Aus dem Italienischen von Mirjam Bitter

Die italienische Originalausgabe erschien 2017 unter dem Titel Prendiluna bei Feltrinelli Editore in Mailand.

Questo libro è stato tradotto grazie a un contributo per la traduzione assegnato dal Ministero degli Affari Esteri e della Cooperazione Internazionale italiano.

Dieses Buch konnte dank einer Förderung des italienischen Außenministeriums übersetzt werden.

E-Book-Ausgabe 2019
© 2017 Giangiacomo Feltrinelli Editore, Milano
© 2019 für die deutsche Ausgabe:
Verlag Klaus Wagenbach, Emser Straße 40/41, 10719 Berlin
Covergestaltung: Julie August unter Verwendung einer Fotografie © 2011 Fernando Nieto Fotografía / gettyimages.
Datenkonvertierung bei Zeilenwert, Rudolstadt.

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ISBN: 9783803142610
Auch in gedruckter Form erhältlich: 978 3 8031 3314 4

www.wagenbach.de

In Erinnerung an Fausto Mesolella

Die Menschen haben immer die Grenze

zwischen Gut und Böse gesucht,

ohne zu bemerken, dass sie sie bewohnten.

Like a Slow Burn

Leading us on and on and on.

DAVID BOWIE

Wir sind immer etwas freier, als wir glauben.

1 Ariel

Die Alte schaute den Mond an, und er sie.

Sie saß auf der Veranda, und es kam ihr vor, als richtete das Gestirn einen leuchtenden Strahl auf die Wiese, wie einen Scheinwerfer auf eine Bühne.

Sie hörte ein Prasseln, wie wenn dünne Ästchen im Feuer verbrennen. Dann ein Ticken. Es erinnerte sie an irgendetwas …

Ach ja. Das Prasseln kam von den Bögen oder Beinchen beim Stimmen. Das Ticken vom Schlagen des Taktstocks auf die Partitur. Der Orchesterdirigent machte die Musiker darauf aufmerksam, dass es Zeit für die Darbietung war.

Und tatsächlich, einen Augenblick später brach ein Konzert enthusiastischer Grillen los. Sie sangen, als feierten sie irgendetwas. Vielleicht einen Geburtstag. Und für eine Grille ist ein Geburtstag etwas Ernstes, weil sie nur ein Jahr lebt.

Aus der Tiefe der Dunkelheit hallte der Ruf eines Nachtvogels.

Weder Klage noch Freude: ein philosophischer Gesang, ein Zweifel, eine Frage.

Die Alte fühlte sich ein wenig einsam. Die Miezekatzehn waren alle im Wald, und das war seltsam, denn um diese Uhrzeit schliefen sie normalerweise irgendwo im Haus hingefläzt. Aber heute Nacht waren sie nach draußen geeilt, als wollten sie sich verstecken. Die Alte suchte mit ihren Augen das Gras und den Säulengang der Bäume ab.

Sie erwartete, dass jeden Augenblick ein Schatten aus dem Dunkel hervorkäme, ein kleines, grausames Geschenk im Maul, einen toten Maulwurf oder eine zerfetzte Maus. Doch nichts rührte sich.

Sie pfiff nach ihnen. Zur Antwort erhielt sie ein paar wehleidige Töne, die bald darauf zu einem hohen, schmerzerfüllten, hypnotischen Miauen wurden. Wie ein Rosenkranz vor dem Kamin. Janua caeli, Stella matutina, Regina felium. Immer eindringlicher werdend, steigerte es sich zu einem wilden Chor, und ein laues Lüftchen stieg auf …

Da zerkratzte ein schrilles Kreischen die Dunkelheit, als hätte jemand gegen die Nadel eines alten Plattenspielers gestoßen, und gleich darauf senkte sich wieder die Stille herab. Eine unnatürliche Stille, die das Frösteln der Blätter unterbrach, den Marsch der Würmer und das Ächzen der Holzscheite im Feuer.

Plötzlich hörte die Alte ihr Herz schlagen.

So fiel ihr nach langer Zeit auf, dass sie ein Herz besaß, dass sie es all die Jahre beherbergt hatte und es mittlerweile vielleicht etwas abgenutzt war.

Also holte sie tief Luft, um die Frische der Nacht aufzusaugen, die nach Minze und Tau und Grillenatem roch.

Doch ein bläuliches Licht überraschte sie wie eine plötzliche Morgendämmerung.

Vor der Baumkulisse erschien ihr imaginärer Sohn, der in einer Hand eine Lampe, in der anderen den Eimer vom Brunnen trug. Er lächelte und verschwand.

Dann sah die Alte den verwundeten, hinkenden Hirsch wieder, dem sie als Siebenjährige im Wald begegnet war.

Und alle Pilze, die sie in ihrem Leben gesammelt hatte, einen duftenden Haufen.

Und das eine Mal, als sie den Fluss zu Stein hatte werden sehen, die Eisdolche des Wasserfalls.

Und einen riesigen Brotlaib, wohlriechend und warm, der wie ein Raumschiff schwebte, gebacken von ihr, ihrer Mutter, ihrer Großmutter.

Und dieses eine Mal, als ein hungriger Blitz durch den Kamin hereingekommen war und einen Hasen vom Spieß gestohlen hatte.

Und einen schönen, nach Mist riechenden Jungen, der sie in der Fahrerkabine des Mähdreschers geküsst hatte.

Und sie erinnerte sich daran, wie sie als kleines Kind zum ersten Mal den Vollmond gesehen hatte und dabei ertappt wurde, als sie hüpfte und schrie, weil sie ihn packen und herunterziehen wollte.

