Buch
Laos 1979: Dr. Siri Paiboun, Pathologe a.D., und seine Frau Madame Daeng hatten immer schon ein Herz für Außenseiter. Und so teilen sie ihr kleines Haus in Vientiane mit einer Reihe von Obdachlosen, Mendikanten und anderen Sonderlingen. Einer ihrer Mitbewohner ist Noo, ein buddhistischer Waldmönch, der eines Tages auf seinem Fahrrad davonfährt und nicht zurückkehrt. Alles, was er hinterlässt, ist eine kryptische Nachricht im Kühlschrank, in der er Siri darum bittet, einem anderen Mönch bei der Flucht über den Mekong nach Thailand zu helfen. Solch einem Abenteuer kann Siri natürlich nicht widerstehen, und bald schon finden er und seine Freunde sich in einem Konflikt mit laotischen Geheimdienstmitarbeitern und berühmten Spiritualisten wieder. Der Buddhismus hat viel Einfluss auf die Moral und Politik in Südostasien – und um die Unschuld eines Mannes zu beweisen, muss Siri nun herausfinden, wer unter dem Deckmantel der Religion furchtbare Verbrechen begeht …
Weitere Informationen zu Colin Cotterill sowie zu lieferbaren Titeln des Autors finden Sie am Ende des Buches.
Colin Cotterill
Dr. Siri und der verschwundene Mönch
Dr. Siri ermittelt – Band 11
Kriminalroman
Aus dem Englischen
von Thomas Mohr
Die englische Originalausgabe erschien 2016 unter dem Titel »I Shot the Buddha« bei Soho Press, Inc., New York.
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Deutsche Erstveröffentlichung November 2019
Copyright © der Originalausgabe 2016 by Colin Cotterill
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2019
by Wilhelm Goldmann Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München
Umschlagmotiv: FinePic®, München
Redaktion: Brigitte Helbling
AG · Herstellung: Han
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN: 978-3-641-23464-5
V002
www.goldmann-verlag.de
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Für ihre unschätzbare Hilfe bei diesem Projekt danke ich: Laurie, David, Ouayporn, Lizzie, Danielle, Leila, Dad, Brother John, Tony, Rachel, Robert, Bambina, Miki M., Paul N., Elliot und, für ihre Geduld und ihre Liebe, meiner Frau Kyoko.
Psychohygienischer Warnhinweis:
Der vorliegende Band enthält handlungsbedingt erhebliche Mengen an übernatürlichen Elementen.
Wer lieber dröge, durch und durch diesseitige Kriminalromane liest, ist hier definitiv im falschen Buch. Sagen Sie hinterher nicht, ich hätte Sie nicht gewarnt.
1 – AU CLAIR DE LA LUNE
2 – DREI ISMEN (ZWEI WOCHEN ZUVOR)
3 – DER SESSHAFTE NOMADE
4 – UST UND LAUNEN EINES TOTEN TRANSVESTITEN
5 – GINSENGSAFT MIT DANKESCHÖN
6 – SEXUELLE DESORIENTIERUNG
7 – BÖSE MÖNCHE HABEN KEINE LIEDER
8 – DIE RÜCKKEHR DER LEBENDEN TOTEN
9 – IN DER FALLE EINES FALLES
10 – AUF TEUFEL KOMM RAUS
11 – HOKUSPOKUS VERSCHWINDIBUS
12 – ZWEI KUGELN FÜR DEN BUDDHA
13 – SPRUNG INS UNGEWISSE
14 – WIR SCHALTEN ZURÜCK IN DIE PATHOLOGIE
15 – KILLER IN STÖCKELSCHUHEN
16 – GROBE FEHLEINSCHÄTZUNG
17 – DER GIPFEL DER GENÜSSE
1. EPILOG
2. EPILOG
Autor
Es war Punkt Mitternacht, und der Vollmond stand am Himmel, als drei Frauen an drei verschiedenen Orten bestialisch ermordet wurden. Wäre dies ein Film gewesen, hätte ein solcher Drehbuchkniff die Genossen Siri und Civilai im Nu auf die sprichwörtliche Palme getrieben. In ihrer Hitparade der Plattitüden belegten Zufälle den dritten Platz, knapp hinter urplötzlicher Amnesie und dem unverhofften Auftritt eines eineiigen Zwillings. Doch dies war das richtige Leben, und so erübrigte sich jede Diskussion.
Die erste Frau starb. Sie war in die Jahre gekommen, sie kränkelte ständig, und sie trank. Aber nicht das Herz oder der Alkohol brachte sie um. Sondern ein Vorschlaghammer. Sie hatte sich eher schlecht als recht durchs Leben geschlagen, mit Ausbesserungsarbeiten, die sie auf einer alten französischen Nähmaschine erledigte. Wenn ihr nicht gerade die Hände zitterten, machte sie ihre Sache eigentlich recht gut, und ihre Nähmaschine war die einzige in hundert Kilometern Umkreis, die tatsächlich funktionierte. Es hatte einmal eine Zeit gegeben, da hatte sie ihr mageres Einkommen in zwei Hälften geteilt: die eine für Lebensmittel, die andere für Reiswhisky. Doch dann dachte sie sich, Reiswhisky trägt seinen Namen nicht umsonst. Warum also sollte sie ihren Reis doppelt bezahlen? Rings um ihre Hütte gediehen prächtige Papayas und Bananen, und obwohl sie einen beträchtlichen Teil des Tages auf dem Plumpsklo verbrachte, gelangte sie zu dem Schluss, dass sie für jemanden, der nicht mehr wuchs, ausreichend Nährstoffe zu sich nahm. Von nun an investierte sie jeden Kip, den sie durch das Kürzen oder Auslassen von phasin-Röcken verdiente, in Hochprozentiges.
Und in dieser Nacht, dieser wolkenlosen Vollmondnacht, lag sie sturzbetrunken auf der Bambusbank, die ihr Vater eigenhändig gezimmert hatte, und bildete sich ein, das Antlitz Hanumans im Mond erkennen zu können. Da plötzlich fiel ein Schatten auf das göttliche Gesicht, und einen Augenblick lang sah sie die einzige Liebe ihres Lebens, dann ein Lächeln, dann den Vorschlaghammer.
