Über Martin Simons

Martin Simons, 1973 geboren, lebt mit seiner Familie in Berlin. Er hat Rechtswissenschaft studiert und ist Autor und Herausgeber mehrerer Bücher.

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»Martin Simons hat den Bericht eines Jahres geschrieben, das mit einer Blutung im Kopf beginnt und mit einem geheilten Herzen endet. Dazwischen liegt fast ein ganzes Leben.« Dirk von Lowtzow.

An einem grauen Dezembernachmittag entgleitet Martin Simons mitten auf der Straße die Kontrolle über seinen Körper. Statt Weihnachten mit seiner jungen Familie zu verbringen, findet er sich auf der Intensivstation eines Krankenhauses wieder: Jederzeit kann der Finger aus Blut auf seinem Ausschalter, wie eine Ärztin es formuliert, sein Leben beenden. Während die Ärzte nach Gründen für die Hirnblutung suchen, geraten die inneren Kontinente des Erzählers in Bewegung. Der Beginn einer persönlichen Wandlung.

In poetischer Dichte und großer Klarheit erzählt Martin Simons vom menschlichen Ausnahmezustand.

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Martin Simons

Jetzt noch nicht, aber irgendwann schon

Roman

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Zitierte Werke

Impressum

Für Teresa

Diese Aufzeichnungen beruhen auf tatsächlichen Ereignissen – und auf einer doppelten Übersetzung: von Erfahrung zu Erinnerung und von Erinnerung zum Schreiben.

1

Es gibt ein Bild, das mir mit vier oder fünf Jahren zum ersten Mal in den Sinn kam. Ich hatte gerade eine Ahnung entwickelt, was es heißt, von Vater und Mutter abzustammen, und versuchte mir auszumalen, was wäre, hätten mich andere Eltern gezeugt, eine andere Frau geboren. Wäre ich dann noch ich oder ein anderer? Die Erinnerung an das Bild steht mir bis heute so klar vor Augen wie ein kurzer Film. Ich sehe mein ungeborenes Ich als eine schwach leuchtende Kugel, die sich langsam der Erde nähert. Dann ändert sich die Perspektive, und ich tauche unterhalb der hellen Welt in den dunklen Tiefen eines überfrorenen Wassers. Es ist dort weder kalt noch nass. Unzählige Schatten wimmeln über mir. Als ich mich der Oberfläche nähere, erweist sich das vermeintliche Eis als eine Art Membran, ich gelange hindurch – zu meinen Eltern. Nach der Logik dieser Bilder haben meine Eltern mich nicht hervorgebracht, sondern bloß bei sich aufgenommen. Mich gab es schon vorher.

Es liegt nahe, dies als die von Comicheften beeinflusste Fantasie eines kleinen Jungen abzutun. Ist nicht Kal-El von Krypton in einem kugelähnlichen Raumschiff zur Erde und in die Obhut seiner irdischen Familie gelangt, um später Superman zu werden? Gleichwohl wurde dieses Bild von der schwach leuchtenden Kugel auf dem Weg zur Erde mein persönlicher Gründungsmythos, dem ich vermutlich einige innere Unabhängigkeit verdanke. Mit den Jahren und spätestens seit ich Vater wurde, habe ich allerdings überhaupt nicht mehr daran gedacht – bis ich einen Freund zum Mittagessen traf.

Er ist Regisseur, steckte in der Vorbereitung seines neuen Films und berichtete von seinen Selbstversenkungen mithilfe der Transzendentalen Meditation, von denen er sich einen Kreativitätsschub erhoffte. Neue Ideen erwähnte mein Freund dann bei einer Flasche Wein zwar nicht, aber Zustände, in denen er sich von außen als eine Art schwach glimmenden Kometen sehen konnte, der in einem Raum ohne Ausdehnung seine Bahnen zog. Das erinnerte mich an mein lang verblasstes Kindheitsbild, und ich bat meinen Freund, mir die Grundzüge der Meditation zu erklären.