An jenem lange vergangenen Tag war ihr Spitzname entstanden: Prendiluna, die Mondfängerin.

Dann erinnerte sie sich an einen quietschenden Überlandbus, der auf den Schlaglöchern Samba getanzt hatte, als sie zum Studieren in die Stadt gefahren war.

Und das erste Mal, als sie in der Rolle der Lehrerin die Klasse betreten und beim Anblick jener neugierig und ernst auf sie gerichteten Gesichter phantasiert hatte: Jetzt bringen sie mich um und fressen mich auf.

Und an Herrn von Ribbecks Birnbaum und über allen Gipfeln ist Ruh’ und an den kleinen Schmerz, wenn sie zu Schuljahresende eine Klasse verließ, aber schon stand die nächste vor der Tür.

Schlimme Sache, dieses Rückschauhalten, dachte Frau Prendiluna. Und ihr Herz stolperte zwei oder drei Male.

O meine Kätzchen, ich glaube, ich sterbe.

Mit einem Satz sprang Ariel, der weiße Kater und Sohn der Isis, Stammvater der Miezekatzehn, von einem Baum herunter. Er glänzte durchsichtig wie eine Qualle.

»Acht Tage«, sagte er, »ab morgen früh hast du acht Tage Zeit, um die Welt zu retten.«

»Das verstehe ich nicht«, sagte die Alte, »Ariel, du bist doch schon seit vielen Jahren tot.«

Die Augen des Katers flammten auf.

»Was wisst ihr Menschen schon vom Tod? Hör zu. Du hast acht Tage, wie in den antiken Kalendern. Du musst die Miezekatzehn übergeben, jede an einen würdigen, guten Menschen. Dann bringst du die Liste zum Gütigengott, ich sag dir dann noch, wo. Wenn du diese zehn Menschen findest, ist die Welt gerettet. Wenn nicht, ist alles aus, die Welt wird vernichtet, und diesmal wird es keinen neuen Kohlenstoff oder zurückbleibende DNA geben, Schluss, aus, consummatum est, finished, finito, hatanka, ausmiaut …«

»Ariel … so hast du nie geredet … außerdem, wie soll ich, eine arme Alte im Ruhestand …«

»Nur du kannst die Welt retten. Such’ zehn Irre, zehn Gerechte.«

»Und dann?«

»Dann wirst du sterben«, sagte Ariel und leckte sich eine Pfote.

»Jetzt erkenne ich dich wieder«, lachte die Alte, »du warst immer ein anarchischer, bulimischer und respektloser Kater … du warst mein Liebling und hast das ausgenutzt. Außerdem warst du so sexbesessen, dass du mehr Kinder in die Welt gesetzt hast als ein Schwarm Aale, Don Candido wollte dich exorzieren. Ich sehe dich wirklich nicht in der Rolle des Engels.«

»Wer sagt denn, dass ich ein Engel bin?«, fragte der Kater und löste sich wie ein Feuerwerkskörper in tausend bunte Lichter auf.

2 Klinik Rosengarten

Die Sonne schien ins Sprechzimmer des Psychiaters Doktor Felison, ließ seinen weißen Arztkittel glitzern und tauchte den Schreibtisch und die zwanghafte Symmetrie seiner fünfzig Kugelschreiber darauf in Licht. Der Doktor mit dem Blick einer sanftmütigen Kröte schaute sich gerade die Hieroglyphen auf seinem Handy an. Vor ihm stand ein spinnerter Patient, eingemummelt in einen Schlafanzug, auf dem die Reste von mindestens hundert Mahlzeiten zu sehen waren, einige davon aus dem Mittelalter. Er hatte ein schmales Gesicht mit spitzer Schnauze, saphirfarbene Augen und nazarenerhafte, lange Haare.

Der Spinnerte setzte sich und redete los:

»Herr Doktor, starren Sie nicht weiter auf ihr Smartesfon, sondern hören Sie mir gut zu. Laurel und Hardy sind nicht mehr unter uns und auch David Bowie und Belushi und Totò nicht, und Sie wissen ja, was Salgari für ein schlimmes Ende genommen hat, und auch die schönen Synchronstimmen der amerikanischen Schauspielerinnen gibt es nicht mehr, und die Magnani und Anne Sexton mit ihren grünen Augen und meine Margherita, sagen Sie mir nicht, dass man die ersetzen könnte, Herr Doktor. Es gibt Leute, die beim Einschlafen die Sterne anschauen, aber aus dem Fenster meines Zimmers sehe ich nur eine Wand, und obwohl ich jeden Riss in einen Fluss und jeden Schatten in einen Drachen verwandelt habe, versetzt mich der Anblick in Angst, lassen Sie mich den Mond wiedersehen, ich werde mich nicht in einen Werwolf verwandeln, lassen Sie mich hier raus, please, bedenken Sie die Fakten, ich höre nicht mehr Francas und Darios Lachen, Muhammad Ali ist tot, alles ist vorbei, die Zeitungskioske riechen nicht mehr nach Tinte, und ich spüre den Schauder beim Öffnen von Tütchen und Herausziehen von Sammelbildchen nicht mehr, und ich werde nie mehr freihändig Fahrradfahren und dabei den abendlichen Jasminduft einatmen, von den Beatles sind nur noch zwei übrig und no more Billie & De André, und vielleicht ist sogar Borges tot … Sie und ich, wir lesen verschiedene Bücher, aber es sind fast alles Bücher von Toten, mich rühren Worte von Toten. Sie studieren Worte von Toten, aber auf jeder Seite erblüht Leben, die Flammen des Scheiterhaufens erhellen den Wanderern das Dunkel, und wenn Sie mir zuhören, werden Sie von Ihrer heimlichen Traurigkeit geheilt und ich aus meiner offenkundigen Hölle erlöst, schauen Sie mich nicht so erstaunt an, ich bin nicht wahnsinnig, der Wahnsinn sind die Beipackzettel Ihrer Medikamente und Ihr Starren auf die achtzig Quadratzentimeter große Pfütze, die Sie da malträtieren und auf die Sie Ihre Welt reduziert haben.«

