Inhalt

Einleitung

Kapitel 1 – Wer kann von einer PTBS betroffen sein?

Kapitel 2 – Die Ursprünge der PTBS

Trauma ist nicht gleich Trauma

Ein sehr verbreitetes Krankheitsbild

Ein Krankheitsbild mit vielen Ursachen

Eine viel zu selten gestellte Diagnose: Warum?

Kapitel 3 – Die drei möglichen Reaktionen auf ein traumatisches Ereignis

Angriff und Flucht

Die Schockstarre

Auch emotional erstarrt man

Die PTBS „abschütteln“?

Kapitel 4 – Akuter Stress muss von der PTBS abgegrenzt werden

Die Entspannungsphase

Die Phase der „Pseudo-Ruhe nach dem Sturm“

Die Symptome des akuten Stresszustands

Kapitel 5 – Nach dem Trauma: die Rolle der verschiedenen Helfergruppen

Die Wut, eine verschwiegene Emotion

Helfergruppen und PTBS-Prävention

Kapitel 6 – Was die Diagnose PTBS bedeutet

Symptome und Kriterien beim Erwachsenen

Einzelheiten zu den verschiedenen Symptomen

Andere Folgen einer posttraumatischen Reaktion

Die Symptome einer PTBS bei Kindern und Jugendlichen

Kapitel 7 – Behandlungsmethoden, um eine PTBS zu überwinden

Die materialistische Theorie

Diverse Therapieansätze zur Behandlung der PTBS auf Basis der materialistischen Theorie

Die Grenzen der Ansätze, die auf der materialistischen Theorie basieren

Andere Ansätze zur Behandlung der PTBS

Kapitel 8 – Zwei Konzepte des Phänomens Krankheit

Krankheit als „Verhängnis“

Krankheit als „Nachricht“

Zwei Konzepte des Phänomens Krankheit – zwei verschiedene Ansätze zur Behandlung der PTBS

Die Vorteile eines globalen, ganzheitlichen oder integrativen Verständnisses der PTBS

Was wir von der Quantenphysik lernen können

Was wir von der Epigenetik lernen können

Kapitel 9 – Die OGE-Methode: „Die Umkehr des EGO“

Das OGE-Konzept

Die OGE-Methode

Kapitel 10 – Die richtige Begleitung

Wer kann einen Menschen behandeln, der an einer PTBS leidet?

Die Bedeutung des Umfelds der Opfer

Zwei Beispiele für eine Begleitung mithilfe der OGE-Methode

Schlussfolgerung

Das OGE-Seminare zur „Umkehr des EGO“

Anmerkungen

Weitere Veröffentlichungen des Autors

Stichwortverzeichnis

Für meine Kinder Marie, Cécile und Laurent
und für meine Enkelkinder Romane, Germain,
Maelys, Léane und Héloïse

Einleitung

Bereits in meiner Autobiografie1 habe ich erzählt, dass ich an einer Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) gelitten habe, und zwar nach verschiedenen Erlebnissen im Rahmen meiner beruflichen Tätigkeit. Mit diesem Buch wollte ich die Aufmerksamkeit darauf lenken, dass man auch als Mediziner und sogar Chirurg sehr wohl davon betroffen sein kann. Und natürlich darauf, dass Heilung möglich ist.

Millionen Menschen auf der ganzen Welt leiden an diesem Krankheitsbild. Leider sind aber die heutigen Behandlungsmethoden nicht sehr wirksam. Sie helfen den von einer PTBS Betroffenen höchstens dabei, irgendwie durchzukommen. Die Symptome, welche die Diagnose rechtfertigen, bleiben aber weiter bestehen. Manche werden vielleicht ein bisschen schwächer. Aber allzu häufig bleiben sie oder werden mithilfe pharmazeutischer Mittel unterdrückt. Die Medikamente machen das Leben zwar leichter, bringen den Opfern aber keine wirkliche Heilung.

Die PTBS wird von der breiten Öffentlichkeit unterschätzt: Ein Mensch hat nach einem oder mehreren traumatischen Erlebnissen womöglich seelische Wunden davongetragen, aber die werden mit der Zeit sicher weniger oder verschwinden ganz. Mit ein bisschen gutem Willen oder Ausdauer wird der- oder diejenige schon wieder auf die Beine kommen, das Ganze abhaken oder sich damit „arrangieren“, um, so gut es geht, klarzukommen. So denken viele. Sogar die Opfer teilen diese Überzeugung, denn auch wenn sie davon sprechen, was ihnen widerfahren ist und woran sie leiden, merken sie doch sehr schnell, dass es besser ist zu schweigen, alles für sich zu behalten und sich so zu geben, dass alle in ihrer Umgebung beruhigt sind. Ganz zu schweigen von den Millionen, die sich einfach nur schämen und gar nicht erst davon reden wollen, was ihnen zugestoßen ist …

Und der breiten Öffentlichkeit gefällt es gar nicht, wenn man sie mit der Realität konfrontiert, denn das rüttelt an der Illusion, die sie sich gern von unserer Gesellschaft macht. Bestimmte Medien schließen sich dem nur zu gern an und tragen so dazu bei, den Leidensdruck einer erschreckend großen Zahl von Opfern zu bagatellisieren.