Eine zweite Frau starb. Sie hatte sich hinter ihrer Hütte mit Wasser aus dem Regeneimer übergossen und sich die Haare mit einem Beutel des neuesten Sunsilk-Shampoos gewaschen, einer Gratisprobe des Herstellers. Sie trug noch immer ihren klatschnassen Sarong und überlegte, ob sie ihn anbehalten und »Oh, mit dir hatte ich noch gar nicht gerechnet« sagen oder stattdessen in das gelbe Sommerkleid schlüpfen sollte, in dem er sie bei Kerzenlicht so sexy fand. Sie kletterte die Bambusleiter hinauf, trat über die knarrende Schwelle und öffnete die hölzerne Kartoffelkiste, in der sie ihre Garderobe aufbewahrte. Sie zog sich gerade um – sie hatte sich dann doch für das Sommerkleid entschieden –, als vom Balkon ein neuerliches Knarren an ihr Ohr drang. Hastig zerrte sie sich das Kleid über Kopf und Hüften. Ihr Galan, ein Lkw-Fahrer aus Vietnam, war früh dran, auch wenn sie sich nicht recht erklären konnte, weshalb sie den Laster nicht von der Hauptstraße hatte abbiegen hören.
»Moment noch«, rief sie. »Ich bin halbnackt. Du hast die ganze Überraschung verdorben.«
Hinter ihr knarrten Schritte, und sie rechnete jeden Augenblick damit, dass er die Hände auf ihre Puddingbrüste legte. Womit sie nicht gerechnet hatte, war das Messer. Im Schein der nackten Kerzenflamme blitzte eine Klinge auf. Starr vor Schreck sah sie zu, wie die Spitze sich in ihre Bauchdecke bohrte und sie erst von links nach rechts und dann von unten nach oben aufschlitzte, wie in den Samurai-Filmen, die sie so gern gesehen hatte, bevor auch das letzte Kino geschlossen worden war.
Eine dritte Frau starb. Dies war offenbar keine gute Nacht für Frauen. Es gibt Krankheiten, bei denen man sich dem Tod recht nahe fühlt, auch wenn sie einen nur selten bis zur Endstation befördern. Und es gibt Krankheiten, die äußerst unschön sind, aber nicht unbedingt mit starkem Unwohlsein einhergehen, und doch ist man ohne die richtige Behandlung zur richtigen Zeit so flugs hinüber wie ein Spatz in einem Düsentriebwerk. Hepatitis fällt in letztere Kategorie. Man denkt, man hat eine Erkältung, ein paar Wehwehchen und Zipperlein, man fühlt sich schlapp, also legt man sich ins Bett und schläft den ganzen Tag. Und wenn man aufwacht, ist man tot.
Als sie wachgeworden war, hatte der nette alte Arzt an ihrer Schlafmatte gesessen. Er hatte ihr ein paar Tabletten gegeben, und sie hatte ihm gedankt und war wieder eingeschlafen. Als sie das nächste Mal erwachte, war es Nacht, und ein feister Mond grinste durchs Fenster. Sie fühlte sich so wohl, dass sie sich ernsthaft mit dem Gedanken trug, aus dem Bett zu springen und sich bei einem Gang um ihre Hütte die steifen Beine zu vertreten. Wenn nicht sogar den einen oder anderen Luftsprung zu wagen. Aber dann zog sie es vor, unter dem Moskitonetz liegen zu bleiben und davon zu träumen, wie sie auf dem nächsten Dorffest tanzte.
Der Mond meißelte Konturen aus dem Dunkel ihres kleinen Zimmers, graue Schatten. Schachteln voller Andenken an ihre acht Kinder, die samt und sonders Krankheiten, Gewalt und den lockenden Lichtern der Großstadt zum Opfer gefallen waren. Andenken an einen Ehemann, der sie eigentlich nie so recht hatte leiden können und gleich nach der Zeugung ihres achten Kindes auf einen Blindgänger getreten war, welcher ihren Büffel halb und ihn komplett zerrissen hatte. An den Wänden hingen Bilder längst verblichener Könige und ein abgelaufener Kalender. Und da, in einer schummrigen Ecke an einem kniehohen Tisch, saß ja auch der freundliche alte Arzt und mischte frische Medizin.
»Es geht mir schon viel besser«, sagte sie.
Doch er gab keine Antwort. Als er auch den letzten Tropfen Flüssigkeit in das Glas gerührt hatte, rutschte der alte Arzt auf Knien zum Netz. Da er den Mond vollständig verdeckte, konnte sie nicht sehen, ob er lächelte. Wenn sie sich recht erinnerte, hatte er ein hübsches Lächeln. Mit der linken Hand streckte er ihr ein Glas entgegen, in dem sich ein paar Fingerbreit einer trüben Brühe befanden. Im Mondlicht schien sie fast zu glühen. Mit der rechten Hand zog er das Netz hoch, sodass er zu ihr hineinschlüpfen konnte. Dann hob er ihren Kopf behutsam gerade so weit an, dass sie die Arznei trinken konnte. Er roch irgendwie nach Räucherwerk. Sie dankte ihm, und das letzte Bild, das sich in ihre Netzhaut brannte, war das eines freundlichen alten Arztes in den Gewändern eines Mönchs.
Es war eine Frage des Anstands. Durften Dr. Siri Paiboun und seine Gattin Madame Daeng an einem Parteiseminar teilnehmen, das die heidnischen Rituale der Geisteranbetung verteufelte? Zumal der Doktor bisweilen zum Verschwinden neigte und seiner Frau ein kleiner, aber feiner Schwanz gewachsen war, auch wenn sie die hohe Kunst des Wedelns noch nicht recht beherrschte. Da bislang kein Dritter Zeuge dieser übersinnlichen Phänomene geworden war, lag es durchaus im Bereich des Möglichen, dass die beiden auf ihre alten Tage den Verstand verloren hatten oder unter Halluzinationen litten. Andererseits bestand kein Zweifel daran, dass der klobige Holzstuhl Madame Daengs Hintern mächtig malträtierte und sie den Kopf immer wieder nach links drehen musste, um sich zu vergewissern, dass an der Hand, die sie in regelmäßigen Abständen drückte, nach wie vor ein Doktor hing. Es herrschten seltsame Zeiten in der Demokratischen Volksrepublik Laos, und doch gab es mitunter den einen oder anderen Augenblick, der sich der schnöden Normalität rühmen durfte.
Das Seminar entsprang, ebenso wie diese Geschichte (und alles, was daran hing), einem höchst unbehaglichen Konflikt zwischen den drei Ismen: Buddhismus, Animismus und Kommunismus. Wer hokuspokusfreie öffentliche Foren vorzog, konnte sich die Teilnahme sparen. Trotzdem ließ sich schwerlich leugnen, dass auch im fünften Jahr sozialistischer Herrschaft die phi – die Land- und Luftgeister sowie die Geister, die in den Menschen wohnten – die einzigen Autoritäten waren, auf die sich die Bauern in der Provinz halbwegs verlassen konnten. Der wachsende Einfluss der phi war der grünschnäbligen Regierung ein Dorn im Auge. In dem Bemühen, sämtliche magischen Praktiken zu verbieten und den Buddhismus so zu seinen Ursprüngen zurückzuführen, hatten sie ihm beinahe den Garaus gemacht. Heute, gegen Ende des Jahres 1979, gab es im ganzen Land nur mehr zweitausend aktive Mönche; bei der Machtübernahme der Kommunisten waren es noch zehnmal so viele gewesen. Tempel wurden als Getreidespeicher, Umerziehungsstätten für ungläubige Beamte oder Langzeitquartiere für Obdachlose zweckentfremdet. Ohne den Rückhalt organisierter Religion und der – geistig wie geistlich minderbemittelten – örtlichen Vertreter der Regierung reanimierten nicht wenige Landbewohner heidnische Götter und ersuchten die Geister um Rat. So sie das nicht ohnehin immer schon getan hatten.
