Katharina Afflerbach
Bergsommer
Wie mir das Leben auf der Alp Kraft und Klarheit schenkte
eISBN: 978-3-95910-234-6
Eden Books
Ein Verlag der Edel Germany GmbH
Copyright © 2019 Edel Germany GmbH, Neumühlen 17, 22763 Hamburg
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1. Auflage 2019
Einige der Personen im Text sind aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes anonymisiert.
Projektkoordination: Svenja Monert und Kathrin Riechers
Lektorat: Katharina Theml
Umschlaggestaltung: Johanna Höflich
Coverfoto: © Berge und Hütte: AleksandarGeorgiev / istockphoto, © Kühe: by-studio / shutterstock.com, Edelweiß: © Gamegfx / shutterstock.com
Gestaltung Bildteil: Buchgut
Fotos Bildteil: © privat Katharina Afflerbach
E-Book-Konvertierung: Datagrafix GSP GmbH, Berlin | www.datagrafix.com
Alle Rechte vorbehalten. All rights reserved. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Für Flo
Aufwachen
Davor
Verliebt • Sack und Pack
Erster Bergsommer
Uffart • Der erste Tag • Neuland • Der Wahnsinn, die Rinder! • Frei • Momente • Der Lauf der Dinge • Berührungen • Phänomene • Gleichgewicht • DNA • Holz • Ernte • Mutterliebe und Vaterstolz • Geschafft • Nach unten • Adie
Talwinter
Dazwischen • Entscheiden • Alpfieber
Zweiter Bergsommer
Da • Gleich • Drunter • Himmelhellblau • Zusammen • Holzerwoche • Fragil • Galopp • Halt • Ki Chance • Sternenstaub • Mondfinsternis
Großstadtwinter
Drehscheibe • Ja • Läuft • Reset • Unter Wasser
Dritter Bergsommer
Steil • Routine • Bäuerin • Aufgeweicht • Teilen • Bergfest • Älplermaccaroni • Frieden • Leuchtturm • Erinnerung • Wolken zaubern • Drei Minuten
Von Herzen Danke
Glossar
Familie Aeby
Markus |
Hirt |
Stefanie |
Hirtin |
mit Yves, Pascal, Livia |
im ersten Sommer neun bzw. zehn, acht und fünf Jahre alt |
Robert |
Markus’ Vater |
Ihre Freunde
Valentin, Peter und Christine, Hanspeter
Ihre Hunde
Netti und Rex
Ihre Kühe
Belinda, Berna, Lotti, Joia, Wolgi, Sabine, Spiegi, Leila, Amsla, Wendi, Romy und ihre Kälber
Ihre Ziegen
Das Gämschi, die Schwarze, die Braune, die Alte, Schnauf, Caramel und alle anderen
Ihre Schweine und Kaninchen
Die 120 Rinder anderer Bauern, die auf der Salzmatt sömmern
Familie Afflerbach |
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Heinrich |
Mein Vater |
Hannelore |
Meine Mutter |
Sabine, Claudius, Julian, Florian |
Meine Geschwister |
Rainer |
Sabines Freund |
Tina |
Florians Freundin |
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Meine Freundinnen
Kathrin und Mareike
Auf dem Bergbauernhof in Südtirol
Bauer Arnold und Opa
So viele liebe Menschen und Tiere mehr machen diese Geschichte, machen meine Geschichte aus. Sie prägen das Land rund um den Muscherenschlund, und sie prägen mein Leben, egal wo es gerade stattfindet. Ich danke euch allen von ganzem Herzen.
Es ist Viertel nach fünf Uhr morgens. Ich wache davon auf, dass Markus leise die Schlafzimmertür schließt. Ich zähle seine Schritte zur Bodenluke, es sind fünf, und lausche der vertrauten Melodie, dem Knarzen, als die Luke sich öffnet, dem dumpfen Schlag, als sie am Dachbalken ankommt. Die Tritte auf den Stufen nach unten sind zuerst klar, dann entfernter zu hören und schließlich nur noch eine Ahnung. Markus wird gleich die Kühe zum Melken in den Stall holen, und ich kann noch zehn Minuten liegen bleiben. Sogleich kehrt wieder Stille ein, eine tiefe, große Ruhe, der die Glocken der Tiere auf den Weiden ein immerwährendes Ständchen bringen. Heute prasselt mal kein Regen auf mein Dachfenster, und der Wind meint es auch gut mit uns und ist still.
Noch acht Minuten. Ich liege flach auf dem Rücken. Meine Glieder sind schwer und steif, meine letzte Yogastunde ist viele Wochen her. Alles tut ein bisschen, manches etwas mehr weh. Aber das ist nicht schlimm. Ich spüre einen Schmerz, der mich zufrieden macht und der mir erzählt, was mein Körper gestern und vorgestern gearbeitet hat.
Noch sechs Minuten. Mir ist schön warm und ich träume nichts. Dass ich gleich aufstehen muss, ist für mich ein Geschenk. Ich freue mich auf Rex, meinen treuen Begleiter, der mich beim Melken im Stall besuchen wird, auf die braune Ziege, die meine Morgenmassagen zu lieben scheint, und auf das Gämschi, das mir seinen Hals zum Kraulen entgegenrecken wird. Den Wecker schalte ich vor dem Klingeln aus. Mit halb geschlossenen Augen lege ich die Stallkleidung an und taste mich die Stiege hinunter. Meine Füße kennen den Weg und führen mich nach der letzten Stufe nach links, durch die Stube ins Bad. Eiskaltes Wasser öffnet meine Augen. Ich bin wach.