»Dieses Smartphone dient meiner Arbeit, seien Sie nicht albern, Signor Dolcino.«

»Ich meine es ganz ernst, Herr Doktor, ich weiß, dass Sie diesen Ort hier gerne ›Klinik‹ nennen, während ich Irrenhaus dazu sage, ich weiß, dass Sie es lieber haben, wenn ich Sie zum Lachen bringe, etwa wenn ich sage, dass ich gerne alle Kacke, die ich in meinem Leben gemacht habe, auf einmal sehen, den Kackberg besteigen und eine Fahne oben drauf setzen würde, oder wenn ich von mir und der ›tollen Tankwartin‹ erzähle, als wir es im Lastwagen so heftig trieben, dass der den Abhang runterrollte und gegen das Haus des Pfarrers knallte, oder wenn ich von der ›Stille‹ zwischen zwei Noten oder dem ›unsichtbaren Ball‹ rede, aber heute bin ich wahnsinnig ernst und sage Ihnen, dass ich weiß, warum mein Bettnachbar in Zimmer sieben alle zehn Sekunden schreit und wer die rotmähnige Ärztin ist, mit der Sie ein Techtelmechtel haben, und ich weiß auch, dass Sie sich in der Radiologie zwischen Röntgenbildern von Unterleibern und Schädeln ineinander verschlingen, augenblicklich noch lebendige Anatomien zwischen toten Anatomien.«

»Woher wissen Sie das?«, fragte der Doktor und wurde rot.

»Das hat mir Gasperini, der Gärtner, erzählt. Vom Rosengarten aus kann man durch die Fenster reinschauen.«

»Gasperini, der, der aussieht wie Charlie Chaplin? Der Bipolare, der die Blumen beschimpft?«

»Er beschimpft sie nicht, er spornt sie an zu wachsen. Aber machen Sie sich keine Sorgen, Professore, ich werde nichts verraten, und ich will als Gegenleistung auch kein Rigormor oder Morphium oder eine doppelte Portion Kartoffelbrei. Sie müssen mich bloß hier rauslassen, weil ich heute Nacht einen Triotraum hatte und Michael auch und bestimmt noch jemand, und drei identische Träume ergeben eine Prophezeiung.«

»Gut, erzählen Sie ihn mir.«

»Nein, Herr Doktor, genug jetzt mit Ihrem Interpretationsfimmel, Sie leiden an einer schweren Form von obsessiver Versteheritis. Es ist ja schon tagsüber fast unmöglich zu verstehen, was unsere Worte bedeuten – und dann erst in Träumen.«

»Aber Freud hat gesagt …«

»Tatsächlich habe ich letzten Monat ausgerechnet von Freud geträumt. Er war mit Jung in einer Bar in Cesenatico. Man sah sofort, dass sie nicht gut miteinander auskamen, Freud hatte einen Spritz bestellt und Jung eine heiße Schokolade. Unversöhnliche Welten.«

»Und welche Rolle spielten Sie in dem Traum?«

»Ich war der Kellner und fragte: ›Wünschen die Herren noch etwas?‹ Und sie antworteten: ›Ja, wir wünschen uns, dass Doktor Felison aufhört, in unserem Namen den Leuten auf den Sack zu gehen.‹«

»Diesen Traum haben Sie sich gerade ausgedacht. Sie sind heute etwas aggressiv.«

»Wahnsinnig aggressiv, besorgt, verzweifelt. Meine geliebte Lehrerin vom Gymnasium, Frau Prendiluna, muss eine Mission erfüllen, und sie ist die Einzige, die es bis zum Gütigengott schaffen kann, dann können Michael und ich ihn beschimpfen und vielleicht auch ordentlich verprügeln, weil er so möglicherweise ein bisschen Reue zeigt und wir dieser Welt etwas Schmerz nehmen können, ich versichere Ihnen …«

Doktor Felison sah ihn an. Er hatte schon alle möglichen spinnerten Patienten gehabt, aber Dolcino verstörte ihn. Vielleicht hatte Don Candido, der Klinikpfarrer, recht: Er war kein Epileptiker, sondern ein Besessener.

»Beruhigen Sie sich, Dolcino, lassen Sie uns reden. Warum schreit Michael, Ihr Genosse aus Zimmer sieben, ununterbrochen?«

»Uff …«, seufzte der Mann mit einem Blitzen in seinen hellen Augen, »weil er ein Erzengel ist. Haben Sie seine blonden Locken nicht gesehen?«

»Und die Flügel?«

»Die sind gerade in der Reinigung … sie sind weiß, da muss man die hin und wieder saubermachen…«

»Klar«, seufzte der Doktor. »Also, wie lange möchten Sie denn Ausgang haben? Beim letzten Mal haben Sie nur Unheil gestiftet und sind eine Woche weggeblieben.«

»Das Meer war zu schön«, sagte Dolcino, »aber diesmal reichen mir ein paar Tage. Ich finde Prendiluna, lasse mich zum Gütigengott bringen und poliere ihm seine heilige Fresse.«