Im Kultusministerium hielt man diese zunehmende Hinwendung zum Okkulten für untragbar. Ranghohe Parteimitglieder wurden kategorisch angewiesen, derlei faulem Zauber unter allen Umständen zu entsagen. Was bisweilen zu Komplikationen führte, da ihre Frauen nicht selten dabei gesehen wurden, wie sie sich kurz vor Tagesanbruch aus dem Haus stahlen, um den Mönchen, die den Säuberungsaktionen entgangen waren, heimlich ein Almosen zuzustecken. Und auch die Dienstmädchen von Ministern statteten die Geisterhäuser unverdrossen mit frischen Blumen und Getränken aus oder verbrannten Räucherstäbchen auf dem Familienaltar. Um es mit den wie üblich wenig durchdachten Worten des Parteioberen Richter Haeng zu sagen: »Ein guter Sozialist braucht nicht an die Phantome und Phantasmagorien von Folklore oder Religion zu glauben, da der Kommunismus seine Bedürfnisse vollauf zu befriedigen vermag.«
Doch sowohl der Richter als auch Siri hatte ganz andere Dinge im Kopf, während brave Parteibürokraten ihre exorzistischen Bemühungen in stumpfen Farben schilderten. Am Vorabend hatten sie Besuch von jemandem erhalten, den die beiden Männer, Buddha sei Dank, für tot gehalten hatten. Er war zur großen Neueröffnung von Madame Daengs Nudelrestaurant erschienen und hatte im Schatten des Flussufers auf der anderen Straßenseite gelauert. Siris Hund Köter hatte die uniformierte Gestalt sogleich entdeckt, sich am Bordstein postiert und in ihre Richtung gebellt. Seltsam, das.
Im Schein der einzigen Feuerwerksrakete, die es auf dem Morgenmarkt zu kaufen gab – Shanghaier Goldregen –, hatte Siri das Gesicht sofort erkannt. Es gab nicht den geringsten Zweifel. Insofern war der Doktor nicht weiter verwundert, als der kleine Richter ihn vor Beginn des Seminars auf dieses Thema ansprach; seine Akne glomm und blinkte wie eine Leuchtreklame. Wie üblich wagte er es nicht, dem Doktor in die strahlend grünen Augen zu sehen.
»Siri«, begann er. »Ich, äh, hatte gestern Abend unerwarteten Besuch.«
»Das habe ich mir gedacht«, sagte der Doktor. »Ich auch.«
»Und was … was sollen wir nun tun?«
»Wir? Ich bin Leichenbeschauer im Ruhestand und Besitzer einer Nudelküche. Sie hingegen sind der Chef der öffentlichen Anklagebehörde. Da dürfte es Ihnen weitaus leichter fallen als mir, die entsprechenden Schritte einzuleiten.«
»Seien Sie nicht albern, Siri. Sie wissen doch, es gibt keine offiziellen Vorschriften für den Umgang mit … mit …«
»… Geistern?«
»Nennen Sie es, wie Sie wollen.«
Es war nicht das erste Mal, dass sie über diese Frage debattierten. Eine Woche zuvor hatten sie ein ähnliches Gespräch geführt. Im Lauf eines schier endlosen Kolloquiums über marxistische Wirtschaftspolitik hatte Siri den Richter, der zufällig neben ihm gesessen hatte, aus purer Langeweile und Gemeinheit in die Seite gestoßen.
»Dreimal dürfen Sie raten, neben wem ich heute Morgen aufgewacht bin«, sagte Siri.
»Ich hoffe, sie war sehr viel jünger und schöner als Ihre Frau«, erwiderte Haeng in dem merklichen Bestreben, den Doktor zu beleidigen.
»Es gibt keine schönere Frau als die meine«, sagte Siri. »Nein, es war Genosse Koomki vom Wohnungsamt.«
Siri wusste, dass diese Vorstellung dem Richter frostige Schauer über den Rücken jagte. Genosse Koomki vom Wohnungsamt war bei dem Brand ums Leben gekommen, der Madame Daengs erstes Nudelrestaurant in Schutt und Asche gelegt hatte. Da er kein allzu angenehmer Zeitgenosse gewesen war, weinte ihm kaum jemand eine Träne nach. Dennoch war er ohne Frage tot.
Für Siri waren Besuche aus dem Jenseits nichts Besonderes. »Stippvisiten aus dem Zwischenreich« nannte er sie. Geister begegneten ihm buchstäblich auf Schritt und Tritt. Es war das Kreuz, das er zu tragen hatte. Trotzdem sprach er nur selten über dieses Thema, schon gar nicht mit Parteimitgliedern. Eines der zahlreichen Dinge, die Sozialisten einfach nicht begriffen, war die Wechselwirkung zwischen den verschiedenen Dimensionen. Doch die Pensionierung des inzwischen fünfundsiebzigjährigen Arztes hatte seine Lust am Ingrimm noch gesteigert. Er hatte eigentlich erwartet, dass der junge Mann schnaubend die Nase rümpfen und ihn mit einer Losung beunglücken würde, doch stattdessen nahm das Gesicht des Richters die Farbe von drei Tage altem Klebreis an.
»Siri«, flüsterte er, »ich habe ihn auch gesehen. Gestern Abend schaue ich zufällig aus dem Fenster, und da steht er, im Schein der Straßenlaterne deutlich zu erkennen.«
Siri wunderte sich nicht etwa darüber, dass Haeng einen Geist gesehen hatte, sondern dass er dies so freimütig gestand. Der Besuch hatte den Richter offenbar weitaus heftiger erschüttert als den Doktor. Es entspann sich eine angeregte, gleichwohl gedämpfte Unterhaltung, in deren Verlauf sie zu ergründen versuchten, weshalb der Geist beschlossen hatte, ausgerechnet sie beide zu behelligen. Der kleine Plausch war der einzige Lichtblick an diesem trüben, tristgrauen Nachmittag. Obwohl die beiden zum ersten Mal an einem Strang zogen, wenn auch mit leicht gebremstem Eifer, kamen sie auf keinen gemeinsamen Nenner. Weder hatten sie Koomki bewusstlos geschlagen noch das Feuer entfacht, das ihn verschlungen hatte. Geschweige denn auf seinem Grab getanzt.