Keine zwei Minuten später trete ich in die Nacht, die gleich vorbei sein wird, hinaus und unter das satte Sternenzelt. Rechts steht schwarz die Bergkette, geradeaus öffnet sich das schlafende Tal. Noch schickt die Sonne keine Vorboten, und ich kann auf dem Weg zum Stall Sterne trinken. Es ist ein Privileg. Ganz allein darf ich diese Himmelspracht genießen, darf mich um die mir anvertrauten Tiere kümmern und zum Lebensunterhalt der Familie beitragen – und das alles vor dieser prächtigen Kulisse, meistens draußen in der Natur und an richtig frischer Luft. Still bedanke ich mich.
Ein paar Tage später. Mehr als einmal habe ich in dieser Nacht wach gelegen. Die Gewitter haben unsere Hütte regelrecht erzittern lassen. Von den Bergen hallten die Donner doppelt gewaltig als Echo zurück. Nur das Hüttendach hat mich vom Wetter getrennt. Jetzt prasseln die Regenmassen wieder unaufhörlich auf mein Dachfenster, und ich stelle mir vor, wie ich gleich nach draußen muss. Ich höre den Wind, der das Haus umweht und an den Balken leckt. Es gibt keinen Ausweg. Ich muss jetzt zum Melken. In der unbeheizten Stube lege ich die Regensachen an und wappne mich auch innerlich. In die kalten Gummistiefel schlüpfe ich erst im Stall, wo mir der Wind schon entgegenpeitscht. Als ich draußen vor der Hütte die Melkmaschinen rüste, halte ich den Kopf gesenkt, damit mir der Regenhut nicht wegfliegt. Aus den Augenwinkeln sehe ich, dass es sowieso nichts zu sehen gibt. Schwarzer Nebel umhüllt die Alp. Ich schnappe mir die Melkmaschinen und stemme mich gegen den Regen. ›Warum tue ich mir das eigentlich an‹, frage ich mich auf dem Weg zum Stall, ›und wer hatte eigentlich die blöde Idee mit der Alp? Andere legen sich an den Strand, schlürfen Kokosnuss oder drehen einfach zu Hause gemütlich Däumchen. Und ich? Ich lass mich zu nachtschlafender Zeit irgendwo in den Bergen nassregnen.‹
Die Ziegen empfangen mich armen Tropf mit großem Hallo und fordern meckernd ihr Frühstück ein. Liebevoll begrüße ich eine nach der anderen und wärme mich im noch schlafwarmen Stall. Alles wird gut. Alles wird gerade in diesem Moment gut. Ein Glück, dass ich aufgestanden bin.
Es ging ganz schnell, das Verlieben in die Berglandwirtschaft. Und es war, wie das immer ist mit den besten Dingen im Leben: nicht geplant.
Im Frühling 2013 spendeten meine Freundin Kathrin und ich der Bergbauernhilfe Südtirol ein paar Urlaubstage und tauschten Büro gegen Stall. Ich war auf der Suche nach einer Möglichkeit, mal so richtig viel Zeit am Stück in den Bergen zu verbringen, viel länger als sonst im Wanderurlaub oder beim Bergsteigen. Dass ich der Berg- und nicht der Meertyp bin, war mir bereits klar. Selbst als ich mal für zwei Jahre in Hamburg mit Ost- und Nordsee praktisch vor der Haustür lebte, war ich kein einziges Mal am Timmendorfer Strand oder in Sankt Peter-Ording.
Zwei Optionen hatte ich mir überlegt: Ich könnte entweder für eine Saison auf eine Alp gehen und von Melken bis Misten auf Bäuerin umsatteln, oder ich könnte in einer Berghütte, so einer Art Alpenvereinshütte, anheuern. Mit dem Ausflug auf den Bergbauernhof in Südtirol wollte ich Option A austesten, wobei der Bergbauernhof zwar keine Alp, aber immerhin ein Bauernhof und immerhin in den Bergen war. Woher sollte ich wissen, ob ich überhaupt für die Landwirtschaft gemacht war? Berghütten hatte ich auf meinen Touren schon viele von innen gesehen. Aber einen Bauernhof, geschweige denn eine Alp, noch nie. Vielleicht würde mich das frühe Aufstehen nerven. Vielleicht hätte ich, im wahrsten Sinne des Wortes, bald vom Ausmisten die Nase voll. Vielleicht würde ich mich ganz schnell fragen, welche Kuh mich da geritten hatte.
Kathrin und ich landeten auf einem Bergbauernhof auf 1.430 Metern gleich unterhalb der Plose, einem Biobetrieb mit Ziegen, Hühnern und einem Esel.
»Aus Frankfurt und Köln kommt ihr, so so«, begrüßte uns Bauer Arnold, als er uns am Bahnhof in Brixen abholte. »Und jetzt kommt ihr also zu uns«, dachte er laut weiter.
