Über Pamela Redmond Satran

Pamela Redmond Satran hat drei Kinder und lebt in Los Angeles. Sie schreibt u.a. als Kolumnistin für Glamour. »Younger« war ein New-York-Times-Bestseller. Mehr unter www.PamelaRedmondSatran.com

Annette Hahn studierte Englische Literaturwissenschaft und Literarische Übersetzung in München und lebt heute in Münster. Sie übertrug u.a. Fay Weldon, Graeme Simsion, Anne Fortier und Zoe Fishman ins Deutsche.

Informationen zum Buch

Wie jung willst du sein?

Vom Ehemann verlassen, muss Alice (43) von vorn anfangen. Doch nach Jahren als Hausfrau und Mutter ist sie zu alt für die einen, zu unerfahren für die anderen Jobs. Als sie von dem unglaublichen reizenden Josh (26!!!) auf Ende 20 geschätzt wird, hat sie eine Idee: Wieso soll sie ihr Alter nicht ein bisschen „korrigieren“? Prompt bekommt sie einen Job, dazu ein paar heiße Dates mit Josh, und hat plötzlich eine blutjunge Version ihres Lebens zurück. Bis die Sache mit Josh immer ernster wird und Alice sich fragt: Liegt das am Alter, oder ist das etwa – Liebe?

Ein hinreißend komischer Roman über die unwiderstehliche (Frauen-)Phantasie, mit dem Wissen einer Mittvierzigerin noch einmal jung zu sein.

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Pamela Redmond Satran

Younger

Tausche Alter gegen Liebe

Roman

Aus dem Amerikanischen
von Annette Hahn

Inhaltsübersicht

Über Pamela Redmond Satran

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Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

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Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Dank

Impressum

Für meine Tochter

Rory Satran

Kapitel 1

Fast hätte ich die Fähre verpasst.

Ich war ängstlich. Nervös. Und ziemlich eingeschüchtert davon, wie fehl am Platz ich mir inmitten all dieser jungen Leute vorkam, die das Schiff nach New York erstürmten.

Es ging nicht einfach nur nach New York, es ging nach Manhattan, und das am Silvesterabend. Der bloße Gedanke daran ließ mir die Hände feucht werden und die Füße kribbeln, so wie damals, als ich zur Aussichtsplattform des Empire State Building hochfuhr und mich todesmutig an die Brüstung stellte, um in die Tiefe zu blicken.

Wie gern wäre ich einfach umgekehrt und in mein sicheres Vorstadthäuschen zurückgefahren – Im Fernsehen sieht man sowieso viel besser, wie die Kugel am Times Square fällt! –, aber ich konnte Maggie schlecht am eiskalten Pier warten lassen. Meine älteste und immer noch beste Freundin hielt nämlich nichts von Handys. Auch nichts von Computern und Autos und davon, am Silvesterabend in New Jersey zu bleiben. Überhaupt in New Jersey zu bleiben. Maggie, die sich mit sechzehn vor ihren erzkatholischen Eltern als lesbisch geoutet hatte und seither als Künstlerin durchschlug, hielt ganz und gar nichts davon, es sich in irgendeiner Weise leichtzumachen. Deshalb konnte ich unseren Ausgehabend nicht spontan absagen und musste diese Prüfung wohl oder übel über mich ergehen lassen.

Wenigstens stand ich in der Schlange für die nächste Fähre ganz vorn. Es war schweinekalt, aber ich verteidigte tapfer meinen Platz, damit niemand sich an mir vorbeidrängeln könnte. Die Vorstadt-Youngsters um mich herum hatten sicher schon zu Kindergartenzeiten im Vordrängeln promoviert.

Doch dann passierte etwas Seltsames. Je länger ich dort an der Absperrung stand und über das dunkle Wasser auf die glitzernden Lichter der Großstadt starrte, desto dringender wollte ich tatsächlich fahren – nicht nur wegen Maggie, sondern um meinetwillen. Ich dachte, dass Maggie eigentlich recht hatte. Dass eine Fahrt am Silvesterabend nach New York City genau das war, was ich brauchte. Raff dich auf, hatte sie gesagt. Tu etwas, was du noch nie getan hast. Sei es denn nicht gerade meine Methode, alles immer nach altbewährtem Muster zu tun – also äußerst vorsichtig und in alle Richtungen abgesichert –, die meinen momentanen Schlamassel herbeigeführt habe? Ja, so war es, und niemandem lag mehr daran, das zu ändern, als mir selbst.

Als sich das Tor zur Fähre endlich öffnete, rannte ich los. Ich wollte unbedingt an Deck ganz vorn stehen, um das näher kommende Manhattan zu beobachten. Ich hörte die anderen hinter mir herstürmen, aber tatsächlich gelang es mir als Erste, mich vorn an die Reling zu klammern. Die Schiffsmotoren setzten sich in Gang, der Gestank von Diesel überlagerte den Salzgeruch des Hafenwassers, dennoch sog ich, während wir langsam vom Anleger wegtuckerten, die Nachtluft tief in meine Lungen. Hier bin ich also, dachte ich, mitten im Leben, mit voller Kraft voraus in eine Nacht, in der alles passieren kann.

Erst dann merkte ich, dass ich allein da draußen war. Alle anderen standen dicht gedrängt in der verglasten Kabine und ließen durch ihr kollektives Ausatmen die Scheiben beschlagen. Offenbar war ich die Einzige, die das bisschen Kälte, das bisschen Wind, das bisschen eisige Gischt – na gut, ganz schön viel eisige Gischt – nicht scheute, während das Schiff wie ein mechanischer Bulle über die Wellen buckelte. Der unglaubliche Blick auf die beleuchtete grüne Freiheitsstatue und die funkelnden Wolkenkratzer war es allemal wert, vorausgesetzt, ich würde nicht über Bord in die tintenschwarzen Wasser geworfen.

Während ich die Reling fester packte und mich zu meiner erstaunlichen Tapferkeit beglückwünschte, verlangsamte die Fähre und verharrte eine Weile mit röhrenden Motoren im Hafenbecken. Als ich mich gerade fragte, ob wir jetzt untergehen oder von einem gesetzesflüchtigen Kapitän tollkühn aufs offene Meer hinausgejagt würden, setzte das Schiff zurück – und begann zu wenden. Kehrten wir etwa nach New Jersey um? Hatte der Kapitän gegenüber einer Silvesternacht in Manhattan dieselben zwiespältigen Gefühle wie ich?