Bei der Benennung der Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) herrscht eine gewisse Schwammigkeit. So werden in der Literatur oft auch andere Bezeichnungen verwendet wie PTBR (Posttraumatische Belastungsreaktion), PTSS (Posttraumatisches Stresssyndrom) oder auch das englische PTSD (posttraumatic stress disorder). In diesem Buch bleiben wir bei dem Ausdruck PTBS, der auch von der Weltgesundheitsorganisation WHO (vgl. ICD 10 F43.1) verwendet wird und die aktuellste Bezeichnung ist.

Die PTBS wird erst seit relativ kurzer Zeit von der Ärzteschaft anerkannt. Zum ersten Mal sprach man bei amerikanischen Veteranen, die am Vietnamkrieg (1965–1975) teilgenommen hatten, davon. Die Vereinigung amerikanischer Psychiater (APA – American Psychiatric Association) hat diese Störung erstmals 1994 in den DSM-IV aufgenommen und sie dabei den Angststörungen zugeordnet. Erst 2013 hat eben diese Vereinigung die PTBS als eigenständiges Krankheitsbild anerkannt und als solches in die jüngste Ausgabe des Diagnostischen und Statistischen Manuals Psychischer Störungen DSM-5® aufgenommen.

Die Symptome der Betroffenen sind schon lange bekannt und können einzeln mehr oder weniger wirksam behandelt werden. Im Fall einer traumatisierten Person, welche all diese Symptome zeigt, erweisen sich diese Behandlungsmethoden jedoch als unwirksam. Dann kann es zu Teildiagnosen kommen, weil man sich auf einzelne statt auf alle Symptome stützt, oder schlimmer noch zu Fehldiagnosen. Diese ziehen dann Behandlungen nach sich, die entweder völlig ungeeignet sind oder nur auf die Linderung eines einzelnen Symptoms abzielen. Diese Behandlungen gehen oft an der wahren Ursache der Leiden vorbei: dem schmerzlichen Erlebnis des Traumas.

Einen weiteren Punkt gilt es hervorzuheben: Eine PTBS tritt häufig bei Menschen auf, die sogenannte Risikoberufe ausüben, also bei Soldaten, Polizisten, Gefängniswärtern, Feuerwehrleuten, Notärzten, Rettungssanitätern, Lokführern, Mitarbeitern von Hilfsorganisationen, Sozialarbeitern, Menschen also, die üble Geschichten erleben oder zu hören bekommen. Aber auch Richter, Rechtsanwälte, Staatsanwälte, Gerichtsschreiber und viele andere sind davon betroffen. Diese Tatsache wird immer noch viel zu häufig kleingeredet, hauptsächlich natürlich von den Vorgesetzten und dem System selbst, aber auch von den Betroffenen.

Meist begnügt man sich damit anzuerkennen, dass die PTBS existiert, um dann festzustellen, dass sie statistisch gesehen selten ist. Und Angestellten, die sich darauf berufen wollen, stellt man natürlich diverse Hilfsangebote und Krisengespräche in Aussicht. Auch wenn manche Führungskräfte sehr wohl das Ausmaß des Problems und der daraus resultierenden Kosten für die Allgemeinheit erkennen, scheint man in den oberen Etagen die Konsequenzen nicht hinnehmen zu wollen. Diese sind Öffentlichkeitsarbeit und Prävention oder auch die Unterstützung betroffener Angestellter, damit sie von den Beschwerden geheilt werden können, die durch traumatische Ereignisse im Rahmen ihrer Arbeit ausgelöst wurden. In solchen beruflichen Milieus herrscht oft das Gesetz des Schweigens. Es trägt in hohem Maße dazu bei, dass die PTBS auch weiterhin belastend bleibt.

Jetzt ist die Zeit gekommen, klar aufzuzeigen, was mit einer PTBS gemeint ist, Anzeichen derselben sowie die Therapien zu beschreiben, die derzeit verfügbar sind, wobei auch ihre Wirksamkeit zu beurteilen ist.

Vor allem aber soll eine Behandlungsmethode vorgestellt werden, die sich seit dreißig Jahren bewährt hat. Sie ist aus dem selbst Erlebten hervorgegangen, denn ich habe alles getan, um von dieser Störung geheilt zu werden, statt nur irgendwie weiterzumachen und mich mit ihr zu arrangieren.