»Ja, und wir können zupacken«, versuchten wir Arnold auf der Fahrt nach oben zu überzeugen. Eine halbe Stunde den Berg hinauf hatten wir Zeit, ihn abwechselnd mit Fragen zu löchern und Beweise für unsere Tatkraft zu liefern.
»Ich hoffe, dass wir diese Woche Heu machen können, jetzt, wo ich zwei Helferinnen habe«, erklärte uns Arnold. »Aber wahrscheinlich wird das Wetter nicht mitspielen. Dann gehen wir eben ins Holz!«
Das war unser Stichwort. Wir zwei gebürtigen Siegerländerinnen haben die Holzwirtschaft quasi mit der Muttermilch aufgesogen. Gut, 35 Meter hohe Bergfichten haben wir selten gefällt – weder Kathrin, wenn sie ihrem Vater beim Brennholzmachen half, noch ich, als ich dabei war, wenn Papa und meine Brüder kleine Fichten umlegten, um damit eine Brücke über den Weiher auf unserem Grundstück zu bauen. Aber wir konnten von der Haubergswirtschaft erzählen, dem jahrhundertealten zyklischen Waldbewirtschaftungsprinzip aus unserer Heimat. Immerhin.
Kaum auf dem Hof angekommen, ging es auch schon los. Der Opa holte die Sense aus dem Schuppen, um rund um das Haus zu mähen.
»Das kann ich doch machen«, rief ich ihm übereifrig zu.
»Kannst du denn mit der Sense umgehen?«, wollte er wissen.
»Ja, das kenne ich von zu Hause«, erwiderte ich, um einen guten Eindruck bemüht.
Aber ehrlich gesagt hatte ich noch nie mit der Sense gemäht. Auch nicht mit einem Rasenmäher. Ich hatte eigentlich noch nie irgendetwas gemäht. Zusammengerecht ja, aufgeladen und abtransportiert, sowas. Handlangerarbeiten eben. Aber gemäht? Aus Angst um die Frösche und sicher auch um mich hatte Papa, der aus Prinzip Rasenmäher verabscheut und sein Lebtag auf die gute alte Sense setzt, mich nie rangelassen. Nun ja, die Geschichte ist schnell erzählt. Alle paar Meter stand mir ein Zaunpfahl im Weg und die Servolenkung der Sense war irgendwie kaputt. Ich scheiterte kläglich. Wortlos nahm der Opa mir die Sense ab, und das Gras war schneller gemäht, als Kathrin und ich gucken konnten. Wir kratzten es dann zu Haufen zusammen.
Danach ging es zum Melken.
»Als Kind war ich oft auf einem Bauernhof hier in der Nähe im Urlaub«, erzählte Kathrin Arnold und mir, während Arnold uns den Ziegenstall zeigte.
»Hast du denn auch gemolken damals?«, wollte unser Chef wissen.
»Klar«, sagte Kathrin, »ist halt nur ein paar Jahre her.«
Ich sagte lieber nichts, denn ich hatte auch noch nie irgendetwas gemolken. Wir hörten aufmerksam zu, als Arnold uns erklärte, wie sein Stall funktionierte. Zwei Bereiche gab es: den großen Laufstall für die Milchziegen und den Kindergarten für den Nachwuchs. 24 Ziegendamen waren zu melken, jeweils sechs auf einen Streich, praktisch im Melkstand, sodass wir uns noch nicht einmal zu bücken brauchten. Mit Kraftfutter lockte Arnold die ersten sechs in den Melkstand. »Bevor wir die Melkmaschine ansetzen, müssen wir kurz von Hand anmelken. So reinigen wir das Euter.« Die Zitzen sahen in Arnolds großen Arbeiterhänden winzig aus. Vorsichtig berührte ich zum ersten Mal ein Euter. Ganz dicht trat ich von hinten an die Ziege, die sich auf ihr Kraftfutter konzentrierte, heran. Warm, ein kleines bisschen ledrig, aber irgendwie vertraut fühlte es sich an. ›Gar nicht so viel anders als meine eigene Haut, nur ein bisschen rauer und ein bisschen fester‹, dachte ich. Während sich meine Finger um eine Zitze schlossen, um ihr ein paar Tropfen Milch zu entlocken, musste ich schlucken. ›Ob ich der Ziege wehtue? Was sie wohl von mir denkt, wenn ich ihr jetzt die Milch stehle, die eigentlich für ihre Zicklein ist?‹
Aber viel Zeit zum Nachdenken blieb nicht. Arnold schaltete die Melkmaschine an und zeigte uns, wie die Milch direkt vom Melkstand aus über Edelstahlröhren in einen gekühlten Tank geleitet wurde. Von unten sollten wir die Melkkelche an die Zitzen heranführen und dann über diese stülpen, bis sie sich festgesaugt hatten. Sobald die Hände frei waren, ging’s zur nächsten Ziege. Als wir die ersten sechs gemolken hatten, öffneten wir für sie den Ausgang und trieben sie in einen Wartebereich, holten die nächsten sechs herein, gaben auch diesen Kraftfutter und melkten sie. Kathrin und ich grinsten uns an. »Cool, oder?«, rief ich zu ihr rüber, und wir klatschten uns ab. Kaum waren wir eine halbe Stunde im Stall bei den Tieren, hatten wir die Welt um uns herum vergessen. Köln, Frankfurt, der Ärger im Büro, was zählte das noch? Jetzt ging es einzig darum, uns um die Tiere zu kümmern und unsere Arbeit zu machen. Und plötzlich keimte Zufriedenheit in mir auf. In diesem Moment wusste ich genau, wofür ich mich hier anstrengte – es hatte Sinn! Und ich war durchströmt von der Wärme und Liebe der Tiere. Ja, ich weiß, es muss sich komisch anhören, denn die meisten Ziegen hatte ich nur von hinten gesehen, und ich hatte mich hauptsächlich mit ihren Zitzen beschäftigt. Und Ziegen sind keine Hunde, die sich fast selbstlos an uns Menschen ausrichten, ganz im Gegenteil. So anschmiegsam wie eine Katze, so dickköpfig wie ein Kind in der Trotzphase und so unstet wie die sprichwörtliche Hummel im Hintern. Und dennoch war ich bereits irgendwo in mir drin tief berührt und freute mich riesig auf die nächsten Tage. Nach dem Melken zeigte Bauer Arnold uns den Milchtank und seine kleine Käserei. »Morgen Abend könnt ihr mir beim Käsen helfen«, kündigte er an.
