Impressum:
© 2019 Marion Fugléwicz-Bren
Umschlag-Illustration: Nach einer Collage von Sascha P.
Erstlektorat, Korrektorat: Kathrin Stiegler, Lisa Pongratz, Isabella Katzenbeisser
Lektorat final: Angelika Fleckenstein; Spotsrock
ISBN: |
978-3-7482-6065-3 (Paperback) |
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978-3-7482-6066-0 (Hardcover) |
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978-3-7482-6067-7 (e-Book) |
Verlag und Druck:
tredition GmbH
Halenreie 40–44
22359 Hamburg
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.
Vom Erinnern, Träumen und Nachdenken
Ein Setzkasten in Buchform
Marion Fugléwicz-Bren
Der Setzkasten wurde von Sascha P. gestaltet.
Aus der Buchreihe und Blog-Plattform die-philosophen-kommen.at
Für das Kind, das ich einmal war
und heute noch bin
und meine Eltern (leider erst posthum).
„Alle Erinnerung ist Gegenwart“
Novalis
Inhalt
Vorbemerkung
Paraphernalia – Farbenspiele der Erinnerung
Erinnerungen an die Zukunft
Sprache und Erinnerung
Erinnerung. Philosophische Positionen.
Erinnern, Vergessen, Speichern. Unser Gedächtnis.
„The Medium is the Memory“
Die Macht der Erinnerung
Anhang
Abbildungen
Zur Autorin
Anm.: Aus Gründen der besseren Lesbarkeit sind sämtliche Personenbezeichnungen in diesem Buch geschlechtsneutral gemeint: Sie gelten sowohl für männliche als auch für weibliche Personen.
Vorbemerkung
Was ist Erinnerung? In unserem heutigen Leben ist sie ein zentraler Schlüssel zur persönlichen, sozialen und kulturellen Identität.
Wissenschaftler haben das Konzept aus verschiedenen Perspektiven und in verschiedenen Disziplinen untersucht, auch interdisziplinär. Künstler – ob bildnerisch, literarisch oder musikalisch – beschäftigen sich mit der Erinnerung auf die ihnen je eigene Art und Weise.
Die psychische Mechanik des Erinnerns ist derart komplex, dass darin so gut wie alles spezifisch Menschliche involviert und aneinandergekoppelt ist: Emotion, Bewusstsein, Geist, Verstand, Poesie.
Erinnerung ist nicht einfach gleichzusetzen mit Gedächtnis, obwohl Erinnerung und Gedächtnis sich nicht trennen lassen, schrieb etwa die Zeit vor acht Jahren und formulierte es so: „Erinnern ist vielmehr das Plündern des Gedächtnisses als Tätigkeit des Geistes mithilfe des Gehirns“.
Man könnte aber auch sagen: Das ganze Leben besteht aus Erinnerungen. Ohne sie ist eine persönliche Identität nicht möglich. Und irgendwie haben sie – zumindest manche von ihnen – auch etwas Magisches.
Das Thema zog mich irgendwann plötzlich in seinen Bann.
Ein Buch wollte ich dazu lesen, aber kein rein wissenschaftliches und keines, das die Thematik nur von einer Seite beleuchtet. Ich wollte eines, das irgendwie nichtlinear ist oder eben auf irgendeine undefinierbare Weise wie ein Setzkasten. Ein Buch für Alle und Keinen, um Nietzsche wieder einmal zu bemühen. Ein Buch, das sämtliche Genres sprengt. Ein gedanklicher Setzkasten war mein Anspruch, einer, der Essays, Interviews, wissenschaftliche Erkenntnisse, Bilder und andere – vielleicht unkonventionelle – Repräsentationen von Erinnerungen enthalten sollte. Künstlerisch. Aus philosophischer, psychologischer und kulturgeschichtlicher Perspektive.
Da ich so ein Buch nicht fand, musste ich es also selbst gestalten. Am liebsten hätte ich es ja tatsächlich dreidimensional gehabt; apropos Erinnerung: Seit ich als Kind – meiner Mutter sei Dank – diese bunten, dreidimensionalen Pop-Up-Bücher geliebt, bewundert und besessen hatte, träumte ich von diesen Büchern, aus denen das Leben sozusagen heraussprang. Sie wurden eigentlich fälschlicherweise als „Leporello-Bücher“ bezeichnet und sind aus heutiger Sicht unglaublich modern: Klappte man sie auf, stellten sich Figuren, Tiere oder Bäume aus Pappe auf, die sich beim Zuklappen brav wieder im harten Buchdeckel versteckten.