Trotzdem war er zurückgekehrt, auch wenn seine Absicht nach wie vor im Dunkeln lag. Jäh kappte Siris Gattin den Faden seiner Gedanken.
»Wann können wir endlich gehen?«, fragte sie und machte sich gar nicht erst die Mühe, die Stimme zu senken.
»Du wolltest doch unbedingt hierherkommen«, rief er ihr ins Gedächtnis.
»Das war ein schwerer Fehler. Ich hatte gehofft, das Ganze wäre etwas …«
»Interessanter?«
»Rationaler.«
»Ich lach mich tot. Eine rationale Auseinandersetzung auf einem Parteiseminar. Sonst noch irgendwelche Wünsche? Vielleicht ein kühles Bier und eine Tüte Popcorn in der Pause?«
»Du weißt genau, was ich meine. Angekündigt war eine Analyse des Zusammenspiels von Politik, Religion und dem Okkulten in der modernen Gesellschaft. Stattdessen bekomme ich stundenlang erklärt, das einzig Anbetungswürdige auf dieser Welt seien Hammer und Sichel. Siehst du auf der Bühne auch nur einen Mönch oder Schamanen? Nein. Ganz davon abgesehen, dass …«
Madame Daeng wurde von einem spindeldürren Mann im zerknautschten Jeanshemd unterbrochen, der sich zu ihr umwandte mit den Worten: »Einige von uns sind hier, um den gelehrten Ausführungen verdienter Parteigenossen zu lauschen.«
Er drehte sich wieder um, als sei der Fall damit erledigt. Daeng beugte sich vor und schnippte ihm gegen das Ohr. Das Ohr war groß, das Schnippen heftig, und so hallte das Geräusch unüberhörbar durch den Saal. Einige der umsitzenden Zappelphilipps konnten sich ein Kichern nicht verkneifen. Der Tumult brachte den Redner auf dem Podium vorübergehend aus dem Konzept, sodass er in der Zeile verrutschte und denselben Satz noch einmal las. Es war zweifellos der Höhepunkt des Nachmittags.
Der großohrige Mann sprang auf, beugte sich über seinen Stuhl und holte zu einem Schwinger gegen Madame Daeng aus. Obwohl sie bereits weit über sechzig war, verfügte Daeng, eine ehemalige Freiheitskämpferin, über bemerkenswerte Reflexe. Sie duckte sich weg, wodurch der Mann das Gleichgewicht verlor. Er kippte über die Rückenlehne seines Stuhls und landete direkt vor Siris Füßen auf der Nase. Und wieder hatten die Senioren einen blutigen Triumph errungen. Immerhin besaß Siri die Höflichkeit, dem Mann zur Trockenlegung des roten Flusses ein Taschentuch zu reichen.
»Wenn er nicht aus dem Gleichgewicht geraten wäre, hätte ich ihn mit einem Kantenhieb gegen den Kehlkopf außer Gefecht gesetzt«, sagte Daeng.
Es war später Abend, und die ganze Bande saß um die Tische in der Nudelküche. Eigentlich herrschte ab neun Uhr abends Ausgangssperre, doch die beiden Beamten, die auf der Fa Ngum Road Streife liefen, hatten es sich mit einer Flasche von Siris Reiswhisky am Flussufer gemütlich gemacht. Aber selbst ohne des Doktors milde Gabe hätten sie dieses Stelldichein wohl kaum gemeldet. Ein rascher Überschlag am Abakus hätte genügt, die Summe der in diesem Raum versammelten Jahre der Mitgliedschaft in der Partei auf weit über hundert zu beziffern. In Madame Daengs Nudelrestaurant saßen Polizeioberinspektor Phosy, seine Frau Schwester Dtui, die ihre Tochter Malee in den Armen wiegte, das Ex-Politbüromitglied Civilai Songsawat und sein bester Freund Dr. Siri sowie – last but not least – Herr Geung, seines Zeichens Sektionsassistent a. D.
Schwester Dtui platzierte Malee auf ihrem ausladenden Schoß und erhob ihr Glas, um auf Madame Daengs Prahlereien anzustoßen. Herr Geung, der nicht selten vergessen ließ, dass das Down-Syndrom gewöhnlich als Behinderung galt, tat es ihr lachend nach und stemmte seinen tödlich-süßen, unverdünnten Orangensirup in die Höhe. Den »harten Stoff«, wie er es nannte.
»Vorher hätte ich ihn mit einem Karateschlag niedergestreckt«, schnaubte Siri. »Womöglich hätte ich dir damit das Leben gerettet. Wer weiß, was er dir ohne meine geballte Kampfsportkompetenz alles angetan hätte.«
»Die wohlwollende Begutachtung von Bruce Lees gesammelten Werken dürfte wohl kaum als Kampfsportausbildung durchgehen«, meinte der alte Politbürokrat. »Wenn sich Fähig- und Fertigkeiten so ohne Weiteres vermitteln ließen, könnte ich schon seit vierzig Jahren tanzen wie Fred Astaire.«
Siri und Civilai verfügten über einen reichen Fundus von Anspielungen und Verweisen, der ihren laotischen Freunden und Verwandten streng verschlossen blieb. Ein Fundus der europäischen Kultur, den sie in ihrer Pariser Studienzeit zusammengetragen hatten. Was sie einte, war eine regelrechte Sucht nach Filmen, Büchern und Musik, die keine ideologischen Gräben oder Grenzen kannte. Ein enzyklopädisches Wissen über Kunst und Philosophie, das es ihnen erlaubte, sich die Witze zuzuspielen wie zwei Tennisprofis in einem mit verwirrten Wrestling-Fans besetzten Stadion.
An einem Samstagabend wie diesem gab es nichts Schöneres als einen gepflegten Feierabendtreff bei Madame Daeng. Zumal man in Vientiane selbst an einem Samstagabend nur wenig unternehmen konnte. Die Stadt war staubig und mit Brettern vernagelt, und die einzigen nächtlichen Geräusche waren das Rülpsen der Frösche und das Klirren zerschellter Hoffnungen und Träume. Die wenigen ausländischen Diplomaten, Entwicklungshelfer und Experten hatten ihre Stammlokale, doch die überstiegen die finanziellen Möglichkeiten des gemeinen Laoten bei Weitem. Und auch mit Rubel, Dollar oder Dong ließ die Sperrstunde sich nicht umgehen. In Zeiten wie diesen, da man gezwungen war, die Abende im Kreise der Familie zu verbringen, lernte man sich wohl oder übel sehr gut kennen. Aber selbst wenn es Kinos, Fernsehen oder Spätkonzerte gegeben hätte, wäre Madame Daengs Nudelrestaurant für diese alten Freunde die Adresse ihrer Wahl gewesen.