Gerade einmal ein paar Stunden waren wir jetzt hier, einen halben Tag und einen kurzen Abend. Aber mein Leben war schon dabei sich zu verändern. Ich war dabei mich zu verändern. Ich würde als jemand anderes nach Hause fahren. Ich war mir selbst hier, auf diesem ungewohnten Terrain, näher als in all den letzten Jahren in Köln, Hamburg oder sonst wo. Für manches würde es in meinem Leben keinen Platz mehr geben, für anderes plötzlich die Möglichkeit. Ich hatte mich herauskatapultiert aus einem zermürbenden Büroalltag in der Großstadt und hineingeworfen in einen Tagesablauf, der an erster Stelle von den Tieren und vom Wetter bestimmt wurde. Von jetzt auf gleich war mein Terminkalender arbeitslos geworden, und mein iPhone brauchte ich nur noch als Wecker. Meine neuen Arbeitskollegen hatten vier Beine und waren vergleichsweise leicht zu händeln. Statt Kostüm oder Anzug trug ich Blaumann, Gummistiefel und ungekämmte Haare.
Die nächsten Tage auf dem Bergbauernhof vergingen wie im Flug. Wir sammelten den Hühnern die Eier unter dem Hintern weg, gingen mit dem Opa ins Holz, schauten Arnold beim Käsen über die Schulter, rissen den alten Hühnerstall ab und retteten Rehkitze vor dem Motormäher. Wir verkauften die selbst gemachten Bio-Produkte auf dem Wochenmarkt und halfen unserer Gastfamilie bei der Buchhaltung. Wir kochten aus den Südtiroler Bergeiern Siegerländer Eierkäs und stopften Schokoriegel in uns rein, weil wir mit dem Kaloriennachschub nicht hinterherkamen. Wir machten uns schmutzig, schwitzten aus allen Poren und schliefen wie Steine. Wir erledigten, was zu erledigen war, und wenn wir mit einer Arbeit fertig waren, gab unser Chef uns eine nächste. Wir schafften so viel weg wie noch nie in unserem Leben. Wir waren stolz – und glücklich!
Und ich, ich hatte Feuer gefangen. Plötzlich war alles anders! Denn jetzt war mir klar, dass meine Qualen im Büro endlich waren. Ich selbst hatte es ja in der Hand, sie zu beenden! Denn ich würde meine Segel neu setzen! Ich war weniger erschrocken darüber, dass ich das vergessen hatte, sondern einfach nur erleichtert, weil ich es wiederentdeckt hatte. Bei Bauer Arnold waren offensichtlich nicht nur meine Arme und Beine stärker geworden. Nein, die paar Tage voll harter Arbeit hatten meinen Blick geschärft und meinen Willen aufgerichtet. »Ätschibätschi«, rief mir mein inneres Kind jetzt immer häufiger zu, wenn ich mich im Büro ärgerte, »ich kann aber mit der Seilwinde einen Baum aus dem Wald ziehen und aus eigener Kraft dreieinhalbtausend Meter hohe Berge besteigen!« Und wenn ich das konnte, dann konnte ich noch viel mehr. Nein sagen zum Beispiel. Oder Stopp. Oder ja. Oder kündigen.
Mit Option A hatte ich also ins Schwarze getroffen. Dennoch wollte ich mich absichern und mir auch die zweite Lösungsidee, eine Saison auf einer Berghütte, noch einmal aus der Nähe anschauen. Ich buchte für den Sommer eine Hochtour durch die Ötztaler Alpen, die unsere Gruppe auf mehrere Dreitausender-Gipfel führte. Umgeben von Fels und Eis war ich voll in meinem Element. So sehr ich den Wald liebe, oberhalb der Baumgrenze ist auch mein Revier. Die klare, kalte Luft, die reiche Leere und das Gefühl, es aus eigener Kraft bis hier hinauf geschafft zu haben, ließen mein Herz hüpfen. Doch nach dem dritten Hüttenabend wusste ich: Auf einer Berghütte würde ich nicht arbeiten wollen. Kochen, Servieren, Putzen und Betten beziehen konnte ich auch in der Stadt. Aber jeden Tag draußen sein, bei Wind und Wetter, Sonne und Schnee, meine geliebten Berge mit Haut und Haaren erleben, mich im Nebel verlieren, an Kuhbäuchen seufzen und im Duft von Heu einschlafen, das konnte ich nur auf der Alp.