Mein Setzkasten – die Inspiration für das Morgen
Ich habe also in meinen eigenen persönlichen Erinnerungen gekramt, einige hervorgeholt, wenige verworfen, viele kaleidoskopartig durcheinandergewürfelt, mich amüsiert, nachgedacht, Bilder entstehen lassen, geträumt… und freilich konnte mir, als extrem neugierigem Wesen, das noch nicht genügen.
Welche Positionen dazu gibt es dazu in Philosophie, Naturwissenschaft oder Kunst? Was sagten Nietzsche, Wittgenstein, Hölderlin? Was sagt die heutige Philosophie? Und was die klinische Psychologie? Wie stehen ein zeitgenössischer Schriftsteller, eine Malerin, ein Photograph und Kurator, ein Wiener Medientheoretiker aus dem Silicon Valley zum Thema Erinnerung? Wie denkt eine junge, frische Absolventin der Philosophie darüber? Und was empfindet ein Musikpädagoge, der weltweit mit Demenzkranken arbeitet?
Wie immer tauschte ich mich mit verschiedenen bemerkenswerten Persönlichkeiten über ihre jeweiligen Sichtweisen aus. Der Gedankenaustausch erfolgte persönlich oder schriftlich. Die Gespräche mit einer befreundeten Künstlerin führten zu einem philosophischen Comic.
Das Puzzle für meinen Setzkasten wurde sehr bunt, vielfältig und aufschlussreich. Alle Bilder – ob schriftlich oder abgebildet – befinden sich dort. Auf dass sie zu einem Ganzen werden mögen, das die Summe seiner Teile – durch die Augen der geschätzten Leser – in immer neue Dimensionen führt …
Mögen Sie so viel Spaß daran haben wie ich – und vielleicht auch das eine oder andere Aha-Erlebnis. Und übrigens, eines wurde mir gegen Ende meiner Arbeit an diesem Buch immer stärker bewusst: Erinnerungen sind dann besonders wertvoll, wenn sie zukunftsfähig sind; sprich, wenn sie Inspirationen geben für Neues, Innovatives, Kreatives.
Hier sollte eigentlich ein Songtext stehen:
Try To Remember
(Text und Gesang Harry Belafonte,
Songwriter: Harvey Schmidt / Tom Jones)
Ein wunderschöner lyrischer Text, der sehr schön ins Buch passen würde. Leider habe ich keine Genehmigung zum Abdruck und da ich mir monatelangen Streit mit Plattenlabels ersparen will – geschweige denn eventuelle Gerichtsverfahren mit mehreren US-Konzernen, gegen die ich freilich keine Chance hätte – abgesehen von Unsummen, die ich diversen Anwälten und Plattenfirmen bezahlen müsste, kann ich Sie nur einladen, den Text zu googeln. Sie finden ihn mehrfach im Web.
Das Bild „homo sapiens“ meiner Künstlerfreundin Sascha P. vermag vielleicht etwas auszudrücken, was an dieser Stelle emotionell angebracht ist.
Sie besteht übrigens nicht auf ein Copyright.
Gegen das Verschwinden
Was bleibt?
In der letzten Eiszeit zeichnete ein Jäger die Tiere, die er erlegen wollte auf eine Felswand. Vor 5000 Jahren schlug ein ägyptischer Schreiber Hieroglyphen in einen Stein. Die Menschen und ihre Kulturen verschwanden. Aber ihre Schriften blieben erhalten. Und konnten entschlüsselt werden. All diese Steintafeln und Dokumente erzählen uns etwas über das Leben unserer Vorfahren. 35.000 Jahre lang funktionierte diese Art der Überlieferung. Bis vor etwa vier Jahrzehnten das digitale Zeitalter begann. Seitdem lautet das Dogma: Mehr. Schneller. Und alles digital.1
Aber was geschieht mit den Erinnerungen, die heute auf unseren Computern, CDs und anderen, flüchtigen Speichermedien entstehen? Können wir sie morgen noch entziffern? Und – woran erinnern wir uns noch, wenn wir älter werden? Oder wenn unser Gehirn sich verändert? Durch Alter oder Krankheit? Was bleibt? Eine der ältesten Fragen der Menschheit tut sich auf.