»Sie können von Glück sagen, dass ich nicht dabei war, sonst hätte ich Sie festgenommen«, sagte Inspektor Phosy mit leicht geröteten Wangen und schon etwas schwerer Zunge.
»Wegen welches schändlichen Vergehens?«, fragte Siri.
»Belästigung«, sagte Phosy. »Immerhin haben Sie einen armen Genossen mit Ihrem Dauergequatsche daran gehindert, das Seminar zu genießen.«
»Na, wenn das kein Grund für eine Festnahme ist«, sagte Siri. »Ein Seminar genießen? Der Mann kann nicht ganz bei Trost gewesen sein. Von Rechts wegen gehört er hinter Gitter.«
»Wenn ich recht verstehe«, sagte Civilai, zwischen dessen Zähnen wie eine Zigarre eine mit Schwein gefüllte Frühlingsrolle steckte, »haben Daeng und du freiwillig an dem Treffen teilgenommen. Was mich ernsthaft an eurem Verstand zweifeln lässt.«
»Ich bin nur unter Zwang und Strafandrohung mitgekommen«, sagte Siri.
»Unsinn«, widersprach Daeng. »Seit seiner Pensionierung verzehrt er sich derart nach Unterhaltung, dass er mich zu den absurdesten Veranstaltungen schleppt. Dabei ist ihm kein Thema zu trocken. Er durchforstet sogar die Liste der Einäscherungstermine, um wenigstens die eine oder andere Trauerfeier besuchen zu können.«
»Aber nur von Leuten, die ich kannte«, sagte Siri.
»Er radelt kreuz und quer durch die Stadt, in der Hoffnung, in eine Auseinandersetzung zu geraten«, fuhr sie fort, »eine Katze vom Baum retten oder einen Ehekrach schlichten zu können. Du langweilst dich zu Tode, Siri.«
»Sie la… la… langweilen sich zu Tode, Genosse Doktor«, wiederholte Herr Geung.
Siri machte ein betroffenes Gesicht. »Wie können Sie so etwas sagen?«, fragte er. »Bin ich etwa nicht Ihr Vorgesetzter? Habe ich etwa kein Auge darauf, was Sie hier im Restaurant den ganzen Tag so treiben? Und habe ich bei Ihrer Brotherrin etwa kein angemessenes Salär für Sie herausgeschlagen?«
»Madame Daeng kann auf einen Personalvertreter, der ihre Angestellten aufhetzt, vermutlich gut und gern verzichten«, meinte Schwester Dtui.
Der Blick, der zwischen den beiden Frauen hin und her ging, verriet Siri, dass sie hinter seinem Rücken über seine Rolle in dem neuen Restaurant gesprochen hatten. Er hatte sich mühsam eingeredet, dass er sich dort würde nützlich machen können. Aber wenn er ehrlich war, musste er gestehen, dass ihm das Lokal nicht allzu sehr am Herzen lag. Im Gegensatz zu seiner Gattin fehlte ihm sowohl das Talent zum Kochen als auch die Geduld zum Führen der Bücher, konnte er weder kreative Werbestrategien entwerfen noch stundenlang an ein und demselben Fleck verharren. Nach siebeneinhalb Jahrzehnten des Reisens und der Abenteuer, die ihn nicht selten an die Schwelle des Todes geführt hatten, war eine Nudelküche für jemanden wie Siri so etwas wie der Wartesaal zum Jenseits. Und das wussten die anderen nur zu gut.
Im kleinen Kreis stets Diplomat, wechselte Civilai das Thema.
»Was gibt’s Neues im Zoo?«, fragte er.
»Der Zoo« war der aktuelle Spitzname für Siris offiziellen Wohnsitz, der ihm von staatlicher Seite zugewiesen worden war und derzeit als illegale Aufnahmeeinrichtung für ein kleines Heer von Obdachlosen diente. Als Staatsbeamter hatte Siri die Betonschuhschachtel hinter dem That-Luang-Denkmal unmöglich ablehnen können. Da er mit seiner Frau über der Nudelküche hauste, hatte er beschlossen, seinen Hauptwohnsitz den Bedürftigen zu überlassen. Dieser eklatanten Missachtung mannigfaltiger Parteirichtlinien verdankte Siri die innige Bekanntschaft des Genossen Koomki vom Wohnungsamt, desselben Genossen Koomki, der Richter Haeng und ihn derzeit ohne ersichtlichen Grund heimsuchte. Selbst in einer beengenden Bürokratie wie dieser war es unwahrscheinlich, dass ein kleiner Beamter wegen einer Ordnungswidrigkeit noch aus dem Grab auf Rache sann.
»Mittelgroße Aufregung um Noo«, sagte Siri.
»Das ist der Mönch, nicht wahr?«, fragte Phosy.
»Der thailändische Waldmönch, um genau zu sein«, sagte Siri. »Auf der Flucht vor dem thailändischen Militär.«
»Was hat er denn angestellt?«, erkundigte sich Dtui.
»Ein General fand Gefallen an einem Fleckchen Land, das er für den idealen Standort zur Errichtung einer schmucken kleinen Feriensiedlung hielt. Das Problem war nur, dass es bis zu dem Tag, als die Bulldozer anrückten, Teil eines Nationalparks gewesen war. Die Verträge schrieben sich über Nacht eigenhändig um, und am nächsten Morgen war des Teufels General der rechtmäßige Besitzer besagten Grundstücks. Auftritt Noo: der Wandermönch. Der einsame Rächer. Der feierlich gelobt hat, die Jungfräulichkeit des Dschungels zu bewahren. Er stachelt die Bevölkerung auf, segnet zwei zweitausend Jahre alte Bäume, hüllt sie in Safrangelb, erklärt das gesamte Areal zu heiligem Boden und versenkt sich vor einem Schaufelbagger bis zum Hals in der bröckeligen Krume. Ein beeindruckendes Foto für die Titelseiten.«
»Worauf der General selbstredend schnurstracks ins Gefängnis wandert, das Land wieder in einen Nationalpark umgewidmet wird und Noo den Magsaysay-Preis für Dienst an der Gemeinschaft erhält«, sagte Civilai.
»Fast«, sagte Siri. »Der größte Teil der überaus lästigen Bäume war bereits abgeholzt und zu Blockhütten verarbeitet worden, und die Siedlung eröffnete drei Monate später. Das aufstrebende Teenageridol Pueng Duangjan durfte das Band durchschneiden. Der Provinzgouverneur hielt eine Dankesrede. Dann wurde Noo verhaftet und als kommunistischer Rebell des Hochverrats angeklagt.«
»Dabei ist er gar keiner?«, fragte Phosy.