Die Transzendentale Meditation läuft im Wesentlichen darauf hinaus, die eigenen Gedanken zum Schweigen zu bringen, um bei Bewusstsein ins Unbewusste einzutauchen. Vier Monate lang setzte ich mich morgens und nachmittags auf einen Stuhl, schloss für zwanzig Minuten die Augen, wartete auf den ersten Gedanken und ersetzte ihn (und jeden weiteren) durch das innerliche Hersagen eines Mantras, das ich auf einer einschlägigen Webseite gefunden hatte. Dabei erfuhr ich, Gedanken sind überhaupt nicht schwerelos und flüchtig, sondern im Gegenteil gleichsam hart und stofflich. Sie kamen mir wie Felsbrocken vor, die ich mit dem Vorschlaghammer des stetig wiederholten Mantras zertrümmern musste. Die wenigen Male, die es mir gelang, erlebte ich, was Esoteriker wohl das Meditative Schweben nennen. Sobald mein letzter Gedanke zu feinem Staub zerbröselte und kein anderer an seine Stelle trat, war es, als fiele ich hinterrücks durch eine durchlässige Wand in einen dem Weltall ähnlichen Raum, in dem keine Grenzen existierten, schon gar nicht meine eigenen. Für Sekunden strömte ich in ozeanischen Gefühlen. Mein Herz schlug hoch, und vielleicht deshalb hatte ich manchmal den halb bewussten Verdacht, mein rauschgleicher Zustand könnte auch bloß mit dem Anstieg meines Blutdrucks zu erklären sein.

Auch am Nachmittag des 19. Dezember 2017 schloss ich die Augen und versuchte, die durchlässige Wand in meinem Innern zu durchdringen. Doch ich war unkonzentriert, in Gedanken noch bei einem Text, zu dem mir ein Einfall kam, den ich keinesfalls vergessen wollte. Ich brach die Übung ab und klappte meinen Laptop auf. In nur drei Sätzen vertippte ich mich viele Dutzend Mal. Beim Versuch, die Fehler zu korrigieren, machte ich es nur schlimmer. Ich war irritiert, vermutete Erschöpfung und hoffte, etwas frische Luft würde mir guttun.

Auf dem Weg zum Park betrat ich einen Spätkauf, um mir, obwohl ich nicht mehr rauchte, Zigaretten zu kaufen. Ein Freund feierte am Abend in einer Bar Geburtstag und ich freute mich darauf, endlich einmal wieder nachts um drei an einem Tresen zu lehnen und ein weiteres Glas zu bestellen. Seit der Geburt unseres Sohnes ging ich kaum noch aus. Als ich das Päckchen bezahlen wollte, fielen mir die Münzen aus der Hand. Ich wollte sie aufsammeln, hatte aber Probleme, sie mit den Fingern zu greifen. Ich spürte die Blicke der Verkäuferin. Ambulanzen mit brüllenden Sirenen rauschten vorbei. Ich fühlte mich so hilflos wie noch nie in meinem Leben als Erwachsener. Selbst in meinen betrunkensten Momenten hatte ich mehr Kontrolle über meinen Körper gehabt. Der Schreck darüber war wie ein harter Anstoß und gab mir für den Augenblick genug Kraft, die Münzen mit links in das dafür vorgesehene Schälchen zu bugsieren. Ich verzichtete auf Wechselgeld.

Auf der Straße hoffte ich noch einen Moment lang, mein seltsames Unwohlsein würde einfach vorübergehen. Doch ich bemerkte in mir eine Unruhe, die anders war als alles, was ich je empfunden hatte, totaler, bedrohlicher. Ich wusste sogleich, ich würde die dringend benötigten Windeln nicht mehr besorgen. Dabei war ich nur Schritte von der Drogerie entfernt.

2

Als Fürst Andrej im Schlachtgetümmel von Austerlitz plötzlich die Beine einknicken, wendet sich sein Blick buchstäblich von allem irdischen Gezerre ab und dem unermesslich hohen Himmel zu. Er fragt sich, wie es nur zugehen konnte, dass er ihn bislang immer übersehen hat. An der Schwelle zum Tod ist Tolstois Held glücklich, diesen Himmel doch noch kennenzulernen.

An diese Szene aus Krieg und Frieden musste ich denken, als ich, umgeben von Junkies und Prostituierten, in den Abgasen einer der meistbefahrenen Straßen Deutschlands stand und wusste, etwas war mit mir nicht in Ordnung. Auch meine Beine konnten jeden Moment wegknicken, und worüber wäre ich dann in meinen letzten Augenblicken glücklich? Darüber, in den grauen, niedrigen, versmogten Himmel über Berlin starren zu können, während Passanten, die mich in dieser Gegend für ein Drogenopfer halten mussten, achtlos an mir vorbeiliefen? Die Vorstellung schien alles zusammenzufassen, was in meinem Leben falsch war. Vorsichtig, als bewegte ich mich auf ungeheuer dünnem Eis, machte ich mich auf den Heimweg.