Spätestens nach dem Verlust eines geliebten Menschen entsteht das Bedürfnis, Erinnerungen zu konservieren. Zugleich versucht man, diese umgehend zu beschützen (engl. strategic memory protection).
Vor allem zwei Erhaltungsstrategien helfen dabei: Man versucht auf der einen Seite, die Situation einer speziellen Erinnerung zu vermeiden, falls die Situation von der Erinnerung abweicht oder diese den Erinnerungsmechanismus gefährden könnte. Falls eine Vermeidung, wie etwa im Falle des jährlich wiederholenden eigenen Geburtstages, nicht möglich ist, greift man auf materielle Dinge als Memento an einzelne Erinnerungen zurück, um sich neben den wiederkehrenden Ereignissen an ein bestimmtes solches zu erinnern. Somit dienen physische Objekte, mit denen eine von ihrem Besitzer verliehene Verknüpfung geschaffen wurde, als Erinnerungs-Erhaltungs-Instrument (engl. memory pointer).2
Die Kulturgeschichte des Menschen ist eine Geschichte des Vergessens und Vergessenwerdens. Doch oft sagt das Vergessene – also das Verdrängte – mehr aus über eine Gesellschaft als das Erinnerte.
Eine stille Geschichte des Vergessens schreibt in diesem Sinn der Duden mit jeder neuen Auflage. 27-mal wurde die Bibel der Germanisten seit 1880 neu aufgelegt, zuletzt 2017. Der Autor Graf publizierte im November 2018 das Buch „Was nicht mehr im Duden steht: Eine Sprach- und Kulturgeschichte“. Flugmaschine, Überschwupper, Zugemüse, Federbüchse, Fagöttchen und Nebelbild – diese Wörter stehen nicht mehr im Duden. Stattdessen aber etwa facebooken, Snapchat, Twitter, WhatsApp und Emoji. Wann und warum werden Worte entfernt?
Wann und warum wird überhaupt irgendetwas entfernt? Ersatzlos gestrichen – oder durch etwas fundamental anderes ersetzt?
Was würde wohl geschehen, wenn man diese Frage ganz grundsätzlich – vielleicht jährlich – auf die gesamte persönliche Innen- und Außenwelt anwendete? Was hat noch Platz in meinem Leben und was ist über die Jahre obsolet geworden? Was hat möglicherweise seinen Stellenwert ganz verloren oder sich einfach bloß verändert?
Materielle Dinge, wie sie etwa in einem Setzkasten gesammelt werden – eine große Mode in den 1980er-Jahren – können eine narrativ-autobiographische Rolle spielen, um Erfahrungen und Erinnerungen zu speichern und zu strukturieren.3 Das macht sie zu Andenken oder Instrumenten, mit denen sich an Vergangenes erinnert werden und aus denen man eine Identität formen kann.4
Die Erinnerungen stehen oft mit positiven Erlebnissen in Verbindung, die eine Person in der Vergangenheit erfuhr. Demzufolge können etwa durch die Verwendung von Memorabilia (lat. memorabilis = denkwürdig; pl. Memorabilia, Gegenstände, die Menschen aufbewahren, da sie einen sentimentalen Wert in sich tragen), negative Emotionen wie Einsamkeit durch diese positiven Erfahrungen verringert werden.5
1 Hilfe, wir verschwinden – Das Digitale Desaster. Dokumentarfilm von Peter Moers und Jörg D. Hissen. Ersterscheinung 2004. Besetzung u.a. Stewart Brand
2 G. Zaubermann, R. Ratner und B. Kim: Memories as assets: Strategic memory protection in choice over time. In: Journal of consumer research. Band 35, Nr. 5, 2009, S. 715– 728
3 J. Bruner: Life as Narrative. In: Social Research. Band 54, Nr. 1, 1987, S. 11–32
4 B. Phillips: The scrapbook as an autobiographical memory tool. 2016, doi: 10.1177/1470593116635878
5 T. Wolf: Nostalgie und die Funktionen des autobiografischen Gedächtnisses. In: Zeitschrift für Gerontologie und Geriatrie. 2014, S. 557–562
Paraphernalia6 – Farbenspiele der Erinnerung
„Wenn man philosophiert, muss man in das uranfangliche Chaos hinabsteigen und sich dort zu Hause fühlen.“
Ludwig Wittgenstein
Farbenspiele der Erinnerung
Es gibt Kindheitserlebnisse, Tage, Situationen, die man nie vergisst. Manche verheißen wunderbare Sehnsüchte.