Zurück in Köln träumte ich von jetzt an groß. Längst ging es mir nicht mehr nur darum, einen Sommer in den Bergen zu verbringen. Nichts weniger als mein ganzes Leben wollte ich umkrempeln! Ich wollte frei sein. Den furchtbaren Job an den Nagel hängen. Ausbrechen. Aufbrechen. Eine Coachingausbildung absolvieren. Auf die Alp gehen. Mich selbstständig machen. Und ganz vielleicht, wenn mir das Älplerleben tatsächlich gefallen würde, wieder auf die Alp gehen. Und wieder. Denn diese Freiheit hätte ich ja dann.
Genau kann ich mir nicht erklären, wie es überhaupt passieren konnte, dass ich in einem Unternehmen gelandet war, das zu null Prozent zu mir passte. Vielleicht lag es daran, dass ich von dem Job davor irgendwann auch nur noch wegwollte und dass meine »weg von«-Motivation damals so viel stärker war als das »hin zu«. Ja, wahrscheinlich hatte ich nicht genug sondiert und mich zu schnell auf die neue Stelle eingelassen.
Ich blickte zurück auf mein Studium, das ich mir als »rasende Reporterin« bei einer Tageszeitung finanziert hatte, auf die Praktika bei Audi, L’Oréal und der Krombacher Brauerei, auf Sommerjobs in Kanada, Australien und der Schweiz und auf elf Jahre Angestelltendasein. Der Zufall hatte es gewollt, dass ich nach dem Studium meinen Anker bei einer Flusskreuzfahrtreederei warf. Ich bezog eine kleine Wohnung in Köln und stürzte mich ins Geld- und Renteverdienen. Ziemlich schnell fand ich Gefallen an meiner Aufgabe, an den Dienstreisen, dem Unterwegssein. Ich lernte an Land und an Bord viele Menschen kennen und wurde immer fleißiger und fleißiger. Bald schon kannte ich keine Feierabende und Wochenenden mehr. Einmal musste mir sogar ein Teil meines Jahresurlaubs ausbezahlt werden, so hatte ich mich in meinem Hamsterrad eingerichtet. Aber ich durfte mich »Marketingleiterin und Pressesprecherin« nennen und einiges von der Welt sehen, an wichtigen Meetings teilnehmen und meine Firma national und international repräsentieren. Aus dem ersten Job, den ich zwei, höchstens drei Jahre hatte ausprobieren wollen, wurde schließlich eine kleine Karriereleiter, die ich über acht Jahre lang beschritt.
Nächste Station: das wunderschöne Hamburg! Nun durfte ich mich um die Vermarktung von Hochseekreuzfahrten kümmern und schipperte für Fotoshootings oder Pressereisen auf Schiffen einer anderen Größenordnung durch die Welt. Dass ausgerechnet während meiner Zeit in Hamburg die Costa Concordia untergehen würde, konnte niemand ahnen. Über Nacht hatte unser Büroalltag mit all seinen Finessen – dem Flurfunk, der Gerüchteküche und der peniblen Regelung der Raucherpausen – keine Bedeutung mehr. Wir rückten eng zusammen und gaben alle gemeinsam unser Äußerstes, um diese schwere Zeit zu bestehen. Es war uns eine Ehrensache, den betroffenen Familien so gut wir konnten beizustehen.
Und dann wieder Köln, das mich lebenslustig-kunterbunt willkommen hieß. In meinem Veedel, dem Eigelstein, ließ ich mich vom Multikulti-Treiben anstecken und wurde Stammkundin im marokkanischen Copyshop, vietnamesischen Restaurant und türkischen Gemüseladen. Meine Innenhofterrasse entwickelte sich an lauen Sommerabenden zum geselligen Hotspot, und ich begann, die Erlebnisse bei Bauer Arnold im Herzen, mein neues Leben aufzubauen, je zäher die Stunden im Büro, desto mehr. Als mein Arbeitgeber den mir gesetzlich zustehenden Bildungsurlaub für die Coachingausbildung ablehnte, war das kein Hindernis, sondern eine Extraportion Öl in mein Feuer.
Natürlich hielt ich an meinen Plänen fest und absolvierte in aller Ruhe und an regulären Urlaubstagen die Ausbildung. Im Winter bewarb ich mich bei Familie Aeby in der Schweiz. Im Frühling 2014 legte ich die Abschlussprüfung der Coachingausbildung ab und kündigte Job, Wohnung und Yogakurs. Und dann ging ich auf die Alp.