»Wie soll ich einen rauslassen, der sich mit Gott prügeln will?«

»Warum, haben Sie etwa noch nie daran gedacht? Bei all dem Leid, das Sie gesehen und versucht haben zu heilen, bei all dem Schmerz, den Sie nicht heilen konnten, bei dem bleibenden Bild jenes Jungen, der aus dem Fenster Ihres Sprechzimmers flog, denken Sie nie daran?«

»Ich … ja, ich habe schon daran gedacht … aber ich bin Atheist.«

»Wenn Sie Atheist sind, wieso haben Sie dann schon daran gedacht?«

Der Doktor sah auf den Bildschirm seines Smartenfons in der Hoffnung, dass eine Nachricht oder ein Satz ihn erleuchten möge, aber es erschienen nur dreißig Nonsensenachrichten aus seiner Chatgruppe der Psychiater und Kanufreunde.

»Lassen Sie mir etwas Zeit für meine Entscheidung, Signor Dolcino.«

»Ich kann nicht warten«, sagte Dolcino, »heute Nacht haue ich ab. Wollen wir wetten?«

3 Der freundliche Fahrer

Die Miezekatzehn waren

Hanta der Rote, ein Jäger und sexsüchtiger Kater

Zinken, ein Philosoph und Tarnungskünstler

Sylvia, eine poetisch veranlagte Katze und Akrobatin

Dolores, ein verführerisches Kätzchen mit grauen Augen

Gonzalo, ein jähzorniger, angriffslustiger Riesenkater

Emily, eine an Reiseübelkeit leidende Einzelgängerin
mit weißem Fell

Cronopio, eine dicke Schlafmütze, Sohn des Sancho

Raymond, eine verspielte Nervensäge

Jorge, ein esoterischer Kater mit telepathischen Fähigkeiten
aus dem Geschlecht der Durendals

Prufrock, ein Vielfraß, Überlebender vieler Katastrophen

Von der Bushaltestelle aus sah man in ein verkümmertes Tal. Die niederträchtige Gallwespe und der heimtückische Smog hatten jahrhundertealte Kastanien zu Fall gebracht und Obstgärten erstickt. Doch der goldene, sonnendurchtränkte Nebel war der Gleiche wie viele Jahre zuvor, wie an jenem Morgen, als Prendiluna für ihre erste Stelle als Lehrerin das Haus im Wald verlassen hatte, um in die Stadt zu fahren.

Damals hieß das nützliche Gefährt Überlandbus, war blau, quietschte und hatte knubbelige Sitze. Aus den Tüten der Fahrgäste schauten Hühnerbeine und Käseköpfe heraus. Jetzt hieß es Stadtbus und war ein roter Drache mit Antennen und luxuriösem Inneren in Perlgrau, und es gab sogar eine Steckdose, damit man sein Handy aufladen konnte.

Einst fuhr man von dieser Haltestelle über sieben Serpentinen ins Tal, dann schlängelte sich die Straße kurvenreich zwischen Stille und Kirschbäumen entlang. Jetzt ging alles schneller: Nach einem Kilometer Sturzflug fuhr man auf die Schnellstraße durch die Metroprovinz, jener seltsamen Mischung aus kleinen Häuschen und Lagerhallen, Gemüsegärten und Supermärkten, Tankstellen und Reklameschildern, die den Fortschritt bezeugte. In nur zwei Minuten gelangte man von der Brunnen- und Kaminkultur in die wunderbare Welt der Großstadt. Die alte Dame konnte nicht sagen, ob all das besser oder schlechter war. Vor sechzig Jahren hatte sie mehr Hoffnungen gehabt, allerdings in einem eiskalten Bett geschlafen. Wofür sollte man sich entscheiden, für die Träume oder für eine Heizung?

Eine Amsel flog nah an ihr vorbei und bewegte ihren Schwanz, als wollte sie sie umwerben. Als junge Frau war Prendiluna eine zerzauste Brünette gewesen, die auf dem Fahrrad allen Männern des Orts die Stirn bot. Ihr Hintern war Gegenstand von Kommentaren und Aufmerksamkeiten, und wenn es bergauf ging, fand sie sich seltsamerweise immer an der Spitze des Feldes wieder. Jetzt war sie bucklig und versilbert, aber immer noch eine strahlende herzkranke und abenteuerlustige Siebzigjährige. Der Bus kam, und sie hob eine Hand, um auf sich aufmerksam zu machen, denn das war immer noch ein Bedarfshalt.

Ein freundlicher Fahrer lächelte ihr zu und hielt an.

Prendiluna hatte einen großen Rucksack und einen riesigen Rollkoffer mit vier geheimnisvollen Löchern. Sie trug all ihre Kleider übereinander. Als sie einstieg, musterten die anderen Fahrgäste sie.

»Signora, soll ich Ihren Koffer in den Gepäckraum laden?«

»Nein, danke, ich behalte ihn bei mir … darin ist etwas sehr Wertvolles.«

»Goldbarren?«

»Nein. Acht Katzen à drei Kilo und zwei Riesenkatzen, zusammen also um die fünfunddreißig Kilo«, sagte die Alte.

Der Fahrer lachte.

»Und die bleiben schön brav da drin?«

»Ich habe ihnen falsche Hoffnungen gemacht«, gestand sie, »ich habe behauptet, wir fahren nach Polynesien.«

Aus dem Koffer kam ein vielstimmiges, enttäuschtes Miauen.