Wir sind, wer wir sind, durch unsere Erinnerung.
Und „Philosophie …“, so sagte der österreichische Philosoph Konrad Paul Liessmann einmal, „… ist eine der schönsten Formen dieser Erinnerung und damit auch der Selbstvergewisserung des Menschen“.
Neugier hatte in meinem Leben von frühester Kindheit an immer eine zentrale Rolle gespielt. Meine ausschweifende Phantasie tat wohl ein Übriges. Daher war meine Selbstvergewisserung jahrzehntelang zumeist aufregend dramatisch, fesselnd – oft atemberaubend.
Die beseelte Leidenschaft, die ich auch in meinem Beruf perfekt nützen konnte, rundete die Story meiner frühen Jahre – rund um ideelle Werte und einer hingebungsvollen Liebe zur Kreatur – perfekt ab.
Ich erfreue mich heute gerne an den schönen Erinnerungen, den herzerfrischenden, die vielleicht auch teilweise schon verklärt sein mögen. An Bildern, Gedanken, Düften und Klängen.
Sie können eine wohlig berauschende Wirkung haben, wenn man das lebensbejahende Fluidum zulässt. Das erfreuliche, vertrauenserweckende, wohlgemerkt. Zukunftsorientiert, verheißungsvoll, hoffnungsfroh.
Der therapeutische Effekt bedarf keiner Kranken- oder sonstigen Versicherung.
Auch Geschmack spielt eine Rolle … Gummischlangen oder Eiskonfekt bleiben etwa unvergessen. Oder die Sensationslust des ersten Kusses.
Viele der schwärmerischen Empfindungen haben – zumindest bei mir – mit Wasser zu tun. Mit Sonne, Sommer und dem zauberhaften Glücksgefühl niemals enden wollender Ferien.
Fernweh, Wunschträume und Wissbegierde vermochten bei mir schon immer Hochstimmungen auszulösen … Sehnsuchtsorte waren dabei nicht immer real, Perspektiven meist ungewöhnlich.
Meine Oasen des Alltags waren immer Traum- und Fluchtorte. Der Inbegriff von Freiheit und unendlicher Weite. Trunken von Poesie. Und voller Geheimnisse – wie in Büchern oder auch am Wasser. Nicht selten konnte es passieren, dass man sinnierend am See, Fluss oder Meer saß und erst Stunden später realisierte, dass inzwischen eine Menge Zeit vergangen war. Aber was bedeutete schon Zeit.
Und wenn man die Augen schloss, dann kamen sie.
Die Bilder. Herausgezoomt aus einem Setzkasten der Erinnerung. Verkleidet in Samt- und Seidenstoffe der Gefühle. Die Rätsel der Vergangenheit. Die leisen Töne. Die sanften Melodien. Und die wilden. Manche erzählen von der ersten Liebe, den ersten – bis dahin gänzlich unbekannten –Gemütsbewegungen. Viele sind wunderbar und schmecken nach Sonnenschein und Hochgefühl. Andere sind schmerzvoll und können, wenn sie bearbeitet sind, gerne vergessen werden.
Wichtig ist das Auftauchen der kleinen Glücksmomente.
Der Tanz auf den Wellen.
Die Melodie, die der Liebe Nahrung ist.
Das Flackern der Lichtreflexe in der Sonne.
Die Inspirationen aus dem Gestern für das Heute und Morgen.
My echo, My shadow and Me
(Original: The Ink Spots7)
Hier war ein Songtext vorgesehen.
Und auch hier darf ich diesen Text nicht abdrucken. Ich darf ihn übrigens auch nicht übersetzen.
Vielleicht darf ich zumindest sagen:
Es geht um drei Entitäten, die in einer gemeinsamen Erinnerung leben: Mein Echo, mein Schatten und ich.
Und auch an dieser Stelle kann ich Sie nur einladen, den Text zu googeln. Sie finden ihn mehrfach im Web.
„Ich schließe meine Augen, um zu sehen“
Paul Gauguin
Lebens-Puzzle im Schnell-Durchlauf
Jeder kennt das. Also jeder, der wenigstens einmal übersiedelt ist – oder zumindest ab und zu seinen Kram aufzuräumen gezwungen ist, sei es, weil die Eltern sonst schimpfen oder weil er ein gewisses Alter erreicht hat, das ihn oder sie zwingt, seinen Krimskrams einfach mal (neu) zu ordnen.