»Was, Kommunist? Doch, natürlich. Aber danach hat ihn nie jemand gefragt. Und keine seiner Aktionen war politisch motiviert. Er hatte sich dafür nur einen denkbar schlechten Zeitpunkt ausgesucht. Sie hatten gerade damit begonnen, die Wälder entlang der Nordgrenze von thailändischen Kommunisten zu säubern. Seit sie die Unterstützung der Khmer Rouge verloren hatten, ergaben sich die Roten in Scharen. Ein Riesenpropagandaprogramm in den Medien. Das Militär erzählte den Leuten, die bösen Kommunisten würden des Nachts in ihr Schlafzimmer eindringen, ihre Kinder fressen und ihre Schoßhündchen tottreten.« Unter Siris Tisch ließ Köter ein unwirsches Knurren vernehmen. »Niemand ist sicher, bis die Bösen besiegt und vernichtet sind. Et cetera pp. Man braucht bloß anzudeuten, dass jemand ein Kommunist sein könnte, und schon wetzt die öffentliche Meinung die Guillotine.«
Die beiden Wächter über die Einhaltung der Ausgangssperre standen in der Tür und warteten höflich auf eine Gesprächspause.
»Was ist?«, fragte der Inspektor.
»Wir sind mal kurz weg«, sagte der eine und schwankte leicht.
»Wir sind in einer Stunde wieder da«, sagte der andere. »Und wir gehen davon aus, dass Sie die Sperrstunde einhalten.« Er hickste. »Sonst gibt’s Ärger.«
»Ist gut«, sagte Madame Daeng. »Meint ihr, ihr könnt noch Motorroller fahren, Jungs?«
»Ja, danke der Nachfrage, Tante«, sagte der erste. Und die beiden wankten Arm in Arm über die Straße und machten sich auf die Suche nach ihrem Gefährt.
»Und«, sagte Dtui, »wie ist Waldmönch Noo entkommen?«
»Sie haben ihn in den Provinzkerker gesperrt statt ins Militärgefängnis«, antwortete Daeng, die nichts lieber tat, als die Geschichten ihres Mannes zu kapern. »In der Provinz Nan war er ein veritabler Volksheld. Darum waren die Sicherheitsvorkehrungen nicht allzu streng. Er durfte sogar jeden Morgen Almosen sammeln. Er musste ihnen allerdings versprechen, dass er postwendend zurückkehren würde.«
»Und wie nicht anders zu erwarten, ist er eines schönen Morgens nicht zurückgekehrt«, sagte Siri, »was den Thais schmerzvoll in Erinnerung rief, dass Mönche weiter nichts sind als Männer mit sehr kurz geschorenem Haar.«
»Und so landete er vor deiner Tür«, sagte Civilai. »Respektive in deinem Garten, wo er noch heute verbotenerweise Gratispredigten verabreicht.«
»Woher wusste er, an wen er sich wenden musste?«, fragte Phosy.
»Unruhestifter haben so etwas wie ein eingebautes Peilgerät«, erklärte Civilai.
»Und worin besteht nun die versprochene Aufregung im Zoo?«, fragte Dtui. Ihr Baby wälzte sich im Schlaf fröhlich hin und her, wie ein Ferkel, das sich im kurzen Gras den Rücken kratzt.
»Ich weiß auch nicht, was genau passiert ist«, sagte Siri. »Einer der Hausbewohner hat mir heute diese Nachricht überbracht.«
Er zog ein ordentlich gefaltetes Blatt Papier aus seiner Brusttasche.
»Lieber Bruder Siri«, las er, »man hat mich mit einer streng geheimen Mission betraut, die ich hier aus Sicherheitsgründen nicht weiter erörtern möchte. Sollte irgendetwas schiefgehen, finden Sie alles Nähere da, wo Imelda Marcos ihre Lieblingsschuhe aufbewahrt.«
»Ein bisschen melodramatisch«, meinte Civilai.
»Schuhe«, sagte Herr Geung und lachte im Zuckerrausch.
»Wer, bitte, ist Imelda Marcos?«, wollte Phosy wissen.
»Gute Frage«, sagte Siri.
Noo war die ganze Nacht nicht nach Hause gekommen, und Siri fragte sich, ob das zwangsläufig zu bedeuten hatte, dass etwas passiert war. Jedenfalls lag der Waldmönch nicht wie sonst auf der hinteren Veranda und schlief. Aber da er ja angeblich ein Wandermönch war, gab es vermutlich keinen Grund zur Sorge. Siri hatte Noo immer wieder damit aufgezogen, dass er für einen Nomaden recht sesshaft sei. Und tatsächlich hatte Noo seit seiner Flucht nach Laos keinen Fuß mehr vor das Gartentor gesetzt. Wahrscheinlich handelte es sich um bloßes Trotzverhalten. Zugegeben, dass sein Verschwinden zeitlich mit der Nachricht zusammenfiel, war vielleicht etwas zu viel des Zufalls, dennoch beschloss Siri, erst einmal in Ruhe abzuwarten, bevor er etwas unternahm.
Weitaus größere Schwierigkeiten bereitete es ihm, Richter Haengs Memos zu ignorieren. Stücker drei schon vor dem Morgenkaffee! Er radelte über den ausgestorbenen Samsenthai Boulevard, und Köter trottete neben ihm her. Der Doktor war im Osten aufgewachsen und im Teenageralter nach Frankreich gegangen. Nach seiner Rückkehr hatte er als Feldarzt in den Provinzen gearbeitet. In die Hauptstadt war er erst 1975 einmarschiert, zusammen mit den Revolutionären Streifkräften. Ein Großteil der Bevölkerung war geflohen, und die meisten Geschäfte hatten dichtgemacht. Er kannte das Zentrum Vientianes nur als menschenleere Geisterstadt und vermochte sich die rauschhafte Zeit der Clubs, der Drogen und der Prostitution nicht einmal vorzustellen: amerikanische Dollars, Touristen und Läden, in denen es interessante Dinge zu kaufen gab. Er bog in die Lane Xang Avenue. Es war später Vormittag, und er und Köter waren allein auf den laotischen Champs-Élysées.
Der Richter kauerte in einer Ecke seines justizministerialen Dienstzimmers. Als Siri die Tür aufstieß, schrie Haeng vor Schreck laut auf und ließ die Akte fallen, in der er zum Schein gelesen hatte.
»Siri«, fragte er, »warum die Verspätung?«
»Mangelndes Interesse«, sagte der Doktor.
Steif hievte der Richter sich von seinem Badhocker. Wie ein Greis schleppte er sich an seinen Schreibtisch und plumpste in seinen gepolsterten Kunstledersessel.