Aber nein. Sobald sich die Fähre um hundertachtzig Grad gedreht hatte, nahm sie wieder Fahrt in Richtung der glitzernden Großstadtlichter auf. Nur sah ich ihnen jetzt nicht mehr entgegen, sondern starrte auf die große Hafenuhr am verwitterten Anleger von Hoboken und das im Dunkeln liegende New Jersey dahinter. Fassungslos drehte ich den Kopf und blickte sehnsüchtig auf die helle, warme Passagierkabine mit der nun exzellenten Aussicht auf Manhattan. Allerdings war es dort so voll, dass ich mich unmöglich hätte dazuquetschen können. Ich stand allein in der Kälte, mit nichts als New Jersey vor Augen. Sollte das für immer mein Schicksal sein?

Eine halbe Stunde später humpelte ich an Maggies Arm durch die Straßen von SoHo, verfluchte meine Eitelkeit, die mich zum Tragen von High Heels verleitet hatte, und gab mich der Phantasie hin, meiner Freundin die wunderbar bequem aussehenden grünen Schnürstiefel von den Füßen zu zerren. Maggie marschierte in vernünftigen Klamotten – Jeans, schlafsackähnliche Daunenjacke, leopardengemusterte Jägermütze mit heruntergelassenen Ohrenschützern und ein zur Riesenschleife gebundener Samtschal – neben mir her.

»Sind wir bald da?« Meine Zehen waren bereits taub.

»Komm mit.« Sie schob mich vom belebten Bürgersteig des West Broadway in eine dunkle, verlassene Nebengasse. »Hier lang geht’s schneller.«

Misstrauisch blieb ich stehen und sah mich um. »Aber hier wird man uns vergewaltigen.«

»Sei nicht so ein Angsthase.« Lachend zog mich meine Freundin weiter.

Sie hatte gut reden: Maggie war schon mit achtzehn in die Lower East Side gezogen, zu einer Zeit, als die Drogensüchtigen noch unten in ihrem Treppenhaus kampierten. Jetzt gehörte ihr das gesamte Gebäude, und das oberste Stockwerk war zu einem Atelier ausgebaut, in dem sie wohnte und an ihren Skulpturen arbeitete: überlebensgroßen tanzenden Frauenfiguren aus Draht und Tüll. All die Jahre in New York hatten Maggie stark gemacht, während ich zur verweichlichten Vorstadtmami mutiert war, allzu gut behütet durch das Geld des gut verdienenden Ehemanns – des Exmanns, genauer gesagt.

Während Maggie mich durch die unheimliche Gasse zerrte, schlug mir das Herz bis zum Hals, und es beruhigte sich erst ein wenig, als ich vor uns ein erleuchtetes Fenster rosa schimmern sah. Im Fenster hingen als knallpinke Leuchtreklame der Schriftzug Madame Aurora sowie ein Vorhang aus rosa- und orangefarbenen Glasperlenketten. Hinter dem Vorhang war schemenhaft eine Frau zu erkennen, die nur Madame Aurora sein konnte, mit goldenem Turban auf dem grauen Haar und kräuselig qualmender Zigarette im Mundwinkel. Plötzlich traf uns ihr Blick, und sie winkte uns hinein. An der Fensterscheibe klebte ein handgeschriebener Zettel mit der Aufschrift Neujahrswünsche: $ 25.

»Lass uns reingehen«, raunte ich Maggie zu. Schon immer hatte ich eine Schwäche für jede Art von Wunschzauber und Hellseherei gehabt, und eine Kombination aus beidem war unwiderstehlich. Außerdem wollte ich dringend ins Warme und meinen tauben Zehen eine Pause können, so kurz sie auch sein mochte.

Maggie setzte ihr Jetzt-bist-du-wohl-völlig-durchgedreht-Gesicht auf.

»Komm schon«, drängte ich. »Das macht Spaß.«

»Gutes Essen macht Spaß«, erwiderte sie. »Einen Menschen zu küssen, in den man verliebt ist, macht Spaß. Einer dubiosen Hellseherin Geld in den Rachen zu schmeißen, macht keinen Spaß.«

»Ach bitte«, gurrte ich. »Du warst es doch, die gesagt hat, ich solle mehr Risiken eingehen.«

Sie zögerte gerade lang genug, dass ich mit neu gefasstem Mut an ihr vorbeigehen und die Tür aufschieben konnte. Maggie blieb keine andere Wahl, als mir zu folgen.

Drinnen war es extrem warm und verraucht. Ich wedelte mit den Händen vor dem Gesicht, um Madame Aurora mein Missbehagen zu signalisieren, aber das schien sie nur anzuspornen, einen noch tieferen Zug zu nehmen und mir die nächste Rauchwolke direkt ins Gesicht zu blasen.

Irritiert blickte ich zu Maggie, die nur die Achseln zuckte. Ich hatte uns hier reingelotst; da würde sie keine Anstrengung unternehmen, uns wieder rauszubringen.

»Nun, meine Liebe«, sagte Madame, als sie endlich keinen Rauch mehr von sich gab, »wie lautet Ihr Wunsch?«

Wie lautete mein Wunsch? Ich hatte nicht erwartet, dass sie mir diese große Frage einfach vor den Latz knallte. Ich hatte mit ein bisschen Vorspiel gerechnet, ein paar Minuten Handlesen, Kartenlegen oder irgend so etwas.

»Na ja, also …«, stammelte ich in dem Versuch, Zeit zu gewinnen. »Kriege ich denn nur einen?«

Madame Aurora zuckte mit den Schultern. »Sie können so viele kriegen, wie Sie wollen – für fünfundzwanzig Dollar pro Stück.«

Und wie jeder wusste, durfte man nicht den Wunsch formulieren, mehr als einen Wunsch erfüllt zu bekommen.

Wiederum suchte ich Maggies Blick, und wiederum wich sie mir störrisch aus. Ich schloss die Augen, um mich zu konzentrieren.

Was war es, das ich mir am meisten wünschte? Dass meine Tochter Diana aus Afrika zurückkehrte? Natürlich wollte ich das, aber sie würde nächsten Monat sowieso zurückkommen, das wäre also eine Wunschverschwendung.

