b. strukturelle oder funktionelle Auffälligkeiten des ZNS,
c. gesicherter Alkoholkonsum in der Schwangerschaft.
Kriterien für die Alkoholbedingten Neurologischen Entwicklungsstörungen (ARND):
a. Beeinträchtigung in mindestens drei Bereichen des ZNS,
b. bestätigter Alkoholkonsum in der Schwangerschaft.
Abb. 1: Schädel- und Gesichtsveränderungen bei Fetalem Alkoholsyndrom
1 Ein Body-Mass-Index unter der 10. Perzentile bedeutet, dass 10 % aller Kinder in dieser Altersgruppe einen niedrigeren und 90 % einen höheren BMI haben als das untersuchte Kind.
| Symptomakzeptanz
Krankheitsbewältigung
Der Begriff ‚Krankheitsbewältigung‘ ist in der Psychologie fest verankert. Gemeint ist hiermit die erfolgreiche, persönliche Strategie, mit bzw. trotz einer Behinderung ein gutes, zufriedenes Leben zu führen. Ziel einer gelungenen Krankheitsbewältigung ist es, momentane oder andauernde, krankheitsbedingte Veränderungen und Einschränkungen annehmen zu lernen und optimal in das eigene Leben zu integrieren.
Wird ein Mensch mit der Diagnose FASD konfrontiert, durchläuft er meist verschiedene Stadien von Reaktionen und Verarbeitungsmustern: Am Anfang besteht oft ein Schock, der bis zur Verleugnung, dem „Nicht-Wahrhaben-wollen“ einer Diagnose, gehen kann. Hieran schließen sich manchmal Phasen der Aggression/Wut („Warum hat meine Mutter während der Schwangerschaft nicht aufgehört zu trinken?“) und der Depression an. Letztere sind meist durch eine Bedrohung des gewohnten Selbstbildes ausgelöst. Man hadert mit sich und dem Umfeld. Manche Menschen mit FASD denken: „So schlimm ist es doch nicht“; andere denken: „Es ist absolut schlimm, mein Leben ist ruiniert“ und fallen in ein „schwarzes Loch“ – es herrscht ein Gefühlschaos.
Wenn es gelingt, diese Phasen zu überwinden, kann es zu einer ersten Akzeptanz der eigenen Krankheit/Behinderung kommen. Dabei können die vorherigen Phasen auch mehrmals aufs Neue durchlebt werden, bis es zu einem stabilen Frieden mit den Veränderungen kommen kann (vgl. Schuchardt, 1982).
Je früher der Mensch mit FASD Klarheit hat, worin die Ursache seiner Schwierigkeiten liegt, desto eher ist er in der Lage, seine Schwächen und Stärken zu erkennen und zu benennen. Erst dadurch wird es ihm möglich, zielgerichtete Hilfen in den Dingen des Alltags zu erhalten und für sich selbst zulassen zu können.
Nach jahrelanger Ungewissheit und der ständig drückenden Frage: „Was ist los mit mir, warum bin ich so anders?“ entdecken die Betroffenen, eventuell auch zufällig (z. B. durch Berichterstattung in den Medien), die mögliche Ursache für das Anderssein. Sie begeben sich auf die Suche, um zu erfahren, ob es tatsächlich möglich sein kann, dass all die Probleme, mit denen sie im Alltag zu kämpfen haben, die Folgen des mütterlichen Alkoholkonsums während der Schwangerschaft sind. Nur eine gründliche Diagnostik kann Gewissheit bringen, ob Fetale Alkoholspektrumstörungen (FASD) vorliegen oder nicht.
Sie sollten darin unterstützt werden, Abschied zu nehmen von dem Erwachsenen, der sie gerne wären und sich anzunehmen, wie sie sind.
Nur wenn es Betroffenen gelingt, Schwächen und Stärken zu erkennen, zu akzeptieren und die Ursachen bestehender Defizite für sich anzunehmen, werden sie in die Lage versetzt, zu lernen, mit der Behinderung umzugehen und Hilfen anzunehmen.
„Jetzt erst weiß ich, was für ein toller Mensch ich bin, trotz oder gerade wegen der Diagnose. Was habe ich alles geschafft!“
(FASD-Betroffener)