»Du brauchst auf jeden Fall einen guten Hut«, rät Stefanie mir noch am Telefon, kurz bevor es losgeht. »Mit einer Mütze hörst du nichts. Du musst die Ohren frei haben. Und Regensachen wirst du brauchen!«
Zum Glück ahne ich noch nicht, wie recht meine neue Chefin mit ihrem letzten Hinweis haben wird, sonst hätte ich womöglich schon kapituliert, bevor es überhaupt losgeht. Ich sitze auf den Umzugskartons in meiner Wohnung am Eigelstein ganz in der Nähe des Kölner Hauptbahnhofs. Vorgestern habe ich ein kleines Abschiedsfest gegeben, und morgen löse ich die Wohnung auf.
Voll ist sie geworden, die Alptasche, obwohl ich nur das Nötigste eingepackt habe. Aber weil ich nicht weiß, wie oft ich für Besorgungen ins Tal kommen werde, nehme ich vorsorglich Lebensnotwendiges wie Wattestäbchen, Kontaktlinsenmittel und Sonnencreme für vier Monate auf Vorrat mit. Gepackt habe ich in drei Chargen: Neben der Tasche für die Alp steht ein Rucksack für die Wandertour bereit, die ich noch mit Kathrin unternehmen möchte, der Rest wird eingemottet.
Dieser Umzug ist nur einer von mehreren in meinem Leben, aber ein ganz besonderer. Denn ich habe keine Ahnung, was der Alpsommer mit mir machen wird. Mein grobes Ziel für danach steht zwar – ich möchte mich selbstständig machen –, aber wo, da wage ich mich nicht festzulegen. Werde ich nach vier Monaten in der Natur wieder Lust auf die Stadt haben? Werde ich dann überhaupt noch Stadt-kompatibel sein? Bleibe ich vielleicht gleich in den Bergen? Nein, die Wohnungsauflösung kommt mir rundherum richtig vor. So bin ich frei in meinen Entscheidungen. Alle Eingebungen, die ich während des Alpsommers haben möge, kann ich so erst einmal willkommen heißen. Ich habe keinen Klotz in Form einer Wohnung am Bein, zu dem ich unbedingt zurückmüsste. Vieles von dem wenigen, was ich besitze, habe ich verkauft und verschenkt, und was übrig ist, passt hoffentlich in ein leeres Kinderzimmer bei meinen Eltern – das wird sich morgen herausstellen.
In ihrer Mittagspause kommt eine Freundin kurz vorbei, und wir trinken auf dem Sofa die letzte Tüte Saft aus. Aufgeregt überlegen wir, wie es wohl sein wird auf der Alp, und wir plaudern über meine Zukunftspläne für danach. »Nach der Alp mach ich mich auf jeden Fall selbstständig. Und wenn das nicht klappt, dann kann ich ja wieder eine Stelle annehmen«, fasse ich zusammen. Zweifel oder Angst habe ich im Moment keine. Denn seit der Coachingausbildung stelle ich mir regelmäßig die Frage, was das Schlimmste ist, das passieren kann. Und das ist im Hinblick auf meine geplante Existenzgründung nun wirklich nicht viel.
In Bezug auf die Alp habe ich mir diese Frage hingegen nicht gestellt. Die vier Monate werde ich durchziehen, komme, was da wolle, auch wenn ich, ehrlich gesagt, mit ziemlich wenig Vorbereitung und Vorwissen z’Bäärg, zu Berg, gehe. Beim Vorstellungsgespräch im Winter haben die Kinder meiner Alpfamilie mir zwar Fotos gezeigt und jede Menge über die Alp Salzmatt erzählt. Aber ein klares Bild vom Leben und Arbeiten dort oben habe ich nicht, und der Hof von Bauer Arnold in Südtirol war ein ganzjährig bewirtschafteter Betrieb und keine Alp, die nur während des Sommers beweidet wird. Aber ich habe beschlossen, dass es so, wie es ist, gut ist. Die vier Monate sind überschaubar. Wenn es hart auf hart kommt, werde ich die Zähne zusammenbeißen können, das weiß ich. Ich will auf die Alp, und dann mache ich es auch. Ich will die Alp als Übergang von meinem alten in mein neues Leben. »Ich finde das so toll, dass du das machst«, bestärkt meine Freundin mich noch einmal zum Abschied. »Das wird bestimmt großartig!«
Am nächsten Morgen beziehe ich um sieben Uhr Position auf der Fensterbank, von wo aus ich die für den Umzug reservierte Parklücke im Auge habe.
Beim Einzug vor anderthalb Jahren war genau das passiert, was man an einem solchen Tag nicht gebrauchen kann: Erst blockierte ein Falschparker in der engen Einbahnstraße die beim Ordnungsamt bestellte Parklücke und dann der Umzugs-Lkw die ganze Straße, bis die Behörden den Falschparker ausfindig gemacht hatten. Das war nicht lustig damals, zumal ich an demselben Tag, als ich morgens in Hamburg auszog, dieses Spiel schon einmal miterlebt hatte.