»Sparen Sie sich Ihre Witze«, sagte er. »Ich habe zwei Nächte kein Auge zugetan. Ich trage mich ernsthaft mit dem Gedanken, einen befreundeten Psychologen in Hanoi zu konsultieren.«
»Das ist aber eine ziemlich weite Reise, nur damit Ihnen jemand attestiert, dass hinter Ihrer Stirn die eine oder andere Schraube locker sitzt.«
»Was meinen Sie, Siri? Bin ich verrückt?«
»Ohne den geringsten Zweifel.«
»Aber Sie haben ihn doch auch gesehen.«
»Halten Sie mich etwa für zurechnungsfähig?«
Siri musterte den Richter und empfand wider Willen so etwas wie Mitleid für den jungen Mann. Die Achseln seines zerknitterten weißen Hemdes waren schweißgetränkt. Sein schwarzer Plastikgürtel hatte ein oder zwei Schlaufen zielsicher verfehlt. Er sah noch abgerissener aus als sonst.
»Ich habe die Gerüchte gehört, Siri«, sagte Haeng. »Ihre Beziehungen ins Jenseits. Ich habe selbstredend kein Wort davon geglaubt.«
»Sehr klug.«
»Und jetzt … und jetzt sehe ich auf einmal einen Mann, der ohne jede Frage unter den Toten weilt.«
»Und wenn sich jemand als der Genosse Koomki ausgibt?«, gab Siri zu bedenken. »Und sich nur verkleidet hat?«
»Das habe ich auch erst gedacht, Siri. An diesen Strohhalm habe ich mich lange geklammert.«
Siri setzte sich auf die Kante von Haengs Schreibtisch und wartete auf ein »Aber«.
»Aber er verändert seine Größe, Siri«, sagte der Richter. »Mal ist er ein Zwerg. Wie Sie sich vielleicht erinnern, entspricht das seiner Statur zu Lebzeiten. Dann wieder ist er riesig wie ein Wetterballon. Und bisweilen könnte man ihn bequem in einem Zahnputzbecher unterbringen.«
»Sie scheinen ihn ja ziemlich oft zu sehen.«
»Er ist überall, Siri. Wo ich auch hingehe. Was will er? Warum ich?«
Der arme Mann bedurfte dringend einer Lektion in mystischer Logik.
»Na schön«, sagte Siri. »Die Erfahrung hat mich gelehrt, dass es für eine Heimsuchung im Wesentlichen zwei Gründe gibt. Der eine ist Rache. Der andere ein ungerupftes Hühnchen. Insofern wüsste ich nicht, weshalb er Sie terrorisieren sollte, es sei denn, natürlich, Sie haben mir etwas Entscheidendes verschwiegen, was Ihre Beziehung zum Genossen Koomki selig angeht.«
»Ich hatte Vorurteile hinsichtlich seiner Größe.«
»Das dürfte kaum genügen. Wenn er tatsächlich auf Rache aus wäre, hätte er sehr viel mehr Grund, stattdessen mir das Leben zur Hölle zu machen. Aber ich sehe ihn nur hin und wieder.«
»Rache ist es also nicht?«, sagte der Richter sichtlich erleichtert. »Dann könnte es Ihrer Ansicht nach um etwas gehen, das er zu Lebzeiten nicht mehr zu Ende …«
»Möglich wär’s.«
»Und wie kommen wir dahinter, was es ist?«
Fast hätte Siri gesagt: »Ich könnte ihn fragen.« Doch dem Doktor fehlte nach wie vor eine Reihe grundlegender schamanischer Fähigkeiten. Die simple Kommunikation mit dem Jenseits war eine davon.
»Sie waren für seine Papiere und seinen Nachlass zuständig. Schwester Dtui hat seine spärlichen Überreste obduziert. Phosy hat in dem Fall ermittelt. Ich schlage vor, wir gehen sämtliche Notizen noch einmal durch, vielleicht haben wir irgendetwas falsch gemacht. Etwas Wichtiges übersehen. Irgendetwas stört die Ruhe unseres geschätzten Genossen Koomki. Ich habe das dumpfe Gefühl, dass er nicht ins Totenreich einziehen kann, bis wir herausgefunden haben, was.«
»Wie lautet deine Antwort auf Frage 541?«, wollte Civilai wissen.
»Elvis Presley«, sagte Siri.
Die beiden alten Knaben hatten ihre Ölsardinen-Baguettes vertilgt; jetzt knieten sie im Gras und benutzten ihren Baumstamm als Schreibtisch. Der Zählungsbogen der Abteilung für Religiöse Angelegenheiten umfasste über sechshundert Fragen. Um sich harte Arbeit zu ersparen, hatten sie beschlossen, sich bei ihrer Beantwortung auf die Primzahlen zu beschränken.
»Glaubst du, irgendjemand füllt das Ding allen Ernstes nach bestem Wissen und Gewissen aus?«, fragte Siri.
»Nein. Das Ganze ist vermutlich eine Falle. Allein das hier, gleich auf der ersten Seite: ›Ihre religiöse Überzeugung.‹ Wer gibt denn darauf eine ehrliche Antwort? Der Parteilinie zufolge kann jedermann und jedefrau anbeten, wen oder was er oder sie möchte. Andererseits werden die Novizen dazu umerzogen, marxistisch-buddhistische Theorie zu lehren: der Herr Buddha als Pionier und Vorreiter der sozialistischen Ideologie. Kein Religionsunterricht in der Grundschule. Die Bereinigung der Nationalhymne um die Nennung des Namens Buddha. Mönche sollen den Massen beibringen, effektiv zu wirtschaften und die Produktivität zu steigern. Sie sind zur Moralpolizei verkommen, die den einfachen Leuten diktiert, wie man innerhalb des Systems ein tugendhaftes Leben führt. In jedem anderen Land werden Mönche schwer bestraft, wenn sie sich in die Politik einmischen. Bei uns heftet man ihnen dafür einen Orden an die Kutte. Die Leute haben vergessen, was Buddhismus bedeutet. Und niemand weiß so recht, ob er sich zu seinem Glauben bekennen soll.«
»Was hast du als Antwort angegeben?«, fragte Siri.
»Agnostiker«, sagte Civilai. »Wieso? Was schaust du mich so an? Das ist die lautere Wahrheit.«
»Ich glaube dir«, sagte Siri.