Auf den folgenden Seiten werde ich gelegentlich Kommentare einstreuen, die auf meinen persönlichen Erfahrungen beruhen, aber auch auf den Erfahrungen, die ich mit allen Patienten machen konnte, die ich in den letzten dreißig Jahren begleitet habe.

Erster Teil

Die PTBS
als Krankheit

Kapitel 1

Wer kann von einer PTBS betroffen sein?

Auf den folgenden Seiten stelle ich verschiedene Fälle vor. Es handelt sich um Patienten, die ich im Rahmen meiner beruflichen Tätigkeit getroffen habe. Sie zeigen, dass ein Trauma plötzlich und recht brutal im Alltag entstehen kann, und dass die Verbindung zwischen demselben und dem Leidensdruck allzu oft leider nicht hergestellt wird. Die Folge sind Fehldiagnosen und ungeeignete oder nutzlose Behandlungen. Ich verzichte absichtlich auf das Beispiel eines Soldaten, der an einer PTBS leidet, denn mein Ziel ist es zu zeigen, dass nicht nur Soldaten von Traumata betroffen sein können.

Nicole, 24, Einzelhandelskauffrau

Nicole sucht mich auf, weil sie schon immer „ein echter Hasenfuß“ war. Man hat bei ihr eine schwere Angststörung und daraus folgende Aufmerksamkeitsdefizite diagnostiziert. Seit vier Jahren ist sie bei einem Psychiater und einer Psychologin in Behandlung. Sie findet aber, dass es nicht schnell genug vorangeht. Außerdem möchte sie die Angstlöser nicht weiter einnehmen, die sie seit sechs Jahren täglich schluckt. Ich frage sie, was vor sechs Jahren passiert ist, damit ihr ein Arzt solche Medikamente verschreibt. Sie antwortet mir, sie habe zu dieser Zeit eine Beziehung mit einem zwei Jahre älteren Mann geführt, der verbal übergriffig gewesen sei. Sie hatte Angst, „dass das schlimmer wird“, und beendete die Beziehung eilig. Seither hat Nicole fast monatlich eine Blasenentzündung. Trotz allerlei Untersuchungen vonseiten ihres Arztes ist die Ursache dafür immer noch unbekannt. Anzumerken ist, dass sie schon seit der Kindheit wiederholt Blasenentzündungen hatte. Als Kind litt sie auch häufig an Mittelohrentzündungen, was die Einnahme von Antibiotika erforderlich machte. Seit dem achten Lebensjahr hatte sie jedoch keine mehr.

Nicole liebt ihren Beruf, auch wenn sie nicht vorhat, ihn ein Leben lang auszuüben. Sie hat „solche Angst davor, in einer neuen Umgebung zu arbeiten, dass sie sich im Moment nicht vorstellen kann zu wechseln“. Sie macht eine kognitive Verhaltenstherapie, um ihre Angst in den Griff zu bekommen, was ihr im Alltag auch hilft. Doch durch jede Abweichung von der Routine verliert sie die Fassung: Sie fühlt sich dann wie gelähmt und zieht sich sofort zurück, damit die anderen nicht mitbekommen, was für eine Angst sie hat. Sie ist sich ihres Kontrollzwangs bewusst, genau wie der Tatsache, dass sie keine Improvisation erträgt. Das macht natürlich jede Spontaneität zunichte. Sie hat den Eindruck, das Leben zu verpassen, erkennt aber, „dass das im Moment immer noch besser ist als alles, was sie bis dahin durchgemacht hat“. Sie möchte die Medikamente auch nicht für immer nehmen.

Seit der Beziehung, die Nicole vor sechs Jahren beendet hat, weigert sie sich, eine neue einzugehen. Sie denkt ziemlich oft an die damals erlittene verbale Gewalt. Manchmal träumt sie sogar davon. Es ist ihr sogar passiert, dass sie sich bei Filmszenen, die sie an ihre Erlebnisse erinnern, so schlecht fühlte, dass sie den Fernseher ausschalten oder das Kino verlassen musste. Seitdem geht sie nicht mehr ins Kino und achtet genau auf den Inhalt der Filme, die sie im Fernsehen anschauen möchte: Es darf keine Gewalt darin vorkommen. Von Zeit zu Zeit hat sie Geschlechtsverkehr mit Männern, die sie anschließend aber nicht wiedersehen möchte. Laut eigener Aussage ist sie mit ihrem Sexualleben zufrieden, und es gab weder eine Vergewaltigung noch andere Übergriffe in der Vergangenheit.