Einen Job? Unbedingt! Ich war so wild darauf gewesen, selbst für mich zu sorgen, dass ich nach der Trennung statt langfristiger Unterhaltszahlungen lieber das Haus für mich gefordert hatte. Die nächsten sechs Monate war ich dann von einem demütigenden Vorstellungsgespräch zum nächsten gezogen. Wie es aussah, wollte kein Verlag eine über Vierzigjährige einstellen, die exakt vier Monate gearbeitet hatte, bevor sie ihre Karriere als Vollzeitmutter begann. Ich beteuerte, in den letzten zwanzig Jahren alles gelesen zu haben, was man lesen konnte, weshalb ich besser als jeder andere wisse, was Lesegruppen-beflissene mittelständische Vorstadtfrauen wollten – Frauen wie ich eben, die für den Buchmarkt die größte Käufergruppe bildeten.

Aber niemand interessierte sich für meine Leseerfahrungen. Alles, was sie sahen, war eine Hausfrau mittleren Alters mit einem Abschluss in Englisch aus grauer Vorzeit und einem Lebenslauf, der unter Berufliche Erfahrungen mit Dingen wie Stellvertretende Leitung eines Grundschul-Bücherflohmarkts aufwartete. Als Lektorin war ich nicht qualifiziert, und obwohl ich betonte, auch gern erst einmal als Assistentin anzufangen, befand man mich für Einsteigerjobs als genauso wenig geeignet. Niemand sprach es aus, aber es war klar, dass sie mich schlichtweg zu alt fanden.

Wie gern wäre ich jünger.

So wie Madame Aurora und Maggie mich ansahen, musste ich es laut ausgesprochen haben.

Madame brach in laut schallendes Gelächter aus. »Aber wieso denn? All diese Sorgen, alles von vorn? ›Wann werde ich mal heiraten?‹ … ›Was soll ich mit meinem Leben anfangen?‹ … Wollen Sie das wirklich noch mal durchmachen?«

Auch Maggie meldete sich zu Wort. »Willst du etwa sagen, dass du zurück zu all dieser Ungewissheit willst? Jetzt, wo du endlich die Chance hast, etwas aus deinem Leben zu machen?«

Nicht zu fassen, dass die zwei sich gegen mich verbündeten! »Aber wenn ich jünger wäre, könnte ich die Dinge ganz anders angehen«, versuchte ich zu erklären. »Mehr an mich und meine Ziele denken, meine Karriere von Anfang an ernst nehmen …«

Maggie schüttelte den Kopf. »Du bist, wer du bist, Alice. Ich kenne dich, seit du sechs bist, und schon damals hast du immer zuerst an andere gedacht. Bevor du zum Spielen rausgekommen bist, hast du erst mal dafür gesorgt, dass all deine Kuscheltiere bequem auf deinem Bettchen sitzen. Im ersten Jahr der Highschool, als alle nur cool sein wollten, warst du diejenige, die freiwillig das behinderte Mädchen im Rollstuhl rumgefahren hat. Und sobald Diana auf der Welt war, hast du deine eigenen Bedürfnisse ganz selbstverständlich hintangestellt.«

Ich musste zugeben, dass sie recht hatte. Meinen Job im Verlag hatte ich damals allerdings nur aufgegeben, weil ich es musste – als die Blutungen anfingen und ich mein Baby fast verloren hätte. Nach Dianas Geburt zu Hause zu bleiben war jedoch meine eigene Entscheidung gewesen. Und als sie älter wurde, redete ich mir ein, ich könne nicht schon wieder einsteigen, weil ich ja ein weiteres Mal schwanger werden wollte. Aber in Wahrheit war mein Kind längst der Dreh- und Angelpunkt meines Lebens geworden – mehr hatte ich einfach nicht zum Glücklichsein gebraucht.

Wollte ich das jetzt etwa rückgängig machen? Mir wünschen, ich könnte zurückgehen, Diana zu einer Tagesmutter geben und eine Working Mom werden? Oder vielleicht gar keine Mutter?

Allein der Gedanke jagte mir einen Schauer über den Rücken – als könnte schon die bloße Vorstellung meiner Tochter, die das Wichtigste in meinem Leben war, gefährlich werden. Nein, niemals würde ich mir wünschen, dass es sie nicht gäbe, niemals würde ich auch nur einen einzigen Moment mit ihr missen wollen.

Und trotzdem: Was war mit mir? Hatte ich mir mit meinen Jahren hingebungsvoller Mutterschaft ein für alle Mal die Möglichkeit auf ein eigenes Leben verbaut? Der wahre Grund, weshalb ich mir eine andere Vergangenheit wünschte, war, dass ich dann wohl in der Gegenwart eine andere wäre: eine selbstbewusstere, mutigere, fähigere Frau, die jede Chance für sich zu nutzen wusste.

»Was denn nun?«, wollte Madame Aurora wissen.

»Ich möchte mir mehr zutrauen«, sagte ich. »Und wenn Sie dann noch was gegen meine Cellulitis tun könnten …«

Maggie verdrehte die Augen und sprang auf.

»Das ist doch albern«, sagte sie und packte mich am Arm. »Komm, Alice. Wir gehen.«

»Aber ich habe meinen Wunsch nicht erfüllt bekommen.«

»Und ich habe kein Geld gekriegt«, knurrte Madame Aurora.

»So ein Pech aber auch«, sagte Maggie. »Los jetzt.«

Maggie marschierte dermaßen schnell, dass ich kaum Schritt halten konnte. Ich protestierte, sie solle langsamer gehen, aber sie kümmerte sich nicht um mich, sondern ging davon aus, dass ich mitkam. Schließlich blieb ich einfach stehen, so dass sie anhalten musste. Sie drehte sich zu mir um.

»Gib mir deine Stiefel«, forderte ich.

Sie sah mich entgeistert an.

»Wenn du willst, dass ich so weit und so schnell gehe, müssen wir die Schuhe tauschen.«

Maggie sah nach unten und brach in Gelächter aus. »Du brauchst mehr Hilfe, als ich dachte.«

»Wie meinst du das?«

»Das wirst du schon sehen.« Sie löste die Schleifen ihrer grünen Stiefel.

»Wohin gehen wir eigentlich?« Ich vertraute immer darauf, dass Maggie mich sicher durch New York führen würde, und folgte ihr ohne Vorbehalte wie ein kleines Mädchen. Heute Abend war ich davon ausgegangen, dass sie mich in ein cooles neues Restaurant bringen würde. Aber als ich mich jetzt, während ich in Maggies warme Stiefel schlüpfte, in dieser deutlich uncoolen Gegend mit den niedrigen Ziegelhäusern umsah, kamen mir Zweifel.