»Kopf hoch, meine verehrten Miezen«, sagte der freundliche Fahrer, »die Fahrt dauert nur eine Stunde.«

Er war ein braungebrannter Riese mit Schnauzbart und sprach mit ausländischem Akzent. Ein kirchlich verheiratetes Paar Trumpiane, das ein und dasselbe Hohnlächeln zur Schau trug, als hätten sie nur einen Mund, schaute ihn hasserfüllt an. Der Trumpian zischte:

»Geht’s bald mal weiter?«

»Wir sind hier nicht bei Ihnen zuhause, hier wird gearbeitet, hier werden Fahrpläne eingehalten«, sagte die Trumpine.

Der freundliche Fahrer seufzte und setzte sich ans Steuer. Am Innenspiegel baumelte der Wimpel einer berühmten Fußballmannschaft.

»Jetzt wollen sie uns auch noch den Fußball wegnehmen«, sagte der Trumpian. »Haben Sie keinen verdammten F.C. Lumumba, dem Sie zujubeln können?«

»Hoffen wir mal, dass er wenigstens fahren kann«, sagte sie. »Ausgerechnet einen Negerfahrer mussten wir erwischen!«

»Der ist kein Neger«, behauptete er, »der ist Marokkaner, Tunesier, Jemenit, einer von diesen Terroristensamenschleudern jedenfalls.«

Während seiner Hasstirade hatte er sich beifallheischend Prendiluna zugewandt.

Prendiluna antwortete nicht. Sie setzte den Gesichtsausdruck einer vertrottelten Alten auf.

Prendo il giornale e leggo che

Di giusti al mondo non ce n’è …

Ich greife zur Zeitung, und da les’ ich,

Dass es auf dieser Welt keine Gerechten gibt …

trällerte der Fahrer ein Lied von Adriano Celentano und fuhr fröhlich los.

»Sogar die Lieder nehmen sie uns weg«, zischte die Trumpine.

Aus dem Koffer kam ein schmerzverzerrtes Miauen. Eine der Miezekatzehn, Emily, vertrug das Autofahren nicht. Sie litt an Motorfahrzeugblähungsbeschwerden. Aus einem Loch schaute erst ein verdrehtes blaues Auge hervor, dann ein Schwanzende. Und im Bus verbreitete sich ein starker Geruch nach verwestem Katzenfutter.

Vom Sitzplatz hinter der Alten sagte ein pickeliger Jugendlicher mit Balotelli-Frisur, Totenkopf-Sweatshirt und einer displayphilen kleinen Vampirsfreundin:

»Is da etwa Käse drin?«

»Nein … ich habe meinen Mann umgebracht«, lachte die Alte.

»Cool«, sagte die kleine Vampirin, ohne vom Handy aufzuschauen.

Da musste der freundliche Fahrer das Lenkrad herumreißen, um einem displayphilen Amokfahrer auszuweichen, der in der Kurve Pokémon fing.

»Hören Sie mal, wie heißen Sie überhaupt, kann ja sein, dass ihr bei euch zuhause immer schön geradeaus durch die Wüste fahrt, aber hier gibt es Kurven … entweder Sie fahren anständig, oder wir werden keine Freunde«, sagte der Trumpian.

»Wahrscheinlich hat er nicht mal einen Führerschein«, argwöhnte halblaut die Trumpine.

Der freundliche Fahrer setzte ein plombenstrahlendes Lächeln auf und antwortete warmherzig:

»Mein Name ist Ervad, ich komme aus einem Land mit vielen Bergen und habe einen Führerschein der Klasse D, der vollkommen ausreichend und geeignet für meine Rolle als Automedon ist.«

»Sie klauen uns sogar unsere Kultur«, sagte der Trumpian zähnefletschend.

»Was ist ein Automerdon?«, fragte sie. »Ist das was Ansteckendes?«

Da kam aus dem Koffer Katzenkampfkrawall, soll heißen der Protest der zusammen mit Emily eingepferchten Miezen, weil erstere ihrem Unwohlsein weiterhin gasförmigen Ausdruck verlieh.

Ein Mann mit Schnauzbart und hochrotem Kopf, der noch trumpiger war als das Ehepaar, stand auf und sagte:

»Man darf keine Tiere mit in den Bus nehmen, werstinktdennhierso! Herr Fahrer, verweisen Sie diese …«

»Genau«, sagte eine ebenfalls schnurrbärtige, aber blasse Frau, »man darf Tiere nicht so eng eingepfercht transportieren.«

»Ich bitte um Entschuldigung. Das sind meine Katzen, wir sind gleich da«, antwortete Prendiluna.

Eine talkshowartige Rauferei brach los. Auf der einen Seite die Tierschützer, auf der anderen die mit Katzenphobie und die Trumpiane, in verschiedenen Abstufungen von Empörung bis Wut und auch mit abweichenden Vorschlägen.