Bei ihren nächsten Besuchen erzählt Nicole mir, dass sie nach der Scheidung ihrer Eltern, als sie vier war, bei ihrer Mutter und ihrem Stiefvater gelebt hat. Letzteren hasste sie, weil er zu verbaler Gewalt neigte und sie sehr oft bestrafte, indem er sie in ihrem Zimmer einschloss. Diese Strafen konnten mehrere Stunden dauern, einmal war sie sogar zwei ganze Tage eingesperrt. Anfangs brüllte sie in ihrem Zimmer, lernte dann aber, sich ruhig zu verhalten, da ihr Gebrüll die Bestrafung um mehrere Stunden verlängerte. Brachte man ihr in dieser Zeit etwas zu essen, hatte sie ihrem Stiefvater oder ihrer Mutter zu danken.

Mittelohr- und Blasenentzündungen sowie die Angstzustände sind nur die Folge der Störung, an der Nicole seit ihrer Kindheit leidet. Nicole hat eine PTBS.

Pierre, 37, Maurer

Pierre kommt in meine Sprechstunde, weil er seit zwei Jahren starke Schmerzen im Bereich der Lendenwirbelsäule hat. Das schränkt ihn in seiner Arbeit sehr ein. Er ist selbstständig und mag, was er tut. Nach einer viermonatigen Unterbrechung will er wieder arbeiten, doch die Schmerzen sind immer noch da, obwohl er Physiotherapie gemacht und einen Osteopathen aufgesucht hat. Alle denkbaren Untersuchungen sind veranlasst worden. Es liegen weder Verletzungen noch ein Bandscheibenvorfall vor. Die Schmerzen sind aufgetaucht, nachdem Pierre in einer Villa gearbeitet hat, in der er neue Innenwände hatte einziehen sollen. „Diese Baustelle war schlimm für mich, weil ich mich die ganze Zeit eingeschlossen fühlte und den Eindruck hatte zu ersticken“, sagt er mir.

Bei unserem nächsten Termin vertraut Pierre mir an, dass er seit dem Alter von sechs Jahren unter Klaustrophobie leide. Das Ganze fing nach einem Erdbeben in seinem Heimatdorf an. Er war damals einen Tag und eine Nacht in den Trümmern seines Zimmers eingeschlossen gewesen, das halb eingestürzt und voller Schutt gewesen war. Gegen Ende hatte er Mühe gehabt zu atmen, aber er konnte rechtzeitig gerettet werden. Sein Bruder, der im Nachbarzimmer eingeschlossen gewesen war, hatte nicht so viel Glück gehabt. Er war gestorben, genau wie sein Onkel väterlicherseits.

Seitdem hat Pierre dauerhaft Schuldgefühle, weil er überlebt hat, während sein Bruder gestorben ist. Er erträgt es nicht, in einem geschlossenen Raum eingesperrt zu sein. Er kann zwar Auto fahren, aber nicht in einem Flugzeug oder einem Zug reisen. Das beeinträchtigt ihn deutlich in seinem Privatleben, und manchmal auch im Berufsleben. „Ich hab mich halt damit abgefunden“, sagt er. Er kann in einer eigenen Wohnung leben, hat aber nicht geheiratet und ist Single. Das Schuldbewusstsein und die durchlebten Emotionen hat er für sich behalten und nie Hilfe gesucht. Zum einen hat er dazu keine Zeit, zum anderen denkt er, dass man ohnehin nichts machen kann.

Die Klaustrophobie und die Kreuzschmerzen, die Pierre so einschränken, sind lediglich Symptome und Folgen. In Wahrheit leidet Pierre an einer PTBS.

Fanny, 22, Krankenschwester

Bei einer feuchtfröhlichen Feier flirtet Fanny mit einem Mann, der sie anschließend mit zu sich nimmt. Sie weigert sich, mit ihm zu schlafen, er aber zwingt sie. Den Geschlechtsakt erlebt sie wie losgelöst, als ob ihr Körper nicht zu ihr gehöre.

Die Ereignisse liegen jetzt sechs Monate zurück. Seither durchlebt Fanny immer wieder Szenen aus ihrer Kindheit, in denen ihr betrunkener Vater nachts in ihr Zimmer kommt, um sie unsittlich zu berühren. „Ich hatte all das verdrängt, aber jetzt habe ich immer Albträume und schrecke aus dem Schlaf hoch.“

Seit dem Abend mit ihrem Vergewaltiger versetzt die Vorstellung, mit einem Mann intim zu werden, sie in Panik und widert sie an, obwohl sie bis dahin keinerlei Probleme mit ihrem Liebesleben gehabt hatte. Sie erträgt den alkoholgeschwängerten Atem anderer nicht mehr. Das löst bei ihr „eigenartige Gefühle“ aus, als sähe sie sich selbst „von außen, deformiert und total leblos“. In solchen Augenblicken hat sie Schweißausbrüche, zittert und durchleidet schreckliche Angst. Sie verfällt in Panik, weil sie nicht versteht, warum die Erlebnisse mit ihrem Vater wieder an die Oberfläche drängen: Sie hat ihm vor zwei Jahren verziehen, als er im Sterben lag. Schon seit zehn Jahren hatte sie nicht mehr daran gedacht.