Schnell gebe ich meinen Beobachterposten auf, springe die Treppen nach unten und stelle mich sicherheitshalber als menschlicher Pylon in die Parklücke. Schreite auf und ab. Schaue nach oben zu meinem alten Zuhause im ersten Stock. Sprinte in die Bäckerei an der Ecke, um Verpflegung für das Umzugsteam zu besorgen. Und da ist es geschehen: Eine fette Limousine hat es sich mitten in meiner Parklücke gemütlich gemacht. Ich schaue auf die Uhr: In sieben Minuten will der Lkw anrücken. Himmel! Und der Himmel schickt sie tatsächlich just in diesem Moment, die schwarzen Engel vom Ordnungsamt der Stadt Köln, denen ich meine Not prompt klage. Sie klappern die Büdchen und Bäckereien in der Nachbarschaft ab und bringen den Parksünder schlussendlich herbei, der mit eingezogenem Schwanz abdüst. Er wird ja nie erfahren, dass meine Umzugshelfer aus Versehen nicht mit dem Lkw, sondern mit dem Sprinter gekommen sind und der Platz fürs Rangieren und Beladen trotz des Parksünders gereicht hätte. »Oh, da haben wir wohl das Falsche erwischt«, begrüßt mich der Fahrer, als ich ihn auf sein kleines Fahrzeug in der großen Parklücke anspreche. »Aber Sie haben doch nicht so viel, oder?«
Schlussendlich passt tatsächlich alles irgendwie, sowohl in den Sprinter als auch in das Haus meiner Eltern im Siegerland. Die letzten drei Tage in der Heimat nutze ich für Besuche bei Freunden und beim Friseur. Und natürlich ist ausgerechnet in der letzten Nacht vor der Abreise Vollmond und kaum an Schlaf zu denken. Samstagmorgen um kurz nach fünf ist es dann so weit: Ich tapse zu Mutti ins Schlafzimmer, lasse mich noch einmal in den Arm nehmen und wecke Papa, der mich zum Bahnhof bringt. Als ich um 5.54 Uhr mit Sack und Pack in den Zug steige, geht die Sonne wie ein weißer Feuerball auf.
Manchmal hat man so eine Ahnung, dass aus einer kleinen Sache etwas Großes wird. Dann wird der Bauch ganz warm, und im Kopf beginnt es zu rauschen. Mir ging es so, als ich die Idee hatte, nicht einfach nur mit Bus und Bahn zur Alp zu reisen, sondern das letzte Stück zu Fuß zu gehen. Als ich bei meinen Recherchen im Internet die Via Alpina entdeckte, tat mein Herz einen Sprung, und ich wusste, ich hatte das Richtige gefunden. Der Fernwanderweg führt auf über fünftausend Kilometern durch acht Alpenländer und über 14 Pässe. Ich tüftelte aus, in Meiringen im östlichen Berner Oberland zu starten und gen Westen bis nach Gstaad zu laufen, das Luftlinie rund zwanzig Kilometer südlich von der Salzmatt liegt. Und das schönste Glück war, dass meine Freundin Kathrin mich begleiten wollte.
In Frankfurt besteigen wir denselben ICE und brausen nach Bern, wo ich mein Alpgepäck deponiere und mir im Swisscom Shop eine Schweizer SIM-Karte besorge. Am späten Nachmittag erreichen wir dann Meiringen und marschieren zu unserer Unterkunft: Ich hatte das Schtibli auf dem Dachboden eines Stalls ergattert und bin von diesem romantischen Start in mein Alpabenteuer ganz begeistert. Fasziniert inspizieren wir alte Milchkannen und verstaubtes Werkzeug, das sich vor unserer Zimmertür stapelt. »Guck mal hier!«, rufen wir uns abwechselnd zu und zeigen uns Fundstücke aus vergangenen Bauernhofzeiten.
Aber jetzt plagt uns nach der langen Reise der Hunger. Das Einzige, das wir uns leisten können, ist ein Döner im Istanbul Imbiss am Bahnhof – für einen zweistelligen Betrag. Pro Portion, versteht sich. Ja, wir sind tatsächlich in der Schweiz angekommen. Radler, das hier Panasch heißt, und Pringles zum Nachtisch sind zwar auch nicht billig, aber notwendig. Auf dem Rückweg zu unserer Herberge taucht die Abendsonne das Haslital in einen goldenen Schimmer, sodass die Ohren der Kühe auf den Weiden nur so leuchten. Voller Spannung und Zuversicht auf das, was kommt, gehe ich zu Bett.
Sieben strenge Wandertage liegen vor uns. Übernachten werden wir in Grindelwald, Lauterbrunnen, auf der Griesalp, in Kandersteg, Adelboden, Lenk und schließlich Gstaad. Gleich am ersten Tag stehen 1.350 Höhenmeter Aufstieg, 23 Kilometer Strecke und acht Stunden Gehzeit auf unserem Plan. Kaiserwetter und auf den letzten Höhenmetern Neuschnee begleiten uns auf unserem Weg über die Große Scheidegg. Die Stirn verbrennt, die Knie schmerzen. Zum Lohn servieren uns am Abend ein paar Schwaben auf dem Balkon unseres Sechserzimmers in der Jugendherberge heimischen Apfelsaft.