Ich habe dem Thema anlässlich einer solchen Übersiedlungs-Räum-Aktion in meinem letzten Buch ein Gedicht gewidmet8.
den wald vor lauter bäumen nicht oder als ich noch wichtig war
headline
erster zweispalter
artikel
report
visitkarte
visitkarte
visitkarte
ausweis
abzeichen
schildchen
ansteckkärtchen
conference badge
visitkarte
neue coverstory
schwerpunkt-thema
zeitungsartikel
radiobeitrag
vorige titelstory
fachbeilage
schachtel voller conference badges
visitkarte
rezension
erstes, zweites, drittes buch
noch eine schachtel voller conference badges
abzeichen
reportage
essays
plakette
artikel
glossen
features
poems
und?
„Die Dichter sind gegen ihre Erlebnisse schamlos: Sie beuten sie aus.“
Friedrich Nietzsche
Nun, soweit, so gut. Ich schließe also – frei nach Paul Gauguin – die Augen, um zu sehen, und visualisiere:
Mein Kinderzimmer voller Schätze. Dieser eigentümliche Geruch von viel Papier, Büchern und allerlei Heftchen in meinem Kinderzimmer, dazu mischt sich ein zarter süßlicher Duft von Bazooka-Kaugummi. Das war der, der so herrliche klebrige Blasen machen konnte und dessen Verpackung kleine bunte Comic-Zettelchen auf Glanzpapier enthielt.
Mein dunkelgelber geliebter Koffer-Plattenspieler. Er war tragbar und das war damals sehr besonders. Daneben einige Vinyl-Schallplattenständer aus dickem buntem und scheinbar unzerstörbarem Plastik, in die einige Platten brav und nach Genre geordnet eingeschlichtet sind. Daneben freilich liegen die allzu oft gespielten Lieblingsplatten, offen auf einem oder mehreren kleinen Stößen. Es ist der größte Teil meiner wertvollen Schallplattensammlung – heiß begehrt von sämtlichen halbwüchsigen Freunden auf allen Partys. Ich verborgte Platten nicht gern. Man bekam sie dann meist – wenn überhaupt – zerkratzt oder verklebt zurück, im schlimmsten Fall mit Eselsohren in den geliebten Plattencovers, die ja nicht selten ein Mitgrund für den Plattenkauf gewesen waren.
Kaleidoskope in allen Größen, Formen und Farben. Ich liebe sie – übrigens auch noch heute – und konnte damals nicht genügend von ihnen besitzen.
Und hier, links hinten in der Ecke, hier sitzen sie. Die älteren von ihnen stehen oder sitzen artig aufgereiht nebeneinander am Tischchen, weil die Knie der damaligen Modelle noch nicht biegsam waren. Ihre Mode verrät mein Alter.
Die geliebten Barbie-Puppen. Teilweise etwas zerrauft vom vielen An- und Aus- und Umziehen. Neben ihnen zwei große bunte Koffer voller wunderbarer Kleider, Schuhe und diverser Accessoires; sogar ein Telefon war dabei, damals ein absolutes Wunschobjekt für – vornehmlich weibliche – Teenager.
Regale und (teils kostbare) Schachteln voller Tagebücher und allerhand Krimskrams, der mir damals sehr wichtig war. Aus Gründen, die ich zumeist noch sehr genau im Kopf habe. Die meisten Gegenstände kenne ich gut, manche sind mir lieb und vertraut, andere haben ihre Attraktion für mich gänzlich verloren.
Seifenblasenfläschchen. Bunte Kugeln. Ein alter Abakus (Rechenbrett) aus schwarzem Ebenholz, den ich mir bei einem meiner unzähligen Besuche am Flohmarkt erstand.
Der Duft von Sandelholz und Patchouli dringt mir in die Nase und ich muss lächeln über meine frühere Vorliebe für diese Räucherstäbchen. Heute ziehe ich etwas feinere, zartere Düfte vor.
Ich tauche wieder ein und suche weiter.
Auf dem großen hellen Schreibtisch vor dem Fenster liegt ein kleines graues Plastik-Kästchen mit Gucklöchern, das sich View Master nannte, mit dem man stereoskopische Bilder betrachten konnte, die als Dias auf einer Pappscheibe aufgebracht waren – es war eine Art Virtual Reality Brille der 1970er und 80er Jahre. Landschaften, Tier- und Reisebilder zogen an einem vorbei und man konnte, ganz für sich, ungestört und wenn man wollte halbe Nachmittage lang die dreidimensionalen Welten betrachten.