Fanny hat eilig einen Psychiater aufgesucht, und bei ihr wurde eine psychotische Persönlichkeit diagnostiziert. Gleichzeitig wurde ihr ein Medikament verschrieben. Sie ist völlig aufgelöst und spürt intuitiv, dass sie an etwas anderem leidet und dass die Medikamente und die angeordnete Therapie nicht das Richtige sind.

Trotz der Diagnose des Psychiaters ist Fanny nicht psychotisch. Sie leidet an einer PTBS.

Marie, 52, Reinigungskraft

Vor zwei Jahren wurde Marie beim Überqueren der Straße vor ihrem Haus von einem Auto angefahren. Dabei brach sie sich den rechten Oberschenkel und musste sich eine Metallplatte einsetzen lassen. Die Operation verlief ohne Komplikationen, und sie geht seit achtzehn Monaten wieder ganz normal.

Seit Verlassen des Krankenhauses verfällt Marie jedes Mal in Panik, wenn sie aus dem Haus geht oder zurückkommt. Das Gefühl verfliegt, sobald sie den Hausflur betritt oder sich vom Haus entfernt. Sie hat wiederkehrende Albträume, in denen sie das Auto sieht, das sie angefahren hat. Die Erinnerungen werden mit der Zeit auch nicht schwächer, ganz im Gegenteil. Sie ist deprimiert, hat jede Spontaneität verloren und möchte manchmal einfach nicht mehr leben, obwohl die Geburt eines Enkels sie auch sehr glücklich macht. Sie versteht sich gut mit ihrem Mann, doch ihre Libido ist erloschen. Sie bricht häufig in Tränen aus, und ihre Nerven liegen blank, was für die Menschen um sie herum mehr und mehr zur Belastung wird. Der Arzt, den sie aufgesucht hat, hat ihr erklärt, dass sie allmählich in die Wechseljahre komme und deshalb diese Symptome habe. Depressionen seien häufig Teil dieser Phase. Er hat ihr ein leichtes Antidepressivum verschrieben, das sie seit sechs Monaten gewissenhaft einnimmt, das aber nicht zu wirken scheint.

Die anstehenden Wechseljahre haben nichts mit den depressiven Symptomen zu tun, die Marie bedrücken. Sie leidet vielmehr an einer PTBS.

Paul, 38, Polizist

Paul ist seit achtzehn Jahren Polizist. Er sucht mich auf, weil er laut Diagnose seines Kardiologen an Bluthochdruck leidet. Paul möchte keine Medikamente einnehmen, weil er findet, dass er dafür zu jung ist. Er fragt mich, ob es nicht eine andere Lösung gibt. Vor drei Jahren wurde bei ihm ein Bandscheibenvorfall im Lendenwirbelbereich operiert. Ansonsten sei er bei ausgezeichneter Gesundheit, befindet er: Er macht regelmäßig Sport, um körperlich fit zu bleiben, was in seinem Beruf sehr wichtig ist. Er achtet auf seine Ernährung und kennt keine Abhängigkeiten. Seit sieben Jahren ist Paul liiert, und einmal abgesehen von einigen Seitensprüngen sei die Beziehung stabil, „auch wenn es natürlich nicht mehr die große Verliebtheit der Anfangszeit ist“. Seine fünfjährige Tochter hat eine ernsthafte Erkrankung, für deren Behandlung sie jeden Monat eine Woche ins Krankenhaus muss. Als ich ihn frage, was er angesichts all dessen empfindet, ist seine Antwort folgende: „Wissen Sie, bei all dem, was ich in meinem Beruf erlebe, habe ich mir angewöhnt, nicht so viel zu empfinden, ich nehm das so hin.“ Dieser Satz, den er so kühl und distanziert von sich gibt, macht mich stutzig.

Paul liebt seinen Beruf, auch wenn es „manchmal schwierig ist. Aber je weiter man kommt und je mehr Erfahrung man hat, desto besser erträgt man es.“ Ich frage ihn, was er nach solch schwierigen Momenten macht, und er sagt mir, er gehe laufen, weil er sich dabei abreagieren könne. Sowieso müsse er unbedingt regelmäßig laufen gehen, sonst sei er zu nervös und raste „zu Hause völlig aus“. Befördert werden möchte er auch nicht, denn: „Dazu müsste ich den politischen Hickhack mitmachen oder die ganze Vetternwirtschaft, und das ist nicht mein Ding.“ Er wartet auf die Rente, die er in zwölf bis fünfzehn Jahren beantragen könne.