»Jagen wir sie zum Fenster raus!«

»Arme Kätzchen!«

»Wir sind arm dran, nicht die Kätzchen!«

»Besser eine stinkende Katze als ein parfümierter Mann!«

»Sie sind still, Sie Veganerin, Sie!«

»Ich schlage vor«, sagte ein junger Mediator, »dass die Dame im Bus bleibt, aber nach hinten geht, und wir uns nach vorne setzen.«

»Ich schlage vor«, sagte die Trumpine, »die Alte in den Graben zu werfen.«

»Und den Fahrer gleich mit«, sagte der Trumpian, »ich fahre.«

Zum Glück erwies sich der freundliche Fahrer als streng und zugleich konstruktiv:

»Meine Damen und Herren«, sagte er, »auch wenn ich die verschiedenen Meinungen und legitimen Abneigungen respektiere, muss ich Ihnen doch mitteilen, dass ich keine Lösungen akzeptiere, die auf eine Abschiebung hinauslaufen, in diesem Bus habe ich die Verantwortung und das Kommando. Ich nehme den Koffer zu mir, öffne das Fenster und bitte Sie um Geduld, das Ziel ist nur wenige Minuten entfernt, und ich bin sicher, dass diese kleine Unannehmlichkeit auszuhalten ist. Wir bedanken uns für Ihre Reise mit der Autobuslinie Fastbus Ervad und würden uns freuen, Sie bald wieder als unsere Fahrgäste begrüßen zu dürfen.«

»Einen Scheiß werd’ ich«, sagte der hochrote Supertrump, »ich lass mich doch nicht von einem Asylanten herumkommandieren. Ich werde Beschwerde einlegen und lass Sie nach Hause zu den Kamelen zurückschicken.«

»Rassist«, rief die kleine Vampirin.

»Ich polier dir gleich die Fresse mit deinen ganzen Piersings, du Junkie«, sagte der Supertrump versöhnlich.

Fast wäre die nächste Rauferei losgebrochen, doch Prendiluna, gewohnt im Umgang mit undisziplinierten Klassen, baute sich mit ihren Ein-Meter-Vierundsechzig auf und rief:

»Wenn ihr nicht aufhört, mache ich den Koffer auf. Habt ihr schon mal zehn stinkwütende, eingeschlossene Katzen gesehen?«

»Freiheit für die Katzen!«, rief die Schnauzbärtige.

»Katzen ins Ragout«, krakeelte eine Stimme von hinten.

»Die siamesischen Katzen nehmen den italienischen Katzen die Arbeit weg«, knurrte ein Trumpelstilz.

Zum Glück waren sie angekommen.

Im Garten des Busbahnhofs ließ Frau Prendiluna die Katzen raus, darauf folgte allseits festliche Pollakisurie. Emily erholte sich wieder, indem sie hundert Gramm städtischen Klee fraß. Sylvia verfolgte einen Schmetterling. Gonzalo putzte sich die Eier.

»Was für süße Kätzchen«, sagte der freundliche Fahrer. »Aber passen Sie auf, wenn Sie sie frei herumlaufen lassen, sonst kriegen Sie noch eine Geldstrafe.«

»Das wird eine harte Reise mit diesem Riesenkoffer«, seufzte Frau Prendiluna, »danke, dass Sie mich verteidigt haben.«

»Wissen Sie, aus wie vielen Lastwagen ich rausgeworfen wurde und unter welchen Bedingungen ich gereist bin? Und doch bin ich hier. Und wenn solche Sachen passieren, wenn ich beschimpft oder schlecht behandelt werde, denke ich an die, denen es schlechter ergangen ist als mir.«

»Ich verstehe«, sagte Prendiluna und stieß ihren Ultraschallpfiff aus, um die Miezekatzehn zusammenzurufen. »Haben Sie nie Sehnsucht nach Ihrem Heimatland?«

»Doch, sehr oft sogar. Die Leute denken, wir hätten nichts zurückgelassen. Krieg und Bomben, klar, aber auch Landschaften, Freunde, Musik, Essensdüfte und den Geruch der Nacht. Aber jetzt bin ich hier, und dieser Beruf gefällt mir. Ich mag die Leute, ich mag es, in den Himmel zu schauen und keine Angst zu haben, wenn ein Flugzeug vorbeifliegt. Und was die Arschlöcher betrifft, übe ich mich in Geduld. Und es gefällt mir wahnsinnig gut, dieses Riesenkamel mit fünfzig Sitzplätzen zu lenken.«

»Das sieht man … Sie sind immer fröhlich.«

»Nicht immer. Was machen Sie eigentlich mit all den Katzen?«

»Ich muss sie eine nach der anderen an zehn Gerechte verteilen, um die Welt zu retten.«

Der freundliche Fahrer kratzte sich am Kopf.

»Sie nehmen mich auf den Arm, oder? Außerdem, woran erkennt man einen Gerechten denn?«

»Beichten Sie mir das Schlimmste, was Sie je getan haben.«

Ervad schien nicht überrascht. Er war an Verhöre gewöhnt.

»Das schaffe ich nicht …«

»Bitte, sagen Sie es mir.«

Er sagte es ihr.

»Es war zu Beginn der Reise, die mich hierher gebracht hat. Es gab nur noch einen freien Platz in einem Auto, das die Wüste durchqueren sollte, und da war ein arroganter Landsmann, der raufsteigen wollte – ich habe ihn runtergeschubst. Wer weiß, was aus ihm geworden ist. Ich sehe die Szene immer noch vor mir, wie er im Licht der Scheinwerfer schreit, während wir uns entfernen.«

»Wie ich’s mir dachte. Ein Gerechter ist nie durchweg gut, jeder von uns hat ein Verbrechen begangen«, sagte Prendiluna. »Also, suchen Sie sich eine Katze aus …«

»Das kann ich mir nicht erlauben, obwohl … meine Frau würde sich freuen.«

»Machen Sie Ihrer Frau ein Geschenk. Werden Sie zum reichen Miezenbesitzer. Denken Sie, es sei Allahs Wille.«

»Ich bin Zoroastrier.«

»Dann Zorros Wille.«

Ervad musterte die Katzen, fast alle waren schon wieder in den Koffer gehüpft.