Möglicherweise hat dieses Gerät meine spätere Vorliebe für virtuelle Räume, Virtual Reality und das gesamte Themenumfeld, in dem ich jahrelang schreiberisch und real auf Konferenzen unterwegs war, beeinflusst.
Hier noch einige ältere, jüngere und zeitlose Erinnerungen aus meinem virtuellen Setzkasten:
Pippi Langstrumpf, die anarchisch Fröhliche, die ultimative Selbstbestimmtheit.
Ella Fitzgerald, Oscar Peterson, Nat King Cole, und einige andere Jazzmusiker, deren Musik ich von Kindheit an liebte.
Der Schimmelreiter, eine Novelle, die ich in der Bibliothek meiner Eltern entdeckte, irgendwann knapp bevor ich ins Gymnasium kam, und deren Stimmung und Sprache mich zutiefst berührte.
Claude Monet, in dessen Blautöne ich mich so verliebte, dass mir die Tränen kamen, als ich mir bei meinem ersten – beruflich motivierten – Paris-Besuch in meinen späten Zwanzigern einen verbotenen Halbtag im Musée de l´Orangerie stahl.
Plato, auf den ich eigentlich böse war, als ich mit 17 erfuhr, dass er meine geniale „Scheintheorie“, die ich ausführlich und bis ins kleinste Detail geträumt hatte, schon 2500 Jahre zuvor erfunden hatte und sie frech „Höhlengleichnis“ nannte.
Tonio Kröger, mein einsamer, zerrissener Romanliebling aus Thomas Manns zauberhafter Erzählung.
Der Song „For All We Know“, den ich schon immer so gemocht hatte und den ich dann als erwachsene Frau zu einer Jazzbegleitung für meine Mutter aufnahm, als sie mir – plötzlich sehr bewegt – erzählte, dass dies der einzige Song gewesen sei, bei dem ich als Säugling glücklich lächelnd einschlief, sobald sie die 45-er Platte auf ihrem alten kleinen Plattenspieler aufgelegt hatte … ich hatte davon freilich keine Ahnung gehabt, als ich das Lied für sie sang.
For all we know9
Hier war der Songtext vorgesehen.10
Auch an dieser Stelle kann ich Sie nur einladen, den Text zu googeln. Sie finden ihn mehrfach im Web.
Und – wenn Sie Jazz mögen – gönnen Sie sich außerdem den Genuss, sich den Song auch anzuhören.
An diesen Songtext heftet sich wie ein Bazooka Kaugummi der Begriff „Unwiederbringlich“ aus dem Roman von Theodor Fontane. Dazu ein unliniertes Schulheft; die linierten hatte ich von Beginn an verweigert, weil sie eine bestimmte Form, Größe, Schrift – und de facto Systemunterwerfung erzwingen wollten, was mir schon als Kind grundsätzlich widerstrebte. Mit hartnäckiger Konsequenz habe ich – aus demselben Grund – durch meine gesamte berufliche Laufbahn hindurch zu vermeiden versucht, die Tabellenkalkulations-Software „Excel“ zu verwenden, durch die ich mich immer persönlich eingeengt fühlte.
Paul Watzlawick, dessen Band „Wie wirklich ist die Wirklichkeit“ ich mit 21 verschlang und nächtelang mit einem meiner damaligen Verehrer diskutierte, der übrigens nicht annähernd so beständig in meinem Leben verblieb wie später gelesene Watzlawick-Bände …
Ich öffne die Augen.
Fühle mich irgendwie benommen.
Kurzes Orientieren …
draußen scheint die Sonne.
Tief einatmen.
Augen zu.
Wieder zurück zum Damals.
Nochmals tief atmen. Bis der Patchouli-Duft wieder da ist. Eintauchen. Da ist er wieder, der Setzkasten. Film ab.
Ein kleines Liebesbriefchen mit Herz. Eine leise Ahnung, von wem. Kurzes Lächeln. Weiter. Zurück in der Zeit. „Rewind“. Am alten Cassettenrecorder. Die bunten Cassetten waren besonders begehrt.
Zurück. Durch Jahrzehnte von Ö3-Charts, Schulnoten und Schottenröcken.
Die Beatles, mit denen ich meine Großmutter sehr verärgerte, als ich in der zweiten Volksschulklasse ihr schönes Geschenk, einen wunderschönen, gebundenen Morgenstern-Band gegen die Single „Yellow Submarine“ eintauschte.