Ich habe heute nur eine vage Erinnerung daran, wie ich zurück in unsere Wohnung kam. Ich weiß von Teresa, meiner Frau, wie fahrig und verwirrt ich auf sie wirkte, unfähig, zu sagen, was mit mir los war, nur dass etwas mit mir los war, konnte sie mir sogleich ansehen. Sie drängte mich, einen Arzt aufzusuchen.

Bei meinem Hausarzt erreichte ich bloß das Band, also packte ich vorsorglich – mein linker Arm funktionierte eigentlich wieder normal, nur meinen rechten wagte ich noch nicht zu benutzen – eine Reisetasche und ließ mich im Taxi ins Krankenhaus fahren.

In der Notaufnahme winkte man mich, nachdem ich wirr meine Symptome geschildert hatte, auf der Stelle an den vielen vor mir Wartenden vorbei zu einem Arzt durch, der mich auf einem Bein stehen, seine Hände drücken und das Eindrehen von Glühlampen simulieren ließ. Er runzelte die Stirn, legte mir einen venösen Zugang am Handrücken und ordnete eine sofortige Verlegung per Ambulanz zu den Spezialisten ins Krankenhaus Neukölln an. Ich durfte nicht mal mehr die wenigen Schritte zur Transportbahre gehen. Zwei Sanitäter trugen sie herbei und hievten mich darauf. Sie fuhren mich mit eingeschaltetem Martinshorn. Ich weiß noch, wie übertrieben mir das vorkam.

In Neukölln fertigte man umgehend eine Computertomografie meines Kopfes an. Ich wartete seltsam sorglos auf das Ergebnis, den Wahlspruch eines Freundes im Sinn, nach dem es nichts zu verlieren, nur zu erfahren gibt. Im Grunde fühlte ich in diesem Moment noch immer wie als Kind und hielt mich, obwohl ich es besser wusste, für unsterblich.

Nach einer Weile tauchte eine junge, völlig abgespannte Ärztin auf und erklärte, bei mir sei eine Hirnblutung in einem sensiblen Zentralbereich aufgetreten. Ich nahm das hin, als ginge es mich nichts an. Sie wartete ungeduldig, ob ich etwas sagen würde. Nach einer Weile kam mir eine Frage in den Sinn, aber da war sie schon halb aus der Tür hinaus und rief mir bloß noch zu, ich solle mich von allen Weihnachtsplänen verabschieden.

Wir wollten Weihnachten und Neujahr mit den Schwiegereltern in den Bergen verbringen. Sie hatten ihren Enkel lange nicht gesehen. Unser Auto war bereits gepackt. Es war mir unangenehm, diese Reise zu vereiteln. Davon abgesehen hatte ich keine Vorstellung, was eine Hirnblutung bedeutete.

3

Es ist ernst, wenn man im Krankenhaus in ein Zimmer verlegt wird, das sich beide Geschlechter teilen. In der sogenannten Stroke Unit liegen jeweils vier Patientinnen und Patienten in einem Raum. Alle sind sie über Armmanschetten an Blutdruckmessgeräte angeschlossen, die sich – asynchron – im Zwanzig-Minuten-Takt röchelnd aufblähen. Es herrscht nie auch nur fünf Minuten Ruhe.

Dennoch hatte ich vergleichsweise Glück. Man schob mich an einen Fensterplatz mit freiem Blick über das im 19. Jahrhundert angelegte Klinikgelände. Neben mir schlummerte still ein offenbar friedlicher Alter. Die Schwester brachte mir eine Entenhalsflasche als Toilettenersatz, verkabelte mich mit dem Überwachungsmonitor, war nach einigem Drängen sogar bereit, den Stoffvorhang um mich herum zu schließen, und erklärte, ich dürfe mein Bett nun für mindestens 48 Stunden unter keinen Umständen verlassen. Ich war mit allem einverstanden, es gab Schlimmeres, als still zu liegen.