Ich frage ihn, ob es denn vorkomme, dass er an die schwierigen Situationen zurückdenkt, die er durchlebt hat. Er sagt mir, dass er manchmal Albträume habe im Zusammenhang mit einem Vorfall vor einigen Jahren, bei dem ein Mann, der im Auto eingeklemmt gewesen war, vor seinen Augen verstorben ist. Auch andere Erlebnisse gehen ihm von Zeit zu Zeit durch den Kopf. Er versteht nicht recht, warum genau diese und nicht andere, aber er vertreibt sie sofort, „um nicht mehr daran denken zu müssen“. Nach gewissen beruflichen Einsätzen fallen ihm auch manchmal vergleichbare Szenen ein. Dann wird er nervös, schwitzt stark und muss einen Moment lang pausieren, bevor er weiterarbeiten kann. Diese Vorfälle dauern bis zu einer halben Stunde. Sie hinterlassen bei ihm das seltsame Gefühl, sich selbst zuzusehen: „als schwebte ich über den Dingen und wäre mein eigener Zuschauer“.

Spricht Paul mit jemandem in seinem Umfeld darüber? „Ja, ich habe mit einem Kollegen darüber gesprochen, mit dem ich eng befreundet bin, und das hat mich beruhigt, weil er gesagt hat, dass ihm das auch passiert.“ Er schiebt es auf den Stress bei der Arbeit, die Müdigkeit und die Tatsache, dass es ihm manchmal eben nicht so gut gehe und er dann nicht so widerstandsfähig sei. Sieht er einen Zusammenhang mit den körperlichen Problemen, die er hat? „Vielleicht gibt es einen Zusammenhang, aber ehrlich gesagt wüsste ich nicht, welchen.“

Pauls Bluthochdruck und die Bandscheibenoperation sind nur Folgen dessen, was ihn wirklich quält, und das schon seit Langem. Paul leidet an einer PTBS. Und es kann gut sein, dass es auch dem befreundeten Polizisten so geht.

Josette, 45, Lehrerin

Mitten im Unterricht wurde Josette von einem Schüler angegriffen. Nachdem sie ihn zurechtgewiesen hatte, weil er so laut gewesen war, hatte er sie als „Drecksschlampe“ bezeichnet, war auf sie zugekommen und hatte versucht, sie zu würgen. Josette war stumm und wie erstarrt stehen geblieben, und nur dank anderer Schüler, die dazwischen gegangen waren und den Angreifer zurückgehalten hatten, hatte sie befreit werden können. Der Angreifer hatte ihr noch gedroht und ihr zugeraunt, dass er sie sowieso „kaltmachen“ würde.

Der Zwischenfall liegt etwa ein Jahr zurück. Josette findet, dass ihre Vorgesetzten sie nur wenig unterstützt haben, nachdem sie Anzeige gegen den Schüler erstattet hatte. Sie waren bemüht gewesen, den Vorfall unter den Teppich zu kehren. Der Schüler wurde zwar für eine Woche vom Unterricht ausgeschlossen und musste eine schriftliche Entschuldigung vorlegen, doch bedrohte er sie noch zwei Wochen lang nach Schulschluss, ohne dass etwas unternommen wurde, um ihn daran zu hindern. Schließlich ließ sie sich auf eigenen Wunsch an eine andere Einrichtung versetzen.

Josette sucht mich auf, weil sie seit diesem Vorfall an Schlaflosigkeit leidet, demotiviert und von der Arbeit sehr erschöpft ist. Sie hat jedes sexuelle Interesse verloren, was die Beziehung zu ihrem Mann erschwert, der ihr plötzliches Desinteresse nicht versteht. Vor zwei Monaten wurde sie von ihrem Hausarzt krankgeschrieben. Er hatte ein Burn-out diagnostiziert. Seither nimmt sie Antidepressiva und Schlafmittel. Dennoch hat sie auch weiterhin Albträume, in denen sie von Männern angegriffen wird, hat keine Lust zu arbeiten, sieht ihre Zukunft in einer Sackgasse, weiß nicht, was sie eigentlich möchte, und erlebt Augenblicke, in denen sie des Lebens überdrüssig ist. Sie meidet das Viertel, in dem ihre ehemalige Schule liegt, aus Angst, dort auf ihren Angreifer oder Mitglieder seiner Clique zu treffen. Wenn sie nach draußen geht, hat sie Angst, ihm zu begegnen. Deshalb verbringt sie viel Zeit in der Zurückgezogenheit ihres Hauses, obwohl sie vor dem Zwischenfall viel unterwegs war.