»Mir gefällt der Pummelige mit den Stampfern. Für uns liegt die Schönheit im Überfluss. Ist er ruhig?«

»Er schläft 23 Stunden am Tag, manchmal schafft er es sogar, im Schlaf zu fressen.«

»Den nehme ich.«

»Er heißt Cronopio. Cronopio, willst du bei dem Herrn hier leben?«

»Claro que sí …«

»Ihr werdet euch gut miteinander verstehen.«

»Mag er Döner?«

»Er ist in der Lage, daran hochzuklettern und ihn direkt vom Spieß zu fressen.«

4 Die Flucht

Nach eingehenden Studien kann ich sagen, dass es verschiedene Arten prophetischer Träume gibt.

Beim ersten, dem Protraum, kommt dir ein nahestehender Mensch zuhilfe, um dir die Lottozahlen vorzusagen oder dich bei deiner Haarfarbe zu beraten oder dir den Namen von jemandem zu nennen, der in dich verliebt ist. Doch das ist nicht immer zuverlässig, weil sich die Traumolche einmischen, freche Geister, die die Träume verseuchen, und nachher stimmen dann die Zahlen nicht, die Haarfarbe ist scheußlich, und der Mensch, der in dich verliebt sein sollte, sagt: »Du und ich? Du träumst wohl!«

Beim zweiten (Zwitraum) träumen zwei Menschen voneinander, aber mit unterschiedlicher Handlung. Zum Beispiel träumt der Ehemann, dass seine Frau ihn mit seinem besten Freund betrügt, während die Ehefrau träumt, dass ihr Mann sie mit seinem besten Freund betrügt. Er hat keine prophetische Bedeutung, sondern eine alarmierende, und führt fast immer zu Streitereien.

Dann gibt es noch den Triotraum. Drei Menschen träumen einen zu neunundneunzig Prozent identischen Traum. In diesen Fällen enthält der Traum allemal einen Hinweis und eine Prophezeiung.

Des Weiteren existieren Polyträume, die Panträume Silberer und der Matrjoschkatraum. Aber die erforsche ich noch, und ich träume davon, sie zu entziffern, sobald ich aus dem Irrenhaus raus bin.

CORNELIUS NOON, Buch der Traumlabyrinthe

Petra, die steinharte und strenge Pflegerin, schwankte auf Zwölf-Zentimeter-Absätzen und schob dabei einen Wagen, aus dem es nach massakrierten Kartoffeln und Suppenhuhn roch.

Auf alles gefasst, betrat sie Zimmer sieben. Doch dort herrschte große Stille. Der Erzengel Michael lag mit seinem blütenweißen Unterhemd und seiner Ein-Meter-Vierundneunzig-Würde auf dem Bett. Ehepartnergleich an seiner Seite ausgestreckt, las Gasperini, der Gärtner, ein altes Micky-Maus-Heft. Auf dem Bett am Fenster saß Dolcino, wie üblich in Unterhose, die an diesem Abend von einer mutmaßlichen Erektion leicht ausgebeult war.

Durch die Luft wehte die Folge einer leicht diagnostizierbaren Hyperhidrosis plantaris beziehungsweise ein heftiger Gestank nach Schweißfüßen. Und der Gesang eines Spülkastens verriet, dass sich jemand im Klo eingeschlossen hatte.

»Vier Leute in einem Zweibettzimmer«, sagte die Pflegerin. »Ihr wisst, dass das nicht erlaubt ist.«

»Wir leisten uns Gesellschaft«, sagte Michael und heulte mit hundertundsechs Dezibel.

»Bitte, Michael, Sie hatten mir versprochen, dass Sie mit dem Geheul aufhören, wenn ich das Essen bringe«, sagte Petra.

»Ihretwegen werde ich nur alle zwei Minuten schreien. Der Gütigegott soll wissen, dass wir stinkwütend sind …«

Petra schaute ihn halb erschrocken, halb fasziniert an. Michael hatte sehr lange Wimpern und entrückt wirkende Augen, sodass er aussah, als hätte er sich mit Kajal geschminkt. Es war schwierig, seinem Blick standzuhalten.

»Kommt schon, benehmt euch«, machte die Pflegerin es kurz. »Heute gibt es Suppenhuhn und Kartoffelpüree … Gasperini Giacinto, gehen Sie zurück auf Ihr Zimmer.«

Gasperini entfernte sich im Charlie-Chaplin-Gang und las dabei weiter.

»Signora Petra, darf ich Pürpüree haben … soll heißen eine doppelte Portion Kartoffelbrei?«, fragte Dolcino.

»Zuerst ziehen Sie sich mal anständig an … was ist da in Ihrer Unterhose los?«

»Nichts, was nicht menschlich wäre …«

»Genug jetzt, Dolcino. Wer ist auf dem Klo?«

Die Frage wurde sogleich beantwortet. Zebu kam heraus, hundertsechzehn Kilo Paranoia, und er steuerte sofort auf die Titten der Pflegerin zu.

»Passen Sie auf, sonst verpasse ich Ihnen eine noch schlimmere Ohrfeige als gestern«, sagte Petra. »Was wollten Sie da drin? Haben Sie kein eigenes Bad?«

»Das hier ist besser, die Kloschüssel wackelt nicht, außerdem flutscht alles besser, wenn ich mich dabei mit Freunden unterhalte. Wissen Sie, ich leide an …«

»Natürlich weiß ich das, ich gebe Ihnen ja Ihre Medikamente«, sagte die steinharte Petra. »Und jetzt raus hier.«

Sie lächelte Dolcino zu, der ihr Lieblingspatient war, und machte zwei Teller fertig, für ihn und für Michael.