Als Erstes telefonierte ich mit Teresa. Unser noch keine zwei Jahre alter Sohn war bereits im Bett, ein Babysitter nicht aufzutreiben. Sie würde mich morgen besuchen kommen. Bis dahin hätte ich bestimmt auch einen Arzt gesprochen. Sie schien gefasst. Offenbar wollte sie die Situation nicht unnötig dramatisieren. Dennoch war ich nach unserem Gespräch unsicher, ob ich gekränkt oder beeindruckt war von ihrer Reaktion.

Während ich darüber nachdachte, putzte ich mir über einer Presspappschale die Zähne und roch Zigarettenrauch. Erst glaubte ich, er käme von draußen herein. Aber der Raum lag, zwischen anderen Krankenzimmern, im sechsten Stock. Plötzlich hatte ich Angst, ein eingebildeter Rauchgeruch könnte das Anzeichen für eine neue Blutung in meinem Kopf sein. Roch man nicht kurz vor dem tödlichen Herzinfarkt auch immer etwas, das sonst keiner wahrnahm? Die Schwester kam herein, riss die Vorhänge um mein Bett einfach wieder auf und gab damit den Blick frei auf das gegenüberliegende Bett, in dem ein Araber im Schneidersitz saß und rauchte. Die ältere Dame im Nebenbett staunte ihn ebenso an wie ich auch. Die Schwester erinnerte ihren rauchenden Patienten an seinen erst Stunden zurückliegenden Schlaganfall, und er drückte die Zigarette in einer Tasse aus. Meine Bitte, die Vorhänge doch zu schließen, ignorierte sie und ging hinaus.

Ich wandte mich den Monitoren am Kopfende meines Betts zu, um zu sehen, wie es um meinen Blutdruck stand, aber ich konnte die Graphen mit meinen Vitalfunktionen nicht deuten. Ich nahm mein Notizbuch und versuchte etwas zu notieren. Mir gelang jedoch nur ein Gekrakel, das nicht mal ich selbst morgen noch würde entziffern können.

In meiner Jugend war ich ein guter Tischtennisspieler gewesen. Als ich mir einmal den rechten Arm brach, lernte ich, mit links zu spielen. Natürlich reichte es für keinen Wettkampf. Aber ich hatte eigentlich noch mehr Spaß. Mit links zu schreiben würde mir nicht schwerfallen.

Durch die Stahlrahmen der Panoramafenster wehte ein kalter Luftzug. Der ansonsten ruhige alte Mann im Nebenbett klapperte zwischen blauen Lippen leise mit den Zähnen. Dieser Anblick bedrückte mich mehr als alles sonst. Ich betätigte den Rufknopf.

Der Araber steckte sich eine neue Zigarette an. Man musste seine Unbeugsamkeit bewundern.

Die Schwester schrie ihren nikotinsüchtigen Patienten sogleich an, was der sich aber, zumal von einer Frau, wie ich annehme, nicht gefallen ließ. Er sprang auf, riss sich die Kabel vom Leib, räumte mit einem Tritt seinen Klapptisch ab und polterte, Zigarette im Mundwinkel, zur Tür hinaus. Die Schwester blickte mich an: »Ist das zu fassen? Flüchtling. Wird umsonst behandelt und spielt sich so auf … Braucht er was?«

Sobald ich begriff, wer gemeint war, zeigte ich auf meinen frierenden Bettnachbarn. Die Krankenschwester zuckte mit den Schultern. Im sechsten Stock würde eine Heizung eben nur mäßig funktionieren; außerdem habe sie nur eine Decke pro Bett. Gleichwohl schaffte sie von irgendwoher einen babyblauen Überwurf aus Fleece mit einem aufgestickten Bagger herbei. Als sie den Alten damit zudeckte, machte er einen Laut, den ich wie eine zarte Berührung an meinen Schläfen spürte.