»Ich habe keinen …«
»Ich weiß.«
»Du doch auch nicht.«
»Stimmt.«
»Dann zieh nicht so ein Zitronengesicht«, sagte Civilai. »Deine Kindheit im Tempel. Dein Studium an einer christlichen Universität. Deine Wiedererweckung als Nachfahr eines Schamanen – und als Knochenleser. Trotz alledem bist du zu demselben Schluss gelangt wie ich. Es gibt nichts, was man ohne jeden Zweifel anbeten könnte. Nichts, woran sich guten Gewissens glauben ließe.«
Siri legte die Hand auf das weiße Amulett an seiner Brust. Es war nichts Besonderes: ein grob behauener Klumpen Stein. Aber ohne ihn wäre der Doktor zweifellos längst tot gewesen. Ohne den reichen Segen und den schamanischen Humbug, den der Glücksbringer buchstäblich in sich aufgesogen hatte, hätten die bösen Waldgeister, die phibob, Siri längst das Leben abgelistet. Die Macht dazu besaßen sie. In Sachen böse Geister war Hollywood falsch informiert. Ein Geist kann einen Menschen nicht angreifen. Er kann nicht mit Steinen um sich werfen, eine Jungfrau im Schlaf erdrosseln oder einem Mann in die Brust greifen und ihm das pochende Herz aus dem Leibe reißen. Doch mit List und Tücke kann er einen Menschen davon überzeugen, dass eine riesige Naga ihm das Herz zerquetscht, dass er von einem Hochhaus springen und durch die Wolken schwimmen kann, dass ein Cocktail aus Bleiche und Toilettenreiniger ebenso köstlich schmeckt wie Whisky-Soda mit einem Schuss Zitrone. Echte Geister vollführen keine Taschenspielertricks, sondern kapern die Gedanken ihres Opfers. Und von allen Dämonen, die in Laos und Thailand täglich Unheil stifteten, waren keine so boshaft und gemein wie die phibob. Und aus irgendeinem Grunde, der vermutlich mit dem Tun und Handeln von Siris Vorfahr Yeh Ming zusammenhing, stand der Doktor ganz oben auf ihrer Abschussliste.
»Was hast du geantwortet?«
»Baumanbeter.«
»Wie geistreich.«
Die beiden hatten nicht die Absicht, ihre Fragebögen einzureichen. Die Übung diente dem Rentnerduo lediglich dazu, einen Nachmittag in Vientiane totzuschlagen. Natürlich würden sie eine Strafe zahlen müssen. Sie würden – wieder einmal – vor den Disziplinarausschuss zitiert, aber dafür hatten sie sich zwei Stunden prächtig amüsiert. Für zwei so rege Geister, mit denen es rapide bergab zu gehen drohte, war Stimulation das A und O. Siri beneidete seinen Freund um dessen einflussreiche Kontakte, die ihn ein ums andere Mal auf tollkühne Missionen entsandten. Siri war ein solcher Querulant, dass kein Mensch auf die Idee gekommen wäre, ihn irgendwohin zu entsenden. Im Gegensatz zu Civilai hätte man ihm nie im Leben das Amt des laotischen Botschafters in Kambodscha angetragen. Auch wäre er nie an die chinesische Grenze abgeordnet worden, um eine drohende Invasion zu verhindern, was ihn freilich nicht daran gehindert hatte, ebendies zu tun. »Die Diplomatie«, so pflegte er zu sagen, »hat, wie Catherine Deneuve, leider nie den Weg in mein bescheidenes Bett gefunden.« Civilai hingegen war, all seinen rassistischen Vorurteilen zum Trotz, der geborene Friedensstifter. Siri hätte selbst in einem Aquarium einen Aufruhr angezettelt.
Sie falteten ihre Fragebögen zu Papierschiffchen, wateten bis auf Knietiefe in den Mekong und überantworteten sie den kaffeeesken Fluten, mit Kurs auf den Wasserfall von Khon Phapheng. Das Nass war kühl, und der Schlamm quoll ihnen auf das Angenehmste zwischen die Zehen.
»Willst du da wirklich hinfahren?«, fragte Siri.
»Unbedingt«, sagte Civilai.
»Findest du die Geschichte nicht ein bisschen … albern?«
»Keineswegs. Das passt doch wie die sprichwörtliche Faust aufs gleichnamige Auge zur diesjährigen Themenwoche Buddhismus: du und dein Seminar, ein verschollener Mönch, der Fragebogen der Glaubensschnüffler. Der Fachmann nennt es Karma. Kaum zu fassen, dass wir von so viel kosmischer Energie umgeben sind.«
»Aber …?«
»Ich weiß. Hochgradig lächerlich, das Ganze, aber ich habe erstens ein unbegrenztes Spesenkonto und kann zweitens zur Abwechslung endlich einmal Madame Nong mitnehmen. Außerdem müssen wir dieses ›Seid-nett-zu-Thailand‹-Pferdchen reiten, solange es vier Hufe hat. Wir haben uns bereit erklärt, der Behauptung auf den Grund zu gehen. Wir waren schon seit einer ganzen Weile nicht mehr in Pakxan. Und es ist ja nicht die Welt. Wie es scheint, bearbeitet der Buddhistische Rat in Bangkok jeden Monat ein Dutzend solcher Fälle. Die haben sogar einen extra Etat dafür. Bist du sicher, dass du nicht doch mitkommen möchtest? Zum Beispiel als mein Caddy?«
»Hundertprozentig.«
»Und was, wenn Er es wirklich ist? Wäre das nicht aufregend? Einer dieser berühmten ›Ich-war-dabei-als …‹-Momente.«
»Hat dieser Knabe sich etwa selbst zum neuen Buddha ausgerufen?«
»Nein, offenbar wurde er instinktiv als selbiger ›erkannt‹. So ähnlich wie Jesus im Stall von und zu Bethlehem. Mit dem kleinen Unterschied, dass die Krippe dieses Buddhas auf dem Hof einer Reparaturwerkstatt steht.«
»Hast du die Absicht, ihm Edelmetall als Wiegengabe darzubringen?«
»Nein, wir haben uns für ein paar Fläschchen leckeren Rotwein entschieden. Die Flussmuscheln da unten sind angeblich ein Gedicht.«
»Und warum schicken sie ausgerechnet dich?«
»Alles Teil des grenzübergreifenden Entspannungsprogramms der neuen Thai-Delegation. Wir waschen ihnen die eine Hand. Sie schrubben uns die andere. Unser Politbüro möchte zwar die Thais bei Laune halten, aber um Gottes willen keine buddhistische Mission unterstützen, jedenfalls nicht offiziell. Die Herren wünschen keine Siamesen auf laotischem Staatsgebiet, wollen aber auch keinen hohen laotischen Beamten entsenden, also mussten sie jemanden finden, der nicht nur außer Dienst gestellt ist, sondern auch neutral.«
»Und du bist neutral.«
»Ich habe schon einen ganz krummen Buckel vor lauter Bedenkenträgerei.«
»Und du glaubst, zwei Tage sind genug, um die Stichhaltigkeit der Behauptungen beurteilen zu können? Halten zu Gnaden, aber für meinen Geschmack fehlt dir dazu schlicht die nötige Qualifikation.«
»Na und? So eine Chance bekommt man nur einmal in zweitausend Jahren. Ich fürchte, ich werde mich auf mein berühmtes Bauchgefühl verlassen müssen. Weißt du noch, kleiner Bruder, wie wonnetrunken wir waren, als wir neben Castro standen?«
»Er war eben ein Star. Fan-Gehabe, weiter nichts.«