Josette hat kein Burn-out, sondern schlicht und einfach eine PTBS.

Pierre, 33, Rechtsanwalt

Pierre ist Anwalt. Er wurde als Pflichtverteidiger für einen Dreizehnjährigen bestellt, der wiederholt von vier Klassenkameraden gemobbt und gequält worden war. Das ging so weit, dass sie ihn geschlagen, vergewaltigt und erniedrigt hatten. Die Eltern des Jugendlichen hatten Klage eingereicht, und Pierre entdeckte „eine Welt, von der er keine Ahnung hatte und die ihn schwer schockierte, so abartig fand er sie“.

Die Vorfälle liegen drei Jahre zurück, der Prozess endete mit der Verurteilung der vier Peiniger.

Pierre sucht mich auf, weil er sich seit dem Ende des Prozesses erschöpft fühlt, zur Nervosität neigt und mehr trinkt als üblich, um sich zu entspannen. Er denkt sehr häufig daran, was der Jugendliche durchmachen musste, den er verteidigt hat. Manchmal passiert es ihm sogar, dass er „alles noch einmal durchlebt, als wäre es ihm selbst zugestoßen, obwohl er genau weiß, dass es nicht ihm passiert ist“. Wenn das eintritt, fragt er sich, ob er nicht verrückt ist. Gespräche über Gewalt erträgt er nicht mehr, und er schaut auch keine Nachrichten mehr im Fernsehen. Pierre macht sich Sorgen und fragt sich, ob er nicht eine schwere Depression durchmacht, auch wenn er die Gründe dafür nicht versteht, denn in jeder Hinsicht ist sein Leben angenehm und geordnet.

Depressionen haben nichts mit Pierres Problemen zu tun. Er leidet an einer PTBS.

Liliane, 37, Buchhalterin

Seit sechs Monaten fühlt Liliane sich alles andere als gut. Sie ist körperlich und nervlich am Ende, ist deprimiert, sehr reizbar, liegt oft wach und hat große Probleme, überhaupt einzuschlafen. Sie spürt, dass sie nicht mehr in der Lage ist, sich um ihre zwei Kinder zu kümmern und ihre Rolle als Ehefrau auszufüllen. Das macht sie sehr traurig. Sie leidet unter Angstzuständen: So fällt es ihr zum Beispiel sehr schwer, nach draußen zu gehen, Leute zu treffen oder eine Vorführung zu besuchen. Sie spürt, dass sie sich immer mehr zurückzieht, keine Lust mehr auf einen Austausch mit ihren Freundinnen hat und großen Zorn empfindet, sobald sie mit ihren besorgten Eltern spricht. Sie versteht nicht, was mit ihr passiert, und fragt sich, ob sie nicht allmählich „durchdreht“. Liliane hat ihren Hausarzt aufgesucht, der sie vor zwei Monaten krankgeschrieben und ihr geraten hat, ein Antidepressivum einzunehmen. Trotz der Behandlung sieht sie keinerlei Besserung ihres Zustands, im Gegenteil.

Nach einem Sturz zu Hause war Liliane vor sechs Monaten im Krankenhaus, wo ihr rechtes Handgelenk eingegipst wurde. Sie war nur ganz kurz dort. Sie fand es so unerträglich, dass sie schon am Morgen nach ihrer Einweisung darum bat, nach Hause zu dürfen. Sie hielt es nicht aus, in der Einrichtung zu bleiben, denn es erinnerte sie an einen Krankenhausaufenthalt, den sie im Alter von vier Jahren aufgrund eines Oberschenkelbruchs erlebt hatte. Damals hatte man ihr einen Gips verpasst, der das ganze Bein und ihr Becken bedeckte. Sie hatte drei Monate im Krankenhaus verbringen müssen, was viele Unannehmlichkeiten mit sich gebracht hatte, vor allem die Trennung von ihren Eltern und ihrem Bruder. Das kleine Mädchen, das sie damals war, langweilte sich schrecklich. Obwohl sie meinte, diese schwierige Zeit vergessen zu haben, sind die schlechten Erinnerungen zurückgekommen, als sie wegen des Handgelenks kurz im Krankenhaus war.