»Wir nehmen einen Schleichweg zu mir«, antwortete sie.

»Warum?«

»Das wirst du schon sehen.«

Selbst in meinen High Heels ging sie schneller als ich, aber wenigstens taten mir die Füße nicht mehr weh. Und sobald wir das Niemandsland verlassen hatten, das Little Italy noch immer von Maggies Viertel trennte, entspannte ich mich ein wenig. Die nähere Umgebung ihres Hauses war mir früher furchterregend erschienen, hatte sich jedoch in den letzten Jahren deutlich entwickelt. Heute tummelten sich natürlich jede Menge Leute auf den Straßen, alle hippen Restaurants und Bars waren proppenvoll – und ich merkte, dass ich Hunger hatte. Aber Maggie ließ sich nicht von ihrem Ziel abbringen.

»Wir gehen danach noch aus«, sagte sie.

»Wonach?«

Meine Freundin lächelte nur geheimnisvoll und wiederholte, was offenbar ihr Mantra geworden war: »Das wirst du schon sehen.«

Zu Maggies Loft mussten wir fünf Stockwerke hochkraxeln, was ich früher als Herausforderung betrachtet hatte, jetzt aber dank des im letzten Jahr erworbenen Crosstrainers spielend bewältigte. Nach jahrelangem Dasein als Couch-Potato hatte ich angefangen zu trainieren, weil ich sicher wusste, dass es das Einzige war, was mich nach den Horrorereignissen des letzten Jahres vor Depressionen bewahren würde. Und nach einem gefühlt lebenslangen Diätprogramm spürte ich auf einmal, wie die Pfunde purzelten, ohne dass ich großartig etwas dafür tat – also nichts außer ein, zwei Stunden Training jeden Tag.

Da ich nun einmal in einem Vorort lebte und dementsprechend auf geschmackvoll gemütliche, bis ins Detail ausgefeilte Inneneinrichtungen programmiert war, löste der Anblick von Maggies Loft bei mir jedes Mal einen Schock aus. Es bestand im Grunde aus nur einem riesigen Raum, der sich über die gesamte Fläche des Gebäudes erstreckte, mit Fenstern an allen vier Seiten. Inmitten der zweihundertfünfzig Quadratmeter stand ein knallrotes Zelt, das ihren begehbaren Kleiderschrank darstellte. Die einzigen Möbel waren ein riesiges schmiedeeisernes Bett, ebenfalls in Rot, und ein wuchtiges lila Sofa beziehungsweise eine Chaiselongue als einzige Sitzmöglichkeit, es sei denn, man wollte auf dem mit Farbklecksen versehenen Holzboden Platz nehmen. Was ich nicht wollte.

»Okay«, sagte Maggie, nachdem sie die Tür mit den drei Sicherheitsriegeln hinter uns verschlossen hatte. »Lass dich mal ansehen.«

Ich war allerdings viel zu abgelenkt von all dem, was sich im Loft verändert hatte, als dass ich hätte still stehen können. Ihre Plastiken, all die zwei Meter fünfzig hohen Maschendrahtfrauen mit den Cup-K-Brüsten und aufgeplusterten Ballettröckchen hatte Maggie in eine Ecke geschoben, wo sie aussahen wie herumlungernde Insassen eines Kunstgefängnisses. Das zentrale Objekt auf Maggies Arbeitsfläche war jetzt ein Betonblock in Größe eines Kühlschranks.

»Was um alles in der Welt ist das?«

»Etwas Neues, das ich ausprobieren möchte«, meinte Maggie leichthin. »Komm, zieh den Mantel aus. Ich will sehen, was du anhast.«

Jetzt erst kapierte ich, was sie von mir wollte. Wenn Maggie mein Outfit begutachtete, ging das selten gut aus. Schon immer, seit wir alt genug waren, uns allein anzuziehen, hatte sie versucht, mich zu anderen Klamotten zu überreden, und ich hatte mich stets geweigert. Ich will nicht missverstanden werden, ich fand Maggies Stil phantastisch, aber eben phantastisch für sie und nicht für mich. In ihren Zwanzigern hatte sie sich die Haare weiß gefärbt, und sie schienen jedes Jahr ein bisschen kürzer und wilder zu werden. Während ihr Haar immer burschikoser aussah, wurden ihre Ohrringe immer femininer, verzierter und zahlreicher. Heute Abend waren es üppig verzierte Hänger mit grünen Steinen. Maggie war noch immer rank und schlank wie ein Teenager und hatte mit Sicherheit eine französische Seele, denn sie besaß die Gabe, die unterschiedlichsten Kleidungsstücke passend zusammenzuwürfeln – heute waren es die ausgebleichte Jeans, die sie schon zu Highschoolzeiten getragen hatte, eine cremefarbene Bluse mit Spitzenbesatz aus dem Secondhandshop sowie ein langer, kunstvoll um den Hals drapierter graugrüner Samtschal – und damit beneidenswert umwerfend auszusehen.

Sie ging einmal um mich herum, rieb sich das Kinn und schüttelte den Kopf. Schließlich streckte sie die Hand aus und griff nach meinem beigefarbenen übergroßen Pullover.

»Wo hast du den denn her?«

»Das war mal Garys«, gab ich zu: eines der vielen Kleidungsstücke, die er vor genau einem Jahr zurückgelassen hatte, als er mich verließ, um fortan mit seiner Dentalhygienikerin zusammenzuleben. Sachen, die ich behalten hatte, weil ich lange Zeit dachte, er käme wieder zu mir zurück. Und weiter behielt, weil er – zumindest ein paar Monate lang – noch die Raten für das Haus bezahlte, in dem seine Kleidung und ich zusammenlebten.

»Das ist ein alter Lumpen«, sagte Maggie. »Und was ist mit dem Rock?«

Auf den Rock bildete ich mir eigentlich ziemlich viel ein. Er hatte dasselbe Beige wie der Pulli, lag an den Hüften eng an und endete knapp über den Knien – womit er in Sachen Sexyness eindeutig weit vor den unförmigen Baumwollhosen und Schlabberleggings lag, die ich in den letzten zwanzig Jahren bevorzugt hatte.

»Der hat mal Diana gehört«, erklärte ich stolz. »Ich konnte kaum glauben, dass er mir passt.«

»Natürlich passt er dir«, sagte Maggie. »An dir ist ja auch nichts mehr dran! Komm her.«

Sie drehte mich herum und schob mich vorwärts.