Die oberste Schublade meines Schreibtisches war speziell meinen akribisch gesammelten und säuberlich geordneten Füllfedern, verschiedenfarbigen Tinten, Bleistiften und Buntstiften gewidmet. Wie beglückend waren Besuche im „Papiergeschäft“. Dort roch es so wundervoll eigentümlich nach Papier und den verschiedensten Drucksorten. In meiner Kindheit gab es duftende Radiergummis, für die ich brannte. Und was gar bedeutete in späteren Jahren der Besitz eines Filofax-Kalenders aus feinstem Leder! Er enthielt (beinahe) alles, was wichtig war – hätte man mit ihm auch noch telefonieren und korrespondieren können, er wäre kaum weniger perfekt gewesen als heutige Smartphones. Und dabei um vieles sinnlicher.
Tiefer Atemzug.
Der Blick hinter den geschlossenen Augen schweift weiter durch die Erinnerungs-Schubladen.
Der gestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir. Der große Immanuel Kant, von dem ich als Kind bereits hörte, er wäre – vor allem ob seiner ethischen Ansprüche – der Lieblingsphilosoph der Familie gewesen.
Till Brönners tiefenentspannte Jazztrompete.
Friedrich Nietzsches Ewige Wiederkehr des Gleichen.
Die schneidende Aggressivität von Miles Davis und zugleich seine tiefe Traurigkeit.
Hermann Hesse – so gut wie alle seine Bücher.
Chet Bakers Melancholie.
Thomas Mann – fast alles.
Stefan Zweig – besonders der Brief einer Unbekannten, aber auch alles andere.
Ludwig Wittgenstein – freilich an der Uni – und dort nicht nur der Tractatus logico philosophicus.
Oscar Peterson, sogar persönlich im Volksschulalter im Wiener Konzerthaus mit meinen Eltern. Ich im roten Samtkleidchen mit weißem Spitzenkragen.
Poetry Slam, leider nur sehr selten, zumeist in der Nacht im staatlichen deutschen Kulturfernsehen.
Der unvergleichliche Rainer Maria Rilke, einfach alles.
Harry und Sally, über deren Frage der Freundschaft zwischen Mann und Frau ich jahrelang nachdachte.
Lou Salomé, die es vermochte, Nietzsche, Rilke und Freud zu verzaubern.
Goethes Faust. Klar. Wer immer strebend sich bemüht … und der ewige Kampf von Gut und Böse.
Stöße von Donald Duck Sammelbänden aus der Reihe „Lustiges Taschenbuch“. Auch ein paar Micky Maus Hefte. Wobei ich den traurigen Alltagshelden Donald dem strahlenden Micky immer vorzog – schien er doch das Leid der Welt auf seinen Schultern zu tragen und meisterte das Leben dabei doch täglich aufs Neue.
Diese optimistische Grundhaltung gefiel mir immer gut – und er appellierte schon in meinem frühen Kindesalter an meinen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn. Und mein Helfersyndrom … Vielleicht hätte Donald mit einer Pippi Langstrumpf als Frau an seiner Seite ja tatsächlich vermocht, die Welt aus den Angeln zu heben. Und – wie sagte schon Nietzsche in seiner „Morgenröte“? „Wir müssen die Dinge lustiger nehmen, als sie es verdienen, zumal wir sie lange Zeit ernster genommen haben, als sie es verdienen“.
Trotz meines Hangs zur Melancholie war mir das Lachen immer wichtig. Das augenzwinkernde, wohlgemerkt.
Dazu meldet sich aus dem hinteren linken Regal der wunderbar polemische, kluge und streitbare Slavoj Zizek aus der Jetzt-Zeit und winkt mir mit mahnender Geste zu.
Ich winke zurück und versenke mich wieder.
Das Kino um die Ecke, mit dem Zuckerlgeschäft, in dem man für fünf Schillinge schon einen großen Papiersack mit Gummischlangen und Eiskonfekt bekam und wo mich Lindgren- und Disney-Verfilmungen – und ein paar Jahre später die stahlblauen Augen von Terence Hill und die Eleganz von Alain Delon faszinierten.
Das Geheimnis hinter meinen geliebten venezianischen Masken.
Und – Erich Fried! Es ist, was es ist.
Und natürlich nicht nur das. Frieds Gedichte können auf eine
Weise glücklich machen, die nur Poesie zu vermitteln vermag.