Seit Verlassen des Krankenhauses versetzt allein der Anblick des Gipsverbandes Liliane in heftige Panik. Sobald sie versucht einzuschlafen, tauchen vor ihren inneren Augen Szenen des Krankenhausaufenthaltes von damals auf. Sie hat Albträume davon, und manchmal passiert es, dass sie wach wird und sich selbst wie von außen betrachtet. Dann hat sie das Gefühl, ihr Handgelenk wahrzunehmen, „als sei es nicht mehr Teil von ihr“. Das ist jetzt vier Mal passiert, was sie zu der Frage treibt: Wird sie jetzt verrückt? Sie hat lieber niemandem davon erzählt, weil man sie ja für „durchgeknallt“ halten könnte. Auch mit ihrem Hausarzt hat sie nicht darüber gesprochen, weil sie Angst hat, er würde sie nicht verstehen.

Liliane ist weder verrückt noch depressiv: Sie leidet an einer PTBS.

Yves, 35, Banker

Vor acht Jahren hat Yves, der in der Schweiz lebt, eine Amerikanerin geheiratet. Zwei Jahre später haben sie ihren gemeinsamen Sohn bekommen. Auch wenn Yves zugibt, dass er damals sehr in die Arbeit vertieft und mit den vielen Geschäftsreisen mehr als beschäftigt war, lief doch alles gut in seinem Leben. Dennoch wurde die Beziehung mit der Zeit immer angespannter. Seine Frau warf ihm vor, zu viel an seine Arbeit zu denken und sich nicht genug Zeit für sie und den Sohn zu nehmen. Vor vier Jahren reisten Frau und Kind zum Sommerbeginn nach Kalifornien und kehrten nie zurück. Yves bekam nur eine E-Mail von seiner Frau, in der sie ihm mitteilte, dass sie nicht in die Schweiz zurückkehren werde, da sie sich scheiden lassen wolle. Um Kontakt zu ihr aufzunehmen, musste er einen Anwalt einschalten. Von heute auf morgen war es für Yves unmöglich geworden, mit seiner Frau zu sprechen und seinen Sohn zu sehen, der damals zweieinhalb Jahre alt war.

Yves hat unter Zuhilfenahme aller rechtlichen Mittel auf legalem Weg versucht, das Recht auf ein Wiedersehen mit seinem Sohn zu bekommen. Er ist viele Male nach Kalifornien gereist, um eine Entspannung herbeizuführen, und hat sich bei diesem Kampf, der immer noch andauert, völlig verausgabt. Es besteht keinerlei Hoffnung darauf, dass sich die Lage bessert. Vor einem halben Jahr konnte er seinen Sohn wiedersehen, der vom Vater seiner Ex-Frau begleitet wurde. Diese hatte in der Zwischenzeit ein neues Leben begonnen. Das Treffen dauerte knapp eine Stunde. Danach war Yves völlig verzweifelt, da sein Sohn ihn nicht einmal erkannt hat. Auch wenn er die Situation intellektuell nachvollziehen kann, trifft das in emotionaler Hinsicht nicht zu: Es gelingt ihm einfach nicht, das Vorgefallene zu akzeptieren.

Nach dieser Reise wurde Yves allmählich klar, dass er den Kampf verloren hat. Er versank in „heftigen Depressionen“, was ihn dazu veranlasste, einen Psychiater zurate zu ziehen, bei dem er seither in Therapie ist und der ihm ein Antidepressivum und Schlafmittel verschrieben hat. Derselbe hat ihm auch unlängst mitgeteilt, dass es aufgrund der „Symptome einer Depersonalisierung“ („Ich bin da und doch nicht da, ich bin bei Ihnen und doch woanders“) und seiner Vermeidungshaltung sein könne, dass er eine Borderline-Störung habe oder bipolar sei.

Yves hat diese Diagnose nicht einfach hingenommen. Zu mir sagt er, dass er sich weder in psychischer Hinsicht instabil fühle noch irgendeine Persönlichkeit x oder y habe, sondern einfach erschöpft sei von all dem, was er seit der Entführung seines Sohnes durch seine Frau durchgemacht habe.

Yves hat weder eine Borderline-Störung noch ist er bipolar; er leidet an einer PTBS.

Diese wenigen Beispiele, die aus meiner über dreißig Jahre währenden Tätigkeit als Allgemeinmediziner stammen, geben einen Einblick in die vielfältigen Ursachen, die zu einer PTBS führen können. Sie zeigen aber auch die zahlreichen Facetten der Symptome. Jeder kann von einer PTBS betroffen sein, unabhängig von Geschlecht, Herkunft, Kultur und Vorgeschichte. Man muss nicht beim Militär sein oder ein Kriegstrauma haben, um an einer PTBS zu leiden. Man muss auch nicht geschwächt oder von anderen spezifischen Traumata betroffen sein. Die Beispiele erklären auch eine der großen Schwierigkeiten, mit denen die Betroffenen zurechtkommen müssen: die mangelnden Kenntnisse der Ärzteschaft über diese vielgestaltige und komplexe Krankheit.