»Das ist kein Kartoffelpüree … das sind bedrückte Kartoffeln«, murrte Michael. »Wer hat heute gekocht?«

»Der sedierte Bulgare.«

»Der Bulgare kann nicht einmal Suppennudeln kochen. Hier gab es einst zwei große Köche, Signora Amalia und Gennaro, den Hitzkopf. Danach habt ihr eure drei Sterne verloren.«

»Mir schmeckt es, danke Petra«, sagte Dolcino. »Könnte ich silvuplä einen Henkelmann haben, um etwas von diesem vorzüglichen Federvieh zu beherbergen?«

»Einen Henkelmann? Und was wollt ihr damit?«

»Heute Nacht hauen wir ab«, sagte Dolcino.

Michael trompetete wie ein Elefant.

»Entschuldigen Sie, Petra«, sagte er, »das war nicht für den Gütigengott bestimmt. Das war ein Freuden- und Befreiungsschrei.«

Prächtige Schenkel offenbarend, setzte sich die Pflegerin auf die Bettkante.

»Signor Dolcino, ich bitte Sie, hauen Sie nicht schon wieder ab. Sie wurden schon zweimal wieder eingefangen, und dann muss ich Sie wieder mit Beruhigungsmitteln vollpumpen, Rammdoeserol, Rigormor und so weiter. Ich möchte Sie nicht zum Zombie machen. Sie sind gebildet, Sie erzählen mir immer diese schönen Geschichten über Cornelius Noon und über die weder guten noch bösen griechischen Götter.«

»Ernsthafte Gottheiten«, sagte Dolcino, »die keine Angst davor hatten, sich als rachsüchtiges Aas zu zeigen, während der Gütigegott …«

»Er hat mich verjagt, weil ich ihn kritisiert habe«, rief Michael aus. »Ich habe zu ihm gesagt: ›Wieso lässt sich einer, der Wale erschaffen kann, bloß dazu herab, zweitausend verschiedene Typen Tumore zu erfinden?‹«

»Fangt nicht wieder mit der Gotteslästerei an …«

»Petra, Sie sind ein lieber Mensch. Wir haben Sie lieb. Ehrlich. Sie spielen zwar die Harte, aber wir wissen, dass Sie uns nie verraten würden. Ich bitte Sie, helfen Sie uns. Wir wissen, wie wir den Gütigengott finden, diesmal erwischen wir ihn …«

»Uff«, seufzte Petra. »Ich stelle zwar keine Diagnosen, aber ich habe schon seit einer Weile mit euch zu tun: Ihr seid besessene Gotteslästerer. Von welchem Gott sprecht ihr? Ich bin nicht gläubig, aber meine Mutter ist katholisch, meine Freundin Fatima ist Muslima, mein Onkel sagt, dass er an die große Yoni glaubt, Doktor Falavigna spielt den Buddhisten, beim Chefarzt aus der Neurologie weiß ich nicht, was er ist, aber in seinem Sprechzimmer hat er ein Porträt von Padre Pio und eins von Gandhi.«

»Gott ist eine Vorstellung, eine Idee«, sagte Dolcino. »Wir Menschen haben sie geschaffen, also können wir auch die Vorstellung erschaffen, dass Gott alles falsch gemacht hat, dass er sich versteckt, dass wir protestieren können, wenn wir ihn finden.«

»Und ihm eine Tracht Prügel versetzen!«, schrie Michael. »Sie werden bemerkt haben, dass ich das ganz sachlich und ohne zu schreien gesagt habe.«

»Eine Idee kann man nicht verprügeln.«

»Kann man wohl, und wie …«, sagte Dolcino. »Die Geschichte ist voller zusammengeschlagener Ideen mit blauen Flecken.«

»Das ist unsere Chance«, sagte der Erzengel. »Wir haben beide von unserer alten Gymnasiallehrerin geträumt, die bald ein Treffen mit dem Gütigengott hat, wir brauchen sie nur zu finden. Erst muss sie ihre Katzen unterbringen, um die Apokalypse zu verhindern, danach können wir endlich …«

»Wollt ihr mich dazu zwingen, den Doktor zu rufen?«, seufzte Petra und presste die Hände gegen den Kopf.

Dolcino kniete nieder:

»O Petra, Heilige unter den Frauen, du, die du mich mit Morphium beruhigtest und mir die Gallenblase reguliertest, du, die du bei mir warst, als ich die Ruhigstellung verließ und dein Erbarmen spürte, du, die du mit Schlaftabletten dealst, aber selbst die Schlimmsten und Gewalttätigsten unter uns lieb hast, du, die du nach Rosen und Kartoffelpüree duftest, du Mutter und Hure unserer Träume, ich bitte dich … lass ein Fenster offen, im ›Flur der toten Chefärzte‹ … heute Nacht …«

»Wollt ihr, dass ich rausfliege?«

»Wenn wir den Gütigengott finden«, sagte der Erzengel, »werden wir Sie in den höchsten Tönen loben. Was wären Sie denn gerne? Showgirl, Zahntechnikerin, Apothekerin?«

»Mich wickelt ihr nicht um den Finger. Das Pürpüree wird kalt.«

Dolcino tat so, als wäre er sehr wütend, schnellte auf die Pflegerin zu und zeigte mit dem Finger auf sie:

»Wenn Sie uns nicht helfen, werden wir allen erzählen, dass Sie perverse Pflegerin Doktor Felison mit ihren Blowjobs ins Jenseits befördern.«

»Unterstehen Sie sich!«

»Das wissen doch alle