Am nächsten Tag haben wir zwanzig Kilometer, siebeneinhalb Stunden Gehzeit und 1.100 Höhenmeter Aufstieg vor uns und machen uns schon früh im Schatten der Eiger Nordwand daran, die Kleine Scheidegg zu erklimmen. Je höher wir kommen, desto mehr plagt uns jedoch der Schnee. Wir versinken teils bis zu den Knien und brauchen doppelt und dreifach Kraft für die letzte Passage. Kathrin kommt als Erste oben an und wird unfreiwillig zum Touri-Star. Als japanische Touristen sie wie aus dem Nichts über die Kuppe kommen sehen, wähnen sie in ihr wohl die nächste Gerlinde Kaltenbrunner und zücken ihre Handys. Auch ich darf noch mit aufs Foto, bevor wir uns mit Cola und Mars belohnen. Doch so langsam wird uns angesichts des vielen Schnees mulmig zumute. Beim Abstieg nach Lauterbrunnen überlegen wir hin und her, wie wir weitermachen wollen. Die nächste Etappe würde uns nämlich quer durchs Gebirge und über einen spektakulären Passübergang, die Sefinenfurgge, führen, und schlafen würden wir nicht in einem Dorf im Tal, sondern in einem Matratzenlager in den Bergen. So leihen wir uns am Abend in Lauterbrunnen Schneeschuhe aus, um wenigstens etwas besser gewappnet zu sein. Aber die Vernunft und die eindringlichen Ratschläge der erfahrenen Touristeninformationsmitarbeiter in Lauterbrunnen und Mürren siegen. Auch in unserem Hostel wird uns eindringlich abgeraten.
»Die Lawinengefahr ist einfach zu groß. Ihr solltet die Sefinenfurgge jetzt mit dem ganzen Neuschnee wirklich nicht überschreiten«, mahnt unsere Herbergsmutter. So schreiben wir unsere Route einfach um, buchen eine zweite Nacht in Lauterbrunnen und besteigen am nächsten Morgen mit den Schneeschuhen das Schilthorn.
Den Berg haben wir ganz für uns allein. Alles um uns herum glitzert und funkelt in frischem Weiß. Vom Inferno-Skirennen im Winter sind bis auf ein paar orange Fangzäune keine Spuren mehr zu sehen, als wir uns die steile Rennstrecke hinaufquälen. Ich kann kaum glauben, dass ich das hier wirklich gerade mache: spontan unter Winterbedingungen das 2.970 Meter hohe Schilthorn besteigen und nebenbei mit meinem Anwalt am Ohr die letzten Dinge in Köln abwickeln. Ja, ich wäre auch allein zu Fuß zur Alp gegangen. Aber ohne Kathrin an meiner Seite hätte ich diese beiden Gipfel niemals geschafft.
Der Schnee beschert uns in den nächsten Tagen weitere Planänderungen. Anstatt quer durch die Berge müssen wir uns um die Berge herum einen Weg bahnen. Die zusätzlichen Kilometer decken wir mit Zug und Postbus ab, bis wir in Adelboden wieder auf unsere Originalroute stoßen. Zwischendurch gewinnen wir sogar Zeit für einen Bummel durch Interlaken, einen Café- und einen Saunabesuch.
Schließlich bringen uns die letzten 21 Kilometer von Lenk zu unserem Ziel Gstaad. Wir checken unser Budget und die Speisekarte und entscheiden, dass wir uns ein Schweizer Käsefondue redlich verdient haben.
Jetzt muss ich mich daran gewöhnen, dass es für mich alleine weitergeht. Muss mich von Kathrin verabschieden, die dabei war, als ich mich in die Berglandwirtschaft verliebt habe und die mich zu Fuß bis nach Gstaad begleitet hat. Bis Bern sitzen wir noch im selben Zug, dann steige ich aus und hole meine Siebensachen aus dem Depot. Ich werde in Bern übernachten, bevor ich morgen zu Aebys weiterreise. Als ich die Zahnradbahn hinunter zur Jugendherberge an der Aare nehme, zittern meine Knie.
Die letzten Stunden vor dem Alpabenteuer will ich meinen Kopf noch einmal durchlüften. Es drängt mich geradezu nach draußen, raus aus dem Schlafsaal, weg von den aufgedrehten Rucksacktouristen. An die Aare sind es nur ein paar Meter. Das berühmte Freibad direkt am Fluss ist bis auf den letzten Platz voll. Jung und Alt genießen Sonne und Wasser und lassen sich in ihrem Vergnügen einfach treiben. ›Ein Freibad wird mich diesen Sommer wohl nicht zu sehen bekommen‹, denke ich mit Blick auf die vier Monate Alp, die vor mir liegen. Und da ich eine Frostbeule bin, wohl auch kein Bergsee. Mich zieht es zur Mauer am Ufer, von wo aus ich die Slackliner beobachten kann, die über die Aare balancieren. Ein paar Schaulustige bestaunen die Wagemutigen. Einer schafft tatsächlich den ganzen Weg vom Einstieg auf der Brücke bis zu mir auf der Mauer am Ufer ohne Sturz, und das obwohl die Aare unter ihm reißt und rauscht. Ich freue mich für den Seilgänger, fühle den Stolz und die Erfüllung, die ich in seinem Gesicht lese.
Jetzt ist ein guter Moment. Ich schlage das Tagebuch auf, das Kathrin mir geschenkt hat. Dieses Buch soll dich während der Zeit deines neuen Lebens auf der Alp begleiten. Füll es für uns mit wundervollen Geschichten