Tschill tschill mein möhliges Krieb
Draußen schwirrt höhliges Stieb …
Elefanten und Gottheiten aus Alabaster und Ebenholz, zumeist aus Indien oder Indonesien, stehen geduldig zwischen antiquarischen Büchern. Auch alle möglichen Freudiana-Figuren von Ureinwohnern der Dominikanischen Republik, Thailand, den Philippinen und mehreren afrikanischen Ländern. Es waren zumeist Mitbringsel meines weit gereisten Onkels oder diverser Freunde meiner Eltern. Auch kaufte ich selbst immer gern exotisch aussehende Masken und Figuren; das Unbekannte zog mich immer magisch an.
Meine herrliche, unendliche Bibliothek, die geschätzt tausend Bücher umfasst und leider auf mehrere Lagerräume verteilt ist.
Darunter auch ein Regal voll von Tagebüchern, die ich früher immer gern geführt hatte. Mein allererstes Tagebuch bekam ich von meiner Großmutter geschenkt. Leider ist es im Laufe der Jahre irgendwann verloren gegangen. Es war aus einem blau gemusterten leicht gepolsterten Stoff und hatte ein kleines goldfarbenes Schlüsselchen zum Zusperren.
Marions Special Summer-Mix
Hier ein Foto von mir und meinem Hund in einem grünen Schlauch-Paddelboot. Ich bin etwa neun oder zehn Jahre alt und mein schwarzer Hund trägt eine Kapitänsmütze.
Das Bild friert ein.
Manchmal verschwimmen meine Erinnerungen und vermischen sich mit Erzählungen meiner Mutter – seien es Geschichten über meine eigenen Kindheitserlebnisse oder sogar über ihre, die sich manchmal dazwischen schummeln wie Pop-Up-Werbungen. Aber letztlich ist gar nicht so relevant, wer von uns beiden die Erlebnisse hatte, da sie in mir weiterleben – ob aus aktiver oder passiver Erinnerung heraus …
Lachen musste ich plötzlich, als mir – mitten in der Arbeit an diesem Buch, bewusst wurde, während ich das schwere rote Ding auf meinen Tisch hob, was ich da eigentlich gekauft hatte und warum ich es unbedingt hatte haben wollen …
das handgearbeitete, ziselierte rotlackierte Kästchen aus Indien hatte sich mir doch tatsächlich im Geschäft nicht als das erschlossen, was ich seit Wochen in meinem Kopf hatte … das Thema Setzkasten …
Und mir fiel ein, dass ich schon immer eine Vorliebe für kleine Kästchen mit vielen Schubladen gehabt hatte. Es gibt einfach viele Kleinigkeiten, die untergebracht werden wollen. Und die immer wieder – gewollt oder ungewollt – aufscheinen. Im Puzzle des Lebens.
„Erinnerung ist ein Paradies, aus dem wir nicht vertrieben werden können.“ Marie von Ebner-Eschenbach
erinnerung10
besteht die zeit
aus mehreren zeiten
fragst du und
wie im zeitraffer rasen die
bilder an dir vorbei
du streckst die hand nach ihnen aus
während sie
wie sand
zwischen deinen fingern zerrinnen
wie beständig ist eigentlich
die erinnerung
fragst du
und in der nächsten sekunde bist du
zwölf bilder weiter
und fragst dich
ob die elf bilder dazwischen nur deshalb so
verschwommen sind
weil es sie nie gegeben hat
(an salvador dali)
mfb, 2010
6 Utensilien, Krimskrams
7 A ballad published in 1939 by Nelson Cogane, Sammy Mysels and Dick Robertson. It was a hit song in 1940 for both The Ink Spots on Decca and Frank Sinatra with the Tommy Dorsey Orchestra on RCA Victor.
8 Aus: „den wald vor lauter bäumen nicht“ von Marion Fugléwicz-Bren, Verlag tredition
9 "For All We Know" ist ein Jazz-Popsong, den J. Fred Coots (Musik) und Sam M. Lewis (Text) verfassten und 1934 veröffentlichten. Er wurde ab den 1950er-Jahren auch zu einem viel gespielten Jazzstandard.
10 Besonders traurig bin ich darüber, dass ich den empfindsamen Songtext auch hier nicht abdrucken darf. Nein, eigentlich bin ich sogar ziemlich wütend.
10 (Aus: „den wald vor lauter bäumen nicht“ von Marion Fugléwicz-Bren, Verlag tredition, 2018)