»Wohin gehen wir?«

»Ich will, dass du dich ansiehst.«

Sie bugsierte mich durch den Raum, bis wir vor einem ovalen Spiegel mit verschnörkeltem Goldrahmen standen – wie von der bösen Stiefmutter in Schneewittchen.

»Spieglein, Spieglein an der Wand«, sagte ich und lachte in der Erwartung, dass Maggie sich mir anschlösse. Doch sie blickte mir nur ungerührt über die Schulter und verzog keine Miene.

»Das hier ist eine ernste Sache«, rügte sie mich und reckte ihr Kinn in Richtung Spiegel. »Sag mir, was du siehst.«

Es war lange her, seit ich gern in einen Spiegel geschaut hatte. Manchmal, vor allem, als Diana noch klein war, hatte ich tagelang jeden Spiegel missachtet. Und als ich dann allmählich immer dicker und mein Haar immer grauer wurde und sich um meine Augen immer mehr Falten abzeichneten, merkte ich, dass ich viel glücklicher war, wenn ich meinem Spiegelbild komplett aus dem Weg ging. Vor meinem geistigen Auge hatte ich ein erwachsenes, aber neutrales Alter – etwa dreiunddreißig –, ein weibliches, aber neutrales Gewicht – um die sechzig Kilo – und sah einigermaßen gut aus, wenn auch nicht gerade umwerfend oder sexy oder auf irgendeine Weise besonders. Wenn ich mal in einem Schaufenster oder einer Autotür einen Blick auf mich erhaschte, war ich jedes Mal schockiert und sah mich gezwungen hinzunehmen, dass ich beträchtlich älter und dicker aussah, als ich dachte.

Jetzt jedoch, zum ersten Mal in dem Jahr, in dem mein Leben von Grund auf umgekrempelt worden war, zur Begutachtung meines Spiegelbilds gezwungen, war meine Reaktion eine andere. Ich hob den Kopf ein wenig an, drehte ihn zur Seite und stellte mich instinktiv aufrechter. Und lächelte.

»So ist’s richtig«, sagt Maggie. Sie packte den Pullover in der Mitte meines Rückens und zog daran, so dass der Stoff eng an meinem neu erschlankten Körper anlag. »Was siehst du?«

»Ich sehe …«, begann ich und überlegte, wie ich es ausdrücken sollte. Die Frau, die mich aus dem Spiegel heraus anstarrte, war auf irgendeine Weise ich selbst, aber eine Version aus der Zeit vor Schwangerschaft, Kind und Ehemann, vor den vielen Jahren ohne Selbstbeschau. »… mich selbst«, sagte ich schließlich etwas lahm.

»Ja!«, rief Maggie. »Das bist du! Das ist die Alice, die ich kenne und liebe, die nur nach und nach unter einer Schicht aus Fett und Elend begraben wurde.«

»Es gab kein Elend«, meinte ich kritisch.

»Herrje«, meinte Maggie. »Wie kann dein Leben nicht elend gewesen sein? Dein Mann war nie zu Hause, deine Tochter hat das Haus verlassen, deine Mutter wurde zum Pflegefall, du hattest nichts zu tun …«

Ich fühlte mich angegriffen. »Ich musste mich um das Haus kümmern«, protestierte ich. »Meine Mutter pflegen. Und nur weil Diana theoretisch erwachsen und auf dem College ist, heißt das nicht, dass sie mich nicht mehr braucht.«

»Ich weiß«, sagte Maggie besänftigend. »Ich will das ja auch nicht kleinreden. Ich möchte nur, dass du siehst, wie viel … leichter du jetzt aussiehst. Und wie viel jünger.«

»Jünger?« Ich sah wieder in den Spiegel.

»Es liegt vor allem am Gewicht«, meinte Maggie nachdenklich, »aber da ist noch etwas anderes. Als wäre eine schwere Last von dir genommen worden. Außerdem hast du immer schon jünger ausgesehen, als du wirklich warst. Weißt du noch, am Ende der Highschool? Da warst du die Einzige von uns, die noch zum Kindertarif ins Kino kam. Und selbst mit über dreißig, lange nach Dianas Geburt, haben sie in Kneipen nach deinem Ausweis gefragt.«

»Ich glaube nicht, dass mir das jetzt noch passieren wird.«

»Das vielleicht nicht, aber du könntest noch erheblich jünger wirken, als du wirklich bist. Noch jünger als jetzt.«

»Wie meinst du das?«

»Ich meine, du könntest dir die Haare färben, dich schminken, dir andere Kleider anziehen … Du meine Güte, du könntest wieder aussehen wie in deinen Zwanzigern!«, ereiferte sich Maggie. »Deshalb habe ich dich aus diesem dämlichen Voodooschuppen rausgezogen! Wir selbst sind die Einzigen, die unsere Träume verwirklichen können.«

Ich schnitt eine Grimasse. Normalerweise war Maggie die Erste, die über diesen »Die-Kraft-positiver-Gedanken-Scheiß«, wie sie es nannte, ablästerte. Ich war es, die sich bei Sternschnuppen und beim Kerzenauspusten etwas wünschte, die genau wie Cinderella in dem Disneyfilm – den ich mindestens zweihundert Mal mit Diana im Arm gesehen hatte – überzeugt war, dass etwas, das man mehr als einmal träumte, irgendwann wahr würde. Doch anstatt zurückzugrinsen, sah Maggie mich vollkommen ernsthaft an.

»Dann denkst du also«, sagte ich schließlich, »dass ich selbst die Macht habe, mich jünger zu machen, wenn ich es nur fest genug wünsche?«

»Nein, nicht durch wünschen«, korrigierte sie. »Wir brauchen schon noch ein bisschen Hilfe von Madame – Madame L’Oréal. Los, an die Arbeit.«

Während ich mit einem Stück kalter Pizza in der Hand, das als Abendessen herhalten musste, und einer frischen Mülltüte über der chemischen Pampe auf meinem Kopf auf dem lila Sofa saß, verriet Maggie mir ihren Traum. Sie wollte ein Kind.

»Du machst Witze«, sagte ich und hatte Mühe, sie nicht mit offenem Mund anzustarren.