4

Am späten Abend schob der Transport einen weggetretenen Junkie, der wohl einen schweren Schlaganfall erlitten hatte, auf den Platz des verschwundenen Arabers. Die Schwester deutete an, was man von ihm erwarten könne, sobald sein Entzug einsetzte. Perplex, versäumte ich, auf geschlossene Vorhänge zu bestehen, solange die Schwester noch im Raum war. Also kabelte ich mich eigenmächtig ab und ging die wenigen Schritte, um wenigstens ein Stück Stoff zwischen mich und das zu erwartende Elend zu bringen. Ich nahm an, mich würde das nicht umbringen, doch die ausgerechnet in diesem Moment auftauchende junge Ärztin von vorhin sah das anders. Sie herrschte mich an, ob ich noch bei Sinnen sei, meine Blutung befinde sich in einem kritischen Bereich. Ich müsse mir diesen wie einen Ausschalter vorstellen, auf die sich das Blut wie ein Finger gelegt habe, sollte dieser Finger auch nur zucken, wäre es mit mir vorbei.

Sie merkte immerhin selbst, wie unangemessen drastisch sie geworden war und lief rot an. Sie konnte aber das Bild vom Finger aus Blut an meinem Ausschalter nicht mehr aus der Welt schaffen. Immerhin blieb der Vorhang geschlossen.

Ich blickte, nachdem sie gegangen war, in die Dämmerung. Für meine Schreibwohnung, die im Notfall auch Platz für ein Leben mit Kind bot, besaß ich noch einen günstigen Mietvertrag. Eine Recherche im Netz ergab, Teresa, als meine Frau, hatte das Recht, ihn zu übernehmen, falls ich starb. Wenn sie die Familienwohnung kündigte, reichten unsere Ersparnisse auch für eine längere Trauerzeit.

Mit Anfang dreißig war sie jung genug, anschließend ein ganz neues Leben zu beginnen. Ich konnte mir vorstellen, dass sie einen anderen Mann finden würde, der Qualitäten besaß, die mir fehlten. Mein Tod musste ihr Leben nicht ruinieren. Aber was wäre mit meinem Sohn? Würde der frühe Verlust des Vaters ihm einen Knacks zufügen, der ihn zu einer beschädigten Persönlichkeit heranwachsen ließ, vergleichbar mit einem gesprungenen Porzellanteller, der zwar in Gebrauch ist, doch jeden Augenblick zerbrechen kann? Oder war unsere gemeinsame Zeit, auch wenn er an sie keine eigenen Erinnerungen haben würde, bereits genug, um ihn innerlich mit einem lebendigen Vaterbild zu imprägnieren?

Ich dachte an meinen Großvater, der an Krebs gestorben war, als ich so alt war wie mein Sohn heute. Ich habe keine Erinnerungen an ihn. Seine Krankheitsmonate brachte er damit zu, mich im Kinderwagen über Waldwege zu schieben. Seine letzten Worte auf dem Sterbebett, an die sich meine Großmutter und meine Mutter wie an ein Gebot gebunden fühlten, lauteten: »Passt gut auf meinen Martin auf.« Sie begleiteten mich als eine Art Segen durchs Leben. Wohl auch wegen dieser Worte habe ich mich immer gewollt und gemeint gefühlt.

Ich überlegte, meine Frau anzurufen und sie um das Gleiche für unseren Sohn zu bitten, damit auch er sich durch das Wissen, die letzten Gedanken seines Vaters galten ihm, im Leben geborgen fühlen konnte. Aber so ein Anruf müsste sie zutiefst beunruhigen. War mein Zustand wirklich so ernst, um das zu rechtfertigen?

Es gab von meinem Sohn und mir ein Video, fiel mir ein, das uns in der beginnenden Morgenröte auf Kreta zeigt. Ich war mit ihm an den Strand gegangen, damit Teresa noch schlafen könnte; nur war sie aufgewacht und uns unbemerkt gefolgt. Auf dem Video sieht man, wie ich mit dem Kleinen im Schoß auf einem Felsen sitze und mit meiner Wange über seinen Kopf streiche, während er mit seiner Hand meinen Zeigefinger hält. Wir schauen aufs Meer, unsere Umrisse scheinen in diesem frühen Licht, das alles verklärt, wie aufgelöst. Wir sind Farben unter Farben, Formen unter Formen, im stillen Einklang mit der Welt. Mich tröstete die Vorstellung, diese Bilder könnten ihm das Entscheidende vermitteln.

5

Dann wurde der Junkie wach. Obwohl ich durch die Vorhänge nichts sah, machten Geräusche und Gerüche das Geschehen deutlich. Die Schwester eilte mit mehreren Pflegern herbei. Es gab Gezerre und Geschrei, in das bald auch die Frau schräg gegenüber und der Alte neben mir einfielen.