Sie wirkte beleidigt. So beleidigt, dass sofort klar war, dass sie es keinesfalls als Witz gemeint hatte. Es war nur so, dass ich Maggie schon seit Ewigkeiten kannte und sie nie auch nur ansatzweise Interesse an Kindern oder am Muttersein gezeigt hatte. Während ich meine Puppen in den Schlaf wiegte und meine Kuscheltiere zudeckte, hockte Maggie auf dem Boden und probierte neue Fingermaltechniken aus. Während ich eifrig babysitten ging, um mir ein bisschen Geld zu verdienen, mähte Maggie Rasen und half Leuten beim Ausmisten ihrer Dachböden – alles nur erdenklich Mögliche, um bloß nicht auf ihre sieben jüngeren Geschwister aufpassen zu müssen. Sie sagte immer, sie hätte als Jugendliche genug Windeln gewechselt, dass es für ein ganzes Leben reichte.

Und jetzt, mit vierundvierzig, sollte sie ihre Meinung plötzlich geändert haben?

»Was ist passiert?«, wollte ich wissen.

»Nichts ist passiert. Ich habe nur endlich entschieden, dass ich lang genug Kind gewesen bin. Ich bin jetzt bereit, erwachsen zu werden und eine Mutter zu sein.«

»Aber ein Baby?«, hakte ich zweifelnd nach. In meiner Wohnsiedlung war ich ständig von Müttern und Babys umgeben: Die Kinder im Haus hinter mir schrien Tag und Nacht, und die jungen Mütter im Supermarkt mühten sich ab, ihre quirligen Kleinen in den Sitzen der Einkaufswagen zu halten. All die Jahre hatte ich mir ein weiteres Kind gewünscht und Schwangere und frischgebackene Mütter mit neidvoll-sehnsüchtigen Blicken verfolgt. Doch jetzt befand ich mich in einem Stadium, in dem ich Babys ungefähr genauso niedlich, aber auch furchterregend fand wie Tiger- oder Bärenjungen, die man am besten nur aus der Distanz beobachtete. Durch eine Glasscheibe.

Ich suchte nach den richtigen Worten, um meine Bedenken zu äußern, ohne Maggie geradeheraus zu sagen, dass ich die Idee, in ihrem Alter, nach einem langen Erwachsenenleben mit allen Freiheiten, noch ein Kind zu kriegen, für die denkbar schlechteste seit ihrer kompletten Kahlrasur hielt.

Ich nahm Maggies Hand, die sich von der jahrelangen Arbeit mit Drähten und anderen Materialien rau wie die eines Tischlers anfühlte, und sagte mit der sanftesten Stimme, die mir möglich war: »Ach weißt du, ein Kind macht so schrecklich viel Arbeit, vor allem, wenn man alleinerziehend ist. Du wirst mitten in der Nacht geweckt, musst den Kinderwagen die Treppen rauf- und runterschleppen, ständig Windeln wechseln, das Geschrei ertragen …«

»Damit bin ich aufgewachsen, weißt du noch?«, gab Maggie schnippisch zurück und zog ihre Hand weg.

»Genau!«, bekräftigte ich. »Aber damals hast du deiner Mutter nur geholfen, da lag die Verantwortung nicht auf deinen Schultern. Jetzt wohnst du in Downtown, wo fast niemand Kinder hat. Keiner deiner Freunde hat Kinder. Dein Leben ist überhaupt nicht darauf ausgerichtet. Und es geht ja nicht nur um ein kleines Baby – irgendwann musst du einen Kindergarten suchen, Schulgeld zahlen, eine Ausbildung … Wenn das Kind mit dem College fertig ist, kannst du Sozialhilfe beantragen.«

»Du denkst, ich bin zu alt, stimmt’s?«

»Na klar bist du zu alt!«, entfuhr es mir. »Wir beide sind zu alt.«

»Ich dachte, dass gerade du meinen Kinderwunsch nachvollziehen könntest«, sagte Maggie und blinzelte heftig, um ihre Tränen zurückzuhalten. »Nach allem, was du auf dich genommen hast, um Diana zu kriegen … nach all den Jahren, in denen du ein zweites Kind wolltest …«

Ich lächelte. Ja, ich konnte mich noch gut erinnern, wie sehr ich mir Kinder gewünscht hatte. Ich wusste aber auch noch, wie sehr ein Baby – und schon das Bemühen, ein Baby zu bekommen – das ganze Leben bestimmen konnte; wie erschöpfend die Elternschaft war, selbst wenn man zwanzig Jahre weniger auf dem Buckel hatte als Maggie und ich jetzt.

»Doch, das verstehe ich ja«, sagte ich und griff wieder nach ihrer Hand. »Aber irgendwann im Leben kommt der Punkt, an dem man sich von gewissen Träumen verabschieden muss. Wenn es nun mal zu spät ist.«

Ich wusste, dass das fies klang, wie Diana sagen würde. Aber Maggie und ich hatten uns in der vierten Klasse geschworen, uns immer die Absolut Ehrliche Wahrheit zu sagen – die AEW –, selbst wenn wir merkten, dass die andere sie nicht hören wollte. So hatte sie mir damals, als ich Gary heiratete – vier Monate nach unserer ersten Begegnung vor dem Buckingham Palace, bei Charles’ und Dianas Hochzeit –, offen und ehrlich gesagt, dass ich verrückt sei, so jung in die Ehe zu gehen. Dann, als ich wenige Monate später deutlich schwanger aussah, genau wie Prinzessin Diana, machte Maggie kein Hehl daraus, wie erschüttert sie war, vor allem, als ich dann auch noch meinen Job aufgeben musste.

Zwar hatte Maggie sich immer für meine Tochter begeistert, doch eher aus der Ferne. Sie schickte ihr unmögliche Rüschenkleidchen aus Paris und nahm sie einmal im Jahr in eine Kunstausstellung mit und anschließend zum Essen in ein denkbar unpassendes Restaurant, wo sie sich dann darüber aufregte, dass Diana bei Meeresfrüchten würgen musste. Und seit dem Tag, als ich mit Diana aus dem Krankenhaus kam, hatte sie mich gelöchert, wann ich denn endlich wieder arbeiten gehen würde.

Und nun sah sie mich mit einem Blick an, den ich nur zu gut kannte. Diesen Blick hatte sie immer, wenn sie etwas sagen wollte, von dem sie wusste, dass es mir nicht gefiele.

»Du meinst also, genauso wie es für dich zu spät ist, wieder ins Verlagswesen einzusteigen?«, fragte sie. »Zu spät, eine Karriere aufzubauen?«

Jetzt war ich diejenige, die mit den Tränen ringen musste. Und Maggie diejenige, die mir tröstend über die Arme strich.

»Das glaube ich nicht«, sagte sie. »Ich glaube wirklich nicht, dass es für dich zu spät ist. Und genau das ist mein Punkt: Wir sind nicht zwei ältere Damen, die ihre Zelte abbrechen und ins Altersheim humpeln sollten. Wir haben noch genug Zeit für alles Mögliche. Na, komm schon.«

Ich durfte nicht in den Spiegel sehen, bevor Maggie mit mir fertig war. Sie hatte mir die Haare gefärbt und geföhnt, ewig an mir herumgeschminkt, Unterwäsche herausgesucht und mich in hautenge Jeans gesteckt. Es war wie zu unseren Teenagerzeiten, als wir Kleider getauscht und uns gegenseitig verschönert hatten.

»Wieso hast du auf einmal so viele mädchenhafte Sachen?«, wollte ich wissen.

»Ich bin eine Lesbe, kein Mann«, sagte sie, sprühte mir Parfüm an den Hals und begutachtete ihr Werk.

»Okay«, meinte sie und nickte zufrieden. »Ich glaube, du bist fertig.«

Erneut schob sie mich quer durch ihren Loft zum Spiegel.

Und ich schwöre, auf den ersten Blick habe ich mich nicht erkannt. Tatsächlich drehte ich automatisch den Kopf, um zu sehen, ob sich jemand heimlich reingeschlichen und hinter mich gestellt hatte.

Ein blonder Jemand. Ein sexy Jemand. Und waaaahnsinnig jung.

»Ich kann’s nicht glauben«, sagte ich und blinzelte heftig.

Maggie grinste. »Also ich würde dich auf zweiundzwanzig schätzen.«

Ich konnte den Blick nicht vom Spiegel lösen. Maggie hatte mir auf wunderbare Weise meinen Wunsch erfüllt – nicht nur den, jünger zu sein, sondern auch, quasi in die Vergangenheit zurückzureisen und mich neu zu erfinden. Die Frau im Spiegel sah aus wie ich, aber wie eine Version, die im wahren Leben nie existiert hatte. Mein reales Ich hatte mit zweiundzwanzig gerade das Studium der Brontë-Schwestern und Jane Austens in Massachusetts beendet. Damals trug ich einen Pferdeschwanz und weite Jogginghosen und eine Brille mit dicken Gläsern, die mir ständig von der fettig glänzenden Nase rutschte. Mit vierundzwanzig wurde ich dann Mutter, trug immer noch Pferdeschwanz und Brille und Jogginghosen, nur dass sie jetzt noch weiter waren und nach Kinderkotze rochen. Mit achtundzwanzig gab ich mir hin und wieder Mühe und zwängte mich in Leggings und XXL-Pullover, um beim Kuchenverkauf des Kindergartens wenigstens ansatzweise etwas herzumachen.

Aber so wie in diesem Moment hatte ich mit Sicherheit noch nie ausgesehen: blond und strahlend, mit Lippenstift und tiefem Dekolleté, sexy und sogar ein bisschen verwegen.

»Wer ist das?«, flüsterte ich.

Doch Maggie, die gerade auf die Uhr sah, hörte mich nicht. »Fast Mitternacht«, sagte sie. »Zeit, dein neues Ich zu einem Testlauf auszuführen.«

Kapitel 2

Die Bar bei Maggie an der Ecke war gerammelt voll, selbst draußen auf dem Bürgersteig stapelten sich die Leute, doch die große, elegante Frau am Eingang wehrte alle anderen ab und winkte nur Maggie und mich hinein.

»Die steht auf mich«, brüllte Maggie mir ins Ohr.

»Dann hoffe ich mal, dass sie jetzt nicht denkt, du wärst vergeben.«

»Keine Sorge, sie weiß, dass du hetero bist.«

»Woher das denn?«

»Sie hat hellseherische Fähigkeiten«, gab Maggie ungerührt zurück. Dann lachte sie. »Nein, mal ehrlich, Süße: Du könntest Motorradstiefel und ein Melissa-Etheridge-T-Shirt tragen und wärst trotzdem eindeutig hetero. Das hat irgendwie mit der Aura zu tun.«

Maggie schob mich durch die Menschenmeute Richtung Theke und sah sich dabei nach allen Seiten um.

»Welchen willst du?«, fragte sie.

»Welchen ich will? Wieso?«

Ich muss entsetzt ausgesehen haben, denn Maggie lachte schon wieder. »Na, küssen!«, rief sie. »Um Mitternacht.«

Ich war so lange verheiratet gewesen, dass sich mir diese Frage nie ernsthaft gestellt hatte. Den letzten Jahreswechsel hatte ich mit Gary auf der alljährlichen Silvesterparty unserer Freunde Marty und Kathy verbracht, und wie immer war er der Erste gewesen, den ich um Mitternacht umarmte. Ich konnte nicht ahnen, dass er mir keine zwölf Stunden später eröffnen würde, er wolle die Scheidung; und ich hätte in tausend Jahren nicht damit gerechnet, dass ich nur ein Jahr später in einer proppenvollen Manhattaner Bar nach einem Fremden suchen würde, den ich küssen wollte.

Und dann sah ich ihn. Er stand an der Theke und lauschte mit halbem Ohr dem schlanken rothaarigen Mann auf dem Barhocker neben ihm, während er sich mit leichtem Lächeln umguckte. Er hatte längeres dunkles Haar und recht blasse Haut, war mittelgroß und mittelschwer, jedoch mit außergewöhnlich breiten Schultern. In seinen Augen blitzte es, als hätte er sich gerade an einen richtig guten Witz erinnert und könnte es nicht erwarten, ihn jemandem zu erzählen.

Und ganz so, als hätte ich ihm zugerufen, er solle ihn mir erzählen, drehte er sich in genau diesem Moment um und sah mir direkt in die Augen. Sein Lächeln wurde breiter, und ich hatte keine andere Wahl, als zurückzulächeln. Als wären wir gute alte Freunde, Exgeliebte gar, die sich freundschaftlich getrennt hatten und nun inmitten dieses Chaos wiedererkannten.

Der Rothaarige sagte offenbar etwas Bedeutsames, denn der Mann wandte sich von mir ab.

»Den würde ich küssen«, sagte ich zu Maggie.

»Wen?«

»Den an der Theke. Neben dem Rothaarigen. Mit der schönen Haartolle.«

Jetzt sah er wieder zu mir, und Maggie schubste mich leicht nach vorn. Auf einmal ging ein kollektiver Aufschrei durch die Menge, und oberhalb der Theke gingen zwei Fernsehmonitore flackernd an. Die Kugel am Times Square erschien in zweifacher Ausführung, und in der Ecke der Bildschirme war ein Countdown zu sehen. Noch knappe fünf Minuten.

»Perfekt!«, schrie Maggie und stieß mich erneut sanft vorwärts. »Der ist ja noch ein Kind.«

Ich erstarrte. »Was meinst du?« Ich versuchte, den Mann unbemerkt zu taxieren. Na ja, ich hätte ihn nicht auf besonders alt geschätzt, aber wie ein Student sah er auch nicht mehr aus.

»Der ist definitiv unter dreißig«, sagte Maggie und pikte mir in den Rücken.

Ich runzelte die Stirn. »Ich sage: knapp über dreißig.«

»Auf keinen Fall. Nun komm schon, geh weiter. Wir müssen sehen, ob du den Test bestehst.«

Sollte ich tatsächlich weitergehen? Oder doch lieber schreiend davonlaufen? Maggie nahm mir die Entscheidung ab, indem sie mich etwas kräftiger schubste, so dass ich geradewegs in den Armen des Fremden landete.

»Ups«, sagte ich, während mir der Duft seines frisch gewaschenen Hemdes und … seiner Seife? … seines Deos? … seines Aftershaves? … in die Nase stieg. »Tut mir leid. Meine Freundin …«

»Schon gut«, erwiderte er. »Ich hatte mich sowieso gefragt, wie ich am besten Kontakt mit Ihnen aufnehme. Sie kommen mir vage bekannt vor. Haben wir uns irgendwo schon mal gesehen?«

Nur, sofern Sie häufig am Eingang des Lady Fitness Studio bei mir um die Ecke herumlungern, wollte ich antworten. Oder in Homewood mal den Gartenclub besucht haben.

Nein, fiel mir ein, er konnte mich auf keinen Fall von irgendwoher kennen, weil ich nämlich nie irgendwo gewesen war – jedenfalls nicht das Ich, das jetzt vor ihm stand.

»Zehn«, begannen die Gäste im Lokal zu zählen. »Neun. Acht …«

»O nein«, sagte ich.

»Nein?« Er sah mich überrascht an.

»Es ist nur so, dass …«

Es war nur so, dass ich wenige Zentimeter hinter mir Maggie spürte, die wie ein verschuldeter Zuhälter nach unserem Kuss gierte. Und ich wollte den Mann ja auch küssen, aber ich hatte Angst.

»Fünf. Vier …«

Angst davor, einen Fremden zu küssen, ich meine, jemand wirklich Fremden so wirklich echt zu küssen, jetzt gleich, zum ersten Mal seit dreiundzwanzig Jahren. Angst, nicht mehr zu wissen, wie das geht. Angst, weil mir jetzt aus der Nähe unmissverständlich klarwurde, dass dieser Typ bei meinem letzten ersten Kuss noch in den Windeln gelegen hatte. Angst, dass mir das egal war.

Laute Schreie. Jubelrufe. Ich sah ihn an und fühlte mich wie das sprichwörtliche Kaninchen vor der Schlange. Aber auch ein bisschen wie die Schlange. Er erwiderte meinen Blick mit derselben Intensität, und in seinen Augen lag wieder dieses leichte Blitzen.

Und plötzlich wurde mir bewusst, was ich bei meiner Aufregung vor dem Besuch in der großen Stadt und der Konzentration auf meinen Wunsch und der Überrumpelung durch Maggies Typveränderung vollkommen vergessen hatte: Das Jahr war um. Genau dieser Moment setzte dem bisher schlimmsten Jahr meines Lebens ein Ende – dem Jahr, in dem mein Mann mich verlassen hatte, meine Mutter gestorben und mein einziges Kind von zu Hause fortgegangen war, um auf der anderen Seite der Welt zu leben. Es war vorbei, und ebenso unverrückbar wie ein Naturgesetz schien mir die Schlussfolgerung, dass das gerade begonnene Jahr nur besser werden konnte.

Mich überkam ein solches Gefühl der Freude und Erleichterung, dass ich einen tiefen Seufzer ausstieß und den Mann vor mir glücklich anlächelte, was er vielleicht als letzte Aufforderung ansah, sich vorzulehnen und seine Lippen auf meine zu drücken. Und sie passten perfekt zueinander: Seine beeindruckend geschwungene Oberlippe schmiegte sich exakt in meine Mundmitte, und seine Unterlippe landete weich knapp unter meiner. Ich spürte sanften Druck und leichten Sog, ein Innehalten, wie ein Versprechen. Er schmeckte nach Zucker – tatsächlich konnte ich ein paar feine Zuckerkristalle spüren.

Als wir uns schließlich voneinander lösten, sagte ich, was mir als Erstes in den Sinn kam: »Danke.«

Er lachte laut auf. »Oh, gern geschehen, auch wenn mir das jetzt wirklich ziemlich viel Mühe gemacht hat.«

Ich spürte, wie ich rot wurde. »Es ist nur so, dass …«, begann ich erneut. »Ich meine …«

»Ist schon okay«, unterbrach er und legte mir einen Finger auf die Lippen.

Und dann lehnte er sich vor, als wollte er mich ein weiteres Mal küssen.

»Nein!« Ich wich zurück.

Er schien verwirrt. »Nein?«

»Ich bin nicht an einer Beziehung interessiert.«

Wieder lachte er. »Ich bin auch nicht an einer Beziehung interessiert.«

»Nein?«

»Nein«, antwortete er. »Ich habe gerade erst meine Verlobung gelöst.«

»Gerade eben?«, fragte ich.

Er lächelte und hielt dabei ständig Blickkontakt, was mir gefiel, meiner Erfahrung nach bei einem Mann jedoch ungewöhnlich war.

»Na ja, also, letzten Juni«, sagte er. »Ich habe gemerkt, dass ich nicht heiraten will, zumindest noch nicht. Ich habe keine Eile, auf den Karriere-Hauskauf-Kinder-Zug aufzuspringen.«

»Das ist toll«, sagte ich.

Um uns herum fielen sich die Menschen in die Arme, lachten und wünschten einander Glück.

Nun neigte er sich vor und sah mich mit warmen braunen Augen eindringlich an. »Ist das dein Ernst? Die meisten Frauen machen nämlich sofort kehrt, wenn ich das sage. Törnt sie total ab.«